Jens Andersen

Astrid Lindgren

Vor siebzig Jahren begann Astrid Lindgrens außerordentliche Karriere als Schriftstellerin. Auf Pippi Langstrumpf folgten Bücher, die die Kinderliteratur revolutionierten – und ihre Autorin schon zu Lebzeiten zu einer Legende werden ließen. 2002 verstarb Lindgren 94-jährig; noch heute lesen Millionen Kinder ihre Bücher.

Jens Andersen erzählt in seiner preisgekrönten Biografie »ihr Werk und Leben erschreckend neu« (Süddeutsche Zeitung). Über Jahre hinweg studierte er unveröffentlichte Quellen und führte zahllose Gespräche mit langjährigen Vertrauten wie der Tochter Karin Nyman. So erhielt er Zugang zu den verborgenen Seiten dieser Autorin, die nicht nur weltweit Erfolge feiern durfte, sondern Einsamkeit und Trauer kannte und ein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt war, weil sie ihren unehelichen Sohn in seinen ersten Lebensjahren bei Pflegeeltern in Dänemark hatte unterbringen müssen.

Zugleich aber erzählt Jens Andersen eine faszinierende Geschichte von Moderne und Modernisierung. Astrid Lindgren war eine Frau, die das ganze 20. Jahrhundert miterlebt und mitgeprägt hat, die sich unbeirrt engagierte für die Rechte von Kindern, für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, eine menschenfreundliche Intellektuelle und politische Autorin, die den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam und als »Schwedin des Jahrhunderts« ausgezeichnet wurde.

JENS ANDERSEN, geboren 1955, hat sein Studium der Nordistik mit einer Promotion abgeschlossen, arbeitete viele Jahre als Literaturkritiker für dänische Zeitungen und lebt nun als Autor in Kopenhagen. Seit 1990 veröffentlicht er Biografien skandinavischer Persönlichkeiten, u. a. 2012 über Königin Margrethe II.; 2005 erschien auf Deutsch sein viel beachtetes Buch Hans Christian Andersen, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Jens Andersen erhielt u. a. den Georg-Brandes-Preis, den Søren-Gyldendal-Preis und den Preis des dänischen Schriftstellerverbands. Für Astrid Lindgren. Ihr Leben wurde er 2015 in Dänemark mit dem renommierten Politikens Litteraturpris ausgezeichnet; das Buch, das in Schweden als »eines der besten Sachbücher des Jahres« (Dagens Nyheter) gilt, wurde zum Bestseller.

Jens Andersen

Astrid Lindgren

Ihr Leben

Aus dem Dänischen von
Ulrich Sonnenberg

Deutsche Verlags-Anstalt

»Was der Sinn des Lebens nicht ist, das weiß ich. Geld und anderes Zeug zusammenzukratzen, ein Promileben zu führen, auf den entsprechenden Seiten der Frauenzeitschriften zu posieren und solch eine Angst vor Einsamkeit und Stille zu haben, dass man nie in Ruhe und Frieden über die Frage nachdenken kann: Was mache ich mit meiner kurzen Zeit auf Erden?«

ASTRID LINDGREN, 1983

Inhalt

Fanpost an die Autorin

À la Garçonne

Mysterien der Fortpflanzung

Allee der Hoffnung

Eure Kinder sind nicht eure Kinder

Mütter aller Länder, vereinigt euch!

Revolution im Kinderzimmer

Trauervögel und Singvögel

Die Poesie der hellen Nächte

Der Kampf um die Fantasie

Ich habe in meiner Einsamkeit getanzt

Danksagung

ANHANG

Bibliografie zum Gesamtwerk Astrid Lindgrens in deutscher Übersetzung

Quellenverzeichnis

Personenregister

Fanpost an die Autorin

In den Siebzigerjahren hatten die Beamten des Postamts an der Ecke Dalagatan und Odengatan in Stockholm immer mehr zu tun. Es lag an einer älteren Dame, die vielen älteren Damen glich, denen man im Stadtteil Vasastan auf der Straße, im Park, im Lebensmittelgeschäft oder in einer der Konditoreien begegnete. Über Jahre hinweg war täglich eine Handvoll Briefe durch den Briefschlitz dieser älteren Dame gefallen, doch als sie 1977, 1987 und 1997 runde Geburtstage feierte, mussten die Postboten an der Tür der Dalagatan 46 klingeln, um säckeweise Post mit Marken aus aller Welt abzuliefern. Waren die vielen Sendungen gelesen und beantwortet, wurden sie in Pappkartons auf dem Dachboden aufbewahrt. Sie enthielten nicht nur Glückwünsche und bunte Kinderzeichnungen, sondern auch Grüße von Staatsmännern und königlichen Hoheiten sowie Briefe von Menschen, die ein Autogramm wollten oder aber um Geld oder moralische Unterstützung in irgendeiner politischen Sache baten.

Die meisten Menschen allerdings, die sich an die am 14. November 1907 geborene Astrid Lindgren wandten, wollten vor allem ihre Begeisterung und Bewunderung ausdrücken. Häufig nutzten sie die Gelegenheit, der Autorin die eine oder andere Frage zu stellen. Und nicht immer waren diese Fragen so unschuldig wie die einer schwedischen Kindergartengruppe, die wissen wollte, ob Pferde wirklich Eis essen, oder die der neunjährigen Kristina aus Järfälla, die um eine Erklärung bat, wie Pippis Vater in der Fernsehserie eine Flaschenpost versenden konnte, obwohl er im Gefängnis saß. In den Postbergen fanden sich auch pfiffige Fragen von Erwachsenen: So bat der Klempner Karlsson aus Kalmar um die Erlaubnis, seine Firma »Karlsson vom Dach« nennen zu dürfen; ein Waldbesitzer aus Jämtland erkundigte sich, ob die naturbegeisterte Autorin Interesse an ein paar Hektar Nadelwald habe; und ein Mann, der eine Gefängnisstrafe wegen Mordes an seiner Ehefrau verbüßte, wollte wissen, ob Astrid Lindgren sich vorstellen könne, ein Buch über sein Leben zu schreiben.

Da Astrid Lindgren Mitte der Achtzigerjahre immer schlechter sah und Hilfe brauchte, um die vielen Briefe zu lesen, die täglich eintrafen, wurde sie nicht nur von ihrer Privatsekretärin Kerstin Kvint, sondern auch von ihrer Tochter Karin Nyman (links) unterstützt.

Nicht wenige der fünfundsiebzigtausend Briefe, die die populäre Schriftstellerin bis zu ihrem Tod im Januar 2002 erhielt und die heute im Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm aufbewahrt werden, waren persönlicher Natur. Wenn es um Pippis und Michels Mutter ging, gab es offensichtlich keine Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, die man hätte respektieren müssen. Im Alter galt Astrid Lindgren als »klok gumma«, als die kluge Alte des Nordens – eine Seelsorgerin, die man bei allen Problemen des Lebens um Rat fragen konnte. So gab es unter den Briefschreibern eine Frau, die »Astrid« darum bat, in einem erbitterten Nachbarschaftsstreit zu vermitteln, eine andere Ratsuchende erkundigte sich, wie sie mit ihrer schwierigen alten Mutter umgehen solle, und eine dritte Schreiberin belästigte die wohlhabende Kinderbuchautorin vierzehn Jahre lang mit Bettelbriefen. Insgesamt zweiundsiebzig dieser Briefe sind erhalten, und sie alle enthalten Ersuchen um finanzielle Unterstützung für eine Brille, eine Autoreparatur, Klempnerrechnungen, Spielschulden und andere Dinge. Aus Österreich fragte ein Mann an, ob Pippis Mutter ihm einen größeren Geldbetrag für seine Traumvilla Kunterbunt schenken könne. Aus Dänemark kamen vierzig Jahre lang zu Weihnachten Briefe von einem Vater, der in allen Einzelheiten von seiner Familie erzählte und immer daran dachte, etwas vom Selbstgebackenen der Kinder beizulegen. Und aus dem Stockholmer Vorort Hässelby wurde Astrid Lindgren mit Heiratsanträgen regelrecht bombardiert. Sie stammten von einem älteren Herrn, der seine Fühler erst einzog, als der Verlag der verwitweten Astrid Lindgren sich einmischte und dem hartnäckigen Freier mit einer polizeilichen Verwarnung drohte.

Die Fanpost nimmt im Archiv der Königlichen Bibliothek den größten Raum ein und ist ein Beleg für die kolossale Bedeutung von Astrid Lindgrens Werk – als Bücher, Filme oder Fernsehserien. Seit Erscheinen der epochalen Pippi-Bücher in den Vierzigerjahren nahmen die Briefe beständig zu. Der fleißigen Autorin , die ihre eigenen Bücher morgens und im Urlaub schrieb, jeden Nachmittag als Lektorin im Verlag Rabén & Sjögren arbeitete und abends die Manuskripte anderer Autoren las, waren sie schon um 1960 durchaus zur Last geworden. Doch erst in den Siebzigerjahren, nachdem Astrid Lindgren sich als Lektorin zur Ruhe gesetzt hatte, schwoll die Post geradezu lawinenartig an, sodass die Schriftstellerin in den Achtzigerjahren eine Sekretärin, Kerstin Kvint, einstellen musste, um die Korrespondenz bewältigen zu können.

Der Grund dafür waren drei Ereignisse: Das Erscheinen des Romans Die Brüder Löwenherz (1973), der sogenannte Pomperipossa-Fall (1976), bei dem Astrid Lindgren gegen die schwedische Steuerpolitik protestierte, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1978), als die Pazifistin Astrid Lindgren mitten in der Phase der Abrüstung ihre Dankesrede mit der Erklärung begann, dass der Kampf um einen dauerhaften Frieden in der Welt in den Kinderzimmern anfange, nämlich mit der Erziehung der künftigen Generation.

Karin Nyman, die Tochter von Astrid und Sture Lindgren, die im Mai 1934 in Stockholm geboren wurde, war ein halbes Jahrhundert Zeugin des wachsenden Kults um das Werk und die Person ihrer Mutter. Sie erzählt, dass Männer und Frauen jeglichen Alters Astrid Lindgren nicht nur schrieben, sondern auch anriefen oder an die Haustür in der Dalagatan klopften. Häufig nur mit dem Wunsch, die Hand der Schriftstellerin zu schütteln und ihre Dankbarkeit für die Freude und den Trost auszudrücken, den sie in der Fantasiewelt ihrer Bücher gefunden hatten. Außerdem schrieben viele junge Menschen aus dem Ausland und baten Astrid Lindgren um ihre Hilfe: »Es waren unglückliche Kinder und Jugendliche aus Deutschland«, so Karin Nyman, »die in das Schweden ziehen wollten, von dem sie in ihren Büchern gelesen hatten. Nach Bullerbü oder Saltkrokan. Für Astrid war das ein Problem, denn sie wollte die Dinge immer aufs Beste für die Menschen regeln, denen es nicht gut ging, und hier konnte sie nichts tun.«

Ein gescheitertes Familienleben, fehlende Fürsorge oder ein zu großer emotionaler Abstand zwischen Eltern und Kindern waren häufig die Gründe für den verzweifelten Brief eines jungen Menschen. Im Jahr 1974 wandte sich beispielsweise ein unglückliches Mädchen an Astrid Lindgren. Inspiriert von ihren Büchern hatte sie Schwedisch gelernt und erzählte nun von ihrem Vater, der die Familie tyrannisierte und sogar seine Liebhaberin zu Hause wohnen ließ. Astrid fiel es schwer, diesen Brief zu vergessen, und sie berichtete einem schwedischen Jugendlichen davon, dem es vermutlich half, dass eine Gleichaltrige in einem anderen Land ebenfalls Probleme hatte. Die sechsundsechzigjährige Astrid Lindgren schrieb:

»… es gibt offenbar niemanden im ganzen deutschen Reich, an den sie sich wenden kann. Eigentlich hat sie keine Lust zu leben, sie weiß nicht, was sie will, sie versucht mal dies, mal das und ist es nach kurzer Zeit leid. (…) Das Mädchen hat bestimmt gewaltige psychische Probleme, aber ich verstehe es nicht ganz, und ich kann ihr ja auch nicht helfen. (…) Ja, mein Gott, es gibt so viel Elend.«

»Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen«, sagt Astrid Lindgren, als sie im Oktober 1978 in Frankfurt a. M. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird und eine Rede über die Abrüstung im Familienleben hält.

In anderen Briefen – im Archiv liegen dreißig- bis fünfunddreißigtausend Schreiben von Kindern und Jugendlichen aus fünfzig Ländern – wurde nach der Fortsetzung eines bestimmten Buches gefragt, man wollte wissen, wie man überhaupt ein Buch verfasst, oder bat »Tante Astrid«, beim Vorsprechen am Theater oder bei einem Film-Casting behilflich zu sein. Der Wunsch, ein Star in der Verfilmung eines Werkes von Astrid Lindgren zu werden, wurde auch in einem besonderen Brief geäußert, der im Frühjahr 1971 durch den Briefschlitz in der Dalagatan fiel. Verfasst hatte ihn die zwölfjährige Sara Ljungcrantz aus Småland, und ganz oben auf der ersten Seite dieses Schreibens mit mehreren unterschiedlichen Handschriften und einer Unmenge Ausrufezeichen stand: »Willst Du mich GLÜCKLICH machen?«

Diese Frage leitete einen langen Briefwechsel zwischen der weltberühmten Schriftstellerin, die den aufziehenden Herbst ihrer Karriere erlebte, und einem entwurzelten und nachdenklichen schwedischen Mädchen ein, das sich in vielerlei Hinsicht vom Leben ausgeschlossen fühlte und mit ihrer Situation als Jugendliche nicht zurechtkam. Zu Beginn dieser Korrespondenz, die unter dem Titel Dina brev lägger jag under madrassen (Deine Briefe lege ich unter die Matratze) erschienen ist, liest man, dass Astrid Lindgren dem Mädchen gern helfen wollte. Allerdings hatte die dreiundsechzigjährige Autorin den Wunsch, sich die temperamentvolle Sara Ljungcrantz zunächst etwas genauer anzusehen. Denn ihr erster Brief hatte Astrid Lindgren nicht gefallen. Darin hatte ihr Sara den unbescheidenen Wunsch nach Probefilmaufnahmen mitgeteilt – gefolgt von einer Beschimpfung der Kinderschauspieler des letzten Pippi-Films und einer wüsten Kritik an Björn Bergs Zeichnungen im jüngsten Buch über Michel aus Lönneberga. An mangelndem Selbstwertgefühl schien das Mädchen auf den ersten Blick nicht zu leiden, obwohl sie im Grunde genau das tat.

Astrid Lindgrens erste Antwort an Sara war daher kurz und kühl. Sie erteilte ihr einen Denkzettel, und das Mädchen bekam bei der Lektüre so rote Ohren, dass es den Brief in die Toilette spülte. Die Autorin von einigen ihrer Lieblingsbücher hatte Sara daran erinnert, wie gefährlich es sei, Neid zu empfinden, und sie hatte gefragt, ob Sara sich vorstellen könne, warum sie so wenige Freunde habe, so oft allein sei und sich einsam fühle.

Zwei Teenager im Abstand von fünfzig Jahren. Während des Briefwechsels mit Sara Ljungcrantz in den Siebzigerjahren erkennt Astrid Lindgren auch etwas von sich als jungem unangepasstem Mädchen in Vimmerby Anfang der Zwanzigerjahre wieder.

Ausgerechnet die »Einsamkeit« – dieser in der skandinavischen Kultur so tabuisierte, negativ besetzte Begriff, ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist, obwohl wir es alle kennen und im Lauf unseres Lebens auf viele unterschiedliche Arten allein sein müssen – wurde in den folgenden Jahren zum roten Faden in dem Briefwechsel zwischen dem einsamen Teenager und der einsamen Schriftstellerin. Astrid Lindgren konnte in den Siebzigerjahren auf ein Leben zurückblicken, in dem sie sich als Kind, als junger Mensch, als alleinstehende Mutter, als Witwe und als Künstlerin viele Gedanken darüber gemacht hatte, wie es ist, sich selbst überlassen beziehungsweise auf seine eigene Gesellschaft angewiesen zu sein. Mitunter hatte sie diese Einsamkeit gefürchtet, dann wiederum hatte sie sich unsäglich danach gesehnt. Mit dem Wahlspruch ihrer småländischen Familie »Vi sä’r inget utåt« (»Nur nichts nach außen dringen lassen«) zog sie stets eine Grenze zwischen dem, was die Öffentlichkeit über den Menschen hinter der Autorin wissen sollte, und was nicht. Wenn jemand danach fragte, sprach Astrid Lindgren jedoch überraschend offen über die Einsamkeit in ihrem Privatleben, beispielsweise in einem Interview einer schwedischen Zeitung aus den Fünfzigerjahren. Der Journalist wollte wissen, wie Astrid Lindgren den plötzlichen Verlust ihres 1952 verstorbenen Mannes verkraftete, und ihre Antwort lautete:

»Vor allem will ich mit meinen Kindern zusammen sein. Dann will ich mit meinen Freunden zusammen sein. Und darüber hinaus will ich mit mir selbst zusammen sein. Ganz und gar mit mir. Der Mensch hat nur einen zerbrechlichen, kleinen Schutz gegen das, womit das Leben zuschlagen kann, wenn er nicht gelernt hat, allein zu sein. Das ist beinahe das Wichtigste überhaupt.«

Astrid Lindgrens Überzeugung, dass jeder Mensch, egal wie alt, in der Lage sein müsse, das Alleinsein zu ertragen, wird auch ein zentraler Bestandteil ihrer zurückhaltenden Ratschläge an Sara, der es so schwerfiel, mit ihrer Familie, Freunden, Lehrern und Psychologen zu sprechen, und die auch mit sich selbst nicht zurechtkam. Als Astrid Lindgren sich nach Saras ersten vier, fünf Briefen allmählich in den Gefühlen des jungen Mädchens und ihrem Blick auf sich selbst wiedererkannte – »einsam, verlassen und genervt«, wie Sara es formulierte –, begann die alternde Schriftstellerin den Schleier über ihre eigene schwierige Jugend zu lüften:

»Oh, ich wünschte so sehr, dass Du glücklich sein könntest und nicht so viele Tränen auf Deiner Wange zu haben brauchtest. Aber es ist gut, dass Du fühlen kannst, dass Du Dich um andere sorgst und traurige Gedanken denkst, ich fühle mich Dir gerade deshalb verwandt. Ich glaube, die schwersten Perioden im Leben eines Menschen sind die frühe Jugend und das Alter. Ich habe meine Jugend als etwas schrecklich Melancholisches und Schwieriges in Erinnerung.«

Sara versteckte alle Briefe Astrid Lindgrens unter der Matratze. Es waren lange Briefe, die niemals herablassend formuliert waren, sondern sich solidarisch mit der problem- und konfliktbeladenen Wirklichkeit des Mädchens befassten. Gleichzeitig spiegelte sich in Sara der unangepasste junge Mensch, der Astrid selbst einmal gewesen war, als sie noch Ericsson mit Nachnamen hieß. Ein intelligenter, zutiefst melancholischer, rebellischer und sehnsuchtsvoller Teenager in den Zwanzigerjahren in einer Kleinstadt in Småland, der sich über seine Identität nicht im Klaren war. Dieses schrittweise Wiedererleben der eigenen Jugend wurde besonders intensiv im Frühjahr 1972, als Sara in einem ausgesprochen dramatischen Brief von einem kurzen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie berichtete. Sie war wegen Panikattacken und wiederholter Auseinandersetzungen mit ihrer Familie eingeliefert worden. Nie zuvor habe sie sich so »hässlich, dumm, lächerlich und faul gefühlt«, schrieb Sara. Astrid Lindgren antwortete umgehend. Und sie leitete ihren Brief mit den einfühlsamen Worten »Sara, meine Sara« ein, die sich genau wie der Titel ihres Romans Mio, mein Mio an jeden richteten, der ganz konkret oder im übertragenen Sinn allein auf einer Bank in einem menschenleeren Park saß:

»›Hässlich, dumm, lächerlich und faul‹ seist Du – das schreibst Du in Deinem Brief. Dass Du nicht dumm und nicht lächerlich bist, weiß ich mit Sicherheit durch Deine Briefe, wie es um die anderen Dinge steht, vermag ich nicht zu sagen. Aber wenn man dreizehn Jahre alt ist, glaubt man immer, man sei hässlich, ich war in dem Alter überzeugt, dass ich die Hässlichste von allen sei und sich niemals irgendjemand in mich verlieben werde – aber mit der Zeit entdeckte ich, dass es nicht ganz so schlimm war, wie ich glaubte.«

Der Briefwechsel der beiden erreichte seine intensivste Phase, als 1973/74 Die Brüder Löwenherz erschien. Astrid Lindgren war damals sehr beschäftigt, sie gab viele Interviews und hatte Lesungen im In- und Ausland, zugleich musste sie mit mehreren Todesfällen von Menschen zurechtkommen, denen sie sehr nahegestanden hatte – allen voran ihr etwas älterer Bruder Gunnar, der ihr seit ihrer Jugend sehr nahegestanden und sich zu einem guten männlichen Freund entwickelt hatte. Astrid hatte ihm in oft geradezu galgenhumoristischen Briefen ihr wildes Herz ausgeschüttet. Und gerade in der größten Trauer über Gunnars viel zu frühen Tod wollten viele Leser mit der Autorin über Die Brüder Löwenherz diskutieren.

Auch Sara Ljungcrantz. Sie hatte mit der Post ein Widmungsexemplar des Buches erhalten, sich sofort darauf gestürzt und nach eigener Lektüre eine »dumme« Rezension in Dagens Nyheter gelesen, wie sie in einem Brief an Astrid Lindgren tröstend schrieb. Wie konnte jemand ein Buch nicht lieben, das so unglaublich spannend und gleichzeitig so voller Herzenswärme und Trost war? Astrid Lindgren hatte darauf keine Antwort. Allerdings wollte sie in jenem Winter mit Sara über ein anderes Thema korrespondieren – nämlich über die Nachricht, dass sich das jetzt fünfzehnjährige Mädchen in einen ihrer Lehrer verliebt hatte. Das Leben und die Liebe waren für Sara so kompliziert geworden, dass sie in einem Brief vom Dezember 1973 versuchte, sich selbst zu analysieren:

»Ich hatte lange darüber nachgedacht, woran es liegen mochte, dass ich nicht richtig gelebt hatte. Ich war in meinen Überlegungen bis zu Falschheit und einer verlorenen Identität gelangt. Ich wollte ja so gern ich selbst sein. Aber wer war ich? Ich glaube nicht, dass ich einen einzigen Menschen kenne, der er selbst ist.«

Astrid Lindgren war so fasziniert von Saras Brief, dass sie noch am Silvesterabend begann, ihn zu beantworten. Normalerweise verbat sie sich am letzten Tag des Jahres Gesellschaft und genoss ihre Einsamkeit bei Klängen von Beethoven und Mozart, einem guten Buch und den üblichen Silvesternotizen, in denen sie auf das vergangene Jahr zurückblickte. Diesmal jedoch saß sie an der Schreibmaschine und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zurück in die Vergangenheit, zu den Jugendjahren in Vimmerby: »Wenn ich lese, was Du über Dich selbst schreibst, dann denke ich, dass ich vieles davon wiedererkenne, weil ich selbst darüber nachgedacht habe, als ich in Deinem Alter war.« Vor allem den philosophischen Beginn von Saras Analyse, in dem es um die Angst des Menschen geht, sein wahres Ich zu zeigen, wollte Astrid Lindgren gern kommentieren:

»Nein, damit hast Du ja so recht! Kein Mensch öffnet sich voll und ganz, selbst wenn er sich danach sehnt, es zu können. Aber jeder Einzelne ist eingesperrt in seiner Einsamkeit. Alle Menschen sind einsam, obwohl manche von ihnen so viele Leute um sich haben, dass sie es nicht begreifen oder merken. Bis eines schönen Tages … Aber Du bist verliebt, und das ist ein herrlicher Zustand.«

Das zweite Thema, das Astrid Lindgren an Saras Weihnachtsbrief faszinierte, war die Beschreibung ihres Verliebtseins in den Lehrer. Lindgren vermied es sorgfältig, einen moralischen oder warnenden Zeigefinger zu erheben. Stattdessen schrieb sie – und wiederholte es in mehreren anderen Briefen –, dass die Liebe die beste Kur der Welt gegen Angst und Unsicherheit sei: »Eine Liebe, selbst wenn sie ›unglücklich‹ ist, erhöht das Lebensgefühl, das ist unbestreitbar.«

Sara Ljungcrantz und Astrid Lindgren haben sich nie persönlich kennengelernt, näher als in ihrem von 1972 bis 1974 andauernden Briefwechsel kamen sie sich nicht. Es gibt noch einen Brief aus dem Jahr 1976, in dem die inzwischen siebzehnjährige Sara berichtete, was sie bei der erneuten Lektüre von Astrids drei Büchern über die junge Kati aus der Kaptensgatan empfunden hatte. Die in den Jahren 1950 bis 1953 entstandene Trilogie über ein junges Mädchen, das die USA, Italien und Paris besucht, hatte in Sara die Reise- und Lebenslust geweckt, aber sie interessierte sich auch dafür, ob die achtzehn-, neunzehnjährige Astrid das Vorbild für ihre Hauptperson gewesen sei: »Ging es Dir wirklich wie Kati, als Du jung warst?«

Die zwanzigjährige Kati ist die Hauptperson und Ich-Erzählerin in Astrid Lindgrens drei Büchern Kati in Amerika, Kati in Italien und Kati in Paris, die in Schweden in den Jahren 1950, 1952 und 1953 erschienen; die deutschen Erstausgaben kamen beim Oetinger Verlag 1952, 1953 und 1954 heraus.

Bei dieser Frage musste die achtundsechzigjährige Astrid Lindgren an einige Briefe und vergilbte Zettel aus dem schwierigen Jahr 1926 denken, die sie beim Aufräumen einiger Schubladen wiedergefunden hatte. Damals war sie gezwungen gewesen, von zu Hause auszuziehen:

»Ich fand einen Zettel (…), einen, den ich schrieb, als ich ungefähr in Deinem Alter war, er lag in einem Brief, und Folgendes stand darauf: Life is not so rotten as it seems. Aber ich fand – genau wie Du –, dass das Leben absolut mies war. Es kann also durchaus sein, dass die Kati-Bücher ein bisschen ›lügnerisch‹ sind (Formulierung stammt von Sara, Anm. d. Red.), wenn man von ihnen erwartet, dass sie ausdrücken, wie es ist, richtig jung zu sein. Aber Kati hat es geschafft, ein wenig reifer zu werden, sie war ja auch nicht ganz so jung. Als ich 1920 Jahre alt war, wollte ich mir ständig das Leben nehmen, und ich wohnte mit einem Mädchen zusammen, das es noch mehr wollte als ich. (…) Aber später begann ich, mich anzupassen, und fand, dass das Leben recht angenehm war. Jetzt, in meinem derzeitigen hohen Alter, finde ich, dass es einem sehr schwerfällt, glücklich zu sein in Anbetracht des Zustands der Welt, und mein Trost ist, dass ich nicht mehr jung bin. Mein Gott, wie aufmunternd das alles klingt. Stelle ich auf einmal fest. Entschuldige bitte! (…) Leb wohl, Sara. Life is not so rotten as it seems.«

À la Garçonne

»Zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig schafft man es, ungefähr vier verschiedene Leben zu führen«, erklärte Astrid Lindgren in den Sechzigerjahren in einer deutschen Fernsehsendung, in der es um die Phasen im Leben einer Frau ging. Mit derselben natürlichen Ausstrahlung, die die Kinderbuchautorin Ende der Vierzigerjahre zu einem Star im schwedischen Radio machte, erzählte sie von dem überwältigenden Gefühl, innerhalb von zehn Jahren vier unterschiedliche Frauen zu sein: »Um mit dem ersten Leben zu beginnen – wie war ich als Fünfzehnjährige? Mir war klar, dass ich erwachsen war, aber mir gefiel es nicht.« Diese unsichere, bisweilen unglückliche und einsame Fünfzehnjährige, die Trost und Sinn in der Welt der Bücher fand, verwandelte sich mit sechzehn, siebzehn Jahren in ein aufgeschlossenes, progressives Mädchen ganz im Zeichen der Zeit:

»Ich machte sehr schnell eine kolossale Veränderung durch und wurde von einem Tag auf den anderen ein richtiges Jazzflappergirl, wie man damals sagte. Denn das passierte etwa gleichzeitig mit dem Durchbruch des Jazz in den glücklichen Zwanzigerjahren. Ich ließ mir die Haare schneiden, zum großen Entsetzen meiner Eltern, die Bauern waren und am Bestehenden festhielten.«

Astrid Lindgren (geborene Ericsson) ist noch keine siebzehn Jahre alt, als sie 1924 mit einer Jugendrevolte beginnt, die in Vimmerby Aufsehen erregt. In der Kleinstadt gab es ein Kino, ein Theater, die Missionsbuchhandlung und die Volkstanzgruppe Smålänningarne (Die Småländer), doch als junge Frau, die gern tanzen ging, bewegte man sich lieber zur Musik der Gegenwart. Im Sommer bot sich auf Tanzbühnen im Freien Gelegenheit dazu, im Winter ging man ins Stadthotel, wo samstags eine »Soiree mit Tanz« veranstaltet wurde. Normalerweise gab es zunächst ein längeres Konzert, bei dem die beiden Geschlechter getrennt voneinander auf ihren Bänken saßen und gesittet abwarteten. Anschließend wurde von einundzwanzig Uhr bis eine Stunde nach Mitternacht zu den neuesten Schlagern getanzt – »bei besonders dekorativer Einrichtung in magischer Beleuchtung«, wie das Stadthotel 1924/25 auf der Titelseite der Vimmerby Tidning lockte.

Zu dieser Zeit trug Astrids beste Freundin Anne-Marie Ingeström (später verheiratete Fries) noch lange feminine Kleider, welche die sich allmählich abzeichnenden weiblichen Rundungen betonten und gleichzeitig verbargen. Das hübsche Mädchen, das Madicken (so heißt die Protagonistin in der schwedischen Originalausgabe von Madita, Anm. d. Red.) genannt wurde und in der weißen Villa des Bankdirektors Fries am bürgerlichen Ende der Prästgårdsallén aufgewachsen war, zeigte gern ihr langes dunkles Haar, insbesondere auf Fotos, die von einem traditionellen, sinnlichen Frauenbild dominiert werden. Astrid hingegen begann männliche Kleidung zu tragen. Lange Hosen, Jackett und Krawatte hatten in ihre Garderobe Einzug gehalten, außerdem Hut und Schlägermütze, die tief über den Kurzhaarschnitt gezogen wurde. Wie sie später in einem Interview gestehen sollte, fanden sich in ihrem Kopf damals nur wenige vernünftige und realistische Gedanken, dafür aber zahlreiche aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Nietzsche, Dickens, Schopenhauer, Dostojewski und Edith Södergran sowie Eindrücke aus Filmen, die zeigten, wie Greta Garbo und andere femmes fatales dieser Zeit aussahen und sich benahmen:

»Es gab etwa 3500 Einwohner (in Vimmerby, Anm. d. Red.), und ich war die Erste in der Stadt, die sich die Haare abschnitt. Es kam vor, dass Leute, denen ich auf der Straße begegnete, zu mir kamen und mich baten, den Hut abzunehmen und meine Kurzhaarfrisur zu zeigen. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als Victor Margueritte, ein französischer Schriftsteller, sein Buch La Garçonne veröffentlichte, ein sehr schockierendes Buch, das ein Welterfolg wurde. Ich glaube, alle Mädchen auf der ganzen Welt wollten so aussehen wie La Garçonne, ich zumindest wollte es.«

Victor Marguerittes Roman verkaufte sich in den Zwanzigerjahren weltweit in einer Auflage von über einer Million Exemplare. Er wurde zum Kultbuch für viele junge Frauen, die von einem Aufstand gegen die gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen und die viktorianische Prüderie ihrer Eltern träumten. Monique Lerbier, die Protagonistin des Romans, ist ein wandelnder Dorn im Auge des Bürgertums. Sie schneidet ihr Haar kurz wie ein Junge, kleidet sich in Jackett und Schlips, raucht und trinkt in der Öffentlichkeit, was sonst den Männern vorbehalten ist, tanzt wild und bekommt ein uneheliches Kind. Eine selbstbewusste Selfmade-Frau, die statt Familie die Freiheit und ein Leben wählt, in dem sie selbst entscheidet.

»La Garçonne« wurde sehr schnell zu einem globalen Modephänomen, das die Männer mit ihrem androgynen Look schockierte. Plötzlich wimmelte es in den Großstädten von Frauen mit kurz geschnittenen Haaren, die Männerkleidung oder locker sitzende Kleider und Glockenhüte trugen. Die Absicht, die hinter dieser zweigeschlechtlichen Garderobe stand, war eindeutig. Eine junge Frau dieser Zeit wollte nicht aussehen wie ihre Mutter oder ihre Großmutter. Sie verzichtete auf das Korsett und die langen, schweren Kleider und trug stattdessen funktionalere Kleidung, in der sie sich freier und ungezwungener bewegen konnte. Zusammen mit der La-Garçonne-Frisur sollte die Kleidung zum Ausdruck bringen, dass Frauen dem Geschlecht ähnlich sehen wollten, mit dem sie sich mehr denn je in der Geschichte zu messen wagten.

Als neugierige, eifrig lesende und kulturell interessierte junge Frau, die Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Filme und Musik als eine Art Fernglas in die große weite Welt nutzte, wusste Astrid Ericsson von der Aufregung, die die neue Frauenmode außerhalb der Grenzen Smålands ausgelöst hatte. In skandinavischen Zeitungen und Illustrierten rieten einige männliche Journalisten den Frauen davon ab, sich die Haare kurz zu schneiden. Der »Shingle-Bob«, wie die La-Garçonne-Frisur auch genannt wurde, bekam geradezu rassistische Prädikate wie »Apachenschnitt« oder »Hottentottenhaare«. Hinter diesen Schreckensbildern lauerte die Angst vor der neuen Frauenrolle. Würden die Männer künftig ihre althergebrachte Bedeutung verlieren? Nicht ganz. Denn die Mehrzahl der jungen, von La Garçonne inspirierten Frauen träumte von Geborgenheit und einer Familie mit Mann und Kindern. Neu war, dass sie auch außerhalb des Hauses tätig sein wollten, sich gern als Kameradin ihres Mannes sahen und – nicht zuletzt – über ihren Körper und ihre Sexualität selbst bestimmen wollten.

Wie gut dieser neue, jungenhafte Look und der damit verbundene Lebensstil Astrid Ericsson gefiel, geht aus verschiedenen Fotos von Anne-Maries siebzehntem Geburtstag im August 1924 hervor, auf dem sich vier Burschen – Sonja, Märta, Greta und Astrid – um das feminine Geburtstagskind gruppieren. Natürlich war es ein lustiges Arrangement – vier verkleidete Freundinnen spielen in zwei verschiedenen Szenen rivalisierende Freier, die vor der schönen Jungfrau knien. Verglichen mit den drei anderen »jungen Männern« auf dem Foto hat Astrid Ericssons Erscheinung aber etwas Souveränes und in sich Ruhendes. Sie spielte keine Rolle, sondern war sie selbst. Ein jungenhaftes Mädchen. Immer hatte sie mit anderen Kindern gespielt, ohne sich um das Geschlecht ihrer Spielkameraden zu kümmern. Trotz ihrer Unsicherheit in den Teenagerjahren hatte sie nie etwas anderes sein wollen als ein Mädchen. Am 22. Mai 1998 erklärte sie in der Göteborgsposten: »Vielleicht, weil wir bei unseren Spielen zu Hause auf Näs nie einen Unterschied machten, Jungen und Mädchen spielten gleichermaßen wild miteinander.«

Am 28. August 1924 wurde Anne-Marie Fries siebzehn Jahre alt. Ihre besten Freundinnen Sonja, Märta, Greta und Astrid (rechts) verkleideten sich als junge Männer, die die reizende Madicken umrahmen.