E-Book-Ausgabe 2015
Copyright © 2014 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Coverfoto: Keystone
www.lenos.ch
ISBN 978 3 85787 913 5 (EPUB)
ISBN 978 3 85787 914 2 (Mobipocket)
Chalid al-Chamissi: Unterwegs im Taxi
Alaa al-Aswani: Hier wird nicht gefummelt
Salwa Bakr: Eine Frau auf dem Gras
Ghada Abdelaal: Eine Mistgesellschaft
Alaa al-Aswani: Ein abgetragenes Kleid und ein Kopftuch
Sonallah Ibrahim: Die strahlendste arabische Persönlickeit
Gamal al-Ghitani: Weicher als Seide, sanfter als Moschusduft
Sabri Mussa: Der Goldbarren
Jussuf Idris: Der Stuhlträger
Chalid al-Chamissi: Tag der Erleuchtung
Alaa al-Aswani: Die schöne Frau eines Häftlings
Jussuf Idris: Der Abschaum der Menschheit
Sabri Mussa: Der Apfel an meinem Trauerbaum
Salwa Bakr: Engel ohne Flügel
Tajjib Salich: Ihre Augen wie die Farbe Kairos
Ibrahim Aslan: Der Spatz am Ende der Schnur
Die Autorinnen und Autoren
»Wenn ich Ihnen erzähle, was mir passiert ist, werden Sie mir nicht glauben«, sagte der Fahrer. »Seit über zwanzig Jahren fahre ich Taxi und habe eine Menge gesehen. Aber was ich gerade erlebt habe, übertrifft alles, was mir je untergekommen ist.«
»Erzählen Sie schon«, sagte ich.
»In Schubra hat mich eine Frau mit einem Nikab angehalten, die nach Muhandissîn wollte. Sie hatte eine grosse Tasche dabei und setzte sich nach hinten. Kaum waren wir auf der Brücke des 6. Oktober1, bemerkte ich, wie sie erst nach rechts und nach links schaute und dann den Nikab ablegte. Ich sah sie im Rückspiegel, denn unter dem grossen Spiegel habe ich noch einen kleinen angebracht, damit ich sehen kann, was hinten passiert. Schliesslich muss man auf der Hut sein. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Jedenfalls trug sie plötzlich nur ein einfaches Kopftuch. Ich war überrascht, sagte aber nichts. Dann nahm sie das Kopftuch ab. Sie hatte Lockenwickler, die nahm sie raus und tat sie in ihre Tasche. Dann begann sie sich die Haare zu bürsten.
Als sie bemerkte, dass ich sie durch den Rückspiegel beobachtete, schrie sie auf: ›Schauen Sie nach vorn!‹ Ich fragte: ›Aber was machen Sie denn da?‹ Sie brüllte: ›Das geht Sie nichts an. Fahren Sie, und seien Sie still!‹
Ehrlich gesagt wollte ich schon anhalten und sie rauswerfen. Doch ich sagte mir, dass mich das tatsächlich nichts angeht. Und zudem: Mal sehen, was sie noch alles ablegt. Als Nächstes zog sie ihren Rock aus. Toll, dachte ich, da hab ich ja ne Gratisvorstellung! Als ich wieder hinschaute, trug sie einen Minirock und eine schwarze Strumpfhose. Sie faltete den langen Rock und packte ihn in die Tasche. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf. Ich starrte in den Spiegel, und als das Auto vor mir plötzlich bremste, wäre ich fast hinten reingefahren. Sie schrie mich an wie eine Irre: ›Du alter Knacker, schäm dich! Guck nach vorne und fahr!‹
Sie zog eine hübsche enganliegende Bluse an, und ich hielt meine Klappe. Die andere Bluse legte sie in die Tasche. Dann nahm sie ihr Schminkzeug heraus, malte sich die Lippen an, legte Rouge auf und tuschte sich die Wimpern.
Kurz und gut, als ich von der Brücke herunter nach Dukki fuhr, war sie eine völlig andere Frau. Kaum zu glauben, dass sie dieselbe Person war, die verschleiert in Schubra bei mir eingestiegen war.
Zum Schluss streifte sie ihre einfachen Schlappen ab und zog High Heels an. Ich sagte: ›Junge Frau, jeder von uns hat ja so seine Eigenarten, aber erzählen Sie mir doch bitte, was mit Ihnen los ist.‹
›Ich steige in der Muhi-al-Dîn-Abu-al-Is-Strasse aus.‹ Ich blieb still und wiederholte meine Frage nicht. Doch dann fing sie an zu erzählen: ›Ich arbeite als Kellnerin in einem Restaurant. Das ist ein anständiger Job. Ich bin eine anständige Frau und gehe einer ehrlichen Arbeit nach. Während der Arbeit muss ich gut aussehen. Aber in meinem Viertel kann ich nur mit dem Nikab das Haus verlassen. Eine Freundin hat mir einen gefakten Arbeitsvertrag mit einem Spital in Ataba besorgt. Meine Familie glaubt, ich würde dort arbeiten. Als Kellnerin verdiene ich jedoch tausendmal mehr. An einem einzigen Tag kriege ich so viel Trinkgeld, wie ich in einem ganzen Monat in diesem lausigen Spital verdienen würde. Meine Freundin kassiert von mir hundert Pfund im Monat, damit sie den Mund hält. Die kümmert sich eh nur um sich selbst. Normalerweise ziehe ich mich immer bei ihr um. Aber heute ging das nicht, also musste ich es im Taxi tun. Noch Fragen, Herr Staatsanwalt?‹
›Meine Dame, ich bin kein Staatsanwalt, und wenn ich einen sähe, würde es mir glatt die Sprache verschlagen. Ich habe mich nur gewundert, dass Sie sich hier im Taxi umziehen, und wollte wissen, warum.‹ Dann bedankte ich mich, dass sie mir ihre Geschichte erzählt hatte. Ganz im Ernst, mein Herr, ist das nicht bizarr?«
»Vor diesem Tag zitterte ich vier Monate lang. Tag für Tag sagte ich zu mir: Noch fünfzig Tage, noch fünfundvierzig Tage … Es war wie ein Albtraum, der mich plagte, wie ein Fluch, dem ich nicht entkommen konnte. Wissen Sie, der Taxiführerschein muss alle drei Jahre erneuert werden. Was man in diesen Tagen durchmacht, streicht man am besten jedes Mal schnellstens aus seiner Erinnerung. Die drei Jahre danach vergehen wie im Fluge, und schon geht das Ganze von vorne los, und man ist völlig hilflos.
Ich werde Ihnen, mein Herr, von der Tortur erzählen, die ich ertragen musste. Bis wir in Schubra ankommen, ist die Geschichte zu Ende, und so vertreiben wir uns die Zeit.
Ich fuhr also zum Verkehrsamt in Madînat al-Salâm. Ich wohne in Dar al-Salâm. Beide Namen bedeuten ›Frieden‹, aber um von mir zum Verkehrsamt zu kommen, muss ich mit drei verschiedenen Buslinien fahren, das bedeutet dreimal Streit und dauert mindestens zwei Stunden. Im Verkehrsamt erfuhr ich dann, welche Dokumente ich vorlegen musste: ein polizeiliches Führungszeugnis mit Fingerabdrücken und Foto, eine Bescheinigung der Sozialversicherung, eine von der Gewerkschaft und ein Arztzeugnis.
Natürlich würde man vom Verkehrsamt zur Filiale Bassatîn der Sozialversicherung in Maâdi drei Stunden brauchen, denn das eine liegt ganz im Norden und die andere ganz im Süden der Stadt. Vor Büroschluss hätte ich das nicht mehr geschafft.
Also fuhr ich am nächsten Tag dorthin. Der Beamte, der für die Bescheinigungen zuständig ist, sagte: ›Bezahlen Sie erst, und kommen Sie dann wieder zu mir!‹ Ich ging zur Kasse, vor der eine unglaublich lange Schlange stand. Ich bezahlte vierhundertvierundzwanzig Pfund für die drei Jahre und ging zu dem Beamten zurück. Der stellte mir eine Quittung aus und schickte mich nach oben, um Unterschrift und Stempel zu holen. Dann sollte ich wieder zu ihm kommen. Also ging ich die Treppe hoch zu einer Frau und sagte zu ihr: ›Ich möchte gern eine Unterschrift und einen Stempel.‹ Doch sie sagte mir, ich solle zu Frau Soundso gehen. Frau Soundso schickte mich zu Frau Sowieso. Ich machte eine ganze Runde, bevor eine Beamtin endlich unterschrieb und mir sagte, den Stempel müsse ich mir aber im Büro der Direktorin im anderen Flügel holen. Ich ging zur Direktorin, doch die war gerade auf der Toilette. Ich wartete darauf, dass sie zurückkam, aber umsonst. Ich überlegte, ob sie wohl gerade entbunden wurde. Nach einer geschlagenen Stunde kam sie dann doch zurück und stempelte die Papiere. Ich ging wieder hinunter zum ersten Beamten, musste aber eine halbe Stunde auf ihn warten. Er schaute sich die Unterlagen an und sagte: ›In Ordnung, Sie können gehen.‹ Hätte er mir das nicht vorher sagen können? Dann hätte ich nicht noch auf ihn warten müssen. Immerhin war ich wieder draussen.
Am selben Tag auch noch zur Gewerkschaft zu fahren war natürlich nicht möglich, denn die ist in Abduh Pascha in Abbassîja. Von Maâdi nach Abbassîja ist es eine Weltreise.
Am nächsten Tag fuhr ich also zur Gewerkschaft nach Abduh Pascha. ›Guten Morgen, guten Morgen.‹ Ich gab dem Funktionär meinen alten Mitgliedsausweis, und er verlangte einhundertfünf Pfund von mir. Ich fragte ihn: ›Warum einhundertfünf?‹ Er sagte: ›Es ist teurer geworden, wussten Sie das nicht?‹ Ich antwortete: ›Nein, das hat mir keiner gesagt. Man verheimlicht mir solche Dinge, da ich herzkrank bin.‹ Er meinte: ›Wie dem auch sei, es steht alles dort am Schwarzen Brett. Schauen Sie selbst nach.‹ Ich sagte: ›In Ordnung‹, schaute mir den Anschlag an, rechnete die Beiträge nach und kam auf eine Summe von dreiundachtzig Pfund. Ich ging zu ihm zurück und beschwerte mich: ›Es sind nur dreiundachtzig Pfund, wieso sagen Sie dann einhundertfünf?‹ Er antwortete: ›Der neue Beitragssatz wurde rückwirkend eingeführt. Sie müssen die Differenz für die letzten drei Jahre nachzahlen.‹ Darauf fragte ich ihn: ›Sie meinen die drei Jahre, die ich schon vor drei Jahren bezahlt habe?‹ Er nickte, und ich hakte nach: ›Und so einen rückwirkenden Erlass gibt es wirklich?‹ Er winkte ab. ›So funktioniert das System. Zahlen Sie nun, oder zahlen Sie nicht?‹
Da ich keine Wahl hatte, zahlte ich natürlich. Aber etwas beschäftigte mich noch, und ich bat ihn: ›Darf ich Sie noch was fragen?‹ – ›Nur zu.‹ – ›Welchen Nutzen haben wir eigentlich von dem ganzen Geld, das wir hier bezahlen?‹ – ›Gar keinen‹, antwortete er. ›Und Sie sagen mir das offen ins Gesicht‹, erwiderte ich, ›Gott schütze Sie.‹
Da fiel mir ein anderer Typ auf, der gerade seine Beiträge bezahlte und nach diesem und jenem fragte. Die sagten ihm, es wäre für die Solidaritätskasse. Darauf meinte er: ›Ich will bloss den Gewerkschaftsbeitrag bezahlen, ich brauche niemanden, der zu meiner Beerdigung kommt. Das ist nicht eure Angelegenheit, und ich will nicht in die Solidaritätskasse einzahlen.‹ Als ich ging, diskutierten sie immer noch. Wie das Ganze ausging, weiss ich nicht.
Hoffentlich langweile ich Sie nicht. Aber Sie sehen ja noch recht wach aus, also erzähle ich mal weiter.
Am nächsten Tag ging ich zur Polizeiwache in Bassatîn, um mir mein Führungszeugnis zu holen. Das war eine Tortur. Ich werde Ihnen sagen, warum.
Nachdem ich lange in der Schlange gewartet hatte, verlangte ein Polizist, ich solle mir eine Polizeimarke2 besorgen. Ich ging hinein, um sie zu kaufen, doch die sagten mir: ›Nein, gehen Sie zur Wache in Maâdi oder in al-Chalîfa.‹ Ich fragte: ›Warum? Sind die Marken dort schöner?‹ – ›Nein, du Komiker‹, erhielt ich zur Antwort, ›die Polizeimarken werden dort verkauft, hier nicht.‹ – ›Aber wieso denn das? Ist das hier etwa keine Polizeiwache? Warum haben Sie dann keine Marken? Sie wollen, dass ich extra nach Maâdi fahre?‹ Der Kerl meinte bloss: ›Halten Sie hier nicht den Betrieb auf! Verschwinden Sie! Der Nächste, bitte.‹
Ich fuhr also mit dem Taxi zur Polizeiwache in Maâdi und wieder zurück und bezahlte dafür zwölf Pfund, nur um eine Polizeimarke für drei Pfund zu kaufen. Als ich zurückkam, musste ich mich natürlich wieder ganz hinten anstellen. Eine wahre Folter! Es war Donnerstag3, und man sagte mir, dass ich das Führungszeugnis am Samstag abholen kann.
Am Samstag ging ich früh los, um gleich dranzukommen, aber das entpuppte sich als Wunschtraum. Ich musste draussen warten, während die Paschas frühstückten. Dann war das Dokument immer noch nicht da. Jedenfalls bekam ich es schliesslich doch noch, aber zum Verkehrsamt konnte ich am selben Tag nicht mehr fahren. Das war wirklich ein Problem, denn der Besitzer des Taxis drohte damit, sich einen anderen Fahrer zu suchen.
Am nächsten Morgen fuhr ich von Dar al-Salâm zum Verkehrsamt nach Madînat al-Salâm. Nach all den Kämpfen fühlte ich mich mit den Papieren in der Tasche nun gestärkt. Doch sie sagten bloss: ›Zum Gesundheitsamt!‹ Also ging ich dorthin. Davor standen Leute, die Arztzeugnisse verkauften. ›Wer braucht ein Zeugnis? Wer braucht ein Zeugnis?‹, rief einer. Richtige Schwarzhändler! Ich nahm mir ein Zeugnis von dem Typen und fragte ihn, was es kostet. Er verlangte zwei Pfund. Zufällig kam ein anderer Fahrer vorbei und sagte: ›Da oben kriegst du es für umsonst.‹ Die Schwarzhändler warfen ihm böse Blicke zu. Der Mann, der mir das Zeugnis verkauft hatte, kam noch mal zu mir und sagte: ›Wenn mein Zeugnis nicht akzeptiert wird, bring es zurück, und ich gebe dir das Geld wieder.‹
Ich ging nach oben zum Schalter, und der Beamte löste mein Foto von dem Dokument ab, das ich für zwei Pfund gekauft hatte. Ich fragte ihn: ›Wollen Sie das Zeugnis nicht?‹ Als er verneinte, sagte ich: ›Dann geben Sie es mir bitte wieder.‹ Ich ging zurück zu dem Mann, der sie verkaufte, und fragte ihn: ›Hältst du dein Wort?‹ Er hielt Wort, und ich bekam die zwei Pfund zurück.
Das Nächste war der Termin für den Gesundheitstest. Ich wollte ihn auf Samstag legen, aber sie sagten mir, ich solle schon am Dienstag kommen. Dann dachte ich mir, ich nutze die Gelegenheit und hole mir gleich meinen Auszug aus der Verkehrssünderkartei, denn der wird bei jeder Gelegenheit verlangt. Dort traf ich auf alle möglichen Tagediebe. Einer sprach mich sogleich an: ›Zu Ihren Diensten, Bey, dürfen wir die Bescheinigung für Sie besorgen?‹ Ich fragte ihn, was das kosten soll. ›Zehn Pfund. Fünf Pfund für den Auszug und fünf Pfund für unseren Lebensunterhalt.‹ – ›Was soll das heissen, euer Lebensunterhalt?‹ – ›Der Gotteslohn für unsere Mühe‹, sagte er. ›Dann sag mir Bescheid, wenn du mal irgendwo Gotteslohn herumliegen siehst. Den können wir nämlich alle gebrauchen‹, gab ich zurück. ›Wenn Sie sich selbst in die Schlange stellen, machen Sie die Hölle durch. Mit den Leuten da drin werden Sie nie fertig‹, warnte er mich. Doch ich erwiderte: ›Ich habe nichts Besseres zu tun, der Tag ist sowieso im Eimer. Ich warte noch auf den Gesundheitstest.‹
Ich liess ihn stehen und stellte mich in die Schlange. Natürlich dauerte es eine Ewigkeit. Schliesslich kaufte ich die Bescheinigung für fünf Pfund und legte sie im Verkehrsamt vor. Die nahmen weitere fünf Pfund von mir, obwohl ich gar keine Verkehrsverstösse begangen hatte. Aber die müssen einfach immer Geld nehmen, sie nennen es Winterhilfe oder Sommerhilfe oder was weiss ich. Dann wartete ich rund zwei Stunden. Natürlich gab es keinen Sonnenschirm oder so was in der Art, und wir wurden förmlich geröstet. Endlich riefen sie uns über Lautsprecher. Ich nahm den Auszug und ging. Das war ein anstrengender Tag.
Schlafen Sie etwa, mein Herr? Ich rede ja bloss. Stellen Sie sich vor, was Ihnen passiert wäre, wenn Sie mit mir dort gewesen wären. Gut, ich erzähle weiter, denn meine Stimme hat ja anscheinend eine beruhigende Wirkung auf Sie.
Ich wartete bis Dienstag. Sie haben keine Ahnung, wie voll es dort war. Die Schlangen zogen sich um den ganzen Wohnblock! Ich wartete in einer dieser Schlangen. Ein Mann stand dort und rief immerzu: ›Jeder mache sich bereit und wünsche uns einen guten Morgen!‹ Natürlich meinte er mit dem Guten-Morgen-Wünschen bloss, dass jeder ihm ein Almosen geben soll. Ich gab ihm ein Pfund. Endlich konnte ich rein und das Formular ausfüllen. Dann durften wir zur Ärztin, um unsere Reflexe und unsere Augen untersuchen zu lassen. Dort passierte etwas Merkwürdiges. Der Fahrer vor mir wollte seinen Führerschein erneuern lassen, der vor etwa sechs Jahren abgelaufen war. Er wollte den Sehtest machen und dabei seine Brille tragen, doch die Ärztin lehnte das ab: ›Wenden Sie sich zuerst an das Verkehrsamt. Sie haben Ihren Führerschein seit sechs Jahren nicht erneuert, und auf dem Foto da tragen Sie keine Brille.‹ Der Mann sagte: ›Und wie soll ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen?‹ Die Ärztin schlug vor, er solle den Test ohne Brille machen, aber er meinte, dann würde er gar nichts sehen. Darauf sagte sie: ›Erkundigen Sie sich beim Verkehrsamt!‹ Heulend kam der Mann heraus. Ich kam nach ihm dran und war nervös. In meiner zittrigen Hand hielt ich die Brille, die ich mir eine Woche zuvor extra für den Test hatte machen lassen. Der Ärztin sagte ich: ›Auf dem Foto trage ich keine Brille.‹ Sie sagte: ›Kein Problem, setzen Sie ruhig Ihre Brille auf.‹ Und sie hob ihre Stimme, damit es jeder hören konnte: ›Schauen Sie, wir sind schliesslich keine Unmenschen. Sie sind ein gestandener Fahrer, Ihr Führerschein ist noch nicht abgelaufen, und Sie wollen ihn ganz normal erneuern. Kein Problem. In das Zeugnis schreibe ich: ohne Brille.‹ Natürlich war mein Fall genau gleich gelagert wie bei dem Mann vor mir. Aber wie dem auch sei, ich machte den Test mit Brille, und alles ging gut. Die ganze Sache dauerte drei Stunden. Sie sagten mir, ich solle zwei Tage später zum Verkehrsamt gehen.
Am Donnerstag ging ich dorthin. Die Sonne brannte erbarmungslos, und ich dachte bei mir: Prima, dann wird meine Glatze gegrillt. Als ich endlich drankam, sagte die Beamtin: ›Bezahlen Sie an der Kasse die Gebühr für das Computerfoto.‹ Der Computer funktionierte zwar nicht, aber für das Computerfoto musste ich trotzdem bezahlen. Ich stellte mich wieder hinten in die Schlange, und als ich abermals an der Reihe war, meinte die Beamtin, ich müsse noch Steuermarken besorgen. Also beschaffte ich mir die Steuermarken und stellte mich dann nochmals hinten an. Die ganze Zeit über gab es keinen Sonnenschutz, und zum Schluss hätte man ein Spiegelei auf meiner Glatze braten können. Schliesslich konnte ich der Beamtin alle Papiere übergeben. Sie warf einen Blick darauf und sagte: ›Alles ist in Ordnung. Warten Sie, bis Ihr Name aufgerufen wird. Aber der Computer ist kaputt, deshalb bekommen Sie nur einen provisorischen Führerschein.‹ Ich erwiderte: ›Geben Sie mir einfach irgendwas, und wenn es auf Klopapier geschrieben ist. Hauptsache, ich kann damit fahren und es vorzeigen, wenn es jemand verlangt.‹
Ich wartete bestimmt zwei Stunden, dass jemand meinen Namen aufrief. Nichts. Es war schon fast zwei Uhr, und die Angestellten machten sich bereit für den Feierabend. Wir waren nur zwei, die noch nicht aufgerufen worden waren. Der andere Fahrer hiess Nâdir, ein rundlicher, sympathischer Bursche. Wir gingen zum Schalter, um nachzufragen, doch zu unserer Überraschung fanden sie unsere Akten nicht mehr. Nâdir schob der Beamtin ein Bakschisch rüber und sagte: ›Stellen Sie uns einfach eine neue Akte aus. Tun Sie, was Sie können.‹ Sie nahm das Geld, stellte zwei Dokumente aus und sagte: ›Hier ist Ihr Führerschein für drei Monate. Wenn wir Ihre Akten nicht finden, müssen Sie uns Kopien von all Ihren Papieren, der Geburtsurkunde und so weiter bringen.‹ Ich nahm den Drei-Monats-Führerschein und sagte aus Dankbarkeit die Elefantensure auf. Ich konnte es kaum fassen.
Wenn ich wach liege, murmle ich vor mich hin: Werden sie die Akte finden? Wird der Computer repariert werden? Werde ich einen neuen Führerschein bekommen? Es ist ein Albtraum, der nie endet. Verstehen Sie, warum man uns das antut?«
Aus dem Arabischen von Kristina Bergmann
Die »Innenstadt« war für mindestens hundert Jahre das kommerzielle und soziale Zentrum Kairos. Dort lagen die grössten Banken, die ausländischen Firmen, die Kaufhäuser, die Praxen und Büros der berühmtesten Ärzte und Anwälte, die Kinos, die feinen Restaurants. Die einstige ägyptische Elite hatte die Innenstadt als europäischen Stadtteil Kairos konzipiert, und so findet man Strassen wie in jedweder europäischen Grossstadt: derselbe Baustil, derselbe ehrwürdige historische Hauch. Bis zum Beginn der sechziger Jahre erhielt sich die Innenstadt ihr echt europäisches Gepräge, und diejenigen, die die Gegend damals kannten, erinnern sich an diese Eleganz. So gehörte es sich für die Einheimischen nicht, dort in der Gallabija zu flanieren, und es war undenkbar, dass man in dieser traditionellen Gewandung der kleinen Leute in Restaurants wie Groppi’s, A l’Américaine, dem Odéon oder sogar in den Kinos Métro, Saint James, Radio oder anderen Etablissements Einlass erhielt, die von ihrer Klientel einen kompletten Anzug mit Krawatte beziehungsweise Abendkleid erwarteten. Die Läden waren an Sonntagen allesamt geschlossen, und an christlich-katholischen Festen wie Weihnachten oder Neujahr war die Innenstadt von oben bis unten geschmückt wie eine europäische Hauptstadt. In den Schaufenstern blinkten Festgrüsse auf Französisch und Englisch, Tannenbäume und Puppen, die den Weihnachtsmann darstellten, und in Restaurants und Bars drängten sich Ausländer und Aristokraten, die mit Speis und Trank und Tanz feierten.
Die Innenstadt war immer voller kleiner Bars gewesen, wo sich die Leute in der Freizeit oder am Wochenende ein paar Gläschen genehmigen und von den delikaten Häppchen naschen konnten, die zu erschwinglichen Preisen zu haben waren. In den dreissiger und vierziger Jahren boten einige Bars neben Getränken auch noch Unterhaltung an – einen griechischen oder italienischen Pianisten oder eine Gruppe ausländischer jüdischer Tänzerinnen.
Bis Ende der sechziger Jahre gab es allein in der Sulaimân-Pascha-Strasse etwa zehn kleine Bars. Dann kamen die siebziger Jahre. Die Innenstadt verlor allmählich an Bedeutung, und das Herz von Kairo verlagerte sich dorthin, wo die neue Elite lebt, nach al-Muhandassîn und Nasr-City. Eine unwiderstehliche Woge der Religiosität überspülte die ägyptische Gesellschaft, und Alkohol zu trinken wurde gesellschaftlich verpönt. Alle ägyptischen Regierungen nacheinander gaben dem religiösen Druck nach – ja, sie überboten politisch vielleicht sogar noch die islamistische Opposition – und begrenzten den Verkauf alkoholischer Getränke auf die grossen Hotels und Restaurants. Auch die Erteilung von Bewilligungen für neue Bars wurde restriktiver gehandhabt, und beim Tod der meist ausländischen Inhaber hob die Regierung die Ausschankbewilligung auf und zwang die Erben, die Art des Betriebs zu ändern. Zu all dem kamen noch die ständigen Polizeirazzien in Bars, in deren Rahmen man die Gäste filzte, ihre Kennkarten überprüfte und sie manchmal auch für weitere Ermittlungen auf den Posten mitnahm.
So kam es, dass zu Beginn der achtziger Jahre in der gesamten Innenstadt nur noch ein paar verstreute kleine Bars übrig waren, deren Inhaber der religiösen Flut und dem Druck der Regierung zu widerstehen vermocht hatten – mittels Diskretion oder Bestechung. Es gibt in der Innenstadt keine einzige Bar mehr, die ihre Existenz als eine solche anzeigt. Ja, das Wort Bar ist inzwischen durch das Wort Restaurant oder Coffeeshop ersetzt worden, und die Inhaber von Bars oder Alkoholikaläden strichen die Glasscheiben ihrer Etablissements bewusst dunkel, um nicht erkennen zu lassen, was im Innern vor sich geht, oder sie legten in den Schaufenstern Papiertüchlein oder sonst etwas aus, was ihre wahre Tätigkeit nicht preisgibt. Kein Gast darf mehr etwas Alkoholisches auf dem Gehweg vor der Bar trinken oder auch nur an einem offenen Fenster, das auf die Strasse hinausgeht. Scharfe Vorkehrungen wurden getroffen, nachdem junge Burschen aus der islamistischen Bewegung einige Alkoholikaläden in Brand gesteckt hatten.
Die Inhaber der wenigen noch verbliebenen Bars wurden verpflichtet, regelmässig beträchtliche Abgaben an die Geheimpolizisten zu leisten, zu deren Bezirk sie gehörten, ausserdem an die Beamten in der Gemeindeverwaltung für die Bewilligung der Weiterführung des Betriebes. Da aber der Verkauf billiger einheimischer alkoholischer Getränke nicht genügend einbringt, um all diese Abgaben zu leisten, sahen sich die Inhaber von Bars gezwungen, einen »anderen Weg« zu finden, um ihre Einkünfte zu erhöhen. Einige entschlossen sich, die Prostitution zu fördern, indem sie leichte Mädchen als Bardamen anstellten, so in der Cairo-Bar am Taufikîjaplatz oder in der Mido- und der Pussycat-Bar in der Imâd-al-Dîn-Strasse. Andere begannen die Alkoholika, statt sie zu kaufen, in primitiven Anlagen selbst zu produzieren und damit ihren Profit zu vervielfachen, so in der Halgijân-Bar in der Antik-Châna-Strasse oder im Jamaica in der Scharîfstrasse. Miserable, hausgemachte Alkoholika dieser Art führten zu ein paar üblen Vorfällen – das berühmteste Opfer war ein junger Bildhauer, der nach dem Genuss eines verdorbenen Brandys in der Halgijân-Bar sein Augenlicht verlor. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft die Schliessung der Bar an, doch schaffte es ihr Inhaber später mit den üblichen Mitteln, sein Etablissement wieder öffnen zu dürfen.
So sind also die noch verbliebenen kleinen Bars in der Innenstadt nicht mehr wie früher preiswerte, saubere Orte der Erholung, sondern sie sind zu schlecht beleuchteten und ungenügend belüfteten Höhlen geworden, aufgesucht im Allgemeinen von ordinären und zweifelhaften Gestalten. Es gibt nur einige wenige Ausnahmen von dieser Regel, so das Maxim in der Passage zwischen der Kasr-al-Nil- und der Sulaimân-Pascha-Strasse und das Chez nous gleich beim Jakubijân-Bau.
Chez nous ist französisch und bedeutet »bei uns zu Hause«. Die Bar dieses Namens liegt einige Stufen unterhalb des Strassenniveaus. Dank der dicken Vorhänge ist das Licht auch während des Tages gedämpft. Der grosse Tresen steht Chez nousChez nous