LUCY ROBINSON
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Sonja Fehling
Zu diesem Buch
Annie Mulholland hat Schlimmes erlebt. Doch zum ersten Mal seit Langem keimt neue Hoffnung in ihr: Nicht nur hat sie einen neuen Job in einem angesagten Medienunternehmen ergattern können. Sie hat sich auch verliebt, und das, obwohl sie von Männern eigentlich erst einmal die Finger lassen wollte. Stephen Flint, ihr charismatischer Chef, ist wie ein Ritter in strahlender Rüstung in ihr Leben getreten und legt ihr nun die Welt zu Füßen: Reisen in exotische Länder, Aufenthalte in luxuriösen Hotels, teure Geschenke – alles scheint zu gut, um wahr zu sein.
Auch Kate Brady hofft, dass sich für sie nun endlich alles zum Guten wendet. Nach einem schrecklichen Erlebnis hat sie beschlossen, ihr Leben in Dublin hinter sich zu lassen und ganz von vorn zu beginnen. Sie ist aufs Land gezogen und arbeitet nun als Pferdepflegerin im Reitstall des berühmten Springreiters Mark Waverley, der in der Wirklichkeit genauso attraktiv ist wie im Fernsehen. Kates Happy End scheint – wie Annies – in greifbarer Nähe.
Doch Annie und Kate haben noch mehr gemeinsam …
Ein kleines Mädchen sitzt am Rande eines Feldes. Lange Präriegrashalme kitzeln es am Kinn. Es kann die Gänseblümchen riechen, die in Ketten um seinen Hals hängen; ein herber, saftiger Geruch, der es an saure Milch bei Gewitter erinnert. Die Kleine lehnt sich nach hinten gegen die Bruchsteinmauer und beobachtet einen Käfer, der an ihrem Schienbein heraufkrabbelt. Hier gibt es viele Käfer; Käfer und juckende Stellen auf der Haut und leuchtend grüne Grashalme, die mit kleinen Härchen übersät sind.
Die Sonne klettert höher in den Himmel hinauf. Das Mädchen möchte am liebsten hinüber auf die andere Seite des Feldes gehen und sich unter die uralten Buchen setzen, deren schaukelnde grüne Blätter wie ein Kaleidoskop über dem Kopf aussehen und zwischen deren knorrigen Wurzeln man sich so wunderbar verstecken kann.
Ihre Mutter ist immer noch im Wald. Die Kleine möchte losgehen und sie suchen, darauf bestehen, dass sie mit dem Spiel weitermachen. Doch sie kann nicht. Obwohl sie nicht genau versteht, warum, weiß sie, dass sie bei der Mauer bleiben muss, versteckt hinter den langen Grashalmen, bis ihre Mutter zurückkommt.
Später werden sie Äpfel pflücken gehen und eine Tarte Tatin backen, was auch immer das ist.
Sie schnuppert an ihrem Unterarm, der ganz heiß ist und so einen komischen malvenartigen Geruch absondert, und sie fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis irgendetwas passiert. Dieses Spiel gefällt ihr nicht.
Weiter entfernt in der Mitte der Wiese, wo das Gras kürzer ist, formen Gänseblümchen eine blühende Decke, die seltsam flimmert in der unnachgiebigen Hitze des Tages. Die Kleine wünscht sich, sie hätte nie vorgeschlagen, Verstecken zu spielen.
Wieder hört sie ein Geräusch aus den Tiefen des Waldes, einen furchtbaren, angsteinflößenden Laut, und sie fängt an, zu weinen.
Verwirrt starrte ich in den Heuboden hinein.
Das war ja überhaupt kein Heuboden.
Das war ein viereckiger weißer Raum mit einem Einzelbett und einem Aufkleber am Kleiderschrank, auf dem »I PONYS!« stand. Was mich aber noch mehr enttäuschte, war ein nicht satirisch gemeintes Poster von Mark Waverley, meinem neuen Arbeitgeber, wie er neben einem Pferd stand und in die Kamera starrte. Der Fotograf mochte ihm vielleicht gesagt haben, er solle geheimnisvoll und ein wenig verführerisch gucken, doch das war ihm nicht gelungen. Er sah aus wie ein Vollidiot. Attraktiv, aber dennoch ein Vollidiot.
Die junge Frau, die mich die Treppe hinaufgeführt hatte, beobachtete mich amüsiert und mit unverhohlenem Mitleid. Sie weiß, dass ich tatsächlich einen Heuboden erwartet hab.
»Alles okay, Süße?«, fragte sie in ihrem typisch nordenglischen Geordie-Dialekt, und in der wettergegerbten Haut rund um ihre Augen blitzten Lachfalten auf.
»Ja! Das ist … Das ist ein schönes Zimmer!«
»Klar«, stimmte sie mir zu, aber es war offensichtlich, dass sie es nicht ernst meinte. »Sehr hübsch eingerichtet.«
Ich lächelte. »Nicht ganz so toll wie die anderen.«
Aber immerhin befand es sich im Dachgeschoss des Hauses – eines Hauses, in dem es ziemlich hektisch zuging. Für mich reichte das.
»Ich bin Becca«, sagte die junge Frau, während sie sich das breite flauschige Stirnband vom Kopf zog, das sie draußen getragen hatte. »Und es tut mir leid, dass du das schlechteste Zimmer abbekommen hast. Die Praktikanten kriegen leider immer das hier! Aber zumindest bist du ganz oben, das verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Joe nackt hier reingestürmt kommt.«
»Joe?«
»Einer von den anderen Pferdepflegern. Notgeiler kleiner Mistkerl.« Sie bemerkte, wie ich blass wurde. »War nur ’n Witz, Süße. Joe ist zwar ’ne alte versaute Hure, aber er fragt immer vorher.«
»Hahahaha«, antwortete ich matt. »Fragt immer vorher. Na toll.«
Damit Becca nicht merkte, dass ich kurz vor einem hysterischen Anfall stand, kratzte ich alles zusammen, was irgendwie Ähnlichkeit mit einem breiten Lächeln hatte – einem von der Sorte, die die gängigen Zeitschriften wohl als überschwänglich bezeichnet hätten.
»Ist das dein erster Job in einem Reitstall?« Ihr Blick glitt hinunter zu meinen brandneuen roten Hunter-Gummistiefeln.
»Ja. Ist wahrscheinlich an meinen Gummistiefeln unschwer zu erkennen.«
Becca, die auf mich nicht den Eindruck machte, als ob sie sich über anderer Leute Schuhe lustig machen würde, zuckte nur die Achseln. Sie hatte eine Bubikopf-Frisur, trug einen Nasenring, und zwischen ihren tätowierten Fingern steckte eine erloschene selbst gedrehte Zigarette – wie ein alter, kranker Rüssel, der sich aufgegeben hatte und in ihrer Hand gestorben war.
Genauso fühlte ich mich langsam auch. Wie ein alter, kranker Rüssel, der aufgegeben hatte und … Meine Güte, hörst du wohl damit auf!, schalt ich mich innerlich. Ich bin Kate Brady, das fröhliche kleine Ding aus Dublin! Kate Brady suhlt sich nicht in der Schlimmen Scheiße! Nicht jetzt und auch nicht später!
»Genau, erster Job«, sagte ich etwas beherzter. »Aber Pferde sind mir nicht vollkommen fremd.«
»Das hoffe ich doch, Süße!«
Gott! Viel fehlte dazu aber auch nicht.
Becca schmiegte sich an meine Heizung, um sich aufzuwärmen; es herrschten nicht gerade angenehme Temperaturen hier drin. »Letzte Woche hatten wir so ’ne ganz piekfeine junge Praktikantin«, erzählte sie mir. »Achtzehn, frisch von der Landwirtschaftsschule … Eins von diesen Mädels, die sich eher auf den Besen stützen, als damit zu fegen, du verstehst?«
»Klar«, entgegnete ich kopfschüttelnd und machte mir eine gedankliche Notiz.
»Und weißt du, was dieses dumme Huhn an ihrem ersten Tag gesagt hat?«
»Was denn?«
»Sie hat gesagt: ›Das hier ist ja wie in ’nem Jilly-Cooper-Roman. Ich kann’s kaum erwarten, endlich Mark zu treffen – er sieht so heiß aus!‹. Und ich dachte nur: ›Tötet mich auf der Stelle!‹«
»Nein!« Ich zwang mich zu einem Kichern. »Die hat gedacht, sie kann hier den ganzen Tag Champagner trinken und in der Gegend rumpoppen?«
»Genau.« Becca schüttelte den Kopf. »Die war hier, um ihren persönlichen Rupert Campbell-Black zu treffen, die dumme Kuh.«
»Rupert Campbell-Black!«, schrie ich. »Oh mein Gott!« Ich hätte genau dasselbe gesagt wie sie.
Becca fuhr sich mit den Händen durchs Haar, das müde herunterhing und ziemlich schmuddelig war. Wobei diese Beschreibung eigentlich auf alles an ihr zutraf: Oben an ihren langen Strümpfen hingen Heureste, und ihre Fleecejacke war voller Löcher. Tattoos blitzten unter jedem Stück Kleidung hervor, das sie anhatte, und aus ihrem Zimmer, das sich am Fuß der Treppe direkt gegenüber von meinem befand, kam gedämpfte Techno-Trance-Musik.
Becca war das genaue Gegenteil sämtlicher Charaktere in den Jilly-Cooper-Romanen, die ich gelesen hatte, aber ich mochte sie jetzt schon. Sie hatte so etwas Schelmisches im Gesicht, und außerdem hatte sie sich mit rührender Liebenswürdigkeit um mich gekümmert, seit ich vor einer halben Stunde verschüchtert die Gemeinschaftsküche betreten hatte – mit zitternden Händen und wildem Blick.
Hoffentlich werden wir Freundinnen, dachte ich. Eine Verbündete konnte ich dringend gebrauchen.
»Sex und Partys und so was.« Becca sah wehmütig aus. »Das hier ist wahrscheinlich der einzige Vielseitigkeitsstall, in dem es all das nicht gibt. Wenn sie Rock ’n’ Roll will, hätte sie die Straße runter zu Carolines Stall gehen und dort anfangen sollen.«
»Caroline?«
»Caroline Lexington-Morley!«
»Natürlich«, murmelte ich.
Becca schien gar nicht aufzufallen, dass ich keine Ahnung hatte, von wem sie redete. »Am Abend, bevor die Turniere losgehen, sind Caroline und ihre Pferdepfleger immer die Ersten an der Bar, während wir in Marks Transporter festsitzen und seine Stiefel polieren. Er ist ein uncharmantes Arschloch, Süße, und er sieht nicht mal gut aus. Jilly Cooper würde nie so ’ne Figur erfinden.« Sie massierte sich die Ferse und blickte mit einem gespielt grimmigen Gesichtsausdruck zu Marks Poster hinüber. »Neulich hat jemand einen Artikel in der Elle über ihn geschrieben – der Mädchenschwarm des Olympiateams. Mark Waverley? Die Frau muss auf Drogen gewesen sein! Der ist doch hässlich wie ’ne Kröte!«
Überrascht drehte ich mich wieder zu dem Poster um. Obwohl er so böse dreinblickte, sah der Mann eindeutig gut aus: groß, dunkelhaarig, klassisch attraktiv. Ähnlich wie Colin Firth, befand ich, allerdings ohne dessen sanften Blick. Er hatte nichts von einer Kröte. Andererseits sah Becca auch nicht so aus, als würde sie sich sehr für Männer interessieren. Und diese Kälte in Marks Gesichtszügen – dieser leichte Hauch von angestautem Ärger – gefiel mir auch nicht.
Ich hatte Mark Waverley bei den Olympischen Spielen 2012 in London gesehen und seinen Hintern bewundert – und die ruhige, unerschrockene Art, mit der er durch den monströsen Geländeparcours geritten war. Aber damals war ich auch noch ein anderer Mensch gewesen. Alles, worüber ich mir hatte Sorgen machen müssen, waren solche Dinge wie Regenponchos oder die Länge der Schlange im Burger-Restaurant gewesen. Hätte mir jemand gesagt, dass ich nur wenige Jahre später mein Leben aufgeben und für Mark Waverley arbeiten würde, im tiefsten Südwesten Englands, hätte ich erst gelacht, dann geweint und mir wahrscheinlich anschließend einen Strick genommen.
»Na ja«, sagte ich schließlich, »er sieht nicht so aus, als würde er sich in seiner Haut wohlfühlen.«
Becca brach in schallendes Gelächter aus. »Mark Waverley fühlt sich wohler in seiner Haut als alle Männer, die ich je getroffen hab! Wenn er sich nur mal ein bisschen unwohler fühlen würde, dann wäre er vielleicht nicht so ein Arschloch, Süße. Das ist dir doch sicher beim Vorstellungsgespräch aufgefallen.«
Ich runzelte die Stirn. »Na ja, eigentlich …«
Becca fuhr fort: »Wenn ich mich hier nicht um so wunderschöne Pferde kümmern dürfte, hätte ich schon vor Jahren gekündigt. Der hat sie echt nicht mehr alle – hier geht’s manchmal zu wie in ’nem Arbeitslager.«
Ich fühlte, wie ich innerlich zusammenbrach, obwohl ich wild entschlossen war, selbstbewusst aufzutreten. Hatte ich mich etwa in einen Albtraum hineinmanövriert, der genauso schlimm war wie der, den ich gerade hinter mir hatte? War das hier, genau wie alles andere, was ich in letzter Zeit getan hatte, nur eine weitere schwerwiegende Fehleinschätzung?
Alles ist gut, Kate Brady, bläute ich mir entschlossen ein. Das mit Jilly Cooper war nur ein flüchtiger Gedanke! Du bist nicht blöd, nur ein kleines bisschen neben der Spur im Moment. Und offen gesagt: Wenn dieser Job hier harte Arbeit beinhaltet, dann umso besser. Du brauchst etwas, das dich auf andere Gedanken bringt.
»Also, dein Typ, Mark Waverley, war beim Vorstellungsgespräch gar nicht dabei«, gestand ich. »Ich hab nur Sandra kennengelernt, das Vergnügen mit Mark steht mir dann wohl noch bevor.«
Becca hörte mit ihrer Fersenmassage auf. »Sandra? Sandra hat dich eingestellt?« Sie fing an, zu grinsen.
»Ja. Ist das so ungewöhnlich?«
»Das ist sogar verdammt ungewöhnlich, Süße!«
Sandra war wahnsinnig entzückend gewesen: wie eine Tasse heiße Schokolade in Menschengestalt, die sich angeregt mit mir darüber unterhalten hatte, wie gut Pferde dufteten und wie unglaublich stolz sie auf ihren Sohn war. »Wie er sozusagen aus dem Nichts aufgestiegen ist und es bis ins Spitzenteam geschafft hat, und das in nur sechs Jahren!«, hatte sie mit verklärtem Blick zu mir gesagt, als ob ich wüsste, was genau das zu bedeuten hatte. »Mark ist ein ganz besonderer Mann – ich bin mir sicher, es wird Ihnen viel Spaß machen, für ihn zu arbeiten. Wenn Sie die Stelle denn überhaupt möchten, Kindchen?«
»Ja, natürlich«, hatte ich geantwortet, und plötzlich hatten wir uns die Hände geschüttelt und sie hatte mir gesagt, dass ich das Team als Stallpraktikantin unterstützen würde, Unterkunft inbegriffen und Beginn nächste Woche, falls das in Ordnung sei?
»Das ist perfekt«, hatte ich geflüstert und mich an meinen ersten Hoffnungsschimmer seit langer Zeit geklammert. Das könnte sie sein, die Fahrkarte ohne Rückschein raus aus meinem Leben, nach der ich mich so gesehnt hatte, während ich nie wirklich daran geglaubt hatte, dass es so etwas überhaupt gab. Es war mir egal, dass ich keine Bezahlung bekommen würde. Ich würde ein Dach über dem Kopf haben, Essen auf dem Tisch und viele Kilometer zwischen mir und meinem Problem. Hier, im Schoße der Hügel von Exmoor, würde ich sicher sein, umgeben von Leuten und trotzdem abgeschirmt von der Welt.
Becca sah immer noch perplex aus. »Sandra hat also das Vorstellungsgespräch geführt, ja? Also, Mark würde das seiner Mum nur dann erlauben, wenn er schon absolut sicher war, was dich angeht.«
Irgendetwas stimmte hier nicht. »Echt?«
»Sandra ist ziemlich verpeilt, das ist alles, Süße, und ich hab noch nie gehört, dass sie die Bewerbungsgespräche führt. Aber Mark hat sich deinen Lebenslauf bestimmt genau angeschaut. Wird sicher alles super sein.«
Hab ich’s dir nicht gesagt?, meldete sich die Schlimme Scheiße zu Wort. Hab ich nicht gesagt, dass das Ganze ein bisschen zu einfach war? Hab ich nicht?
Nach dem Vorstellungsgespräch hatte ich mich gewundert, wie leicht es gewesen war, einfach so hereinzuschneien und einen Job in einem der angesehensten Vielseitigkeitsställe des Landes zu ergattern. Ich wusste fast nichts über Pferde und noch weniger über Vielseitigkeitsreiten, aber mir war mehr als bekannt, wer Mark Waverley war: Er war einer der Besten, und das nicht nur in Großbritannien, sondern auf der ganzen Welt. Wie ungewöhnlich, dass es für ihn okay war, wenn eine blutige Anfängerin in seinem Reitstall herumfuhrwerkte! Mann, hatte ich ein Glück gehabt: Ich hatte nichts weiter tun müssen, als Sandra beizupflichten, dass ihr Sohn ein großartiger Reiter war! Das war ja echt zu schön, um wahr zu sein!
So, wie es sich anhörte, schien sich genau diese Befürchtung jetzt zu bewahrheiten. Bitte nicht, flehte eine ängstliche kleine Stimme in meinem Innern. Ich brauche diese Stelle unbedingt.
Abrupt ließ ich mich auf den Rand meines Bettes sinken, woraufhin die Schlimme Scheiße gackernd auflachte. Sie hatte mich wieder in ihrem Visier.
Schlimme Scheiße bezeichnete alles und jedes, was das Leben weniger schön machte. »Kate Brady hat ein Talent zum Glücklichsein«, sagten die Leute oft. »Sie ist immer gut drauf!«
Das Problem war, dass die Schlimme Scheiße in letzter Zeit überhandgenommen hatte. Ich war noch nie weniger gut drauf gewesen. Komm schon, Brady, flehte ich. Kämpfe.
»Okay … Worauf würde Mark denn in meinem Lebenslauf genau schauen?«, fragte ich kläglich. Heiße Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen, während ich mich auf die Erniedrigung vorbereitete, die Beccas Antwort mit sich bringen würde. Ich hatte keine Kraft mehr, um zu kämpfen.
Becca zuckte die Achseln. »Ach, du weißt schon, das Übliche halt. Erfahrung mit Pferden, gutes Stallmanagement, ausreichende Reitkenntnisse – wobei: so schnell wirst du hier nicht auf ein Pferd steigen. Du musst einfach ’ne Wahnsinnsbegeisterung mitbringen!«
»Und, ähm, nur um das richtig zu verstehen, das hier ist ein Praktikum, oder? Auch wenn man dafür viel Erfahrung haben muss?«
»Gott, ja! Kannst du dir vorstellen, dass wir hier ’nen blutigen Anfänger reinlassen? Unter Marks Leitung?«
Ich versuchte alles, um die Tränen zurückzudrängen. Ich legte den Kopf zurück und atmete tief durch, aber ich konnte sie nicht aufhalten. Ein dicker Tropfen der Scham und Verzweiflung rollte mir aus dem Auge, gefolgt von einem zweiten. Und dann strömten sie mir über die müden Wangen und fielen auf meinen steifen neuen Goretex-Mantel.
Dieser Job war nicht die Lösung. Absolut nicht. Morgen früh würde ich meine Sachen packen müssen. Und dann? Angst regte sich in meinem Bauch wie ein flinkes schwarzes Tier.
Becca kam zu mir herüber. »Gibt es ein Problem, Süße?«, fragte sie munter. »Natürlich gibt’s ein Problem«, ergänzte sie dann. »Ist ja offensichtlich. Sag’s Tante Becca. Wir kriegen das schon wieder hin.«
Ich weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.
Becca kramte in ihren Taschen herum und fand ein feuchtes, zusammengeknülltes Taschentuch und einen komischen dunkelblauen Handschuh mit Noppen. »Du kannst eins dieser beiden hier zum Naseputzen nehmen«, bot sie mir an. »Aber wenn ich du wäre, würde ich deinen schönen neuen Ärmel benutzen.«
Langsam und traurig wischte ich mir die Nase an meinem schönen neuen Ärmel ab. »Ich werde so was von gefeuert«, sagte ich schließlich.
»Ach, das denken wir alle. Vor allem wenn der Hitler da drüben uns zusammenscheißt«, entgegnete Becca und gestikulierte zu Mark Waverleys Poster hinüber. »Aber du kriegst das schon hin, kleine Maus. Du schaufelst ja schließlich nur die Scheiße weg.«
Ich wischte mir die Hände an der Jeans ab und lächelte mutlos. »Nein, ich werde ganz sicher gefeuert. Ich hab überhaupt keine Ahnung von Pferden«, gestand ich ihr. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in einem Reitstall gewesen, geschweige denn in so einem.«
Becca neigte den Kopf zur Seite. Offenbar kam sie gar nicht auf die Idee, dass ich tatsächlich die Wahrheit sagen könnte.
Ich holte tief Luft. »Im Prinzip haben Sandra und ich uns nur lange über Mark unterhalten, darüber, wie nett er doch ist, und sie hat mir den Job direkt angeboten.«
Becca runzelte die Stirn. »Aber dein Lebenslauf, Süße, ich verstehe das nicht …«
»Ich hab gar keinen geschickt. Ich hab nur per E-Mail auf die Internetanzeige geantwortet und geschrieben, wie sehr ich Pferde liebe und dass ich bereit bin, hart zu arbeiten und … Ich hatte ja keine Ahnung! Es hieß, das hier wäre ein Praktikum!«
»Stimmt. Aber sicher …«
»Nichts sicher. Ich wollte aus Dublin weg, hab diese Anzeige für ein Einstiegspraktikum in Somerset gesehen, und bumm.«
Becca dachte kurz nach. »Und du hast dich noch nie um Pferde gekümmert? Überhaupt nie?«
Ich beugte mich hinunter und öffnete den Reißverschluss meines Koffers. Darin befanden sich einige Topshop-Jeans, ein hübscher Cardigan aus Merinowolle und an der Seite ein Paar braune Stiefeletten aus Wildleder und ein Rock. Außerdem eine ziemlich unbescheidene Auswahl an Gesichtspflegeprodukten. »Glaubst du«, fragte ich, »dass ich so packen würde, wenn ich mich schon mal um Pferde gekümmert hätte?«
Becca lugte in den Koffer. »Oh.«
Ich legte den Kopf in die Hände, und Becca sog hörbar die Luft ein, während sie über meine Situation nachdachte. Ich fragte mich, ob man mich überhaupt hier übernachten lassen würde, und bei diesem Gedanken fing ich erneut an, zu weinen.
»Ach, nicht weinen«, sagte Becca geistesabwesend. »Noch ist nicht alles verloren.«
»Es ist so was von verloren«, entgegnete ich schluchzend. »Und als Tüpfelchen auf dem i hab ich hier auch noch alles durcheinandergebracht.«
Becca tätschelte mir den Arm. Auf der Hand hatte sie ein Tattoo von einer kleinen Maus. »Das ist schon okay«, beruhigte sie mich. »Wir können einfach ’ne neue Anzeige schalten, gar kein Problem. Mark wird wahrscheinlich seine Mum anschreien, sie wird sagen, dass es ihr leidtut, dann lachen wir alle darüber, und du kannst dir ’nen neuen Job suchen. ’nen besseren!«
»Aber es gibt keinen besseren«, murmelte ich. »Der hier war der beste. Ich brauche diesen Job mehr, als du ahnst …«
Während ich weinte, tätschelte Becca mir weiter den Arm und beobachtete mich mit einer Faszination im Blick, die ich unter anderen Umständen komisch gefunden hätte. »Süße«, sagte sie schließlich, »hast du dir ein kleines Problemchen eingebrockt?«
Ein kleines Problemchen. Fast hätte ich darüber gelächelt.
»Also, damit kenne ich mich aus«, fuhr Becca sanft fort. »Und wenn du den Job behalten musst, helfe ich dir, es zu vertuschen. Aber du musst mir schon sagen, worum es geht.«
In diesem Moment war ich so verzweifelt, dass ich fast in Erwägung zog, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. »Na ja«, begann ich, nachdem ich mir die Nase geputzt hatte. Besser, ich blieb erst mal bei den Schlagzeilen. »Ich hatte so eine Art Nervenzusammenbruch.«
Becca sah mich aufmunternd an. »Hatten wir den nicht alle mal?«
»Ich wollte in Dublin bei Google Karriere machen, aber ich musste kündigen, weil ich nicht mit dem Stress umgehen konnte.«
Zu meiner Überraschung fing Becca an zu kichern. »Bist du etwa aus dem Irrenhaus geflohen?«, fragte sie. »Und jetzt sind dir ein Haufen Psychiatertypen auf den Fersen?«
»Ähm, ich hoffe nicht. Ich bin auch nicht durchgedreht, nur ziemlich heftig an meine Grenzen gestoßen. Burn-out, du weißt schon.«
Becca schlug sich auf die Schenkel. »Haha! Burn-out! Gibt’s ja nicht.«
Verkniffen lächelte ich. »Der Job war okay, ich war das Problem. Ich meine, sie haben alles getan, um mich zu unterstützen … Aber ich spinne halt ein bisschen. Ich hab mich übernommen und alles zu nah an mich rangelassen, verstehst du?«
Becca nickte mitfühlend, aber ich konnte sehen, dass sie sich bemühte, nicht zu lachen.
Ich holte tief Luft. »Ich bin hierhergekommen, weil ich – buchstäblich – frische Luft gebraucht hab. Ich wollte irgendwohin, wo ich eine Zeit lang nicht über Dublin und die Schlimme Scheiße nachdenken muss.«
Becca schaffte es nicht, sich länger zusammenzureißen. Zuerst prustete sie nur, doch dann gab sie auf und brach in schallendes Gelächter aus. »Süße, was du brauchst, ist ’ne Gehirntransplantation! Ich fass es nicht! Du hast deine Stelle gekündigt, weil du unter Stress gelitten hast, und dann suchst du dir ’nen Pferdestall aus, um dich zu erholen? Wo du zwölf Stunden am Tag körperlich schuften musst? Was hast du dir denn dabei gedacht?«
»Ähm …«
»Hättest du nicht in ’nem Imbisswagen oder so was arbeiten können, Schnucki? Oh Gott, das ist echt zum Schreien.«
So erschöpft und verängstigt ich auch war, ich musste lächeln. Becca rollte sich mit einem imaginären Gewehr in der Hand über mein Bett, ging vor meinem Fenster in Angriffsposition und nahm jemanden ins Visier. Mit ihrem Bubikopf und den dunklen Augen sah sie ziemlich überzeugend aus, fand ich.
»Bumm«, flüsterte sie in ein imaginäres Headset. »Beide feindlichen Angreifer ausgeschaltet. Dieser Bereich ist gesichert, ich wiederhole: Dieser Bereich ist gesichert. Alle Psychospezialisten, die Kate Brady verfolgt haben, wurden ausgelöscht.« Sie rollte sich zurück und setzte ihren Gefechtshelm ab. »Es wird alles gut, Süße. War ’ne knappe Kiste, aber ich hab die Lage unter Kontrolle.«
Ich musste kichern, was momentan ziemlich selten vorkam. »Klingt lächerlich, oder?«
»Das tut es tatsächlich, Süße, aber du hast mich echt aufgeheitert. Eine Flüchtige in unserer Mitte!«
Wir lachten beide, und ich war sehr dankbar, dass diese völlig Fremde ihren Feierabend opferte, um sich meine Schlimme Scheiße anzuhören. Zumindest in Ansätzen.
»Körperlich geht es mir gut«, beharrte ich. »Nur meine Psyche hat das Ganze nicht mehr gepackt. Die harte Arbeit macht mir nichts aus, Becca. Ich brauche einfach mal ’ne Auszeit.«
Becca betrachtete mich, während es in ihrem Gehirn sichtlich arbeitete. »Okay, Süße, lass uns darüber reden, was wir machen.« Ihr Lächeln war verschwunden, obwohl auf ihrem Gesicht immer noch ein warmer Ausdruck lag. »Ich kann dir helfen, deinen Job zu behalten, wenn du willst, aber ich muss wissen, ob es dir damit wirklich ernst ist. Wenn du einfach nur abgehauen bist, um auf einem netten Hof rumzuhängen und mit den hübschen Pferdchen zu spielen, bist du hier am falschen Platz.«
Ich schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich will ’nen festen Tagesablauf, ich will körperliche Arbeit, und ich will irgendwo leben, wo es ganz anders ist als, na ja, in Dublin. Ich bin nicht hier, um mit den hübschen Pferdchen zu spielen.«
Becca stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und musterte mich eingehend. Sie hatte eine kleine süße Stupsnase, die genauso aussah wie die von meiner Mum. »Das hier ist einer der härtesten Jobs überhaupt, Kate. Pferdepfleger überleben nur, weil sie das alles unbedingt wollen. Man bekommt nie genug Schlaf, man arbeitet bei Schnee und strömendem Regen, man darf nie krank werden oder müde sein, und man hat nicht viel Kontrolle über sein Leben. Die Pferde stehen immer an erster Stelle. Deine Familie zum Beispiel – du wirst in nächster Zeit keinen Urlaub bekommen, um rüber nach Irland zu fliegen. Ist das okay für dich?«
Ich atmete tief ein. »In den nächsten Monaten rechnet meine Familie sowieso nicht mit mir«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Begeistert sind sie davon nicht, aber – na ja, sie werden’s überleben.«
Ich lächelte, weil mein schlechtes Gewissen mich zu überwältigen drohte und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.
»Okay. Also, zu alldem kommt noch hinzu, dass Mark ein Arschloch ist, und Tiggy – die Stallmanagerin – ist nur dann nett, wenn du nach ihren Regeln spielst. Oh, und Joe ist zwar ein lieber Kerl, aber auch ein geiler Bock.«
»Super.«
Sie lächelte schief. »Das ist kein leichter Job. Bist du sicher, dass du ihn willst?«
»Absolut«, antwortete ich.
Becca nickte, offensichtlich zufrieden. »Dann vergessen wir dieses Gespräch. Du wirst dir deinen süßen Hintern wundarbeiten und Dublin und deinen ›Burn-out‹ innerhalb von fünf Minuten vergessen haben. Deal?«
»Deal. Aber was ist mit all dem Kram, den ich über Pferde wissen müsste?«
»Erst mal lernst du, wie man Scheiße wegschaufelt, Kleine, und dann bringen wir dir den Rest bei. Lass das mal Tante Becca machen.«
»Aber wenn Mark Waverley so schlimm ist, wie du sagst, verlierst du deinen Job.«
»Sehr edel gedacht. Aber wo willst du hin, wenn ich dir nicht helfe?«
Gute Frage. Um mich herum herrschte eine gähnende Leere; eine Welt, die mir nicht mehr freundlich gesinnt war. »Irgendwas finde ich schon.«
Becca grinste. »Kate, du Süße, das klappt schon alles. Bis Marc sich überhaupt mal die Mühe macht, dich nach deinem Namen zu fragen, wirst du genug wissen, um alles zu vertuschen.«
Langsam atmete ich aus. Vielleicht war das hier doch die Lösung. »Warum tust du das für mich?«, fragte ich Becca.
Zu meiner Überraschung errötete sie. »Nicht so wichtig«, murmelte sie. »Das muss dich gar nicht kümmern, Süße. Okay, haben wir einen Deal?«
Ich streckte meine Hand aus – weich, zart und weiß, wie sie war – und ergriff die raue, gerötete und schmutzige Hand von Becca. »Wir haben einen Deal«, sagte ich leise. »Und was immer du für Gründe hast, mir zu helfen: danke.«
»Es gibt ’ne Menge zu lernen«, verkündete Becca, deren Wangen immer noch glühten. »Aber wir kriegen das schon hin.« Sie zog ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier aus der Jackentasche und drehte sich mit erstaunlicher Fingerfertigkeit eine Zigarette. Plötzlich hatte ich dieses Geordie-Mädel mit dem Bubikopf und dem Nasenring unglaublich gern. Am liebsten hätte ich Becca an ihrer schmutzigen Fleecejacke gepackt und die ganze Nacht umarmt. Ich fühlte mich so verloren und allein, so vollkommen abgeschnitten vom gesamten Universum, dass meine persönlichen Grenzen tot darniederlagen. Ich hätte auch ein Huhn umarmt, wenn es nett zu mir gewesen wäre.
»Richte dich erst mal ein, und dann komm runter und lern die anderen kennen. Später gebe ich dir dann ’ne Unterrichtsstunde.«
Ich zwang mich zu meinem schönsten Lächeln. Es musste aussehen, als hätte ich Migräne. »Super! Danke! Ich bin in ’ner Minute unten!«
»Cool. Bis gleich.«
»Ach, Becca?«
»Ja?«
»Wann fangen wir morgens an?«
»Um sieben.« Sie klang so lässig, als wäre das eine total normale Zeit, um wach zu sein. Von der Arbeit im Matsch und bei Kälte ganz zu schweigen.
Ich ließ mich zurück auf mein ziemlich mittelprächtiges Bett sinken.
»Wirst du dich jetzt umbringen, Süße?«
»Ja.«
»Richtig so. Ich lass dich dann mal allein.« Während sie den Raum verließ, summte sie die Trancemusik mit, die aus ihrem Zimmer kam.
Ich schob den Riegel vor meine Tür und ging hinüber zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Als ich über den von Flutlicht beschienenen Hof hinweg zu den samtig schwarzen Wiesen dahinter blickte, fühlte ich erneut eine schwache Hoffnung in mir aufkeimen. Ich musste einfach nur von Tag zu Tag leben und darauf vertrauen, dass ich der ganzen Sache gewachsen war. Ich hatte ohnehin nur die Wahl, entweder das hier zu machen oder in mein altes Leben zurückzukehren, was nicht möglich war. Mal ganz abgesehen von dem Dante-mäßigen Inferno, dem ich entflohen war, ging ich mit schmerzlicher Gewissheit davon aus, dass meine Familie und Freunde mir das, was ich getan hatte, nie verzeihen würden.
Nein, das hier war jetzt mein Leben. Es war der 17. März, und in drei Tagen hatten wir offiziell Frühlingsanfang. Der Frühling würde allmählich in den Sommer übergehen und nie mehr zum Winter zurückkehren, und wenn ich wusste, was gut für mich war, würde ich es ganz genauso machen.
Als ich mich abwandte, nahm ich aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung am Rande der Dunkelheit wahr, und mir blieb fast das Herz stehen. Meine Muskeln waren ganz schlaff vor lauter Angst, während ich mich wieder zurück zum Fenster drehte, um zu sehen, was da draußen vor sich ging.
Von den Weiden her trottete ein großer grauer Hund über den Hof auf Mark Waverleys Haus zu. Ein helles Flutlicht ging an. Unten wurde eine Tür zugeschlagen, und aus der Küche drang Gelächter die dreiunddreißig Stufen herauf, die zwischen mir und dem Rest der Welt lagen. »Fröhlichen St. Patrick’s Day!«, rief jemand.
Ich zog die Vorhänge zu und atmete.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.