Über die Autorin
Dr. Martine F. Delfos arbeitet seit 1975 als Psychologin und Therapeutin mit mehrfach traumatisierten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Seit vielen Jahren forscht sie über das Thema »Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen« und beschäftigt sich mit der Entwicklung theoretischer Modelle, die sich direkt auf die Alltagsarbeit helfender Berufe und auf das Leben in der Familie anwenden lassen. Darüber hinaus ist sie in der Ausbildung von Psychologen, Schulpsychologen, Ärzten und Sozialarbeitern tätig und hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten weltweit. Sie ist Autorin zahlreicher Grundlagenwerke u.a. zu Entwicklungspsychologie und Autismus, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Auch ihr erfolgreiches Buch zur Kommunikation mit Kindern: »Sag mir mal …« Gesprächsführung mit Kindern (4–12 Jahre) ist im Beltz Verlag erschienen.
Über das Buch
Wie die Kommunikation mit Heranwachsenden ein Gewinn für alle wird, darum geht es in diesem Buch. Martine F. Delfos beschreibt detailliert, wie eine partnerschaftliche, respektvolle Kommunikation mit Jugendlichen aufgebaut werden kann und wie wir dabei die Tatsache berücksichtigen, dass sie noch abhängig von Erwachsenen sind. Die Erwachsenen-Kind-Beziehung bekommt eine ganz andere Form, in der jeder seinen neuen Platz finden muss. Im Zentrum des Buches stehen Methoden der Gesprächsführung, u. a. offene Fragegespräche, die zwischen verschiedenen Altersspannen differenzieren, sowie ein Kapitel über Merkmale der Pubertät, das die Grundlage für das Verstehen von Jugendlichen schafft. Der ausführliche Anhang umfasst die Kernaussagen der einzelnen Kapitel sowie Frage- und Übungsbögen, die für die Gesprächsführung mit Jugendlichen hilfreich sind.
Das Buch richtet sich an Lehrer, Therapeuten, Sozialarbeiter, Juristen und Polizisten, Dozenten und Studenten der Sozialpädagogik und natürlich an alle Eltern, die ihre Kinder in der Pubertät besser verstehen und echt und ungezwungen mit ihnen kommunizieren wollen.
Impressum
Titel der Originalausgabe:
Ik heb ook wat te vertellen! Communiceren met pubers en adolescenten
© 2005, 2014 M. F. Delfos, B. V. Uitgeverij SWP Amsterdam
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85728-6)
Die im Buch veröffentlichten Hinweise wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von der Autorin erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von der Verfasserin übernommen werden. Die Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
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www.beltz.de
6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2015
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:
© 2007 Verlagsgruppe Beltz, Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de (Gestaltung),
www.stephanengelke.de (Beratung)
Umschlagabbildung: © plainpicture/R. Mohr
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22258-9
INHALT
Vorwort
Geleitwort
1 EINLEITUNG
»Gehirn einschalten!«
Richtige Kommunikation
Gehirn »einschalten«!
Der kluge Jugendliche
Aufbau des Buches
Kernaussagen
2 VORPUBERTÄT UND PUBERTÄT
Wachstum und Entwicklung
Die Pubertät als Konstruktion
Geschlechtsreifung
Der Wachstumsschub
Gehirn
Hormone
Sozialisation
Ernährung und Gesundheit
Sexualität
Identitätsbildung
Gleichaltrige und Freundschaften
Die Vertiefung des Denkens
Moralische Entwicklung
Die Bedeutung der Schule
Die virtuelle Umwelt
Problemverhalten
Kernaussagen
3 JUGENDLICHE ERZIEHEN
Fallen und Aufstehen
Kritische Passagen von der Geburt bis zur Adoleszenz
Die Erziehung in der Pubertät
Verhaltensänderung und Vereinbarungen treffen
Problemverhalten
Scheidung
Traumatische Erlebnisse
Alkohol und Drogen
Depression und Selbstmord
Die fundamentale Bedeutung von Kommunikation bei Problemen
Kernaussagen
4 GESPRÄCHE FÜHREN
Interesse und Respekt
Grundlegendes Umdenken
Qualität eines Gesprächs
Allgemeine Kommunikationsbedingungen
Kommunikationsbedingungen bei Jugendlichen
Schwerpunkte bei der Gesprächsführung mit Jugendlichen
Metakommunikation
Loyalität
Moderne Kommunikationsmittel
Sprachfertigkeit und Verschlossenheit
Jungen und Mädchen sind unterschiedlich
Der Gesprächsaufbau
Kernaussagen
JOSIES TAGEBUCHFRAGMENTE
EINE DREIZEHNJÄHRIGE IN DER PUBERTÄT
5 DEN JUGENDLICHEN BEFRAGEN
Die Anhörung beider Parteien
Fragetechniken
Körpersprache
Metakommunikation als Reparaturmittel
Kernaussagen
6 DIE SOKRATISCHE METHODE
Entdecken lassen
Sokrates, der Weise
Grundregeln der sokratischen Gesprächsführung
Fragegelenktes Arbeiten
Anwendungen
Kernaussagen
7 GESPRÄCHSFÜHRUNG NACH ALTER
Adoleszenz in Phasen eingeteilt
Phase I: 12 bis 14 Jahre
Phase II: 14 bis 16 Jahre
Phase III: 16 bis 18 Jahre
Phase IV: 18 bis 21 (→ 25) Jahre
Kernaussagen
EPILOG
Anlage 1: Übungen in Kommunikation
Anlage 2: Kernaussagen
Anlage 3: Gesprächsführung mit Adoleszenten nach Alter
Literatur
Personenregister
Sachregister
Jugendliche möchten ihr Gehirn benutzen,
Erwachsene befürchten, dass sie es nicht tun.
Für Janneke
VORWORT
Fragt man Schüler weiterführender Schulen, was sie von ihren Lehrern erwarten, dann lautet die Antwort: Verfügbarkeit und Zugänglichkeit. Und man muss sich auf sie verlassen können. Ein Lehrer ist vor allem zum Zuhören da und vielleicht auch, um einem zu helfen, wenn man das möchte. Was Lehrer aneinander schätzen, nämlich didaktische Qualifikation, Ordnung halten können und viel Fachwissen, interessiert ihre Schüler weniger. Das fällt ihnen erst auf, wenn eine gute Beziehung zu einem Lehrer entstanden ist. Schüler sehen ihren Lehrer also zunächst als Menschen, der für sie wichtig ist, und erst dann in seiner Funktion als Lehrer.
Liest man dieses Buch von Martine Delfos, überkommt einen das Bedürfnis, die Geschichte des Monologs zu erforschen, der so kennzeichnend für unseren Unterricht ist und auch so typisch für das Verhalten vieler Erzieher außerhalb der Schule. Selbst wenn sich unser Monologisieren in Grenzen hält, fällt es uns dennoch unglaublich schwer, unseren Kindern, Schülern und Studenten die richtigen Fragen zu stellen und konzentriert zuzuhören. Wie ist sie entstanden, diese Monologkultur – oder gibt es sie schon immer? Wie dem auch sei: Das Bedürfnis junger Menschen nach Aufmerksamkeit und Verständnis seitens ihrer Eltern und Lehrer sowie das Bedürfnis nach Ausprobieren und Konfrontation sind nicht geringer geworden.
Eine gute Antwort ist dennoch notwendig, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass sich unsere Jugendlichen lossagen oder nicht mehr in der Lage sind, Verbundenheit als Grundlage für individuelles und gemeinschaftliches Wohlbefinden zu erkennen. Jugendliche stellen einen mehr oder weniger eigenständigen gesellschaftlichen Faktor dar, sie verfügen über großzügige |8|finanzielle Mittel, ein ausgeprägtes Kommunikationsnetzwerk und haben in der Regel Zugang zu allen Wissensquellen. Sie treffen selbstständig ihre Entscheidungen und können diese auch durchsetzen. Die Kunst liegt für Erzieher darin, die Verbindung nicht abreißen zu lassen und sie so zu gestalten, dass Jugendliche individuell und kollektiv bereit bleiben, ihr Potenzial für andere Menschen und für gesellschaftliche Interessen einzusetzen. Hier sind Können und Kunst der Kommunikation gefragt: aktive Verfügbarkeit und Zugänglichkeit des Erwachsenen als Gesprächspartner, der versteht und konfrontiert und zugleich Sicherheit vermittelt.
Martine Delfos verfügt über dieses Können und diese Kunst als Therapeutin, als Ratgeberin für Erzieher, als Verfechterin der Rechte des Kindes, als Autorin und als Wissenschaftlerin. Ihr Text ist praktisch, fundiert und vor allem engagiert. Letzteres spürt der Leser von der ersten bis zur letzten Zeile.
Ich wünsche diesem Buch mit seiner Perspektive auf menschliche Verbundenheit viel Erfolg.
Luc Stevens
Professor em. der Orthopädagogik, Direktor des Nederlands Instituut voor Onderwijs en Opvoedingszaken (NIVOZ, Niederländisches Institut für Unterricht und Erziehung)
GELEITWORT
Schon so oft hatte man mich gefragt: Wann schreibst du endlich ein Buch über die Kommunikation mit Jugendlichen? Lange Zeit wollte ich dieses Projekt nicht angehen, doch die Nachfrage stieg. Als ich mein Buch über die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen Männern und Frauen abgeschlossen hatte (Waarom mannen en vrouwen verschillend zijn én hetzelfde), war Raum für das neue Thema entstanden. Im Jahr 2005 nutzte ich die Gelegenheit, es in ein Gesamtwerk zur Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen einzubetten. Der erste Teil (»Sag mir mal …« Gesprächsführung mit Kindern [4–12 Jahre], Wein|9|heim: Beltz 2004; vollständig überarbeitet und erweitert 2015) liegt bereits in zehnter Auflage vor und wird vielfach in der Ausbildung genutzt.
Es ist sehr schön zu erfahren, dass auch das vorliegende Buch mit seiner nunmehr sechsten Auflage zeigt, dass es ein Bedürfnis befriedigt. In dieser Neuauflage sind Verbesserungen und einige neuere Studien verarbeitet. Leider wird die Kommunikation mit Jugendlichen noch immer so wenig erforscht, dass es nur wenige Untersuchungen neueren Datums gibt, mit Ausnahme vor allem amerikanischer Studien darüber, wie das sexuelle Verhalten Jugendlicher gezügelt werden kann.
Ich danke meinem Forschungsassistenten Floris Hartmann für seine Materialsuche im Internet und in den Bibliotheken. Nicolien van der Keur danke ich für die Gestaltung und Ron Heijer für die Redaktion. Verena Kiefer danke ich für ihre Übersetzung ins Deutsche. Josie (Pseudonym) danke ich dafür, dass sie ihre Tagebuchfragmente zur Verfügung stellte. Ich danke den Jugendlichen, die mir mit ihren Geschichten geholfen haben, Heranwachsende zu verstehen. Und ich danke meinen eigenen Exjugendlichen, meinen Kindern, die schon Erwachsene und noch immer die Freude meines Lebens sind.
Martine France Delfos, Utrecht 2015 |10|
1 EINLEITUNG – »Gehirn einschalten!«
»Das ist doch kein Hotel hier! Du kommst ja nur noch zum Essen und Schlafen nach Hause!« Aus dieser zeitlosen Rede zahlloser Eltern überall auf der Welt spricht die gebündelte Gekränktheit über die veränderte Position, die sie im Leben ihres Kindes einnehmen. Während der ersten Jahre stehen im Leben des Kindes uneingeschränkt die Eltern im Mittelpunkt; doch schon mit dem Besuch des Kindergartens wird die erste Bresche in diese bevorrechtigte Stellung geschlagen. Grundschulkinder beginnen ihre Sätze gern mit einem »Aber der Lehrer sagt …«. Damit zeigen sie, dass ihre Eltern nicht mehr die Einzigen sind, deren Urteil wichtig ist. Gegen Ende der Grundschulzeit und zu Anfang der weiterführenden Schule richten Kinder ihre Aufmerksamkeit auf Gleichaltrige. Sie wollen Freunde und Freundinnen haben und eine günstige Position unter ihnen erlangen. Mit der weiterführenden Schule rückt auch die Pubertät heran, und Kinder schieben ihre Eltern bewusst in den Hintergrund; die Welt der Heranwachsenden dreht sich um ihre Altersgenossen (Übung 1.1, Anlage 1).
Zwar bleiben Eltern die Grundlage für die Existenz ihres Kindes, auch ihres erwachsenen Kindes. Doch es ist eine gewaltige Aufgabe, sich gegenüber den heranwachsenden Kindern als Eltern zu behaupten und mit ihren Entwicklungen Schritt zu halten. Der rote Faden heißt Kontakt. Dieser rote Faden darf nicht reißen und tut es auch selten, obwohl viele Eltern große Angst davor haben. Selbst wenn in einer Familie die täglichen Streitigkeiten zunehmen, verschlechtert sich die Beziehung zwischen Eltern und Heranwachsenden in Wirklichkeit nicht ernsthaft (Paikoff, Brooks-Gunn und Warren, 1991) und bleibt auch während der Pubertät recht positiv (Stattin und Magnusson, 1990). Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, sehen sich Eltern und |11|Kinder in 51,5 % aller Fälle noch ein oder mehrere Male pro Woche (Kalmijn und Dykstra, 2004). Dieser Prozentsatz liegt bei Kindern mit Hochschulreife etwas niedriger, weil sie meist weiter entfernt wohnen, aber für die meisten Eltern und Kinder gilt, dass der Kontakt untereinander lebenslang und häufig bestehen bleibt. Nach der Pubertät ist das Verhältnis von Eltern und Kindern – oft zu jedermanns Überraschung – meist besser und tiefer denn je, aber auch gleichwertiger.
Kommunikation ist ein grundlegendes Element für eine gute Erziehung und wesentlich, um die Pubertät gut zu durchleben. Sprachliche Kommunikation kennzeichnet uns Menschen. Findet sie nicht mit Worten statt, sondern in Gebärdensprache, wird es schon recht schwierig. In ernsthafte Verlegenheit geraten wir, wenn sprachliche Kommunikation nicht möglich ist. Das ist bei einem Baby der Fall, das die Sprache noch nicht beherrscht, bei Ausländern oder im Fall einer abweichenden Entwicklung, etwa bei Menschen mit einer weitreichenden geistigen Behinderung. Wir neigen sogar dazu, bei Ausländern, die unsere Sprache nicht beherrschen, in die Art und Weise der Kommunikation mit Babys (hoher Klang der Stimme) oder Menschen mit geistiger Behinderung (alles schlicht und konkret erklären und wiederholen) zurückzufallen (Übungen 1.2 und 1.3, Anlage 1).
Kommunizieren heißt Kontakt einzugehen, eines der wesentlichsten Dinge menschlicher Existenz. Aber so grundlegend dies auch ist, für den Menschen ist es weder leicht, zu kommunizieren, noch, Kontakt einzugehen. Hat man ein Problem mit sozialer Interaktion, wie etwa bei Autismus, ist es sehr schwierig, Kontakt herzustellen und zu pflegen (Delfos, 2011a).
Das Bedürfnis nach Kontakt war immer vorhanden und wird es immer geben. Nonverbaler Kontakt ist schnell hergestellt, zielgerichtet und fühlt sich recht sicher an. Aber es gelingt den Menschen nicht so gut, darauf zu vertrauen; sie klammern sich ›ängstlich‹ an Worte und diese können zu vielen Missverständnissen führen (Übung 1.4, Anlage 1).|12|
Ein schönes Beispiel für den Unterschied zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation ist der Ausdruck: Verstehst du? Diese Frage wird meist dann gestellt, wenn man eigentlich ziemlich sicher – auf Grundlage nonverbaler Signale – weiß, dass der andere es nicht versteht. Diese Sicherheit hilft dem Menschen wenig, denn er oder sie traut sich oft nicht, zu widersprechen, wenn jemand sagt: Ja. Meist setzen wir mit leicht unbehaglichem Gefühl fort, was wir sagen wollten, während wir insgeheim wissen, dass es der andere nicht verstanden hat. So unauffällig wie möglich bauen wir dann doch noch eine Erläuterung ein.
RICHTIGE KOMMUNIKATION
Kommunizieren ist schwierig, dennoch wissen die meisten Menschen erst, dass sie damit Mühe haben, wenn sie mit Jugendlichen reden. Wenn man lernen möchte, wie man gut kommuniziert, sollte man sich mit Jugendlichen unterhalten – das ist die beste Schule. Sie lassen einen merken, ob man echt kommuniziert oder nicht, vor allem im Alter zwischen dreizehn und sechzehn Jahren. Jugendliche sind in ihrer Akzeptanz oder Ablehnung der Kommunikation mit Erwachsenen oft sehr ehrlich Mit Jugendlichen muss man richtig kommunizieren, sonst lassen sie einen stehen, wörtlich oder im übertragenen Sinn. Kommunikation mit Jugendlichen ist möglicherweise die lehrreichste, ehrlichste und dynamischste Kommunikation, die es gibt. Wer richtig mit Jugendlichen kommuniziert, ist beeindruckt von dem, was sie zu bieten haben. Während der Pubertät passen sich Kinder in groben Zügen den Erwachsenen an, so dass diese nicht wirklich durchschauen, was das Kind tatsächlich denkt und fühlt. Daher ist es nicht immer klar, wie wir wirken, ob das Kind versteht, was gemeint ist, und vor allem, ob das Kind in ausreichendem Maße erzählen kann, was in ihm vorgeht. Nach der Pubertät sind die Leute meist zu höflich, um eine Kommunikation schroff abzubrechen und aufrichtig ihre Meinung zu sagen. Während der Pubertät kommt es darauf an, dass man richtig kommuniziert, sonst klinkt sich der oder die Jugendliche aus. Er oder sie verdreht ›genervt‹ die Augen, und sein oder ihr Gesicht drückt aus: ›Bist du fertig?‹, ›Kann ich zu meinen Freun|13|den?‹, ›Jahaa‹, ›Hast du zu Ende gepredigt?‹. Dann steht man als Eltern da und ist sprachlos. Ein Jugendlicher lässt es deutlich spüren, wenn ein Erwachsener nicht wirklich kommuniziert und keinen Kontakt herstellt. Der Erwachsene redet oft, ohne sich auf den anderen richtig einzustellen, und eher, um eine eigene Geschichte loszuwerden, als tatsächlich mit dem Jugendlichen zu kommunizieren.
Einer der Verzweiflungsschreie, die Eltern ihren pubertierenden Kindern gegenüber am häufigsten ausstoßen, ist der Eröffnungssatz dieses Buches: »Das ist doch kein Hotel hier! Du kommst ja nur noch zum Essen und Schlafen nach Hause!«
Der Jugendliche geht vollkommen im Umgang mit Gleichaltrigen, in der Entdeckung der Welt und sich selbst auf. Er oder sie scheint wenig auf die Eltern ausgerichtet. Nun gilt jedoch das Umgekehrte mindestens ebenso häufig, nämlich dass sich Eltern auf sich selbst und ihre Tätigkeiten konzentrieren, aber das ist ihnen oft nicht klar.
Erwachsene neigen dazu, das Gehirn der Kinder und Jugendlichen in der Kommunikation mit ihnen auszuschalten, und zwar, indem sie erzählen und nicht einladend zuhören und fragen. Meist sagen Erwachsene, wie sie etwas finden, und hören den Erzählungen der Kinder und Jugendlichen selbst nicht gut zu (Übung 1.5, Anlage 1).
Die Methode richtiger Kommunikation ist das sokratische Gespräch. Der griechische Philosoph Sokrates ging von der Sachkenntnis seines Gegenübers aus. Er stellte Fragen und fragte nach, anstatt selbst zu erzählen.
Wichtig ist, das Gehirn des anderen ›einzuschalten‹. Jugendliche lassen sich nur zu gern darauf ein, und dann kann man einen engen Kontakt herstellen. Aber als Erwachsene sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, unser eigenes Anliegen loszuwerden. Jugendliche haben häufig das Gefühl, wie kleine Kinder behandelt zu werden, die nicht denken können. Sie sind der Meinung, dass Erwachsene oft ›predigen‹. Dennoch finden wir – zu Recht –, dass wir einem Jugendlichen etwas zu erzählen haben, und machen uns Sorgen, halten es für nötig, den Heranwachsenden vor Gefahren zu schützen, die er oder sie aufgrund mangelnden |14|Wissens und Erfahrung nicht erkennt oder übersieht. Die Frage ist also, wie wir kommunizieren und dafür sorgen können, dass der oder die Jugendliche über die notwendigen Informationen verfügt. Dazu darf der Erwachsene sein Wissen nicht einfach ablassen, sondern muss den Denkprozess des Jugendlichen mittels Fragen begleiten. Und nichts erweitert auch das eigene Denken mehr, als es an einem oder einer Jugendlichen oder Heranwachsenden zu schärfen.
GEHIRN »EINSCHALTEN«!
Bislang ist noch wenig über die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen erforscht. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind Kinder gerade mal ›entdeckt‹ (Delfos, 2001), und die Forschung nach dem, was sie bewegt, steckt noch in den Kinderschuhen – trotz eineinhalb Jahrhunderten Entwicklungspsychologie und vieler Denker, die sich mit Kindern beschäftigt haben. Im Mittelpunkt des Interesses stehen mittlerweile die Voraussetzungen, unter denen Gesprächsführung mit Kindern stattfindet, und erste Ergebnisse werden sichtbar.
Bei jungen Kindern ist Kommunikation oft schwierig, weil ihre verbalen Fertigkeiten noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn Kinder sprechen können, heißt das noch nicht, dass sie ihre Gefühle erkennen, ihre Gedanken in Worte fassen können oder wissen, wie sie Fragen formulieren müssen. Sie wiederholen ihre Fragen, weil sie nicht wissen, welche andere Frage sie stellen müssen, um die gewünschte Antwort zu erhalten (Delfos, 2011c).
Die Erforschung der Kommunikation mit Jugendlichen steht auch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch am Anfang. Allerdings wird schon seit Jahr und Tag über Jugendliche nachgedacht und geschrieben. 1966 gerieten wissenschaftliche Kreise in Aufruhr, weil der Amsterdamer Bürgermeister van Hall Sokrates eine Behauptung zuschrieb, die nicht mehr auffindbar zu sein schien, außer in einem Buch aus dem Jahre 1953 (Patty und Johnson). Es ist daher fraglich, ob sie wirklich |15|von Sokrates stammt, doch der Textinhalt (Beine übereinanderschlagen, aufstehen, wenn Ältere den Raum betreten) macht deutlich, dass er alt ist. Van Hall verwendete den Ausspruch zur Charakterisierung des zeitlosen Rebellentums der Jugend während der Studentenunruhen von 1966, und im Kern wird dies in jeder Generation wiederholt:
Kinder von heute lieben den Luxus, sie haben schlechte Gewohnheiten, Geringschätzung von Autorität, zeigen einen Mangel an Respekt vor Älteren und schwatzen lieber, als dass sie lernen. Kinder sind heutzutage die Tyrannen, nicht die Diener des Haushalts. Sie stehen nicht mehr auf, wenn Ältere den Raum betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, fallen anderen ins Wort, essen Leckereien am Tisch, schlagen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.
(Nach Patty und Johnson, 1953, von Sokrates [470 bis 399 v. Chr.] über Plato, S. 277)
Damit Kommunikation zu einem wechselseitigen Austausch und zu einem echten Dialog wird, müssen beide Gesprächspartner ihr Gehirn einschalten, am Gespräch teilnehmen und sich denkend und sprechend gemeinsam eine Meinung bilden. Es wurde bereits erwähnt, dass Erwachsene dazu neigen, das Gehirn von Kindern und Jugendlichen in der Kommunikation auszuschalten. Sie erzählen ihnen, wie sie etwas finden, laden aber selten den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin wirklich dazu ein, nachzudenken und mitzuteilen, was in ihm oder ihr geschieht. Jugendliche verlieren dadurch das Interesse an dem, was Erwachsene zu sagen haben. Das liegt nicht in deren Absicht, denn die ist häufig gut, sondern an der Art und Weise, wie Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen kommunizieren. Auch die Haltung, die dabei eingenommen wird, ist von großer Bedeutung. Im folgenden Absatz geht es um Jugendliche, aber genauso gut könnte man ›Kinder‹ oder ›Menschen‹ dafür einsetzen.
Gute Kommunikation mit Jugendlichen beginnt mit der Haltung, die man einnimmt. Diese Haltung muss Respekt und Bescheidenheit beinhalten. Man muss davon überzeugt sein, dass Jugendliche etwas zu erzählen haben und dass sie es erzählen wollen. Die Frage ist nicht, ob Jugendliche eine Meinung haben oder |16|über Informationen verfügen, sondern wie wir mit ihnen kommunizieren können, um diese Meinung zu erfahren oder die Informationen zu erhalten.
Als Beispiel für die Notwendigkeit einer respektvollen und bescheidenen Haltung gegenüber dem Gesprächspartner verwende ich gern das Beispiel des ›Jungen mit dem Salz‹. Es macht deutlich, dass die Weisheit des Körpers manchmal einen anderen Kurs angibt, als es Eltern und Pflegern sinnvoll erscheint, mit allen Konsequenzen.
Ein kleiner Junge hatte ein großes Bedürfnis nach Salz und setzte alles in Bewegung, um es sich zu beschaffen. Das Kind leckte das Salz von den Crackern. Wo auch immer die Eltern das Salz versteckten, das Kind kletterte, suchte und aß jedes Salzkörnchen, das es fand. Als der Junge dreieinhalb war, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und bekam eine Standarddiät mit normalem Salzkonsum. Seinem Wunsch, Salz zu essen, kam man nicht nach. Nach sieben Tagen starb er. Die pathologische Untersuchung ergab, dass der Junge an einer Anomalie gelitten hatte (Anomalie der Nebenniere, Addison-Krankheit), wodurch er von außen Salz zuführen musste, um nicht zu sterben, was dann letztlich die Todesursache war. Bis zu seinem Krankenhausaufenthalt war es dem Jungen gelungen, sich am Leben zu halten, indem er zusätzlich Salz aufnahm, entgegen der so genannten Weisheit der Menschen in seiner Umgebung. Die innere Weisheit seines Körpers gab ihm das notwendige Verhalten ein. (Wilkins, Fleischmann und Howard 1940; Gray, 1999)
Ein jüngeres Beispiel aus dem Jahre 2004 ist die Geschichte eines 22-Jährigen.
Ein junger Mann von 22 Jahren entdeckt einen kleinen Knubbel unter seiner Achsel, eine geschwollene Drüse. Er traut der Sache nicht und geht zum Arzt, der nicht sofort alarmiert ist. Der junge Mann kennt die Geschichte des Jungen mit dem Salz und will dem Unruhesignal, das er verspürt, Gehör schenken. Er besteht auf weiteren Untersuchungen. Zur Überraschung des Arztes, nicht jedoch des jungen Mannes, ist der Knubbel bösartig: eine Metastasierung eines Melanoms, eines Mutterflecks; eine aggressive Krebsform mit schlechter Prognose. Die Streuung gelangt zunächst in die Lymphdrüsen als Streuung von einer anderen Stelle. Der Heranwachsende hatte zweieinhalb Jahre vor der Untersuchung ein seltsames Muttermal bemerkt. Obwohl er eigentlich ein sorgloser Jugendlicher ist, wird er misstrauisch und geht zum Hausarzt. Dieser brennt den Fleck |17|weg. Der junge Mann fragt, ob es im Krankenhaus noch weitere Untersuchungen geben werde, aber der Arzt hält dies nicht für notwendig und sagt, er hätte es nicht weggebrannt, wenn er ein Krebsrisiko vermutete. Dennoch hatte der junge Mann recht, es war bösartig. Hätte man auf ihn gehört, als er dem Muttermal nicht traute, hätte er dieses Drama nicht erleben müssen. Seine Hartnäckigkeit bei dem kleinen Knubbel rettete ihm letzten Endes das Leben.
DER KLUGE JUGENDLICHE
Die Pubertät ist eine interessante und spannende Phase. Die intellektuellen Fähigkeiten Jugendlicher nehmen stark zu. Sie erleben einen Sprung im Denken, ihr Gehirn kann mehr fassen als zuvor (Giedd, Blumenthal, Jeffries, Castellanos, Liu, Zijdenbos, Paus, Evans und Rapoport, 1999).
Die wichtigste Veränderung im Gehirn ist, dass zwischen den Hirnzellen mehr Verbindungen hergestellt werden. Dadurch können die Informationen der verschiedenen Zellen in größere Zusammenhänge gebracht und damit die Fähigkeit zur Übersicht über ein Ganzes erhöht werden. Darauf wird in Kapitel 2 näher eingegangen.
Egal, ob das Kind nun minder-, normal- oder hochbegabt ist – beim Eintritt in die Pubertät erlebt es einen Sprung im Denken, wodurch es die Erfahrung macht, ›plötzlich‹ alles zu verstehen. Das ist der Nährboden für die häufig ›rechthaberisch‹ anmutende Haltung von Jugendlichen, aber auch Grundlage für ihre Fähigkeit, sich Lösungen für die großen Probleme der Welt auszudenken.
Es kommt häufig vor, dass Menschen während der Adoleszenz zu wichtigen Einsichten gelangen, die Grundlage ihres späteren Lebens werden. Große Denker haben den Kern ihrer Ideen oft schon während der Adoleszenz entwickelt. Ihr weiteres Leben steht dann eher unter dem Zeichen der Vertiefung und Verfeinerung als unter dem der Erneuerung. Darwin (1809–1882) entwarf seine Evolutionstheorie (The Origin of Species. On Natural Selection, Darwin, 1859/2000) während der Expeditionsrei|18|se auf der Beagle (Darwin, 1839/1993), als er zwanzig Jahre alt war. Er hatte Angst vor der eigenen Entdeckung und publizierte sie erst zwanzig Jahre später, als jemand anderes (Alfred Russell Wallace) mit einer ähnlichen Theorie an die Öffentlichkeit wollte. Der Mathematiker Andrew Wilis war schon als Achtjähriger fasziniert vom 4. Theorem des Großen fermatschen Satzes; als Einundvierzigjähriger bewies er diese Behauptung, mit der sich Mathematiker mehrerer Jahrhunderte herumgeschlagen hatten.
So tief wie während der Adoleszenz denken wir wahrscheinlich nie wieder nach. Jeder von uns hat diese Erfahrung in mehr oder weniger großem Maße gemacht. Dem Denken Heranwachsender sollte mehr Anerkennung zuteil werden.
Ich selbst schrieb zwei Bücher über Männer und Frauen (Delfos, 2010; 2009; 2014a). Auffallend an den Geschlechtern sind nicht nur ihre Unterschiede, sondern gerade auch ihre Übereinstimmungen. In diesem Buch wird ein neuer Schritt in der Emanzipation gesetzt. Es plädiert ›für eine Emanzipation, die mit dem biologischen Strom fließt statt gegen ihn‹. Obwohl ich dieses Buch erst schrieb, als ich die fünfzig längst überschritten hatte, wurde der Keim bereits gelegt, als ich fünfzehn war. An meiner Schule gab es eine Schülerzeitung, auf deren Rückseite Witze und Sprüche standen. Ich kann mich nur an einen einzigen Spruch erinnern, in dem es hieß: Emanzipation = statt des Mannes Position. Den Gedanken, den ich damals hatte, weiß ich auch noch: Und deswegen wird es nicht gelingen! Tatsächlich überlegte ich mir damals schon, dass eine Emanzipation auf Grundlage der totalen Gleichheit zwischen Frau und Mann nicht gelingen kann, weil das Ziel Gleichwertigkeit heißen muss und nicht Gleichheit.
Da Jugendliche ziemlich plötzlich zu diesem großen intellektuellen Sprung ansetzen, sind sie oft noch ungeschickt im Umgang mit ihren neuen Möglichkeiten. Es ist wichtig, die erworbenen intellektuellen Fähigkeiten zu trainieren. Indem sie sich äußern, fühlen sich Jugendliche buchstäblich und im übertragenen Sinne ›angehört‹. Vor allem Erwachsenen gegenüber müssen Jugendliche ihre Meinung äußern können, ohne dass man ihnen das Wort abschneidet oder sie erniedrigt. Letzteres dürfen ins|19|besondere Eltern nicht tun. Auch wenn Jugendliche es nicht zeigen: Bei aller Kritik, die sie an ihren Eltern üben, ist ihnen deren Meinung doch enorm wichtig und sie sind diesbezüglich tief verletzbar. Für das junge Kind ist es von großer Bedeutung, die Meinung der Eltern zu hören. Bei Heranwachsenden hat das Zuhören müssen genau die gegenteilige Wirkung. Die Meinung eines anderen anhören zu müssen stoppt ihren eigenen Denkprozess (Übung 1.6, Anlage 1). Durch die sokratische Methode des Fragens nach näherer Erklärung (Kapitel 6) wird der Denkprozess Jugendlicher stimuliert. Im Verlauf des Gesprächs werden sie oft selbst die Argumente nennen, die Erwachsene ihnen hatten vorhalten wollen. Diese Argumente äußern sie nun allerdings aus ihrer eigenen Sicht, weshalb sie bedeutend effektiver sind.
Die Jugend stellt die Werte von Eltern und Gesellschaft zur Diskussion. Auch wenn das nicht immer ganz differenziert ist, leistet sie damit einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft. Kommunikation mit Jugendlichen ist daher bereichernd.
AUFBAU DES BUCHES
Der Einleitung folgt ein Kapitel über die Merkmale der Pubertät (Kapitel 2 Vorpubertät und Pubertät: Wachstum und Entwicklung), in dem die psychologische und biologische Bedeutung dieser Phase beleuchtet werden. Damit entsteht hoffentlich eine Grundlage des Verstehens von Jugendlichen, um die Kommunikation zwischen ihnen und Erwachsenen zu ermöglichen. Kapitel 3 (Jugendliche erziehen: Fallen und Aufstehen) beschäftigt sich mit der pädagogischen Problematik, die diesem Zeitraum eigen ist. In Kapitel 4 (Gespräch führen: Interesse und Respekt) werden die Haltung und die Gesprächsführung besprochen, die für Kommunikation im Allgemeinen und für die mit Jugendlichen im Besonderen wichtig sind. In Kapitel 5 (Den Jugendlichen befragen: Die Anhörung beider Parteien) stehen die verschiedenen Fragetechniken und ihr Wert während der Adoleszenz im Mittelpunkt.|20|
Die Informationen über Gesprächs- und Fragetechniken wurden bereits im ersten Band, »Sag mir mal …« Gesprächsführung mit Kindern, wiedergegeben. Hier werden sie nun an Heranwachsende angepasst. Zum Teil greife ich dabei auf die Zusammenfassung von Fiet van Beek (1997) von WESP zurück (Wissenschaftliche, Erzieherische und Sozialkulturelle Projekte), die ihrerseits aus dem Werk von Yarrow (1960), Rich (1968) und Emans (1990) schöpfte. Im Anschluss wird in Kapitel 6 (Die sokratische Methode: Entdecken lassen) die Kernmethodik besprochen, die sokratische Kommunikationsform. Diese Methode ist im Allgemeinen wirksam und in der Pubertät unentbehrlich. In Kapitel 7 wird die Art der Gesprächsführung nach Lebensalter eingeordnet. Der Epilog dient als Abrundung des Buches und betrachtet die Pubertät unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.
In Anlage 1 finden sich Fragen und Übungen, die für die Praxis der Kommunikation mit Heranwachsenden nützlich sind und sich insbesondere auch für pädagogische Ausbildungen eignen. Am Ende jedes Kapitels sind die jeweiligen Grundgedanken in Form von Kernaussagen aufgelistet, die außerdem auch in Anlage 2 zusammengestellt wurden. In Anlage 3 befindet sich ein Schema mit den Merkmalen der Kommunikation mit Jugendlichen in verschiedenen Lebensphasen ab der Vorpubertät.
Die im Buch genannten Beispiele dienen der Veranschaulichung des Textes und kommen aus der Praxis der Autorin. Wo notwendig, wurden die Beiträge anonymisiert und Namen verändert. Damit diese Beispiele leicht auffindbar sind, wurden sie im Anhang des Buches neben den Anlagen 1–3, dem Literaturverzeichnis, dem Namens- und Sachregister und einer Liste der Übersichten und Abbildungen in einer gesonderten Übersicht aufgeführt.
Der Veranschaulichung dienen auch einige Beispiele aus dem Tagebuch der dreizehnjährigen Josie, die so freundlich war, uns Fragmente ihrer Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Sie illustrieren viele der behandelten Themen, vom ›sich nicht mit der eigenen Mutter sehen lassen wollen‹ bis zum ›Drang nach Selbsttötung‹. Zu finden sind sie zwischen den Kapiteln 4 und 5.|21|
KERNAUSSAGEN
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Jugendliche können ihre Eltern tief verletzen.
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Eltern büßen schon ab dem Kindergartenalter an Bedeutung ein.
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Gleichaltrige sind für Jugendliche am wichtigsten.
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Der rote Faden zwischen Eltern und Kind heißt Kontakt.
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Nach der Pubertät ist die Beziehung meist besser denn je.
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Kommunikation mit Jugendlichen ist oft deutlich und schnörkellos.
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Gute Kommunikation ist wesentlich.
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Erwachsene schalten das Gehirn von Jugendlichen oft ›aus‹, indem sie einfach ›weiterpredigen‹.
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Richtig kommunizieren bedeutet: Gehirn einschalten.
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Gute Kommunikation braucht eine Haltung des Respekts und der Bescheidenheit.
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Die eigene Sachkenntnis des Heranwachsenden muss respektiert werden.
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Jugendliche erleben einen großen Sprung im Denken, wodurch sie plötzlich ›alles‹ verstehen.
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Heranwachsende sind echte Denker.|22|
2 VORPUBERTÄT UND PUBERTÄT – Wachstum und Entwicklung*
* Die Informationen dieses Kapitels stützen sich zu einem erheblichen Teil auf das Buch Ontwikkeling in vogelvlucht. De ontwikkeling van kinderen en adolescenten (Entwicklung aus der Vogelperspektive. Die Entwicklung von Kindern und Heranwachsenden; Delfos, 2011c).
Die Lebensphase zwischen dem zwölften Lebensjahr bis etwa Mitte zwanzig wird Adoleszenz genannt. Die alten Griechen sprachen von Adoleszenz (abstammend vom lateinischen Begriff adolescere) und siedelten das Ende dieser Phase bei fünfundzwanzig Jahren an. Angesichts der Tatsache, dass die Reifung des zentralen Nervensystems so lange braucht, um sich voll zu entwickeln, ist das gut getroffen. Das Corpus callosum, einfach ausgedrückt der Balken, der alle Teile des Gehirns miteinander verbindet und für Informationsaustausch und Koordination zuständig ist, nimmt im ersten Jahr nach der Geburt um 42 % zu und dann noch einmal um 110 % zwischen dem ersten und dem achtundzwanzigsten Lebensjahr (Ramaekers und Njiokiktjien, 1991).
Der Begriff Adoleszenz wird meist nur für den letzten Teil dieses Zeitraums verwendet, also für die Jahre zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Die Zeit zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensjahr bezeichnet man meist als Pubertät. Adoleszenz ist ein Überbegriff für Pubertät und Jugend. Während dieser Phase entwickelt sich das Kind äußerlich und im Verhalten von einem Heranwachsenden zu einem Erwachsenen. Der Eintritt ins Erwachsenenleben beginnt mit dem Erfüllen gesellschaftlicher Funktionen. Die Gesellschaft erwartet von Erwachsenen, dass sie durch Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen, die Verantwortung für Partnerschaft und/oder Familie |23|übernehmen und selbstständig weltanschauliche Standpunkte vertreten.
Die Adoleszenz ist charakterisiert durch Wachstum (körperliche Veränderungen) und Entwicklung (Zunahme psychischer Möglichkeiten). Das zierliche Schulkind wird zum kräftigen Erwachsenen mit reichlich Muskel- und Fettgewebe. Dieses Wachstum zeigt sich häufig in einem fast explosionsartigen Wachstumsschub. In den eigenen Augen und denen seiner Umgebung vollzieht sich im Kind innerhalb von ein oder zwei Jahren eine starke körperliche Veränderung. Aufgrund des plötzlichen Wachstums wirkt der Körper nicht mehr wie der ›eigene‹, der oder die (Vor-)Pubertierende fühlt sich oft schlaksig und ungeschickt und hat Mühe, den eigenen Körper zu akzeptieren.
Jugendliche haben, ausgehend von diesen Veränderungen auf körperlichem und psychischem Gebiet, ein großes Bedürfnis nach Privatsphäre. Plötzlich darf man sie nicht mehr nackt sehen, egal, wie frei sie zuvor waren. Sie versehen ihr Zimmer mit Warnschildern wie Zutritt verboten, andererseits haben sie noch kein Gefühl für die Privatsphäre ihrer Eltern. Es ist ein gegenseitiger Lernprozess von Eltern und Jugendlichen.
Der Pubertät geht die Vorpubertät voraus. Diese Phase setzt mit hormonellen Veränderungen ein. Bei Mädchen beginnt der Prozess meist früher, ungefähr mit zehn bis elf Jahren gegenüber zwölf bis dreizehn Jahren bei Jungen. Im Vergleich zu den vorigen Jahrhunderten setzt diese Phase immer früher ein (Abbassi, 1998; Wattigney, Srinivasan, Chen, Greenlund und Berenson, 1999; Kaplowitz, Slora, Wasserman, Pedlow und Herman-Giddens, 2001).
Die Vorpubertät ist der Zeitraum, in dem Kinder den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule erleben. Während dieser Phase stehen vor allem zwei Themen im Mittelpunkt: eine erfolgreiche Schullaufbahn und die Entwicklung einer sozialen Identität. Die Vorpubertät ist die körperliche Ankündigung des biologischen Erwachsenseins, die Pubertät die Phase des psychischen Erwachsenwerdens.
Während der Pubertät gibt es drei zentrale Themen: zum einen die Entwicklung von Selbstständigkeit mit einer Neudefini|24|tion der Eltern-Kind-Beziehung und der Herausbildung einer eigenen Identität, zum anderen die Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben und außerdem die Gestaltung der Sexualität. Für Eltern ist die Pubertät häufig eine schwierige Phase, für die meisten Jugendlichen ein spannender und turbulenter Zeitraum. Sie gehen völlig im Umgang mit Gleichaltrigen, der Welt und sich selbst auf. Dadurch scheinen sie wenig auf die Eltern orientiert zu sein.
DIE PUBERTÄT ALS KONSTRUKTION
Die Altersspanne, innerhalb derer der Eintritt ins Erwachsenenalter stattfindet, ist groß. Dies hat mit kulturellen und ökonomischen Faktoren zu tun. In der westlichen Kultur gibt es keinen deutlich markierten Übergang vom Kind zum Erwachsenen, keine Rituale, die den Übergang zur Geschlechtsreife markieren (Übergangsriten). Sogar in der Kleidung verschwindet der Unterschied zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen immer mehr.
Trotz der Volljährigkeitsgrenze, die im Allgemeinen bei achtzehn Jahren liegt, werden die meisten Achtzehnjährigen nicht wie Erwachsene behandelt. In unserer westlichen Gesellschaft erfüllen sie häufig auch noch keine Aufgaben von Erwachsenen. In vielen Kulturen vollzieht sich der Prozess des Erwachsenwerdens allmählich, indem die Heranwachsenden immer mehr ihnen angemessene Erwachsenenaufgaben erhalten. Auf diese Weise erfolgt der Übergang vom Kind zum Erwachsenen in kleinen Schritten. Das Phänomen Pubertät existiert überall auf der Welt. Auf Marokkanisch zum Beispiel heißt es ›morahek‹, auf Kreolisch ›okrieting‹, was aufwühlende Zeit bedeutet (Akkerman, Blokland, Hagens und Kleverlaan, 2004).
Manche Theoretiker sehen die Pubertät als nicht notwendige Phase, die nur durch die lange Ausbildungszeit entsteht, so dass die Jugendlichen relativ lange von ihren Eltern abhängig bleiben. Daher sei die Pubertät eine Konstruktion und keine selbstverständliche Lebensphase. Die Adoleszenz hat jedoch auch in |25|Bezug auf Gehirn und Denken einige Merkmale, die sie von anderen Phasen unterscheiden und die nur wenig mit Kultur oder Epoche zu tun haben.
Elkind und Weiner (1978) nennen Kennzeichen, die den Übergang vom Kind zum Erwachsenen charakterisieren. Beispiele hierfür sind der Abschluss der Ausbildung, der Eintritt in die Arbeitswelt und die Aufnahme von sexuellem Kontakt. Letzterer findet jedoch immer früher statt (Unfpa, 2003; de Graaf, Meijer, Poelan und Vanwesenbeeck, 2005). Ursache hierfür ist u. a. der frühere Eintritt der Pubertät durch Übergewicht und den Einfluss der Medien. Weltweit ist es üblicher geworden, schon recht jung sexuellen Kontakt zu haben (Blanc und Way, 1998). Vor allem bei Jungen ist dies der Fall, wie Untersuchungen in Ghana, Mali, Tansania, Jamaika und den Vereinigten Staaten gezeigt haben (Singh, Wulf, Samara und Cuca, 2000). Auch Medienberichte verweisen auf dieses Phänomen.
Ein Mädchen ›bumsen‹ ist das Normalste von der Welt. Jungen finden Sex mit einem jungen Mädchen nicht falsch, sagen sie vor Gericht. Drei Jungen aus Spangen (Rotterdam) mussten sich gestern wegen der Vergewaltigung einer Elfjährigen vor Gericht verantworten. »So etwas scheint es in jedem Viertel zu geben«, sagt der Staatsanwalt (Kamerman, NRC, 26. Juli 2005).
Im Allgemeinen berücksichtigt die Forschung sexuelles Verhalten erst ab einem Alter von fünfzehn Jahren, wodurch eine mögliche Verschiebung ins jüngere Alter weniger sichtbar ist. Und wenn es um dieses Alter geht, wird dies oft nur mit ›jünger als fünfzehn Jahre‹ angegeben, so dass nicht deutlich wird, wie jung. Das Durchschnittsalter, in dem Jugendliche zum ersten Mal Geschlechtsverkehr haben, sinkt weltweit. Sie gehen durchschnittlich etwas früher miteinander ins Bett. Darüber hinaus ist aber auch die Bandbreite sexueller Aktivitäten größer geworden, wobei auch neue Medien wie Internet und Mobiltelefone eine Rolle spielen. Eine der neu entstandenen Formen sexueller Aktivitäten ist, sich selbst und andere mit Hilfe von Handys in sexuellen Situationen digital zu fotografieren oder zu filmen und die Bilder sogar ins Internet zu stellen.|26|
Zum ersten Mal in der Geschichte findet Sexualität statt, bevor von biologischer Reifung die Rede ist (Delfos, 2003). Sexueller Kontakt kann daher auch kaum mehr als Kennzeichen für Erwachsensein gehandhabt werden. Im Abschnitt über Sexualität werden wir hierauf näher eingehen.
Die Pubertät steht im Ruf, eine turbulente Phase mit großen Problemen zu sein. Untersuchungen zeigen jedoch, dass in Wirklichkeit keine ernsthafteren Konflikte auftreten als in anderen Phasen (Rutter und Rutter, 1993). Costello und Angold (1995) geben an, dass der Anteil Jugendlicher, mit denen es Probleme gibt, ebenso wie in anderen Phasen bei 20 % liegt. Allerdings nehmen Jugendliche in dieser Phase ihre Eltern gründlich unter die Lupe, und dabei kommen sie eine Zeit lang gar nicht gut weg. Das elterliche Selbstbild gerät unter Beschuss. Dies ist einer der Gründe, weswegen Eltern diese Phase als schwierig erleben; von ihnen wird eine wesentliche Veränderung verlangt. Um selbstständig werden zu können, müssen sich Jugendliche von ihren Eltern lösen, und beide Parteien müssen gleichwertiger miteinander umgehen. Das funktioniert nur, wenn Eltern dies akzeptieren und sich auch selbst von den Jugendlichen lösen. Oft wollen sie ihren Kindern Dinge verbieten oder auferlegen. Aufgrund des Bedürfnisses nach Gleichwertigkeit führt dies leicht zu Widerstand: Verbote vergrößern die Möglichkeit, dass das unerwünschte Verhalten erst recht gezeigt wird.
Akkerman und Kollegen (2004) haben die Kennzeichen für das Erwachsenwerden (Elkind 1978) für Eltern in Ziele übertragen, die das Kind erreichen muss. Das Kind
1 kann selbst Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen;
2 kann auf sinnvolle Weise mit seiner freien Zeit umgehen;
3 wählt eine Stelle oder Ausbildung, die zu ihm passt;
4 achtet selbst auf seine Gesundheit und sein Äußeres;
5 kann Freundschaften pflegen und auf andere Rücksicht nehmen;
6 ist sich der Regeln bewusst, an die es sich zu halten hat;
7 kann eine Beziehung mit Intimität und Sexualität gestalten;
8 kann selbstständig wohnen, unabhängig von den Eltern.|27|
GESCHLECHTSREIFUNG
Pubertät beginnt im Gehirn. Der Hypothalamus steuert den Prozess und stimuliert die Abgabe von Stoffen, welche die Hormonbildung durch die Hypophyse regeln (Giedd u. a., 1999). Die Adoleszenz geht mit großen Veränderungen auf körperlichem, kognitivem und psychosexuellem Gebiet einher: Das Erwachsenwerden wird sichtbar. Vor allem die körperlichen Veränderungen fallen auf. Während in der ersten Phase der Adoleszenz die körperlichen Veränderungen im Mittelpunkt stehen, ist es im zweiten Teil das Erleben des Körpers. Erwachsenwerden vollzieht sich nicht nur von innen nach außen, sondern wird auch von der Umgebung beeinflusst. Man spricht von einer Wechselwirkung. Das Umfeld stellt Ansprüche an den Jugendlichen.
Eine der tiefgreifendsten Veränderungen während der Pubertät ist die eintretende Geschlechtsreife. Marshall und Tanner (1974) nennen fünf Phänomene, die dabei eine Rolle spielen:
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Der Wachstumsschub führt zu einem starken Anstieg von Größe und Gewicht.
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Die Geschlechtsdrüsen (die Hoden bei Jungen und die Eierstöcke bei Mädchen) erreichen ihre ausgewachsene Form und Funktion.
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Die sekundären Geschlechtsmerkmale (wie Haarwuchs) entwickeln sich.
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Die Verteilung von Fett- und Muskelgewebe über den Körper verändert sich drastisch.
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Physiologische Veränderungen lassen Muskelkraft und Durchhaltevermögen stark zunehmen.
Dieser Reifungsprozess hat mit der Empfängnis begonnen und wird erst zum Ende der Adoleszenz abgeschlossen. Nach dem hinsichtlich der Reifung ausgesprochen aktiven ersten Jahr setzt im Alter von etwa sieben Jahren erneut eine intensive Phase mit verstärkter Hormonproduktion ein. Diese betrifft unter anderem das Wachstumshormon, die speziellen Hormone für die |28|Wachstumsregelung der Geschlechtsdrüsen und die Produktion der Androgene: das ›männliche‹ Geschlechtshormon Testosteron und das ›weibliche‹ Östrogen. Es dauert noch ungefähr fünf Jahre, bevor die Auswirkungen dieses Prozesses in der Pubertät deutlich sichtbar werden. Für Mädchen ist die Adrenarche wichtig, die Reifung der Nebenniere, wodurch u. a. die Produktion von Adrenalin gefördert wird. Diese Reifung findet ungefähr um das zehnte Lebensjahr herum statt und spielt eine wichtige Rolle bei den Emotionen (Friedman, Charney und Deutsch, 1995).
Nach de Wit, van der Veer und Slot (1995) sind (niederländische) Jungen mit sechzehn Jahren biologisch erwachsen, Mädchen mit fünfzehn. Verschiebungen dieses Alters haben mit kulturellen Faktoren zu tun, vor allem mit der Nahrung. Die Zunahme des BMI (Body Mass Index: Gewicht geteilt durch Körpergröße zum Quadrat) hängt mit der Verfrühung der Menarche, der ersten Menstruation, zusammen, obwohl manche Ergebnisse suggerieren, dass diese beiden Prozesse größtenteils voneinander unabhängig sind (Demerath, Towne, Chumlea, Sun, Czerwinski, Remsberg und Siervogel, 2004; Delfos 2011d). Bei Übergewicht (ein ›gesunder‹ BMI liegt zwischen 18,5 und 24,9) besteht ein höheres Risiko auf verfrühte Menarche (Kaplowitz, Slora, Wasserman, Pedlow und Herman-Giddens, 2001). In wohlhabenden Gesellschaften findet die erste Menstruation, die Menarche, relativ früh statt (Malik und Hauspie, 1986; Graham, Larsen und Xu, 1999). Vermutlich hängt dies auch mit dem Gesundheitszustand und Hygienebedingungen zusammen. Es scheint allerdings so zu sein, dass die erste Menstruation immer noch früher stattfindet, als man aufgrund bisheriger Beobachtungen – alle zehn Jahre um drei Monate – erwarten konnte (Tanner, 1990; Rees, 1993). Der Anstieg sexuellen Kontakts in jüngerem Alter verweist auf eine möglicherweise verfrühte biologische Reifung, stimuliert diese aber auch gleichzeitig. Die sexuellen Reize durch Medien können unter anderem zu früheren Experimenten führen, was dann wiederum eine vorzeitige Hormonproduktion zur Folge hat. Hierauf wird im Abschnitt über Sexualität näher eingegangen.|29|
Die Reihenfolge der Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen bei Jungen ist ziemlich konstant. Erst wachsen die Hoden (ein Testikel, Hoden, von 4 ml oder mehr ist das Zeichen beginnender Pubertät, Mul, 2004) und das Scrotum (Hodensack). Danach kommt das Schamhaar. Wachstum, Wachstumsschub und Peniswachstum erfolgen meist ein Jahr später. Bart- und Achselbehaarung setzen in der Regel spät in der Pubertät ein. Die zeitliche Situierung der ersten Ejakulation (Samenerguss) ist nicht eindeutig. Manche sprechen von einem Alter um das vierzehnte Lebensjahr herum, ein Jahr nach Beginn des Peniswachstums, andere von einem Durchschnittsalter von zwölf Jahren. Ein Erguss ohne Samen – Emission – kann schon viel früher stattfinden, in Ausnahmefällen ist er bereits ab acht Jahren möglich.