Hansjörg Schneider
Hunkelers Geheimnis
Der neunte Fall
Roman
Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag
Der Brief des Chefs der kantonalen Fremdenpolizei Basel
vom 15. März 1939 an den Regierungsrat Fritz Brechbühl auf S. 193
ist folgendem Buch entnommen:
Lukrezia Seiler und Jean-Claude Wacker,
Fast täglich kamen Flüchtlinge,
Christoph Merian Verlag, Basel 2013
Covermotiv: Foto von Thorsten Henn (Ausschnitt)
Copyright © Thorsten Henn/Getty Images
Die Personen und die Handlung
des Romans sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit
mit realen Personen oder Begebenheiten
ist rein zufällig
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2016
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 25724368 0 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 25760700 0
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Peter Hunkeler, ehemaliger Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, nun im Ruhestand lebend, erwachte und wusste nicht, wo er sich befand.
Er schlug die Augen auf und sah, dass es heller Tag war. Über sich hatte er eine weiße Zimmerdecke, von der etwas wie ein Handgriff mit einer Zottel dran herunterbaumelte. Die Luft roch seltsam. Nicht so wie in seinem alten Bauernhaus im Elsass, wo immer ein Duft von Gras und feuchter Erde da war. Auch nicht so wie in seiner Basler Wohnung, die nach ihm, nach Hunkeler, roch. Die Luft hier schien klinisch rein zu sein.
Er war ruhig, entspannt und schmerzlos, er lag auf dem Rücken. Das fiel ihm auf, denn üblicherweise schlief er auf der Seite, in Embryostellung. Er schaute wieder nach oben, zum Handgriff, der dort hing. Woher kam der plötzlich, wer hatte ihn hingehängt? Er baumelte nicht von der Decke, wie er zuerst gemeint hatte, sondern von einem Metallarm, der über das Bett ragte. Die Zottel daran war ein Klingelknopf.
Jetzt fiel es Hunkeler ein, wo er sich befand. Im Krankenhaus, in einem Spitalbett. Er war heute früh operiert worden.
Vorsichtig tastete er Brust und Bauch ab. Dort unten, zwischen seinen Beinen, lag etwas, das eigentlich nicht dorthin gehörte. Und jetzt erinnerte er sich genau. Er war gestern, am 7. März, gegen Abend hier in das Basler Merian-[6] Iselin-Spital eingetreten. Heute Morgen um sieben hatte er gleich eine Spritze erhalten, die ihn in Tiefschlaf beförderte. Er hatte es so gewünscht, da er nichts von den Vorbereitungen für die Operation mitbekommen wollte.
Um neun war er wieder erwacht. Seine Freundin Hedwig war da und hielt ihm die Hand. Alles sei gut, flüsterte sie. Eine Schwester erklärte, der Eingriff habe eine knappe halbe Stunde gedauert. Kein Karzinom, alles in Ordnung. Dann hatte man ihn wohl in dieses Zimmer hier gebracht, wovon er nichts merkte, da er nach der frohen Kunde sogleich wieder eingeschlafen war.
»Sie haben einen Katheter«, hörte er eine Männerstimme sagen. »Das ist nicht schlimm, man gewöhnt sich daran. Im Übrigen sollten Sie sich schmerzlos wohl fühlen, Sie stehen unter Drogen. Stimmt’s?«
»Es geht so«, sagte Hunkeler, der über seine eigene Stimme erschrak. Sehr schwach hörte sie sich an, sehr heiser. »Man hat mir den Bauch aufgeschnitten, und Sie behaupten, ich müsse mich wohlfühlen? Wissen Sie, was ich normalerweise mit so einem Kerl machen würde, der mir sowas antut?«
»Mit Kerl meinen Sie offenbar Dr. Fahedin«, sagte die Stimme. »Er ist eine internationale Kapazität. Sie sollten dankbar sein, dass er Sie operiert hat und nicht irgendein Stümper.«
»Ich würde ihm die Faust ins Gesicht schlagen. So eine verdammte Frechheit. Der macht sich über mich her, während ich schlafe. Würde und Unversehrtheit des Menschen sind garantiert. Das steht in den Menschenrechten. Gelten die nicht mehr in einem Krankenhaus?«
[7] Er spürte einen fernen Schmerz in seinem Bauch, er schien näher zu kommen.
»Gut so, brüllen Sie. Versuchen Sie es wenigstens. Das holt Sie ins Leben zurück. Es stimmt übrigens nicht, dass er Ihnen den Bauch aufgeschnitten hat. Er hat durch die Harnröhre operiert. Sie sind ein Glückspilz.«
Hunkeler schaute nach links, wo die Stimme herkam. Er sah einen Mann im Bett nebenan sitzen, mit kahlem Schädel und eingefallenen Wangen.
»Woher wollen Sie das wissen? Wer sind Sie überhaupt?«
»Dr. Stephan Fankhauser, wenn Sie gestatten. Und Sie sind Kommissär Peter Hunkeler. Ich habe mich bei der Schwester erkundigt. Sie hat mir über Ihre Operation berichtet. Ich kann Ihnen nur gratulieren.«
»Sie nerven«, sagte Hunkeler. »Schweigen Sie endlich.«
»Das geht leider nicht. Ich kann nicht schweigen, ich muss reden. Sonst krepiere ich. Ich kann nur noch im Reden leben. Nur Wörter helfen gegen das Zerrinnen der Zeit.«
Ein heiseres Lachen war zu hören.
»Das sind die Sätze, die ich noch zu sagen habe. Sie klingen gut, nicht wahr? Obschon es Unsinn ist, was ich rede. Verstehen Sie mich?«
»Nein.«
»Aber Sie sind doch ein gebildeter Mensch. Sie haben studiert.«
»Woher wissen Sie das?«
Der Mann zeigte auf einen Laptop, den er neben sich auf dem Bett liegen hatte.
»Das steht alles hier drin. Sie scheinen ein interessanter Mann zu sein. Wir beide sollten uns unterhalten.«
[8] »Überhaupt nicht. Ich bin nichts als ein armes Schwein. Sehen Sie das nicht?«
»Das ist der Schock nach der OP. Nichts weiter. Schließen Sie die Augen, entspannen Sie sich.«
Hunkeler schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Stephan Fankhauser, den Namen kannte er doch.
»Der rote Steff«, sagte er, »aus den 68er Jahren. Einer der größten Schreihälse der Studentenbewegung. Damals hatten Sie Haare bis auf die Schultern.«
»Richtig. Und weiter?«
»Dann sind Sie Mitglied einer linken Anwaltskanzlei geworden. Später Direktor der Basler Volkssparkasse. Durch und durch bürgerlich. Und spießig. Sie sollten sich schämen.«
»So ist es richtig. Beleidigen Sie mich, wenn es Ihnen guttut.«
»Es tut mir nicht gut«, brüllte Hunkeler. Er erschrak, da sich der ferne Schmerz wieder meldete. Er beschloss, nicht mehr zu brüllen.
»Und Sie, Herr Kommissär Hunkeler? Waren Sie nicht Mitglied der Basler Linken Studentenschaft, kurz: LIST? Wie verträgt sich das mit Ihrer späteren Funktion beim Kriminalkommissariat, das wir damals als Handlanger des großbürgerlichen Kapitals betrachteten? War das nicht ein Widerspruch, unter dem Sie gelitten haben?«
»Ach was, ich war bloß Sympathisant.«
»Ein liberaler Scheißer also, der sich die Hände nicht schmutzig machen wollte.«
»Blödsinn. Ich war kein Handlanger des Kapitals, sondern ein Mann, der sein Leben verdienen musste. Ich hatte Familie. Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte.«
[9] »Mit einer schönen Rente, nicht wahr?«
Jetzt dachte Hunkeler scharf nach. Das war gut, das brachte seine Gedanken von diesem verdammten Spitalbett weg.
»Und Sie? Sind Sie nicht zum Teufel gejagt worden? Weil Sie in großem Stil unversteuertes Geld aus dem Ausland angenommen haben?«
»Wo denken Sie hin. In unseren Kreisen wird man nicht zum Teufel gejagt, sondern mit Dank für die großen Verdienste in allen Ehren in den Ruhestand entlassen.«
»Das habe ich anders gehört.«
»Weil Sie in schlechter Gesellschaft leben. Tatsächlich sollte man nur in allerbesten Kreisen verkehren. Das heißt in reichen Kreisen. Weil sich die Welt nicht ändert, auch durch Revolutionen nicht. Ich habe lange gebraucht, bis ich das begriffen habe. Dann habe ich danach gehandelt.«
»Ich habe gehört, dass Sie eine Abfindung von mehreren Millionen erhalten haben. Eine Art Schweigegeld. Damit können Sie sich bis zu Ihrem Lebensende jeden Luxus leisten.«
»Wenn ich denn überhaupt noch leben könnte. Sie sehen doch, dass das nicht geht.«
»Stimmt. Unser Disput bewegt sich auf rein spekulativer Ebene. Ich beende ihn hiermit.«
Wieder schloss er die Augen. Aber der andere ließ nicht locker.
»Bitte beenden Sie unser Gespräch nicht. Hören Sie wenigstens zu.«
»Warum haben Sie kein Einzelzimmer genommen? Sie könnten es sich doch leisten.«
[10] »Ich hatte ein Einzelzimmer. Ich bin fast gestorben vor Einsamkeit. Sie, Herr Kommissär Hunkeler, hat mir der Himmel geschickt.«
Hunkeler hielt sich die Ohren zu. Es nützte nichts, Fankhauser hatte eine zu sonore Stimme.
»Ich habe vier Unterleibsoperationen hinter mir. Eine fünfte ist nicht möglich. Folglich wächst der Krebs weiter. In rasantem Tempo übrigens. Dazu habe ich Diabetes. Ich kriege zweimal täglich Insulin gespritzt. Ich warte auf den Tod.«
»Das tun wir doch alle.«
»Es kommt drauf an, wie man wartet. Philosophisch gesehen ist das Leben nichts weiter als eine Vorbereitung auf den Tod. Das hat schon Montaigne gesagt.«
»Stimmt nicht. Montaigne hat gesagt, das Philosophieren sei eine Vorbereitung auf den Tod. Nicht das Leben.«
»Wunderbar, großartig«, sagte der andere. »Ich wusste, dass man mit Ihnen streiten kann. Wir tragen alle den Tod in uns. Auch Sie, Herr Kommissär. Vielleicht sterben Sie sogar vor mir.«
»Das würde Sie wohl freuen, wie?«
»Nein, im Gegenteil. Ich habe niemanden, außer meinem Sohn. Er hat mich einmal besucht. Dann hat er angerufen und gesagt, er komme nicht mehr, er ertrage die Spitalatmosphäre nicht.«
»Das verstehe ich gut. Ich ertrage sie auch nicht.«
»Machen Sie es wie ich. Ich bin voller Morphium.«
»So dröhnen Sie sich endlich zu«, brüllte Hunkeler, »und geben Sie Ruhe!«
[11] In der Nacht lag Hunkeler wach. Ein weißer Schein schwebte an der Decke, ruhig, fast märchenhaft. Offenbar schneite es draußen.
Er kam sich unwirklich vor, seltsam entrückt in eine schmerzlose Zeitlosigkeit, die ihn beinahe heiter stimmte. Er hörte es von einer nahen Turmuhr Mitternacht schlagen, zwölf harte, genaue Schläge. Er hörte den andern nebenan murmeln.
»Warum habe ich eigentlich keine Schmerzen?«, fragte er.
»Gott sei Dank, Sie leben noch«, sagte Fankhauser, »Sie hören mir zu.«
»Nein, ich höre nicht zu. Ich frage mich, was ich hier eigentlich mache.«
Er stützte sich auf, um hinüberzusehen zu dem Mann, der halb aufgerichtet im Bett lag.
»Schlafen Sie eigentlich nie?«
»Nein. Ich drehe mich im Kreis, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Die Kreise werden immer enger. Es gibt keinen Ausweg, es ist eine Spirale. Am Schluss werde ich im Mittelpunkt angekommen sein. Bei mir. Das ist dann der Tod. Aber noch drehe ich mich. Und Sie sollen mir helfen beim Drehen, indem Sie mir zuhören.«
»Nein«, brüllte Hunkeler, und das Brüllen ging schon besser. »Verschonen Sie mich. Ich halte dieses Drehen nicht mehr aus.«
Jetzt wandte der andere den Kopf zu Hunkeler, den kahlen, ausgemergelten Schädel, der fast ohne Lippen war. Er hob die rechte Hand, die Hand eines Skelettes. Er flehte.
»Bitte. Wir waren doch Kommilitonen, wir haben zusammen gekämpft. Für eine bessere Welt.«
[12] »Es geht so. Ich bin keine Kämpfernatur.«
»Doch, doch. Sie kommen wie ich aus einfachen Verhältnissen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Das merkt man. Wir haben beide Karriere gemacht.«
»Reden Sie bitte nicht über mich. Mein Lebenslauf gehört mir.«
»Warum die Scham?«
»Es ist keine Scham. Ich bin zum Kommissariat gegangen, weil ich gern mit Menschen zu tun habe.«
»Wir haben richtig auf den Putz gehauen bei der LIST damals, wir beide. Wir haben die Mächtigen der Stadt zu Tode erschreckt. Erinnern Sie sich noch, wie viele Töchter und Söhne aus den besten, den reichsten Familien Basels mitgemacht haben? Davor hatten die Mächtigen besonders Angst. Denn die konnten sie nicht gut niederknüppeln lassen. Einige unserer Versammlungen haben wir im Park der Besitzerfamilie einer der großen Chemiefirmen abgehalten, mit Vietcong-Abzeichen am Kragen und den Worten des Vorsitzenden Mao in der Tasche. Und die Herrin des Hauses hat uns bewirtet mit Wein aus ihrem Keller. Erinnern Sie sich?«
Ja, Hunkeler erinnerte sich. Aber er sagte nichts.
»Schauen Sie sich einmal an«, fuhr der andere fort, »wer von uns alles Karriere gemacht hat. Parlamentarier, Chefredakteure, Direktoren in Industrie und Banken. Nur beim Militär nicht, aber das ist ohnehin am Abserbeln.«
Ein heiseres Husten war zu hören, mühsam unterdrückt, da es wohl zu viel Kraft kostete.
»Schauen Sie mich an. Ich habe geredet über die [13] Weltrevolution. Dass sich alles von Grund auf ändern müsse, vor allem die Verteilung der Güter. Ich habe von Klassenbewusstsein gefaselt, von der permanenten Revolution, von der Notwendigkeit, Gewalt anzuwenden, zu kämpfen mit dem Gewehr in der Hand. Jetzt schauen Sie sich unser damaliges Idol Fidel Castro an, der ja tatsächlich mit dem Gewehr in der Hand gekämpft hat. Was ist aus ihm geworden? Ein ganz gewöhnlicher Diktator. Und Che Guevara ist nur deshalb noch populär, weil er jung gestorben ist. Ich frage mich, was aus Jesus von Nazareth geworden wäre, wäre er alt geworden. Ein Banker vielleicht bei der Vatikanbank, der Bank des Heiligen Geistes? Sie landen letztlich alle beim Geld, die Weltverbesserer. Weil Geld die einzige Macht ist, die wirklich zählt. Als ich das begriffen hatte, bin ich in eine Bank eingetreten. Weil ich nicht am Rande der Gesellschaft arbeiten wollte, sondern im Zentrum der Macht. Verstehen Sie mich, Herr Kommissär?«
»Ja, schon. Aber ich finde, Sie sollten sich besser um Ihr Seelenheil kümmern.«
»Das versuche ich doch. Indem ich mir zu erklären versuche, wie ich zu dem geworden bin, der jetzt neben Ihnen im Bett liegt, froh, einen Zuhörer gefunden zu haben.«
»So«, sagte Hunkeler, »ich habe endgültig die Nase voll. Sie entschuldigen bitte.«
Er griff zum Klingelknopf und drückte.
»Schade«, sagte Fankhauser. »Wenn Sie mich nicht mehr ertragen, werde ich nur noch flüstern. Aber traurig ist es schon, wenn man wortlos sterben soll.«
Die Tür ging auf. Herein kam eine zierliche Frauengestalt in weißem Kittel. Sie trug ein blaues Kopftuch.
[14] »Eine Schlafpille bitte«, sagte Hunkeler, »ich ertrage den Nachbarn nicht mehr. Er redet mir die Ohren voll mit pseudophilosophischem Quatsch.«
Die Frau nickte. Ihre Augen schienen zu lächeln, waren sie dunkelbraun? Genau konnte er es nicht erkennen. Wortlos nahm sie eine Pille aus der Manteltasche und gab sie ihm. Ihre Hand war schön geformt. Am Mittelfinger trug sie einen kleinen Diamantring. Hunkeler schluckte die Pille und spülte mit dem Wasser, das sie ihm einschenkte, nach. Sie nickte, lächelte wieder und verschwand.
»Dann gute Nacht«, sagte Hunkeler.
Am andern Mittag kam Hedwig. Sie brachte ihm Äpfel, Bananen und Zeitungen, wie er es gewünscht hatte.
»Diesen Spitalfraß kann man nicht essen«, behauptete er, »der schmeckt nach nichts.«
»Hast du ihn wenigstens probiert?«
Er schüttelte angewidert den Kopf.
»Nein. Irgendwo muss man in diesem Irrenhaus seine Autonomie bewahren. Man darf sich nicht ganz ausliefern.«
Sie lächelte ihn an.
»Schimpf nur, das tut dir gut. Übrigens sind sie zufrieden mit dir.«
Sie schaute sich im Zimmer um. Ihr Blick blieb an Fankhauser haften, der wie immer halb aufgerichtet im Bett lag. Hunkeler sah, wie sie erschrak.
»Das ist Dr. Fankhauser«, sagte er. »Vormals der rote Steff, Revolutionsführer der Linken Studentenschaft Basel, zuletzt Chef der Volkssparkasse. Ausnahmsweise verhält er sich ruhig. Sonst quasselt er ununterbrochen.«
[15] »Freut mich, Madame«, sagte Fankhauser. »Wir haben selten Damenbesuch hier.«
Er hob den Arm, um ihr die Hand zu geben. Sie wich erschrocken zurück.
»Es tut mir leid, Madame. Ich weiß, dass meine Erscheinung nicht mehr sehr erfreulich ist. Ich werde Sie nicht weiter belästigen.«
»Ein Gentleman«, sagte Hunkeler. »Ich kenne ihn von der Uni. Jetzt geht es ihm ziemlich dreckig.«
Ein heftiges Husten war die Antwort, ein heiseres Krächzen.
»Ich soll mit dir spazieren gehen«, sagte Hedwig.
»Was? Bist du wahnsinnig? Ich kann kaum stehen.«
»Die Schwester hat es befohlen. Also komm.«
Sie zog ihn hoch. Er sah durch das Fenster, dass draußen dichtes Schneetreiben war.
»Bei diesem Schneesturm gehe ich aber nicht hinaus«, sagte er.
»Das verlangt auch niemand. Wir steigen die zwei Treppen zur Cafeteria hinauf. Los, zieh dich an.«
Im Gang draußen umarmte sie ihn heftig. Ihre Arme zitterten.
»Was hast du denn?«, fragte er. »Wer ist hier der Patient, ich oder du?«
»Bin ich erschrocken, Peter. Der schaut aus wie der leibhaftige Tod. Er wollte mir sogar die Hand geben.«
Er strich ihr über das Haar.
»Das ist nicht so schlimm. Ich glaube, er stirbt ganz gern. Aber wir beide schaffen es noch eine Weile, nicht wahr? Komm jetzt, ich brauche einen Kaffee.«
[16] In der Cafeteria oben setzten sie sich an ein Fenster gegen Westen. Der Schneefall hatte aufgehört. Das Sonnenlicht brach durch und ließ die Dächer der Stadt in einem unwirklichen Licht aufleuchten, die erste Anhöhe im Elsass drüben, den weißen Wasserturm von Folgensbourg.
»Schön«, sagte Hunkeler. »Eigentlich geht’s mir bereits wieder gut. Wir könnten noch heute Abend in unser Haus fahren, einheizen und eine Flasche Wein trinken.«
»Du bleibst da«, sagte sie, »so lange es der Arzt befiehlt.«
»Ich ertrage den Kerl im Bett nebenan kaum mehr. Er spuckt seine ganze Vergangenheit aus, direkt vor meine Füße. Obschon sie mich überhaupt nicht interessiert. Aber er kennt keine Gnade.«
Sie senkte den Blick. Sie überlegte.
»Was ist los?«, fragte er.
»Ich soll dich von deiner Tochter Isabelle grüßen.«
Er erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Schau nur. Sie wünscht dir gute Besserung.«
Isabelle, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die sich ihm schon früh entzogen und mit achtzehn endgültig verabschiedet hatte.
»Freut es dich nicht?«
»Doch. Aber ich will nicht darüber reden. Das heißt, ich kann nicht.«
Das Letzte, was er von ihr gehört hatte, war, dass sie eine Tochter namens Estelle geboren hatte und in ein Dorf in den Vogesen gezogen war.
»Das heißt, du willst nicht.«
»Das kann sein. Ich erinnere mich nicht gern an die damalige Zeit.«
[17] »Schade.«
»Warum?«
»Weil sie mich interessiert.«
»Isabelle war lange meine offene Wunde. Sie ist erst vernarbt, als ich dich kennenlernte. Doch, das stimmt. Du hast mir darüber hinweggeholfen.«
Er wollte ihre Hand nehmen. Aber dann erwachte sein Misstrauen.
»Was soll das alles? Wie hast du sie überhaupt gefunden?«
»Ich habe sie angerufen und ihr gesagt, dass du operiert wirst.«
»Wie bitte? Hinter meinem Rücken?«
»Was glaubst du denn? Wenn du meinst, du könntest deine Vergangenheit einfach so begraben, dann täuschst du dich.«
Er schaute sie ungläubig an. Doch gegen ihre Entschlossenheit hatte er keine Chance.
»Sag einmal, wie ist das eigentlich? Telefonierst du oft mit ihr? Und seit wann?«
»Seit du mir von ihr erzählt hast.«
»Und alles heimlich, ohne ein Wort?«
»Aber sicher. Jemand muss doch die Vernunft walten lassen.«
Gegen Abend erhielt er Besuch von Madörin, vormals Detektivwachtmeister, jetzt Hunkelers Nachfolger als Kommissär. Sie hatten sich seit seiner Pensionierung nur selten gesehen. Hunkeler war ihm aus dem Weg gegangen. Er mochte den Kerl einfach nicht, seine gedrungene, untersetzte Gestalt, seinen Hundeblick. Obschon er wusste, dass [18] er ein fähiger Kriminalist war. Aber Hunkeler war immer der Meinung gewesen, dass zu einem guten Kommissär nicht nur die zähe Unerbittlichkeit eines Terriers gehörte, sondern auch eine gehörige Portion Menschenliebe.
Jetzt stand er neben Hunkelers Bett, einen Blumenstrauß in der Hand. Offensichtlich war es ihm peinlich, seinen ehemaligen Vorgesetzten im Nachthemd daliegen zu sehen.
»Im Namen des Teams des Kommissariats«, sagte er, »bringe ich dir diese Blumen, mit besten Wünschen zur Genesung.«
»Danke.«
»Insbesondere Korporal Lüdi und Haller lassen dich grüßen.«
Madörin schaute sich um, wo er den Blumenstrauß hinlegen könnte.
»Leg sie auf den Tisch«, sagte Hunkeler. »Blumen im Krankenhaus finde ich übrigens unerträglich. Sie erinnern an Beerdigungen.«
Madörin tat wie geheißen, wobei er indigniert den Kopf schüttelte, es gefiel ihm nicht, herumkommandiert zu werden.
»Und Staatsanwalt Suter?«, fragte Hunkeler.
»Der lässt auch grüßen. Ich habe mit ihm telefoniert. Er ist zurzeit bei einem Kongress in Köln. Und liebe Grüße von Frau Held von der Pforte.«
»Danke.«
Mehr brachte Hunkeler nicht heraus, obschon er gern freundlicher gewesen wäre. Ein bisschen war er nämlich gerührt, der alte Kommissär, wenn er an die gemeinsam verbrachten Jahre dachte. An die Machtkämpfe untereinander, [19] die meist er gewonnen hatte. An die Fahndungserfolge. Und auch an die Misserfolge.
»Ein schönes Zimmer hast du«, sagte Madörin, »richtig luxuriös.«
Er schaute sich um, misstrauisch und kühl, denn er war immer im Dienst. »Wer ist das?«, fragte er mit Blick auf den Zimmernachbarn.
»Dr. Fankhauser«, sagte Hunkeler, »von der BVS. Du hast bestimmt von ihm gehört.«
Madörin kniff die Augenbrauen zusammen, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte.
»Ach so. Sie sind das. Wie geht’s?«
»Danke«, sagte Fankhauser, »den Umständen entsprechend. Sie sind wohl von der Polizei, wie ich annehmen darf?«
»Jawohl, vom Kriminalkommissariat. Übrigens ist gerade die Meldung hereingekommen, dass Viktor Waldmeier bei der Einreise in die USA verhaftet worden ist. Das ist doch Ihr Nachfolger bei der BVS.«
Ein feines Lächeln erschien auf Fankhausers Zügen, ein Hauch von Lebenskraft.
»Der Viktor. Ich war mir sicher, dass er sich eines Tages verspekuliert. Aber was verlangt man eigentlich von uns? Alle wollen mit den Banken Geld verdienen. Doch wenn ein Geschäft danebengeht, müssen wir Banker den Kopf hinhalten. Wenn Sie mich übrigens verhaften wollen, nur zu, verhaften Sie mich.«
Ein heiseres Lachen, dann kehrte der quälende Husten zurück.
»Hör auf«, sagte Hunkeler. »Du sollst ihn nicht plagen, [20] es geht ihm äußerst schlecht.« Dann, sehr leise: »Stimmt das mit Waldmeier?«
»Ja, auf dem Kennedy-Airport in New York. Offiziell ist es noch nicht.«
»Das ist allerhand.«
»Ja, mein Lieber, es hat sich einiges geändert, seit du nicht mehr bei uns bist. Wir sind vernetzt bis zum Gehtnichtmehr, in alle Richtungen, mit allen möglichen Diensten. Ehrliche, saubere Polizeiarbeit ist kaum mehr gefragt. Sei froh, dass du nicht mehr dabei bist.«
War das jetzt hämisch gemeint oder ehrlich?
»Das meine ich übrigens ehrlich, das kannst du mir glauben. Manchmal vermisse ich dich.«
Hunkeler hatte zwei Bananen und einen Apfel gegessen. Die Bananen hatten wunderbar geschmeckt, der Apfel überhaupt nicht. Es war einer von diesen neuen Sorten, die zwar aussahen wie aus Tausendundeiner Nacht, rotwangig, gelb gesprenkelt, prall zum Zerspritzen. Biss man aber in eine dieser aufgedonnerten Schönheiten hinein, wähnte man sich in einem Friseursalon. Es schmeckte nach Parfum. Und zwar nach einem ziemlich ordinären. Kein Charakter, keine Säure, nichts. Genauso auswechselbar wie die Hohlköpfe, die so was fraßen. Und er, Hunkeler, gehörte jetzt auch dazu.
Er grinste bitter bei dem Gedanken. Er kam sich uralt vor. Wie ein Fossil, aufgetaucht aus der Zeit des dritten Schöpfungstages, als Gott der Herr die feste Erde vom Wasser trennte, direkt in dieses Spitalbett hinein. Er schaute zu seinem Nachbarn hinüber, der wie immer mit angewinkelten [21] Beinen dalag und unverständliches Zeug murmelte. So sah also der Fortschritt aus, wenn es ans Ende ging. Man lag in einem Bett, das in einem fremden Zimmer stand. Man wurde gepflegt von fremden Menschen, deren Namen man nicht kannte. Zum Beispiel von einer zierlichen Frauengestalt, deren Augenfarbe man nicht einmal hätte angeben können. Und man war froh, wenn wenigstens ein alter Kommissär neben einem lag, mit dem man ein paar Worte wechseln konnte. Dann, wenn man endlich tot war, wurde man aus dem Zimmer geschoben in den Lift, der zum Kühlraum hinunterfuhr. Stunden später, vielleicht auch zwei, drei Tage später, je nachdem, wie viel Leichengut anfiel, wurde man irgendwo verbrannt. Und kein Wort darüber, vorbei und vergessen.
Hunkeler kam sich fehl am Platz vor. Wie ein Stück Gemüse, eine Karotte zum Beispiel, die durch einen blöden Systemfehler ins Fach für Gefrierfleisch geraten war, in Kunststoff verpackt und perfekt vakuumiert. Am liebsten hätte er den Katheter entfernt und sich heimlich davongemacht. Aber war das überhaupt möglich? War die Pforte nicht rund um die Uhr besetzt, um fliehende Patienten abzufangen?
Madörin kam ihm in den Sinn, seine Behauptung, er vermisse Hunkeler. Wurde er tatsächlich vermisst? War es nicht eher umgekehrt? Nämlich so, dass Hunkeler sich nach Madörin sehnte, auch wenn der ihm auf die Nerven ging? Vielleicht war es das, was Hunkeler fehlte. Die Machtspielchen, der tägliche Streit.
Er schaute zum Nachttisch neben dem Bett, zum Wecker, der dort stand. Halb eins, mitten in der Nacht. Er lauschte, [22] ob etwas zu hören war außer dem steten Murmeln nebenan. Ein Schritt, ein Wort, ein Schrei. Nichts – das ganze Krankenhaus schien zu schlafen.
»Die Zeit, die man gelebt hat«, sagte Hunkeler, »nimmt stetig zu. Und die Zeit, die man noch zu leben hat, nimmt stetig ab. Das ist eine Plattitüde. Aber es ist die traurige Wahrheit.«
»Gott sei Dank«, sagte der andere, »Sie sind noch da. Sie hören mir zu.«
»Nein. Ich meine bloß, dass diese Spannung schon in der Kindheit anfängt. Nur merkt man noch nichts davon. Weil man sich auf das Älterwerden freut. Im Alter ist das anders. Man stemmt sich gegen das Vergehen der Zeit, auch wenn das lächerlich ist. Denn die Zeit geht ohnehin weiter.«
»Sie haben eine Tochter, habe ich gehört?«
Hunkeler fragte sich, ob er darauf antworten sollte.
»Ja, eigentlich schon.«
»Und? Waren Sie ein guter Vater?«
»Nein. Unsere Wege haben sich bald getrennt.«
»Sehen Sie? Das Einzige, was wichtig war, haben Sie versäumt. Ich bin im Moment daran, alle meine Versäumnisse aufzuzählen. Es ist eine lange Reihe, die ich immer wieder vor mich hersage, um mich zu vergewissern, dass ich noch lebe. Sie wird jedes Mal länger. Ich suhle mich in meinen Fehlern. Vielleicht ist das menschliche Leben ein einziger großer Fehler, wer weiß?«
»So ein Blödsinn. Sie sollten sich schämen«, sagte Hunkeler.
»Warum?«
»Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Haben Sie das [23] vergessen? Abgesehen davon haben wir doch alle die Kleinfamilie als Domestizierungsmaßnahme des Großkapitals abgelehnt.«
»Und trotzdem haben Sie geheiratet?«
»Ja. Weil wir es versuchen wollten. Außerdem war meine Freundin schwanger. Da wurde erwartet, dass man heiratet.«
»Und wo ist Ihre damalige Freundin jetzt?«
»Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Und Ihre Tochter?«
»Sie lebt in den Vogesen, soviel ich weiß.«
»Sie haben sich also Ihrer eigenen Tochter entfremdet.«
»Blödsinn. Ich habe sie machen lassen. Ich hoffe, es geht ihr gut.«
Von draußen war der Schlag einer Turmuhr zu hören.
»Schlafen Sie eigentlich nie?«
»Nein«, sagte der andere. »Ich muss rechnen. Am Schluss, wenn ich sterbe, muss ich die Abrechnung kennen. Soll und Haben, verstehen Sie? Im Soll steht viel, im Haben fast nichts.«
»Trotz Ihrer Millionen?«
»Ach kommen Sie, Geld ist doch Dreck. Es macht schmutzig, je mehr man davon hat.«
»Das stimmt nicht. Nur wer kein Geld hat, muss sich die Hände bei der Arbeit schmutzig machen. Sie doch nicht. Sie wohnen jedenfalls nicht bei den Türken und Albanern in Kleinbasel, sondern im Bruderholz oben in der sauberen Luft.«
»Ja natürlich. Das heißt, im Moment wohne ich hier in diesem Spitalzimmer, einsam und verlassen. Abgesehen [24] von Ihnen natürlich. Und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.«
»Vielen Dank. Aber Sie entschuldigen bitte. Ich möchte jetzt schlafen.«
Hunkeler griff zum Klingelknopf und drückte.
»Wissen Sie«, sagte Fankhauser, »wem ich mein Geld vermache? Nimmt es Sie wunder?«
»Ihrem Sohn, nehme ich an.«
Ein Husten, dann ein grässliches Krächzen.