Ein perfides Spiel: Kann man wirklich seinen Mann töten – um die Tochter zu retten?
Die Psychologin Merette Schulman und ihr Exmann, der Polizist Jan-Ole nehmen eine Auszeit auf einer einsamen Hütte in der Wildnis Norwegens. Doch schon in der ersten Nacht wird Jan-Ole bei einem Überfall schwer verletzt. Während er bewusstlos im Krankenhaus liegt, erfährt Merette: Aksel, einer ihrer früheren Patienten, ist aus der Forensik ausgebrochen. Merette ist überzeugt, dass er für den Überfall auf Jan-Ole verantwortlich ist. Noch am selben Tag erhält sie von ihm eine SMS mit einem Foto ihrer Tochter Julia. Kurz darauf folgt eine weitere Nachricht: »Töte ihn, dann darf sie leben.«
»Glauben Sie mir, wenn Sie diesen Thriller gelesen haben, werden Sie sich zehnmal überlegen, ob Sie wirklich Ferien in irgendeiner Hütte in den norwegischen Wäldern machen wollen!« Dietmar Bär
Töte ihn, dann darf sie leben
Thriller
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Vorspiel
Erstes Buch
2 Tage vorher
Merette
Merette
Julia
Merette
Merette
Julia
Merette
Zweites Buch
10 Jahre vorher
Drittes Buch
Merette
Merette
Merette
Merette
Nachspiel: Julia
Nachwort
13 Fragen an Freda Wolff
Über Freda Wolff
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Leseprobe aus: Freda Wolff – Schwesterlein muss sterben
Für H. – wie immer
Als sie aus dem Tiefschlaf hochschreckte, wusste sie nicht, wo sie war. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, in einer Kiste zu stecken, dicht neben ihrem linken Arm war eine grob gezimmerte Holzwand. Als sie die Hand nach oben streckte, stieß sie ebenfalls gegen Bretter. Erst als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie rechts von sich das vage Viereck eines Fensters ausmachen.
Gleich darauf hörte sie wieder das Geräusch, das sie geweckt hatte. Ein blechernes Scheppern, irgendwo draußen, nur wenige Meter von ihr entfernt.
»Der Fuchs kommt regelmäßig vorbei«, hatte Elsa gesagt, »aber es gibt auch einen Dachs, der manchmal versucht, die Mülltonne umzustürzen. Achtet bitte darauf, dass ihr immer den Deckel zumacht.«
Elsa! Ohne Probleme konnte Merette sich jetzt wieder orientieren, sie war nicht in ihrer Wohnung in Bergen, sondern in einer Hütte irgendwo in Südnorwegen, in der Nähe von Kristiansand. Jan-Ole hatte sie damit überrascht, dass er die Hütte für eine Woche gemietet hatte – allerdings ohne sie vorher zu fragen, ob eine Hütte ohne Strom und fließend Wasser, mit Propangaskocher und Bretterklo, weit weg von jedem Dorf, jedem Straßencafé und jeder Einkaufsmöglichkeit ihrer Vorstellung von Urlaub entsprechen würde. Und auf ihren zögernden Einwand hin hatte er sie einfach in den Arm genommen und lachend erklärt: »Glaub mir, das ist genau das, was du jetzt brauchst. Was wir brauchen! Elsa ist eine alte Bekannte, die sich freut, uns einen Gefallen tun zu können. Ihre Hütte liegt an einem See, oben in den Bergen. Elsa gibt uns nur den Schlüssel und dann können wir machen, was wir wollen, ohne fürchten zu müssen, dass vielleicht ein Nachbar vorbeikommt und uns beim Nacktbaden erwischt. Der nächste bewohnte Hof ist gut fünf Kilometer entfernt, es wird also nur dich und mich geben.«
Natürlich hatte Jan-Ole vollkommen recht gehabt, sie hatten beide eine Auszeit dringend nötig. Seit über einem Jahr hatten sie Bergen nicht verlassen! Seit einer von Merettes Patienten, ein Soziopath, ihre Tochter Julia und deren beste Freundin in seine Gewalt gebracht hatte. Und nach wie vor wurde Merette von den alptraumhaften Bildern verfolgt, in denen sie zu spät kam, um Julia zu retten. Jedes Mal wurde ihr dann aufs Neue klar, wie sehr ihr Selbstbewusstsein immer noch erschüttert war – als würde sie in einem sorgfältig aufgebauten Kartenhaus sitzen, das der leiseste Windhauch zum Einsturz bringen konnte.
Kurz entschlossen hatte sie also tatsächlich alle ausstehenden Termine abgesagt und war mit Jan-Ole auf diese Hütte gefahren – nur um sich bereits gleich nach der Ankunft wieder Vorwürfe zu machen, Julia alleine zurückgelassen zu haben.
»Hör auf, Merette«, hatte Jan-Ole sofort auf sie eingeredet, »du musst endlich loslassen! Julia ist in Sicherheit, ihre Therapie ist fast abgeschlossen, das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist eine Mutter, die wieder ihre eigenen Ängste auf sie überträgt. Und Aksel Karlsen sitzt in der Forensischen Psychiatrie, er kann niemandem mehr gefährlich werden, die Sache ist ausgestanden. Gib euch endlich die Chance, wieder zu euch zu finden. Ich dachte, wir waren uns einig darüber, dass wir alle diesen Neuanfang brauchen. Das gilt im Übrigen auch für dich und mich«, hatte er nach kurzem Zögern hinzugesetzt.
Merette hatte nur zu gut verstanden, worauf er anspielte. Jan-Ole und sie waren nach ihrer Trennung vor über zehn Jahren erst wieder zusammengekommen, als diese Geschichte mit Julia passierte. Nach wie vor wohnten sie getrennt, aber ihre Beziehung schien auf dem besten Weg, sich wieder vollständig einzurenken. Und Jan-Ole war einfühlsam genug, um Merette zu nichts zu drängen, wozu sie nicht bereit war. Aber sie wusste, wie sehr es ihn belastete, wenn er spürte, dass sie weder ihm noch sich selbst vertraute.
Die fast zwei Flaschen Weißwein, die Jan-Ole im Wasser des Sees gekühlt hatte und die sie im Laufe des ersten Abends tranken, ohne wirklich betrunken zu werden, hatten zu dem geführt, was von vornherein absehbar gewesen war – sie war mit Jan-Ole auf einer der schmalen Bettpritschen gelandet. Norwegische Sommerhütten waren eindeutig eher lustfeindlich, hatte Merette noch gedacht, als sie sich bei ihren Verrenkungen kurz nacheinander beide die Köpfe an der oberen Pritsche stießen. Dann waren alle Hindernisse nebensächlich geworden und es gab nur noch Jan-Oles Hände, seinen Mund, seine Lippen und den leicht salzigen Geschmack seiner Haut. Es kam nicht oft vor, dass sie miteinander schliefen, und mehr als nur einmal hatte Merette schon gedacht, dass ihr Sex etwas Verzweifeltes hatte, als würden sie sich aneinander festklammern, um sich zu vergewissern, dass sie nicht alleine waren. Aber diesmal war es wider Erwarten anders gewesen, es hatte sich alles richtig angefühlt, und sie hatten sich Zeit gelassen, viel Zeit.
Gegen Mitternacht hatten sie dann zusammen im See gebadet, und trotz der eisigen Kälte des Wassers hatte Merette so etwas wie ein lange vermisstes Glücksgefühl gespürt, das auch noch anhielt, als sie bereits wieder in der Schlafkammer waren, diesmal jeder auf seiner eigenen Pritsche, sie unten und Jan-Ole anderthalb Meter über ihr.
»Hörst du das?«, hatte Jan-Ole geflüstert. Seine Stimme hatte geklungen wie die eines kleinen Jungen, der aufgeregt seine erste Feriennacht in der Wildnis verbringt. »Man hört gar nichts! Das ist es, was Elsa gemeint hat. Absolute Stille. Als wäre der Wald nicht voll mit Lebewesen.«
Tatsächlich hatte Elsa sie bei ihrer Ankunft vor dieser Stille gewarnt und ihnen von einem Arztehepaar aus Deutschland erzählt, das im vergangenen Jahr schon nach zwei Nächten wieder abgereist war, weil es ohne die Geräuschkulisse der Großstadt nicht schlafen konnte.
Umso unheimlicher war jetzt das unerwartete Klappern der Mülltonne, auch wenn der Grund dafür wahrscheinlich wirklich nur ein streunender Fuchs oder Dachs auf der Suche nach fressbaren Abfällen war.
»Jan-Ole …«, flüsterte Merette in das Dämmerlicht der Kammer hinein. »Schläfst du?«
Natürlich schläft er, dachte sie gleich darauf, mach dich nicht lächerlich, Merette, es ist nichts weiter. Alles ist in Ordnung, es gibt nichts, was dir in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte!
Aber warum hörte sie nicht wenigstens einen Atemzug von Jan-Ole? Wenn er wirklich fest schlief, müsste sie dennoch seinen Atem hören, irgendeine Bewegung auf der Pritsche über ihr, ein Anzeichen dafür, dass er überhaupt da war.
Sie hob den Arm und klopfte mit dem Fingerknöchel an den Lattenrost der oberen Pritsche, erst zögernd, dann nachdrücklicher, während sie auf seine verschlafene Stimme hoffte, auf ein mürrisches »Was ist los? Was hast du?«
»Jan-Ole?«, fragte sie jetzt lauter in die Stille hinein. Als immer noch keine Antwort kam, schlug sie die Decke zurück und richtete sich auf. Fast wäre sie mit dem Kopf wieder gegen die grob gezimmerten Bretter gestoßen. Als sie dann mit der Hand nach der Pritsche über sich tastete, wusste sie bereits, dass das Bett leer war.
Er ist pinkeln gegangen, dachte sie, und ich habe so fest geschlafen, dass ich noch nicht mal gemerkt habe, wie er an mir vorbeigeklettert ist. Oder er hat den Fuchs vor mir gehört und sich zum Fenster geschlichen, um ihn zu beobachten.
Barfuß tastete sie sich über die Schwelle in den Wohnraum. Aber dann war da nur die leere Fensteröffnung ohne den ersehnten Schatten von Jan-Ole davor. Die Tür nach draußen war geschlossen, allerdings fehlten Jan-Oles Gummistiefel, und auch die Taschenlampe, die sie für alle Fälle griffbereit auf den Tisch gelegt hatten, war verschwunden.
»Er ist pinkeln gegangen«, wiederholte Merette halblaut für sich selbst und spürte plötzlich den Druck auf ihrer eigenen Blase. Ein altes Ehepaar trifft sich nachts auf dem Außenklo, dachte sie fast belustigt, bevor sie die Klinke herunterdrückte und ins Freie trat.
Über ihr wölbte sich der Sternenhimmel, noch konnte Merette ohne Mühe den großen Wagen ausmachen und das schimmernde Band der Milchstraße, aber ein grünlich-gelber Schimmer über dem Wald am anderen Seeufer kündigte bereits den neuen Tag an. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es kurz vor fünf war.
Der glatte Felsen, auf dem die Hütte stand, fühlte sich unangenehm kalt unter ihren bloßen Füßen an, kalt und feucht vom Morgentau. Die Kiefernnadeln in den vom Regen ausgewaschenen Mulden waren wie ein Teppich, der sich mit Nässe vollgesogen hatte. Als sie um die Ecke der Hütte kam, meinte sie einen langgestreckten Schatten unter Jan-Oles altem Campingwagen verschwinden zu sehen, aber sicher war sie sich nicht. Der Mülleimer lag umgestürzt auf der Seite, die Abfälle ihres Abendessens waren über den Boden verstreut.
Die Tür zum Klohäuschen stand sperrangelweit offen, auch aus der Entfernung von vier oder fünf Metern konnte Merette ohne Probleme erkennen, dass das Klo leer war.
Sie drehte sich zurück zum See, fest davon überzeugt, irgendwo zwischen den Baumstämmen Jan-Oles Silhouette entdecken zu müssen – aber das Einzige, was sie sah, waren zwei Wildgänse, die mit vorgestreckten Hälsen dicht über dem Wasser am Ufer vorbeiflogen, laut schnatternd, als wären sie auf der Flucht vor irgendeiner unklaren Bedrohung.
Ein paar Gedichtzeilen von Bertolt Brecht schossen Merette durch den Kopf: Wo Regen drohen oder Schüsse fallen, fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Wohin ihr? – Nirgend hin. – Von wem davon? – Von allen. Wie der Text weiterging, wollte ihr nicht einfallen, sie erinnerte sich nur noch daran, dass das Gedicht »Die Liebenden« hieß. Es schien ihr Ewigkeiten her zu sein, dass sie versucht hatte, den Text für Jan-Ole ins Norwegische zu übersetzen. Es war Ewigkeiten her.
Als die Gänse verschwunden waren, wirkte die Stille erneut umso unwirklicher. Mit den Gänsen hatte sich auch die Farbe des Himmels verändert, ein rötlicher Schleier überzog den Horizont.
Der Druck auf ihre Blase war jetzt so stark, dass Merette unwillkürlich die Beine zusammenpresste. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, die wenigen Meter zurück zum Klo zu gehen, das ihr plötzlich wie eine Falle vorkam. Stattdessen streifte sie das Nachthemd hoch und hockte sich mitten auf den Felsen. Das Plätschern auf dem Stein kam ihr unnatürlich laut vor, für einen kurzen Moment überlegte sie, ob es ihr peinlich wäre, wenn plötzlich Jan-Ole vor ihr stehen würde …
Und dann kam der Schrei. Ein Schrei, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatte. Qualvoll. Grausam. Eine Mischung aus ohnmächtiger Wut und … Angst! So laut und durchdringend, dass für einen Moment ihr Herzschlag aussetzte und sie zu keiner Reaktion mehr fähig war. Der Schrei klang wie das Gebrüll eines wilden Tieres, das sich in die Enge getrieben fühlte und jeden Augenblick zum Angriff übergehen würde. Ohne Zögern, ohne Erbarmen – und doch hatte der Schrei gleichzeitig etwas Menschliches.
Im selben Moment, in dem Merette die Tür hinter sich zuschlug, wusste sie schon nicht mehr, wie sie zurück in die Hütte gekommen war. Ihre Hände schafften es kaum, den Schlüssel im Schloss zu drehen, am ganzen Körper zitternd, presste sie dann von innen den Rücken gegen das Holz, als könnte sie so den Ansturm gegen die Tür verhindern, der jeden Moment folgen musste.
Der zweite Schrei ließ sie aufschluchzend nach unten rutschen, sie presste die Hände auf ihre Ohren und hörte das Blut in ihrem Kopf rauschen, dann rollte sie sich zur Seite und griff keuchend nach dem Beil, das an der Wand lehnte. Was immer da draußen auf sie lauerte, sie würde sich nicht wehrlos ergeben.
Nur mit Mühe schaffte sie es, ihren Atem wieder halbwegs unter Kontrolle zu bekommen, sie musste sich vor Angst auf die Lippe gebissen haben, deutlich konnte sie ihr eigenes Blut schmecken. Schritt für Schritt schob sie sich bis zum Fenster, das Beil fest in beiden Händen, ihre Gedanken rasten, sie wusste nicht, was sie da draußen sehen würde, aber nichts konnte schlimmer sein als die alptraumhaften Bilder in ihrem Kopf.
Der Platz vor der Hütte war leer. Undeutlich konnte Merette den nassen Fleck auf dem Felsen ausmachen, wo sie eben noch gehockt hatte. Sonst gab es nichts, was auf irgendein Lebewesen hindeutete.
Zweimal noch hörte sie den Schrei, jedes Mal deutlich weiter entfernt als vorher. Dann war da wieder nur diese Stille, die so gar nichts Beruhigendes mehr für Merette hatte. Und das Hämmern ihres eigenen Herzens.
Merette handelte jetzt wie eine fremde Person, die die Führung über sie übernommen hatte – während sie selbst nur danebenstand und unbeteiligt registrierte, wie sie sich ihre Jeans anzog, ein langärmliges Shirt überstreifte, nach kurzem Zögern ihre Turnschuhe wieder zurückstellte und stattdessen die klobigen Wanderschuhe wählte. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie nach Jan-Ole suchen sollte, aber sie würde feste Schuhe brauchen, von der holprigen Schotterstraße abgesehen, gab es um sie herum nur unberührte Wildnis.
Sie verzichtete darauf, einen Zettel für Jan-Ole zu schreiben – er würde nicht plötzlich von alleine wieder auftauchen, davon war sie überzeugt. Statt des Beils nahm sie das längste Küchenmesser aus der Schublade, das sie finden konnte. Sie hatte noch nie mit einem Messer gekämpft, aber wenn es sein musste, würde sie es tun.
Als Merette die Tür entriegelte und erneut ins Freie trat, ging ihr Atem gleichmäßig, ihre Hände zitterten nicht mehr, sie war voll und ganz auf die Aufgabe konzentriert, die vor ihr lag. Sie musste Jan-Ole finden – und es musste schnell gehen, womöglich würde er verletzt sein, ziemlich sicher sogar, wobei sie immer noch hoffte, dass er vielleicht nur gefallen war, sich den Fuß verstaucht hatte, ein Bein gebrochen …
Merette schüttelte unwillig den Kopf, um die Bilder loszuwerden, die sich ihr erneut aufdrängen wollten. Sie hatte das fürchterliche Gebrüll immer noch im Ohr, aber sie war ein Großstadtmensch und wusste nichts über wilde Tiere. Genauso wenig erinnerte sie sich, jemals etwas davon gehört zu haben, ob es in Südnorwegen überhaupt so etwas wie streunende Wölfe gab, Bären, Wildkatzen – oder wozu vielleicht ein wütender Elch fähig war, der sich in seinem Revier bedroht fühlte. Elche gab es, Jan-Ole hatte ihr erst gestern einen noch dampfenden Köttelhaufen zwischen den Preiselbeeren gezeigt.
Gleich darauf schoss ihr erneut der Gedanke durch den Kopf, dass das Gebrüll durchaus auch etwas Menschliches gehabt hatte.
»Reiß dich zusammen, Merette«, murmelte sie, dann holte sie die Verbandstasche aus dem Camper und begann, in immer größeren Kreisen das Gelände um die Hütte herum abzusuchen. Einmal blieb sie an einer Wurzel hängen und stolperte, dicht an einer Felskante, sie konnte sich gerade noch an einem tiefhängenden Ast festhalten, schürfte sich aber das Schienbein unter der Jeans auf und blinzelte heftig gegen die Tränen an, die ihr der Schmerz in die Augen trieb.
In einer Senke am Seeufer lagen wahllos hingestreute Knochen, der Größe nach musste es ein Elch gewesen sein, der hier wahrscheinlich im letzten Winter verendet war. Fleisch- oder Fellreste gab es keine mehr, auch den Schädel konnte Merette nirgends sehen. Als sie die leeren Patronenhülsen zwischen den Steinen entdeckte, folgerte sie, dass der präparierte Elchkopf nun wohl die Hüttenwand eines jagdversessenen Norwegers schmücken würde.
Elsas Kanu lag nach wie vor umgedreht auf dem Holzgestell am Ufer. Jan-Ole hatte bereits davon geschwärmt, das Boot ins Wasser zu setzen und eine Paddeltour mit Merette zu machen. »Die Seen hier oben sind alle miteinander verbunden«, hatte er erklärt, »wir können den ganzen Tag unterwegs sein und vielleicht auf irgendeiner Insel ein Picknick machen.«
Im schlickigen Ufersand waren deutlich die Fußspuren ihres nächtlichen Badeausflugs zu erkennen, Stiefelabdrücke gab es keine, Jan-Ole war also auch nicht noch mal hier gewesen.
Das Licht war inzwischen so hell, dass die Konturen des Waldes scharf hervortraten, nur über dem See hing noch eine dünne Nebelschicht.
Einen Moment stand Merette unschlüssig auf dem Weg, dann schlug sie die Richtung ein, die bergab zu dem verlassenen Bauernhaus führte, das sie bei ihrer Ankunft passiert hatten. Sie folgte einem vagen Gefühl, das sie nicht näher hätte benennen können, aber sie war sich schon nach den ersten Metern sicher, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
Das typische rot-weiße Holzhaus war über dreihundert Jahre alt und – wenn Merette es gestern richtig verstanden hatte – der ehemalige Hof von Elsas Eltern. Das Haus stand seit langem leer, Elsa hatte irgendetwas davon erzählt, dass sie sich vorstellen könnte, später selbst wieder hierherzuziehen, aber im Moment fehlte ihr das Geld für die notwendigen Reparaturen. Merette hatte ohnehin kaum zugehört, alleine die Idee, dass jemand im Alter auf einem Bauernhof mitten in der Wildnis leben wollte, erschien ihr vollkommen absurd. Jan-Ole war natürlich anderer Meinung und hatte sich umgehend von Elsa das Versteck des Schlüssels sagen lassen, um sich »alles mal in Ruhe anzusehen«.
Dass er dazu nun ausgerechnet mitten in der Nacht losmarschiert sein sollte, ergab keinen Sinn, es musste also einen anderen Grund gegeben haben, der ihn von der Hütte weg und zu dem verlassenen Gehöft gelockt hatte – aber als Merette seine schwarze Wollmütze auf dem Schotterweg entdeckte, wusste sie, dass er tatsächlich vor ihr hier gewesen war.
Hinter der Wegbiegung konnte sie das eingestürzte Dach der Scheune ausmachen, in der Zufahrt stand ein alter Militärlaster, der ihr mit der eingeschlagenen Windschutzscheibe und den von Unkraut überwucherten Reifen bereits gestern aufgefallen war. In der Luft lag ein stechender Geruch, den Merette nicht deuten konnte, sie tippte darauf, dass irgendwo alte Düngemittelsäcke gelagert waren.
Als sie durch das hohe Gras auf die Haustür zuging, sah sie deutlich die Spur, die Jan-Ole hinterlassen hatte. Eine zweite Spur führte quer über den Platz von der Scheune zur Hausecke hinüber. Merette konnte nicht entscheiden, ob das Gras in beiden Fällen von derselben Person niedergetrampelt worden war, nahm aber an, dass Jan-Ole sich ausführlich umgesehen hatte, aus welchem Grund auch immer.
Der Schlüssel steckte von außen im Schloss. Merette bückte sich zu dem niedrigen Fenster gleich neben der Tür, konnte aber hinter der staubblinden Scheibe nur undeutlich eine leere Küche erkennen. Auf der Spüle stand eine Kaffeekanne aus Kunststoff, deren Henkel mit Paketklebeband geflickt war. Eine grünschillernde Fliege prallte immer wieder gegen das Fensterglas.
Die Tür quietschte unangenehm laut in den Scharnieren, als Merette sie öffnete. Sofort schlug ihr eine Wolke abgestandener Luft entgegen, auf dem Boden stand eine von Spinnweben verkleisterte Mausefalle. Gleichzeitig meinte sie Zigarettenrauch zu riechen. Aber Jan-Ole rauchte nicht mehr, zumindest hatte er ihr versprochen aufzuhören und deshalb auch seinen letzten Tabak zu Hause in Bergen liegenlassen, das wusste sie genau.
Sie lauschte mit angehaltenem Atem in den Flur hinein, die Hand, mit der sie das Messer hielt, war verschwitzt, der Griff fühlte sich klebrig an. Staubfusseln tanzten im ersten Sonnenlicht, das als heller Streifen über die Treppe von einem Fenster im oberen Stockwerk fiel. Von der Küche her hörte sie das unablässige Brummen der Fliege, die immer noch vergeblich einen Weg nach draußen suchte. Der dumpfe Aufprall gegen die Scheibe klang jedes Mal wie eine weit entfernte Detonation.
Vorsichtig setzte Merette einen Fuß vor den anderen, bis sie durch die halbgeöffnete Tür in den Wohnraum blicken konnte. Hinter den Fenstern schimmerte das Wasser des Sees, für einen kurzen Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und veränderte das Licht im Raum in ein diffuses Grau. Ein Stuhl lag umgestürzt auf dem Boden, dicht daneben Jan-Oles Taschenlampe. Erst der nächste Schritt ließ Merette auch Jan-Ole selbst sehen, seine Beine waren in einem unnatürlichen Winkel gekrümmt, als hätte er noch versucht, sich kriechend in Sicherheit zu bringen. Er lag mit dem Gesicht nach unten, an seinem Hinterkopf klaffte eine offene Wunde. Das Blut wirkte wie ein klebrig glänzender Fleck auf dem Grau der Haare.
Mit zwei schnellen Schritten war sie bei ihm. Als sie ihre Finger an seine Halsschlagader drückte, konnte sie einen schwachen Puls fühlen. Erleichtert stieß sie die Luft aus. Aber Jan-Ole war nicht ansprechbar, nur seine Augenlider flackerten leicht, als sie seinen Namen rief. Sein Atem klang röchelnd, auf seiner Stirn lag ein dünner Schweißfilm.
Merette riss ein Verbandspäckchen auf und drückte den Mull auf die Wunde, dann schob sie ihm seinen rechten Arm unter den Kopf und versuchte, seinen Körper in eine stabile Seitenlage zu drehen. Bei der Bewegung stöhnte Jan-Ole kurz auf, kam aber nach wie vor nicht zu sich.
Er braucht einen Arzt, dachte Merette, er muss ins Krankenhaus! Wenn nur das verdammte Handy irgendeinen Empfang hier oben hätte! Aber es würde ohnehin zu lange dauern, bis ein Rettungswagen hier wäre. Ich muss Jan-Ole alleine von diesem Berg runterschaffen, ich muss ihn irgendwie ins Auto kriegen und …
»Mach jetzt keinen Scheiß, Jan-Ole«, flüsterte sie, »du musst durchhalten, ich bin gleich zurück!«
Sie strich über seine feuchte Stirn. Dann schloss sie kurz die Augen und presste die Fäuste gegen die Schläfen, um Kraft zu sammeln.
Als sie bergauf den Weg hochrannte, hatte sie keinen anderen Gedanken im Kopf, als dass sie jetzt nicht stolpern durfte. Sie würde den langen Regenmantel vom Haken hinter der Tür nehmen und ihn wie eine Plane benutzen, um Jan-Ole darauf bis zum Wagen zu ziehen. Wie sie ihn dann ins Wageninnere bekam, würde sie entscheiden, wenn es so weit war.
Der Zündschlüssel steckte in Jan-Oles Lederjacke. Der Camper sprang schon beim ersten Versuch an, Merette schob den Ganghebel in Fahrtstellung und rammte den Fuß aufs Gas. Gleich darauf registrierte sie, dass die Lenkung schwergängiger war als sonst, schlingernd rutschte der Camper über den Schotterweg und geradeaus in den Graben. Mit einem dumpfen Blubbern kam der Motor zum Stehen. Kaum hatte Merette die Tür wieder aufgerissen und war vom Fahrersitz gesprungen, sah sie, dass der linke Vorderreifen zerstochen war.
Irgendwo im Wald hinter ihr kreischte ein Raubvogel. Die Sonne war jetzt so grell, dass die Schatten zwischen den Bäumen fast schwarz wirkten.
When the lion lies down with the lamb
(Dance with a Stranger)
Er drückte Hawkin den benzolgetränkten Lappen auf Nase und Mund und flüsterte dicht an seinem Ohr: »Tief einatmen und dann die Luft anhalten! Ja, genau so, du machst das gut. Und gleich noch mal! Merkst du, wie das Zeug dich wegschießt?«
»Ist geil, echt …«
»Nicht reden, nur atmen!«
Seine Finger tasteten nach Hawkins Handgelenk. Der Puls war bereits deutlich beschleunigt. Die Haut über den Wangenknochen war gerötet, auf der Stirn glänzte ein dünner Schweißfilm.
Hawkin kicherte.
»Es ist so geil, Mann, das haut voll rein!«
»Hab ich dir doch gesagt. Und es wird noch besser, glaub mir.«
Hawkin griff jetzt selbst nach dem Lappen und inhalierte erneut, ohne dass er ihn dazu auffordern musste. Seine Augenlider flatterten, plötzlich versuchte er, sich von dem Arm um seine Schultern zu befreien, und fing an, mit den Beinen zu strampeln.
Ein Benzolrausch ist durch rasch eintretende Euphorie und plötzliche Hyperaktivität gekennzeichnet, hatte in dem halbmedizinischen Text gestanden, den er im Netz in irgendeinem Forum für Schnüffelheinis gefunden hatte. Darauf folgen der Verlust der Selbstkontrolle, Bewusstlosigkeit und in schweren Fällen Tod infolge von Atemlähmung und Herzstillstand …
Er zog Hawkin zurück auf den Boden und redete beruhigend auf ihn ein, während er gleichzeitig alle Kraft aufbringen musste, um ihn am Aufstehen zu hindern.
»Du darfst jetzt nicht ausflippen! Du weißt doch, was ich dir erklärt habe. Du musst das bis zum Ende durchziehen.«
Hawkin keuchte, sein Atem ging stoßweise, die anfängliche Rötung der Haut war einer unnatürlichen Blässe gewichen.
»Schon klar, Alter, weiß ich alles. Aber du darfst mich nicht hängen lassen, du hast es versprochen. Du machst genau dasselbe und dann …«
»Dann machen wir den Abflug, genau wie wir es geplant haben.«
»Und du glaubst wirklich, dass sie Mund-zu-Mund-Beatmung bei mir macht? Die Ärztin, meine ich …«
»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich.«
Er drückte Hawkin fest die Hand auf die Schulter und spürte deutlich das Zittern, mit dem sich Hawkins Muskeln verkrampften.
Hawkin kicherte wieder. Aber seine Stimme klang jetzt lallend, als hätte er Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Du erinnerst dich an … die Geschichte, die ich dir erzählt habe, oder? Du weißt schon, von der Ärztin, und wie sie … oh Mann, mir ist voll schwindlig. Ich glaube, mir wird gleich schlecht. Und mein Kopf tut so weh!«
»Das ist okay so, das gehört dazu. Aber du schaffst das! Komm, einmal noch, es ist gleich vorbei.«
Er musste Hawkin helfen, die zitternde Hand mit dem Lappen vor den nach Luft schnappenden Mund zu pressen. Noch während Hawkin die Dämpfe inhalierte, sackte er mit verdrehten Augäpfeln zurück. Das Zittern lief jetzt über seinen ganzen Körper, die Haut an seinen Händen und auf den Armen fühlte sich eiskalt an.
In dem Text im Forum hieß es, dass die tödliche Dosis bei geschätzten 64 000 Milligramm pro m3 liegt, bei einer Einwirkungszeit von fünf bis zehn Minuten. Er hatte sich die Zahlen gemerkt, konnte aber nicht einschätzen, welche Menge er Hawkin bereits tatsächlich verabreicht hatte. Er würde ihn einfach so lange im Arm halten, bis er sich sicher sein konnte, dass Hawkin das Bewusstsein verloren hatte, und dann Alarm schlagen …
Hawkin war ein ausgemachter Idiot, so viel stand fest. Er hatte ihm nicht umsonst den Spitznamen verpasst, kaum dass er das erste Mal mit ihm gesprochen hatte und Hawkins vorgeschobene Unterlippe und die schiefe Kopfhaltung ihn sofort an den Astro-Nerd im Rollstuhl erinnert hatten, der als Genie gefeiert wurde, obwohl er keinen verständlichen Satz zustande brachte.
Hawkin hieß Einar mit richtigem Namen, Einar Dyrhaug, und das sagte eigentlich schon alles, so hießen nur einfältige Hinterwäldler aus dem Norden, wo sie es bis heute mit Rentieren trieben und sich die Birne mit selbstgebranntem Schnaps aus Russland zudröhnten. Sie hörten noch nicht mal damit auf, wenn das Zeug ihnen bereits die Speiseröhre und den Magen weggeätzt hatte! Dann wählten sie höchstens die Alternative, die ihm Hawkin neulich erst ganz genau beschrieben hatte: »Du brauchst das Zeug gar nicht schlucken, es wirkt sogar viel besser, wenn du dir am Hinterkopf die Stelle rasierst, wo die Schädeldecke ganz dünn ist, und dann mit Schmirgelpapier die Haut aufreibst, bis das Blut kommt. Dann tauchst du einen Tampon in den Fusel, bis sich die Watte richtig vollgesogen hat, Klopapier geht zur Not auch, und dann presst du das auf die blutende Stelle, bis der Alkohol dir direkt ins Gehirn knallt!«
Er war sich nicht ganz sicher, ob Hawkin die Wahrheit gesagt hatte – aber vorstellbar war es schon, und vor allem passte es zu diesen Halbirrem aus dem Norden!
Trotzdem tat es ihm jetzt fast ein bisschen leid, dass er Hawkin für seine Zwecke missbrauchen musste – aber es war seine einzige Chance, um hier rauszukommen!
Er hatte seine Flucht seit Wochen bis ins kleinste Detail geplant, immer wenn er nachts schlaflos auf dem Bett lag und auf das blasse Viereck des Fensters starrte. Wieder und wieder hatte er die Abfolge seiner Schritte durchgespielt, um jedes vorstellbare Risiko auf ein Minimum zu reduzieren. Und jedes Mal, wenn er dann doch noch über etwas gestolpert war, das er bislang nicht bedacht hatte, hatte er befriedigt gespürt, wie das Adrenalin durch seinen Körper schoss und das Räderwerk in seinem Kopf präzise ineinandergriff, um eine Lösung zu finden.
Was immer die Ärzte und Psychologen der Klinik auch glauben mochten, wie sie ihn therapieren könnten, er wusste selbst am besten, was er zu tun hatte. Und für seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft brauchte er keine bebrillten Wichtigtuer, die in seiner Vergangenheit wühlten. Aber er hatte ihr Spiel die ganze Zeit über brav mitgespielt, nur eben nach seinen eigenen Regeln. Und sie hatten in ihrer maßlosen Arroganz nur den Erfolg der Therapie sehen wollen und sich nicht mal im Ansatz vorstellen können, dass in Wirklichkeit sie selbst die Marionetten waren und er es war, der die Fäden in der Hand hielt.
Er musste grinsen, als er sich an die letzte Gefährlichkeitsprognose erinnerte, bei der sie ihn als geeignet für eine Arbeitstherapie eingestuft hatten. Wobei es dann eher Zufall gewesen war, dass er in der Druckerei landete und Hawkin kennengelernt hatte, der die Druckvorstufe bearbeitete und mit dessen Computer er problemlos ins Netz kam, um in Foren zu surfen und sich die Informationen zu verschaffen, die er brauchte.
»Dafür bin ich dir echt dankbar, Alter«, flüsterte er und strich Hawkin das schweißnasse Haar aus der Stirn, »ohne dich wäre es verdammt schwierig geworden.«
Hawkin wollte irgendetwas antworten, aber dann lief ihm nur ein schaumiger Speichelfaden aus dem Mundwinkel. Sein Puls war jetzt deutlich verlangsamt, es konnte nicht mehr lange dauern, bis der richtige Zeitpunkt da war, um den Alarmknopf zu drücken.
Auf die Idee, Hawkin in seinen Plan miteinzubeziehen, war er erst gekommen, nachdem sie in der Druckerei eine Informationsbroschüre über den Maßregelvollzug in der Forensischen Psychiatrie gedruckt hatten – in der ausgerechnet die Klinik in Bergen als vorbildlich im Bereich modernster Sicherheitsstandards beschrieben wurde! Die aufgelisteten Sicherheitsmaßnahmen hatten schnell deutlich werden lassen, dass es kaum eine Möglichkeit gab, die nur mit Codekarten ansteuerbaren und per Videokamera überwachten Türschleusen zu passieren, geschweige denn die mit Infrarot-Scheinwerfern gesicherte Zaunanlage zu überklettern. Vor allem musste er irgendwie das Wachpersonal austricksen, und das konnte nur gelingen, indem er einen Notfall fingierte, mit dem die Ärztin der Klinik überfordert war. Der Rettungswagen war der einzig mögliche Weg nach draußen, genau so war auch Brad Pitt in »Spy Game« aus dem Foltergefängnis in China entkommen.
Zunächst hatte er noch geplant, sich selbst zu vergiften. In dem Forum der Narko-Freaks im Netz waren verschiedene Substanzen erwähnt, die zu Vergiftungserscheinungen führen – darunter auch Benzol. Und mit Benzol wurden die Druckwalzen der großen Vierfarbmaschinen gereinigt, es war also fast schon zu einfach gewesen, an das Zeug zu gelangen. Aber das Risiko, dem er sich bei der Dosierung aussetzen würde, war ihm zu groß erschienen, zu unkalkulierbar. Außerdem würde er kaum in der Lage sein, mit einer akuten Vergiftung den Wachmann zu überwinden, der den Transport unter Garantie begleiten würde.
Er hatte also einen weiteren Mann gebraucht, den sie als Notfall abtransportierten – er selbst musste schon als angeblicher Sicherheitsbeamter im Wagen sein, wenn sie mit der Krankentrage kamen. Die Rettungssanitäter kannten ihn schließlich nicht, sie würden also auch keinen Verdacht schöpfen. Und der Wachmann, der mit ihnen zum Wagen kam, würde nur sehen, dass bereits ein Kollege da war. Es schien kompliziert, aber machbar. Auch wenn er sich vollkommen darüber im Klaren war, dass er eventuell improvisieren musste.
Kopfzerbrechen bereitete ihm nach wie vor der Moment, in dem die Sanitäter mit der Erstversorgung von Hawkin beschäftigt waren und er unter dem Vorwand, dringend noch etwas aus dem Rettungswagen holen zu sollen, raus in den Hof gelangen musste. Natürlich würde ihn dabei einer der Hilfssheriffs begleiten, aber wenn sie dann erst mal alleine im Wagen waren, sollte es ihm auch gelingen, den Typen auszuschalten, um an seine Uniform zu kommen. Auf der Homepage der Rettungsleitstelle hatte er auch das Foto mit der Innenausstattung des Wagens entdeckt, auf dem deutlich ein zweitüriger Schrank zu erkennen war, groß genug, um einen leblosen Körper hineinzuquetschen!
Hawkin lag ganz still, sein Atem ging flach und war kaum noch zu spüren.
»Es ist so weit, Alter«, flüsterte er ihm zu, obwohl er sich fast sicher war, dass Hawkin ihn schon nicht mehr hörte. »Ich hol jetzt die Ärztin.«
Irritiert meinte er, plötzlich ein Lächeln in Hawkins Mundwinkeln zu sehen, aber wahrscheinlich war es eher die einsetzende Lähmung der Gesichtsnerven. Wenn Hawkin ihn allerdings tatsächlich verstanden haben sollte, würde er es ihm nur gönnen, mit der Vorstellung ins Jenseits zu gehen, dass die Ärztin bei ihm war und ihn von Mund zu Mund beatmete.
Er wusste nicht mehr, wie oft Hawkin ihm die Geschichte erzählt hatte, die er angeblich mit der Ärztin erlebt haben wollte. Es mussten unzählige Male gewesen sein, und er konnte es zum Schluss kaum noch hören. Dabei war der Hintergrund wenig dazu angetan, um irgendwelche Phantasien in Gang zu setzen – Hawkin hatte nach einem Zeckenbiss Fieber bekommen und war auf die Krankenstation verlegt worden. Schließlich hatte die Ärztin eine Lumbalpunktion vorgeschlagen, um die Möglichkeit einer Hirnhautentzündung auszuschließen.
Schon Stunden vorher hatte Hawkin aus Angst, was ihm alles passieren konnte, wenn sie ihm das Rückenmark punktierten, nur noch wirres Zeug geredet. Bei solchen Eingriffen saß der Patient vornübergebeugt auf einer Trage, und wie einer der Pfleger dann später bestätigte, hatte die Ärztin den Eingriff nicht selbst durchgeführt, sondern sich dicht vor Hawkin gestellt und seinen Kopf zur Beruhigung an sich gedrückt, während ihr Kollege die Kanüle ansetzte.
In Hawkins Worten klang das allerdings ganz anders: »Echt«, hatte Hawkin wieder und wieder erzählt, »ich hatte mein ganzes Gesicht voll zwischen ihren Möpsen, und sie hat nach irgendeinem süßlichen Parfüm gerochen, und als ich mit der Zunge über ihre Haut geleckt habe, konnte ich den Schweiß schmecken. Und sie fand es auch geil, so viel ist sicher. Ich habe ganz deutlich ihre Finger in meinen Haaren gefühlt, als sie mich noch dichter an sich gedrückt hat, und ich habe noch nicht mal richtig gemerkt, wie sie mir die Nadel in den Rücken gestochen haben. Sie hätten alles mit mir machen können, glaub mir, mir ist fast einer abgegangen dabei!«
Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, dass Hawkin übertrieb, aber die Vorstellung, dass die Ärztin auch ihn auffordern würde, seinen Kopf zwischen ihre Brüste in der weit geöffneten Bluse zu drücken, hatte ihn jedes Mal aufs Neue erregt – gleichzeitig war damit auch die Entscheidung gefallen, wer der zweite Mann sein würde, den er für seinen Fluchtplan brauchte. Und allein die Tatsache, dass die Ärztin ihn ja retten würde, reichte schon völlig, um Hawkin zu überzeugen. Das Versprechen, sich selbst ebenfalls zu vergiften, hatte er nur noch gegeben, um seinen Plan plausibel erscheinen zu lassen. Schließlich ging es ja darum, dass sie beide in die Freiheit gelangen würden. Dass seine und Hawkins Freiheit zwei verschiedene Paar Schuhe waren, würde Hawkin ohnehin nicht mehr merken.
Außerdem war es ganz sicher nicht der schlechteste Weg, mit der Phantasie von den schaukelnden Brüsten der Ärztin abzutreten, dachte er noch, während er Hawkin vorsichtig zur Seite gleiten und gleichzeitig schon die Benzolflasche und den Lappen in seiner Cargohose verschwinden ließ.
»Mach’s gut, Alter«, sagte er leise, als Hawkin sich noch einmal zuckend zusammenkrümmte und mit blasigem Schaum vorm Mund nach Luft schnappte. Gleich darauf lag er so still, als wäre er bereits tot.
»Du hast was gut bei mir, falls wir uns irgendwo noch mal wiedersehen.«
Mit zwei Schritten war er am Notfallrufknopf und presste die Hand auf das rote Plastik.
»Mit Einar stimmt was nicht«, brüllte er dann über das Schrillen der Alarmglocke hinweg, »er hat irgendwelche Krämpfe, und ich glaube, er kriegt keine Luft mehr! Irgendjemand muss die Ärztin holen, schnell!«
Keine Minute später waren die Wachleute da, zwei Schränke von Typen, von denen er aus Erfahrung wusste, dass mit ihnen nicht zu spaßen war, und die die Hände vorsorglich am Koppel mit dem Elektroschocker hatten. In gespielter Panik stürzte er ihnen entgegen.
»Einar«, schrie er wieder, »er kriegt keine Luft, er stirbt!«
Die beiden verständigten sich mit einem kurzen Blick, dann drehte der eine ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn mit dem Oberkörper gegen die Wand: »Ganz ruhig, Aksel, komm wieder runter, sonst muss ich dir wehtun.«
»Aber er stirbt, ihr müsst die Ärztin holen!«
Aus den Augenwinkeln sah er, wie der zweite Wachmann sich neben Hawkin hockte und nach dessen Halsschlagader tastete. Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht kreidebleich, er blaffte irgendetwas in das Funkgerät auf seiner Schulter.
»Wir haben einen Code x hier, ja, sage ich doch, wir brauchen die Ärztin!«
Kurze Zeit später wimmelte der Freibereich von Wachleuten, die bemüht waren, die anderen Insassen zurückzudrängen. Ein Haufen Geistesgestörter, dachte er, mit denen er absolut gar nichts zu tun hatte! Wahnsinnige, die tatsächlich für immer weggeschlossen gehörten, Brandstifter, Vergewaltiger und Totschläger, sogar Typen, die sich an kleinen Kindern vergangen hatten und die hier einsaßen, weil bei ihnen alle Sicherungen durchgeknallt waren und die Diagnose auf paranoide Schizophrenie, akute Persönlichkeitsstörung oder eindeutige Intelligenzminderung lautete. Und die es ihm schwer genug gemacht hatten, nicht selbst völlig am Rad zu drehen und aufzugeben. Aber jetzt war es nur noch eine Frage von Minuten, bis er hier raus war und sie endlich begreifen würden, was sie ihm angetan hatten. Nur dass es dann zu spät sein würde, um noch irgendetwas wiedergutzumachen …
Die Ärztin hatte hektische rote Flecken auf den Wangenknochen und eindeutig Mühe, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Unwillkürlich streifte sein Blick über ihre Brüste unter dem weißen Arztkittel, sie musste den ganzen Weg hierher gerannt sein. Aber als sie die erste Frage stellte, war ihre Stimme weit von jeder Panik entfernt: »Was ist los? Kann mich bitte irgendjemand aufklären, was passiert ist?«
»Wissen wir nicht«, antwortete der Wachmann, der nach Hawkins Puls gefühlt hatte, »der Bereich hier ist außerhalb der Kameras, wir konnten also auch im Dienstzimmer nichts sehen. Wir sind erst dazugekommen, als einer der Patienten den Alarm ausgelöst hat.«
»Und jetzt du!«, blaffte der andere Wachmann und schob ihn auf die Ärztin zu, wobei er ihm nach wie vor den Arm auf den Rücken gedreht hielt.
Die Ärztin kniete über Hawkin und zog seine Augenlider nach oben, während sie gleichzeitig zwei Finger an seine Halsschlagader legte. »Ich höre …«
»Ich habe keine Ahnung«, stammelte er, »Wir haben uns unterhalten, und plötzlich hat er Krämpfe gekriegt und …«
»Hat er irgendetwas eingenommen, wissen Sie das?« Sie beugte sich noch dichter über Hawkins Gesicht. »Er riecht stark nach einer nitrithaltigen Substanz, Farbverdünner vielleicht oder Waschbenzin, irgend so etwas …«
»Keine Ahnung«, wiederholte er. »Es war genauso, wie ich gesagt habe. Wir haben uns unterhalten und plötzlich …«
Dier Ärztin schlug Hawkin leicht auf die Wangen: »Können Sie mich hören, Einar? Jetzt kommen Sie schon, bleiben Sie bei uns! Einar!« Als keine Reaktion erfolgte, blickte sie kurz auf und erklärte halblaut in Richtung der Wachmänner: »Pupillen stark verengt, nicht mehr ansprechbar, Vitalfunktionen nur schwach spürbar … Ich setze ihm eine Spritze, um den Kreislauf zu stabilisieren, mehr kann ich hier nicht für ihn tun. Er muss ins Krankenhaus, und zwar sofort. Geben Sie eine Meldung durch: Akute Vergiftung mit starker Atemnot und bereits eingesetzter Bewusstlosigkeit, der Patient ist kurz vor dem Herzstillstand. Jetzt machen Sie schon!«
Während einer der Wachmänner in sein Funkgerät sprach, zog sie die Spritze auf und rammte sie Hawkin genau in die Herzgegend, dann tastete sie wieder nach Hawkins Puls. Er konnte deutlich sehen, wie sie anfing zu schwitzen. Ihr Kittel war über der Schulter verrutscht, der Träger ihres BHs war lila, die Haut darunter gleichmäßig gebräunt – sie musste in den letzten Tagen viel in der Sonne gelegen haben, dachte er, und zwar nackt!
Als hätte sie seine Blicke gespürt, sah sie kurz hoch und schüttelte unwillig den Kopf.
»Jetzt lassen Sie Aksel endlich mal wieder los!«, forderte sie den zweiten Wachmann auf, der ihm immer noch den Arm auf die Schulter gedreht hielt. »Das ist doch albern, kümmern Sie sich lieber darum, dass die Schleusen offen sind, wenn die Rettungssanitäter kommen. Es geht um jede Sekunde!«
Aufatmend bewegte er seinen Arm und das Schultergelenk, bis das taube Gefühl verschwunden war. Er hätte gern einen Blickkontakt mit der Ärztin hergestellt, aber sie war schon wieder völlig auf Hawkin konzentriert.
Also beugte er sich nur vor und flüsterte laut genug, um von ihr verstanden zu werden: »Halt durch, Einar! Bau hier keinen Scheiß! – Er kommt doch durch, oder?«, fragte er sie dann direkt und mit Tränen in der Stimme. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, wie besorgt er um den Freund war.
»Ich weiß es nicht«, kam die kurze Antwort, »ich hoffe, aber es sieht nicht gut aus.«
Jetzt schluchzte er tatsächlich auf. »Sie müssen ihn retten, bitte! Er ist doch der einzige Freund, den ich hier habe!«
Nur nicht übertreiben, dachte er gleich darauf, es reicht. Bisher lief alles nach Plan, mach sie nicht mehr auf dich aufmerksam als nötig.
Er drehte sich zur Wand und presste das Gesicht an den kühlen Beton. Es ging jetzt darum, durchzuhalten und weiter den verzweifelten Freund zu spielen, der einfach nur in der Nähe bleiben wollte, bis sie Hawkin abtransportierten.
Und tatsächlich ließen sie ihn in Ruhe. Vielleicht war es auch die unmissverständliche Aufforderung der Ärztin gewesen, jedenfalls beachteten die Wachleute ihn kaum noch – allerdings hatten sie ohnehin genug damit zu tun, die anderen Insassen zu überzeugen, zurück in ihre Zimmer zu gehen.
So unauffällig wie möglich schob er sich Meter für Meter an der Wand entlang, bis er sich um die Ecke zu dem Gang drücken konnte, der auf den Hof hinausführte. Die Schleusentür war geöffnet, nur draußen in der Sonne stand noch ein einzelner Wachmann, um die Rettungssanitäter zu empfangen. Bevor sich ihre Blicke kreuzen konnten, wich er hinter einen Betonpfeiler zurück.
Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als er endlich den Krankenwagen auf den Hof fahren hörte. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht fünfzehn, mehr ganz sicher nicht, obwohl es ihm wie eine Ewigkeit vorkam, in der jeden Moment jemand fragen konnte, wo er eigentlich geblieben war. Aber er hatte Glück, sie waren zu beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern, und als die Rettungssanitäter mit ihren Notfalltaschen und der fahrbaren Trage an ihm vorbeistürmten, mimte er noch einmal den verzweifelten Freund, der heulend in die Richtung zeigte, in der die Ärztin auf sie wartete.
Dann zählte er bis zwanzig, bevor er die Flasche mit dem Benzol in den durchtränkten Lappen wickelte und in den Abfalleimer warf. Seine Hände waren vollkommen ruhig, als er das Feuerzeug aus der Tasche holte und den blauen Plastiksack anzündete, der straff über den oberen Rand gespannt war. Er beobachtete, wie die Flamme sich ganz langsam und fast ohne Qualm durch das Plastik fraß. Es würde eine Weile dauern, bis sie die Flasche auf dem Boden erreicht hatte. Und genau die Zeit brauchte er, um den Wachmann in den Wagen zu locken und ihn zu überwältigen. Wenn die Flasche dann explodierte, würde die Panik dazu beitragen, dass keiner mehr wusste, was er zuerst machen sollte …
Er richtete sich auf und rannte los.
Er war schon fast auf dem Hof, als der Wachmann reagierte.
»He, stopp! Ganz ruhig, Mann, bleib stehen und …«
»Nein, ich muss zum Rettungswagen! Die da drinnen brauchen ein Beatmungsgerät und haben mich losgeschickt, dass ich es holen soll! Der Kumpel verreckt, wenn ich nicht gleich zurück bin!«
Er sah, wie der Wachmann zögerte.
Mit gespielter Verzweiflung raufte er sich die Haare, seine Stimme überschlug sich, als er keuchte: »Am besten kommen Sie sowieso gleich mit, ich habe keine Ahnung, wie schwer das Teil ist! Aber wir müssen uns beeilen, sonst …«
»Okay, bleib schön vor mir und steig in den Wagen. Und du weißt auch, wie das Ding aussieht, das sie brauchen?«
»Ja, weiß ich …« Mit zwei Schritten war er an dem Wachmann vorbei und sprang in den Wagen. »Da hinten in dem Schrank, haben sie gesagt!«
Er hörte, wie der Wachmann ihm folgte und dicht hinter ihm blieb. Ohne zu zögern, riss er den Feuerlöscher aus der Halterung neben der Seitentür und schlug mit aller Kraft aus der Drehung heraus zu. Er erwischte den Wachmann seitlich am Kopf, bevor er auch nur die geringste Chance zur Gegenwehr hatte.
Wir hätten nie in diese verdammte Hütte fahren dürfen, dachte Merette, während sie auf die weißen Wände vor sich starrte, die Kabel und Plastikschläuche, die Monitore mit ihren flimmernden Zackenlinien und komplizierten Zahlenkolonnen. Auf dem Fußboden, direkt an der Kante zur Wand, war ein dunkler Fleck. Rötlich-braun. Die Flecken auf Jan-Oles Kopfverband hatten die gleiche Farbe.
Die Schwester hatte sich gerade erst dafür entschuldigt, dass sie noch nicht dazu gekommen war, den Bezug zu wechseln – vielleicht hatte sie auch den Kopfverband gemeint, ihr Norwegisch war schwer zu verstehen gewesen. Merette tippte darauf, dass sie aus Schweden kam.
Der nach Merettes Ansicht viel zu junge Stationsarzt, der in regelmäßigen Abständen nach Jan-Ole sah, war aus Polen. Er hieß Jerzy. Jerzy schien ein deutliches Faible für Merette entwickelt zu haben, er war es auch, der bereits am ersten Tag nach dem Überfall auf Jan-Ole einen Kumpel damit beauftragt hatte, den Camper aus dem Graben zu ziehen und nach Kristiansand zu bringen. Merette hatte keine Ahnung, wie er das mit der Polizei geklärt hatte. Der Kumpel hatte nur ausrichten lassen, dass der zerstochene Reifen zur kriminaltechnischen Untersuchung mitgenommen worden war.
»Er hat dir den Reservereifen montiert«, hatte Jerzy gesagt. »Die Größe gibt es nicht so oft, aber ich kenne eine Werkstatt, die besorgen dir einen neuen.«
Weder Jerzy noch der Kumpel hatten Geld für ihre Hilfe annehmen wollen. Der Camper stand jetzt auf dem Krankenhausparkplatz und diente Merette als Schlafgelegenheit, wenn sie es wagte, wenigstens für ein oder zwei Stunden den Platz an Jan-Oles Bett zu verlassen.