Christine von Brühl
Noblesse oblige
Die Kunst, ein adliges Leben zu führen
ISBN 978-3-945944-07-3
© 2015 Makrobooks
Umschlaggestaltung: Caspar Fischer
Die Originalausgabe erschien 2009 im Eichborn Verlag in Frankfurt/Main.
Für Mr. Zutt,
damit er weiß, dass ich ihm seinen spöttischen Kommentar mit den Sauriern längst verziehen habe ...
Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Frankfurt am Main 2003.
Eckart Conze (Hg.), Kleines Lexikon des Adels, München 2005.
Paul Fussell, „Unterschiede lesen. Eine Reise durch das amerikanische Statussystem“, in: Merkur 9/10, Stuttgart 1995, S. 754-774“ (Im Original: Class, A Guide Through the American Status Systems, New York 1983).
Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Gattopardo, München 2004.
Stephan Malinowski, Vom König zum Führer, Salzburg 2003.
Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel, Frankfurt am Main 1976.
Ludwig Renn, Adel im Untergang, Berlin 1987.
Gregor von Rezzori, Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft I. Hochadel, Reinbek bei Hamburg 1962.
Gregor von Rezzori, Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft II. Adel, Reinbek bei Hamburg 1962.
Gregor von Rezzori, Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft III. Schickeria, Reinbek bei Hamburg 1963.
Wilfrid Rogasch, Schnellkurs Adel, Köln 2004.
Alexander von Schönburg, Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird, Reinbek bei Hamburg, 2006.
Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, München 1996.
Ghislaine Windisch-Graetz, Kaiseradler und rote Nelke. Das Leben der Tochter des Kronprinzen Rudolf, Wien 1988.
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Inhalt
1. Vorwort
2. Sag es keinem weiter!
3. Benimm dich!
4. Zieh dich warm an!
5. Lerne verlieren!
6. Tanze Walzer!
7. Sei vergnügt!
8. Heirate den Richtigen!
9. Übe Konversation!
10. Sprich deutlich!
11. Lerne Französisch und studiere Jura!
12. Meide den Spießer!
13. Lies im Gotha!
14. Bitte keine vollen Namen!
15. Zeuge zahlreiche Kinder!
16. Kleide dich korrekt!
17. Sei sparsam!
18. Lerne jagen!
19. Bleib zu Hause oder besuche deine Verwandten!
20. Es wird sich nichts ändern ...
Bibliografie und Quellennachweis
Wir befinden uns im Jahr 2008 n. Chr. Ganz Deutschland ist beseelt von dem Gedanken an Demokratie und soziale Marktwirtschaft. Ganz Deutschland? Nein! Einige unbeugsame Recken hören nicht auf, der vorherrschenden Meinung Widerstand zu leisten. Sie sind glühende Verfechter der Monarchie und würden heute noch dafür plädieren, sie wieder einzuführen, wenn man sie nur ließe ...
Meine Tante Jeannchen besaß ein rechteckiges Kistchen aus Zedernholz. Es stand auf einem Tisch im Salon und enthielt Zigaretten, für die Gäste. Den Deckel der Kiste zierte ein gerahmtes Schwarzweißfoto, darauf ein herrlicher Park mit hohen, alten Bäumen, in dem sich ein elegantes Herrenhaus befand.
Meine Tante stammte aus Ostpreußen, nach der Flucht war sie in Wentorf bei Hamburg ansässig geworden. Ihr steter Freund und Mitbewohner war ein Rauhaardackel, ein überaus freundliches Wesen. Wer sie besuchte, hatte oft Schwierigkeiten, mit ihr ins Gespräch zu kommen, denn der Dackel heischte schwanzwedelnd und hartnäckig um Aufmerksamkeit. Aber das machte nichts. Dann redete man eben über den Dackel.
Manchmal kamen Nachbarskinder und fragten, ob sie den Hund ausführen dürften. Tante Jeannchen ließ es gutmütig mit sich geschehen. Sie liebte Kinder, schenkte ihnen Süßigkeiten und erzählte ihnen Geschichten von früher. Dabei saß sie zusammengekauert in einer Sofaecke, gestützt von Lehne und Kissen, immer kleiner und schmächtiger wurde sie mit zunehmendem Alter. Sie zeigte den Kindern das Bild auf der Zigarettenkiste und sagte, dies sei das Haus, in dem sie geboren wurde. Ihre kleinen Zuhörer nickten verständig. Sie wussten, was gemeint war: „Das Krankenhaus.“
Das ist eine der Geschichten, wie man sie sich gern unter Adligen erzählt, denn wer sie hört, weiß sofort Bescheid. Adlige haben kein Wohnzimmer, sondern einen Salon, sie leben in Gedanken bei ihren Vorfahren und wachsen in Häusern auf, die so groß sind, dass der Normalsterbliche sie für das städtische Krankenhaus hält. Einige Bürgerliche nennen sie deshalb auch Dinosaurier.
Diese Geschichten hören sich an, als seien sie aus einer anderen Zeit, einer Zeit, die schon viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückliegt. Sie berichten aus einer Welt voller Absurditäten und augenscheinlicher Verrücktheiten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Episoden wie diese finden hier und heute in den meisten adligen Häusern statt. Es ist die Wirklichkeit für die Kinder und Erwachsenen aus den alten Familien, die Art, wie sie denken, wie sie erzogen werden, wie sie sich verhalten und wie sie auch ihre eigenen Kinder wieder erziehen werden. Es ist ihr Zuhause.
Der Adel ist nach wie vor existent, alte Familien sterben nicht von heute auf morgen aus, und sie pflegen intensiv ihre Kultur und ihre Traditionen. Auch wenn die meisten nicht mehr in Schlössern, Burgen oder Herrenhäusern leben, erziehen sie ihre Kinder so, als könnte das schon morgen wieder Wirklichkeit sein. Schließlich kann es einem Sprössling aus adligen Haus durchaus passieren, am Wochenende oder in den Ferien Tante und Onkel zu besuchen, und es ist kein Zufall, wenn Tante und Onkel auf einer mittelalterlichen Burg leben. Dann muss der junge Mensch wissen, wie er sich zu verhalten hat. Er muss wissen, dass die Wege hier weit und die Möbel sehr alt sind, dass hier eine gewisse Begrüßungskultur gepflegt wird, man bei Tisch gerade sitzen muss und nicht aufstehen und herumtollen darf, wo und wann es einem beliebt.
Auch bei uns zu Hause hieß es: „Bei der Großmama machst du das aber nicht!“, wenn wir uns beim Mittagessen nicht zu benehmen wussten, und das war gut so. Denn auch meine Großeltern lebten im Schloss, und da ging es bei aller Liebenswürdigkeit doch ein wenig anders zu. Da stand morgens nach dem Frühstück die Köchin mit gestärkter Schürze im Salon und fragte, was denn zum Mittagessen gewünscht sei, bei Tisch servierte der Kammerdiener in weißen Handschuhen, und selbstverständlich verließ niemand seinen Platz, bevor nicht die Hausherrin persönlich die Tafel aufgehoben hatte. Inzwischen sind die Großeltern verstorben und das Haus wird anderweitig genutzt, aber lange Zeit war es der Fluchtpunkt familiären Lebens, dort trafen wir unsere gleichaltrigen Vettern und Cousinen, verlebten manch goldenen Feriensommer, feierten rauschende Feste und lernten alles über adliges Beisammensein, was dringend zu wissen notwendig ist.
Dabei ist der Adel nicht zwingend altmodisch. Er weiß sich die Errungenschaften der Moderne durchaus zunutze zu machen. Die Adligen waren wahrscheinlich eine der ersten Bevölkerungsgruppen, die sich begeistert auf tragbare Handys stürzten, denn wer in einem Schloss oder einer Burg wohnt, ist heilfroh, wenn er nicht mehr Kilometer, und das in Eile, zurücklegen muss, um rechtzeitig das Telefon zu erreichen. Aber der deutsche Adel tritt heute eher leise auf. Es gibt über ihn keine genauen Zahlen. Wilfried Rogasch schreibt in Schnellkurs Adel: „Es werden in der Bundesrepublik zwar statistische Daten zu allen erdenklichen Dingen erhoben, doch es gibt keine Angaben, wie viele Menschen in Deutschland überhaupt zum Adel gehören.“ Und Eckart Conze bekräftigt im Kleinen Lexikon des Adels: „Gesicherte statistische Angaben über den Adel sind aufgrund einer unzureichenden Datenbasis nur schwer und unvollständig möglich.“
Das liegt nicht zuletzt an unserer Staatsform. In der Bundesrepublik gibt es keine Thronreden, und für die Gesetze ist der Bundespräsident zuständig. Der Adel ist frei von öffentlichen Aufgaben. Er macht höchstens von sich reden, wenn eines seiner Mitglieder im großen Stil Tafelsilber oder Gemälde verkaufen muss, doch auch dann ist das eher ein Thema der Klatschpresse. Nur wenn der Adel unter sich ist, tritt er selbstbewusst und gemäß seiner traditionell hierarchischen Strukturen auf. Da ist der Fürst noch der Fürst und Baron bleibt Baron, da gibt es unterschiedliche Rangfolgen, die sich möglichst nicht durch Heirat miteinander vermengen, und die weiblichen Wesen stehen selbstredend immer eine kleine Stufe unter den männlichen. So hat sich eine voll funktionierende Parallelgesellschaft entwickelt, deren Mitglieder, insbesondere die Heranwachsenden, selbstverständlich von ihrer Realität und Berechtigung überzeugt sind. Das gesellschaftliche Leben der Adligen findet in eng begrenzten und verschwiegenen Kreisen statt. Kein Bürgerlicher hat hier Zutritt, außer er ist rein zufällig bekannt oder befreundet mit einem Adligen. Selbst dann wird es Bereiche geben, in die er niemals vordringt.
Die wenigsten wissen um die Existenz und Lebensgewohnheiten dieser Menschen. Kaum einer kennt das strenge Regelwerk, dem sie unterliegen. Dabei spiegelt es eine vorsätzlich gelebte Kultur. Wie kommentiert es einer meiner Vettern jedes Mal, wenn er mir einen Handkuss gibt: „Sonst stirbt er aus.“ Und er hat Recht: Wenn die Adligen nicht selbst den Handkuss und alle ihre anderen Angewohnheiten und Traditionen pflegten und praktizierten, würden sie bald nicht mehr existieren.
Die Kunst, ein adliges Leben zu führen, ist daher nicht nur ein ständiges Versteckspiel mit den anderen, den Nicht-Adligen, ein pausenloses Absondern und Isolieren, sondern sie unterliegt auch nach innen einer ständigen „Zugehörigkeitskontrolle“. Sie wird so streng gehandhabt, dass sie jeder Adlige schon als Kind verinnerlicht und zu seiner ureigensten Selbstkontrolle macht. In all seinen Gesten, seiner Sprache, seinem Benehmen, ja seiner Aufmachung muss ein Adliger besonders unter Adligen ständig beweisen, dass er ein guter und ein richtiger Adliger ist. Man bleibt eben vorzugsweise unter Seinesgleichen. Wieviel man dabei im ganz normalen adligen Alltag richtig oder auch falsch machen kann, zeigen die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden. Mit Schlösser- und Burgenromantik, glitzernden Prinzessinnengewändern oder funkelnden Kronen hat das am allerwenigsten zu tun. Im Gegenteil: Es ist nicht immer leicht, ein Adliger zu sein.
Etwa mit sechzehn stellte sich mir zum ersten Mal die Frage, ob ich einen Adligen heiraten sollte oder nicht. Meine jüngere Schwester machte gerade eine Gärtnerlehre und ihr Meister, der um ihre Herkunft wusste, zog sie täglich damit auf, ob sie sich schon einen standesgemäßen Ehemann ausgeguckt hätte.
Nun ist man ja im reifen Alter von 15 Jahren nicht unbedingt so souverän, auf solch frotzelnde Bemerkungen von Erwachsenen immer die richtige Antwort zu haben. Immerhin war meine Schwester so schlagfertig, mit ihrem Meister und seiner Frau, die ansonsten ausgesprochen nette Menschen sind und das Herz unbedingt auf dem rechten Fleck haben, eine Wette abzuschließen. Sie würde garantiert keinen Adligen heiraten, das sei ihr alles zu dumm. Dafür müssten die beiden Gärtnersleute ihr nach der Hochzeit aber eine Flasche Champagner spendieren. Sollte sie wider Erwarten doch einem Grafen, Fürsten oder Prinzen in die Fänge geraten, würde sie selbst eine Flasche ausgeben.
Bei mir war die Sachlage ein wenig anders. Ich dachte, ich müsste einen Adligen heiraten, ich käme sozusagen nicht darum herum. Schließlich wird man als Adlige so erzogen. Keiner heirate gefälligst unter seinem Stand. Man hat auch nach Möglichkeit nur adlige Freunde, geht nur mit Adligen aus und korrespondiert ausschließlich mit Adligen. Natürlich gibt es auch andere Menschen, Bürgerliche sozusagen, aber mit denen hat man höchstens Umgang, man grüßt freundlich, spricht ein paar Takte miteinander, wahre Freundschaften jedoch werden nur mit Adligen geschlossen. So die Erziehung.
Die Wirklichkeit war und ist ein wenig anders. Ich ging auf ein gewöhnliches städtisches Gymnasium. Da gab es außer mir keinen einzigen Adligen und wenn, dann hielten sie sich ähnlich gut versteckt wie ich. Meine Freunde waren alle bürgerlich, und ich musste meine Parallelwelt gut tarnen. Wenn man mich nach meinem Namen fragte, ließ ich das „von und zu“, was gemeinhin zu adligen Nachnamen gehört, weg, und wenn eine meiner Freundinnen ihren Besuch ankündigte, versteckte ich tunlichst alle Hinweise auf meine komische Abstammung.
Ich bewunderte meine Schwester für ihre Kühnheit, sie war schon immer mutiger als ich. Sie konnte vor mir Rollschuh laufen, Fahrrad fahren, ja sogar den Freischwimmer absolvierte sie noch kurz vor mir. Eine Gärtnerlehre ist in adeligen Kreisen auch nicht gerade üblich. Aber was Verlobung und Eheschließung anging, so glaubte ich niemals, dass sie sich durchsetzen würde. Schließlich war auch sie eine Adlige und würde genau wie ich standesgemäß heiraten müssen.
Bei den Adligen heißt es, eine Ehe mit einem Bürgerlichen sei unaufhaltsam dem Untergang geweiht. Mit einem bürgerlichen Ehemann werde man auf Dauer nicht glücklich. Das sei keine Basis, und Ehen ohne Basis hätten keine Überlebenschancen. Die seien ja womöglich nur aus Liebe geschlossen worden. Und nichts sei so gefährlich wie die Liebe. Sie sei romantisch, aber unrealistisch.
Meiner Schwester war das alles schnurzegal. Sie verliebte sich kurzerhand in einen Bürgerlichen und behauptete, dies sei der schlagende Beweis: Niemals würde sie einen Adligen heiraten. Nicht dass sie diesen ersten Bürgerlichen gleich geheiratet hätte, aber sie behauptete steif und fest, sie könne sich gar nicht erst in einen Mann mit Titel verlieben. Die seien doch so uninteressant und langweilig. Ich widersprach ihr nicht – was zählen bei einer frisch Verliebten schon Argumente, und manche Adlige sind in der Tat schon als junge Menschen ziemlich langweilig. Aber insgeheim dachte ich mir, sie werde damit nicht durchkommen. Liebe hat in den Augen Adliger schließlich nichts mit Ehe zu tun, also zählt sie auch nicht als Beweis.
Am besten ist in den Augen der Adligen die sogenannte „gesteckte“ Ehe, wie schon meine Großmutter es nannte: eine Ehe zwischen zwei Menschen, die bewusst und mit Absicht zusammengeführt werden, eine Ehe, die praktisch am Grünen Tisch geplant, verhandelt, beschlossen und, um es in der Terminologie der Adelswelt auszudrücken, aus dem Gotha gesucht worden ist. Der Gotha, das Genealogische Handbuch des Adels, ist die eigentliche Bibel der Adligen. Im Grunde ist es ein Stammbuch, ein Verzeichnis sämtlicher adliger Familien und ihrer Abstammungen. Es gibt, insgesamt gesehen, nicht sehr viele Adlige, jedenfalls nicht viele Adlige, die immer alles richtig gemacht haben, da musste sich schon einer die Mühe machen und sie alle einmal auflisten. Erst dann konnte man sagen, wer alles dazugehört, und wer vor allem nicht dazugehört, auch wenn er es noch so standfest behauptet.
Abgesehen von fleißiger Gotha-Lektüre gibt es weitere Maßnahmen, die der Adlige traditionsgemäß ergreift, damit die Heranwachsenden sich gegenseitig kennenlernen und ja nicht nur Umgang mit Bürgerlichen haben. Man lädt zum Faschingsfest mit Polonaise durchs ganze Haus, zur gemeinsamen Fahrradtour („Adel auf dem Radel“), zum Sommerball oder zur Jagd ein. Ein Jagdschein ist unter Adligen, insbesondere der männlichen Sorte, nahezu eine Selbstverständlichkeit. Wer ihn ablehnt, legt, ähnlich wie ein Wehrdienstverweigerer, ein politisches Statement ab. Für die berühmten Feste muss man tanzen lernen: Walzer, Foxtrott, Rock and Roll, meinetwegen auch Tango – das sollte jedem Adligen früher oder später ins gewissermaßen blaue Blut übergegangen sein. Ein Adliger, der nicht tanzen kann, hat ein Problem.
Auch meine Schwester und ich wurden zu solchen Fahrradtouren, Tanzkursen und kleineren oder größeren Festen eingeladen. Das einzige Problem daran sind die Einladungen, denn Adlige laden immer schriftlich, per Post und in vollendeter Form ein. Die entsprechenden Karten werden in standesgemäßer Schrift gedruckt. (Es gibt in der Tat eine ganz bestimmte Druckschrift, die alle Adligen auf ihren Anzeigen und Einladungen verwenden und an der man ihre Zuschriften schon von weitem erkennt). Sie enthalten den Anlass des Festes, den Namen des Gastgebers mit allen Von und Zus und Übers und Unters und führen vor allem aber auch in vollem Umfang den Namen des Eingeladenen auf.
Genau das wird es zuweilen kompliziert. Wer auf ein gewöhnliches städtisches oder ländliches Gymnasium geht, ist seinen Mitschülern sicher mit Vornamen und unter Umständen auch mit Nachnamen gut bekannt. Doch jeder jugendliche Adlige wird es um Himmels willen vermeiden, das Von, den Baron oder gar die Gräfin hinzuzufügen, die in seinem Pass stehen, ja, er wird hoffen, dass die meisten in seiner Klasse gar nicht mitbekommen haben, dass er so heißt, dass die Person, die sich hinter einem gewöhnlichen Vornamen wie Christine, Friedrich oder Maximilian verbirgt, in Wahrheit ein echter Graf oder eine echte Gräfin ist. Was tun, wenn nun einer der Mitschüler zu Besuch kommt, womöglich unangemeldet, und an der Korkwand pinnt die Einladung zum nächsten Sommerball von Onkel Prinz und Tante Prinzessin Soundso anlässlich des Geburtstages ihrer Tochter?
Es gibt wohl keinen jugendlichen Adligen, bei dem in so einer Situation nicht der Angstschweiß aus allen Poren bricht und der nicht zu seiner Pinnwand rennt und diese Einladungen, die neben dem Stundenplan, der Telefonliste, den Trainingsangaben zur nächsten Tennis- oder Reitstunde und irgendwelchen Urlaubspostkarten hängen, so schnell wie möglich herunterreißt. Denn niemand kann sich vorstellen, in welches Hohngelächter eine Schulklasse in besagtem städtischen Gymnasium ausbrechen würde, wenn sie am nächsten Tag zu hören kriegt, dass einer ihre Mitschüler bei Prinzens zum Sommerball eingeladen ist.
Und es sind nicht nur die Schüler, es sind auch viele Lehrer, die spöttische Bemerkung über den Adel fallen lassen, es sind die Kumpel vom Sport, die damit nicht umgehen können, es sind später auch die Kommilitonen, es ist am Ende die ganze Welt, die einem Adligen mit Spott, Unwillen, zumindest Befremden begegnet. Jedenfalls kommt einem das als Jugendliche so vor.
Da erzählt man am besten in der Schule gar nichts davon, da schweigt man sich aus und tarnt sich, so gut man kann. Schließlich sind schon die Feste, zu denen wir eingeladen werden, mit einem Aufwand verbunden, den ein Bürgerlicher nie und nimmer betreiben würde, um unter Seinesgleichen zu sein. Wie sollte man ihm das erklären? Allein die Entfernung, die der heranwachsende Adlige an einem Wochenende zurücklegt, um zu einem Fest zu kommen, scheint in keiner vernünftigen Relation zum Vorhaben und Ergebnis zu liegen. Dann die Zusammenstellung der korrekten Garderobe, die Herstellung einer formvollendeten Frisur, die Organisation von Anreise und Übernachtung – es nimmt kein Ende. Die Fahrt ist lang, und die Heimreise noch schlimmer, denn alle sind müde und keiner hat Lust auf die Rückkehr in das normale Leben. Im Extremfall kehrt man am Montagmorgen von einem hochherrschaftlichen oder auch einfach nur sehr amüsanten Ball in nichts Gewöhnlicheres als den Schulalltag zurück. Die Müdigkeit ist kaum zu ertragen, und man kann vor allem keinem erklären, wo man gewesen ist und was man am Wochenende eigentlich gemacht hat. Stattdessen döst man durch die Stunden, träumt vom letzten Walzer, von seinem Tischherrn, träumt von dem, mit dem man am längsten oder sogar zweimal getanzt hat, und ist angesichts der unglaublichen Ödnis einer Physik-, Chemie- oder Informatikstunde durchaus bereit, später, in hundert Jahren vielleicht, einen von diesen höflichen, zuvorkommenden und freundlichen Herren zu heiraten, die einem am Wochenende begegnet sind.
So schnell geht das, so rasch ist man infiziert, so geschickt werden die zarten Netze, die Eltern, Großeltern, ja, viele Verwandte fleißig um einen knüpfen, zu eisernen Banden und vermitteln gleichzeitig Wohlgefühl und köstliches Einverständnis auf allen Seiten. Es ist nicht leicht, dagegen anzukommen.
Meine Schwester und ich spielten jedenfalls erst einmal fleißig mit. An Wochenenden und in den Ferien folgten wir den Einladungen zu Festen, Séjours und Tanzkursen, unter der Woche gingen wir brav in die Schule und pflegten Umgang mit Bürgerlichen. Nicht im Traum wäre mir auch nur eine Andeutung zu unseren Freizeitbeschäftigungen über die Lippen gekommen, nicht im Traum hätten wir unsere beiden Welten miteinander vermischt. Wir kamen gar nicht auf die Idee. Adligen fällt es, wie gesagt, nicht schwer, ihre Parallelwelt geheim zu halten. Sie hat einfach keinerlei Berührungspunkte mit dem normalen Alltag.
Hin und wieder wurden wir trotzdem von Lehrern darauf angesprochen. Insbesondere einem meiner Geschichtslehrer hatte es unsere Familie angetan. Er wollte unbedingt wissen, ob sie zum Hochadel gehört. Ich wusste überhaupt nicht, was er meint. Adlige werden zu Bescheidenheit und Stillschweigen erzogen. Deshalb wissen viele von ihnen, insbesondere die Nachgeborenen, nicht viel über ihre Familie und ihre Abstammung. Meine Französischlehrerin wollte in Erfahrung bringen, wie man meine Mutter korrekt anspricht. Auch da musste ich zu Hause erst einmal nachfragen.
Man spürt den Unterschied, aber spricht nicht darüber, schon gar nicht mit den bürgerlichen Schulfreunden. Bisweilen leidet man schweigend. So beneidete ich glühend die Freundinnen, die braungebrannt aus den Ferien kamen und von Sonne, Meer und endlosen Sandstränden schwärmten. Ihre Eltern hatten Campingwagen oder Wohnmobile und fuhren mit ihren Kindern abwechselnd nach Frankreich, Italien oder Spanien. Jedes Jahr ging es woanders hin. „Du warst wahrscheinlich wieder nur bei deiner Oma, oder?“, musste ich mir dann nach den Sommerferien anhören, während sie ihre Unterarme aneinanderhielten und verglichen, wer von ihnen am braunsten geworden war. An dem sumpfigen Teich mit seinen Seerosen und dem schilfgesäumtem Ufer, der den Park bei meinen Großeltern schmückt, muss man lange in der Sonne liegen, um nur ein Quäntchen Farbe zu bekommen, abgesehen davon, dass es unter Adligen nicht üblich ist, sich eher weniger als mehr bekleidet in der Sonne zu aalen.
Dass es sich bei dem Haus meiner Großeltern um ein prächtiges Schloss aus dem 17./18. Jahrhundert handelte, hätte ich niemals zu meiner Verteidigung vorgebracht. Eher hätte ich mir die Zunge abgebissen. Niemals hätte ich erzählt, dass es dort so viele Zimmer, Gemälde, Wandteppiche und Tafelsilber gab, wie andere Menschen höchstens aus dem Museum kennen, oder aus dem Hotel. Das ging einfach nicht. Dann wäre alles noch viel komplizierter geworden. Dann hätten sie auf einmal aufgehorcht, mich alle angeschaut und erstaunte Fragen gestellt: Was? Deine Mutter ist im Schloss aufgewachsen? Wie bitte? Bei deiner Großmutter wird das Mittagessen vom Kammerdiener und in weißen Handschuhen serviert? Wie heißt dein Großvater mit Nachnamen? Fürst?
Nein, das durfte wirklich niemand erfahren. Das wäre mir unendlich peinlich gewesen. Es ging keinen etwas an. Außerdem wären meine Unterarme davon auch nicht brauner geworden.
Bis heute steht für viele Außenstehende hinter jedem Adligen ein ganzer Knigge. Wenn man auch sonst nicht mehr viel mit den Vertretern einstiger Herrscherfamilien anzufangen weiß, jeder geht davon aus: Sie haben wenigstens gute Manieren. Alle Adligen wissen sich zu benehmen, Adlige wissen sich korrekt zu kleiden, Adlige kennen alle Benimmregeln in- und auswendig.
Selbstverständlich ist das nicht der Fall. Es gibt viele Adlige, die keine Ahnung von Etikette haben, und groß sind gerade unter den Jüngeren die Unsicherheiten, die mit allen Regeln und der damit verbundenen Möglichkeit, gegen ebendiese zu verstoßen, einhergehen. Wen begrüßt man, wie stellt man sich vor? Wie kleidet man sich zu welcher Gelegenheit und Tageszeit, und wie spricht man Prinzen, Fürsten, Erbgrafen oder auch nur den Professor oder den örtlichen Pfarrer korrekt an?
Woher soll man schon wissen, wie sich nach einer Hochzeit der Cortége (die Prozession) hinter Braut und Bräutigam beim Ausmarsch aus der Kirche ordnungsgemäß sortiert, welches Besteck man an vornehmer für mehrere Gänge gedeckter Tafel beim Essen zuerst benutzt? (Achtung: Immer von außen nach innen, nie den Dessertlöffel für die Suppe, nie das Fischmesser für den Nachtisch!) Wie deckt man den Tisch richtig? (Vorsicht: Flaschen immer unter oder neben den Tisch und die Servietten nicht ins Glas!) Küsst man auch als Mädchen und Frau allen älteren Damen zur Begrüßung die Hand? Schließlich muss man unter Adligen oft wildfremde Menschen begrüßen und dazu noch ein freundliches Gesicht machen, nur weil man zufällig mit ihnen verwandt ist. Manieren sind nach wie vor in adligen Häusern ein Thema. Wer aus einer alten Familie stammt, versucht das nicht zuletzt durch Anstand und gutes Benehmen unter Beweis zu stellen und insbesondere bei der Erziehung achten adlige Eltern auf die Vermittlung korrekter Verhaltensweisen.
Dass sich dahinter für manchen ein langer Leidensweg verbirgt, dass diese Manieren, dieses Wissen um Benimm und Anstand bisweilen mit drastischen Erziehungsmethoden beigebracht werden – das wissen die allerwenigsten. Eiserne Strenge, drakonische Strafen, lange Standpauken pflastern diesen Weg. Haus- beziehungsweise Zimmerarrest gehören dazu, meist natürlich Zimmerarrest, denn was wäre in Schlössern, in denen allein der Dachboden die Dimensionen eines gewöhnlichen Einfamilienhauses übersteigt, schon Hausarrest? Jedenfalls keine Strafe. Eher eine Regenpause, also die Anweisung, die manch einer aus seiner Schulzeit kennt, bei Regen bittschön im Haus zu bleiben und nicht den klatschnassen Schulhof zu stürmen. Eigentlich also eine Annehmlichkeit.
Und man muss so viel lernen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, eine Strafe einzuheimsen, unendlich oft Grund, sich davor zu fürchten, dass man wieder einmal etwas falsch gemacht hat. Gewiss, nicht in allen Häusern herrschen harte Sitten. Es gab und gibt adlige Häuser, in denen nicht nur eisige Strenge waltet, in denen es ab und zu sogar Süßigkeiten gibt, nicht nur an Weihnachten und Ostern, und Kinder gern gesehen sind. Es gibt milde Tanten und nachsichtige Onkel, die einem gerne verzeihen oder gar nicht erst darauf achten, ob das Kind sich immer korrekt verhält, ja es scheint ihnen geradezu gleichgültig zu sein. Aber eigentlich fürchten Kinder auch die, denn die Großen wissen ja alle um die Regeln und Gebote, sie wissen, was erlaubt ist und was nicht, und wie leicht kann ihre lustige Art, ihr fröhliches Lachen plötzlich in die strenge Miene eines ernsten Richters umschlagen. Wie leicht können auch die Gutmütigeren unter ihnen ausnahmsweise heute einmal beschließen, die Zügel anzuziehen und streng zu sein.
Wir fürchteten alle Erwachsenen und besonders fürchteten wir sie in dem Haus meiner Tante. Sie war die strengste unter allen, bei ihr hatten Kinder nichts zu lachen, und nichts ängstigte uns so wie ein längerer Aufenthalt in diesem ansonsten so prächtigen Haus. Mein armer Vetter musste ein ganzes Essen lang stehen, weil ihm beim Weiterreichen der Schüssel sein Wasserglas umgekippt war. Die Schüssel war von schwerem Porzellan, sie war randvoll gefüllt, und die Arme des Jungen waren kurz, so kurz wie Kinderarme eben sind. Er musste die Schüssel annehmen, sie neben sich stellen, seinen Teller daraus füllen, sie dann wieder hochheben und über alle Teller, Gläser, silbergefasste Salz-und-Pfeffer-Gefäße, über alles Besteck hinweg an den Nachbarn weiterreichen. Und der Nachbar ist an so einer Tafel weit weg. So kurze Arme reichen kaum aus, um derlei Distanzen zu überbrücken. Außerdem war der Nachbar ein Erwachsener, er unterhielt sich angeregt mit dem Rest der Gesellschaft und achtete kaum auf die schwere Schüssel, die auf ihn zuwanderte, ja, weniger noch darauf, dass es ein Kind war, das ihm die Schüssel reichte.
Nur einen Zentimeter gab der Junge bei der Übergabe nach, wahrscheinlich war es noch weniger, ganz leicht wippte die schwere Last nach unten, doch es reichte, um den Rand des Glases zu streifen, das darunter stand. Das Glas kippte, und sein ganzer Inhalt ergoss sich über das Tischtuch. Wasser war darin, denn selbstverständlich bekommen die Kinder nur Wasser zu trinken. Die Erwachsenen bekommen alles, was sie wollen, Rotwein, Weißwein, Apfelsaft, Limonade – die Kinder nur Wasser.
Das Glas kippte, das Gespräch rund um den Tisch verstummte, alles starrte den Jungen an, alles blickte wortlos auf den kleinen Kerl, der da verloren am äußersten Ende des Tisches auf seinem Hocker saß, starr und unfähig vor Entsetzen, auch nur einen Laut von sich zu geben. Die Tafel war dicht besetzt mit Menschen, bis kurz davor hatten sich alle miteinander unterhalten, das Zimmer war gefüllt gewesen von Reden, Lachen, Gläserklingen. Jetzt herrschte eisige Stille. So leise war es, dass man die einzelnen Tropfen des Wassers hören konnte, das inzwischen über den Tisch geflossen war und allmählich auf dem Boden ankam. Den Großteil der Flüssigkeit hatten die dicke Damasttischdecke und das darunter liegende Fließ aufgesogen. Ich saß am anderen Ende des Tisches, viele Meter lagen zwischen meinem Vetter und mir. Meine Tante blickte nach rechts, sah, was geschehen war, und sagte nichts.
Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber es muss schrecklich gewesen sein, denn ich sah das Gesicht meines Vetters. War er im ersten Moment erstarrt vor Schreck, färbte sich seine Haut jetzt schlagartig rot. Langsam, unendlich langsam erhob er sich von seinem Hocker, sein Rücken war kerzengerade, und stellte sich vorsichtig daneben. Dabei ließ er seine Mutter keinen Augenblick aus den Augen. Paralysiert geradezu von ihrem Blick, legte er noch langsamer beide Arme auf den Rücken und schloss die Hände. Meine Tante nickte wie zur Bestätigung langsam, wortlos, wandte sich wieder ihrem Tischnachbarn zu, machte eine spaßige Bemerkung, und kurz darauf herrschte rund um die gedeckte Tafel wieder fröhlich unbeschwerte Konversation. Keiner fragte nach dem Kind, das da stumm und bewegungslos am Ende der Tafel stand, niemand hätte es gewagt, sich in die Erziehung einzumischen. Alle taten so, als wäre nichts geschehen.
Nur wir Kinder waren sichtlich gedämpft. Wir hielten die Köpfe gesenkt und aßen eilig unsere Teller leer, bei Tisch durften wir sowieso nicht reden. Nur einmal sah ich vorsichtig zu meinem Vetter hinüber. Er stand immer noch kerzengerade neben seinem Platz, Messer und Gabel lehnten am Tellerrand, sein Essen wurde langsam kalt. Das Glas hatte jemand wieder aufgestellt, aber es blieb leer. Mein Vetter musste stehen, bis nach dem ersten Hauptgang, bis nach dem zweiten, ja bis nach dem Dessert. Zu essen bekam er nichts mehr.
Gerade Tischmanieren sind bei Adligen ein nicht enden wollendes Thema, ihre Durchsetzung ein steter Ehrgeiz. Die Ellenbogen nicht auf den Tisch, der Rücken gerade, als habe man einen Stock verschluckt, nicht schlürfen, nicht kleckern, den Teller leer essen. Wer seinen Ellenbogen aufstützt, läuft Gefahr, dass ein Erwachsener den Kinderarm in die Hand nimmt, ein wenig anhebt und den Ellenbogen derb auf die Tischplatte aufschlägt. Damit er für immer daran denkt.
Zur strengen Erziehung gehört aber noch vieles mehr. Meine Cousine und ich mussten beispielsweise im Sommer immer Blumen stecken. Das spielt bei Adligen noch immer eine große Rolle. Selbstverständlich befassen sich nur Frauen oder die Mädchen damit. In einer Abstellkammer fanden wir Scheren, grüne Schürzen und große Körbe, damit zogen wir in den schlosseigenen Nutzgarten und schnitten Blumen in mannigfaltigen Farben und Formen. Dann zogen wir zurück in besagte Kammer, suchten uns passende Vasen aus und steckten die blühende Pracht zu großen Sträußen zusammen. Die frischen Gestecke verteilten wir auf den Kommoden, Tischen und Regalen im ganzen Haus.
Eigentlich ist das Blumenstecken eine angenehme Aufgabe. Bei der Auswahl der Vasen, beim Bestimmen der Farben und Blumenarten, die man zu einem Ensemble zusammenführen will, lässt sich durchaus Kreativität entwickeln. Jedes Gesteck braucht seine Zeit, und dabei entsteht etwas absolut Betrachtenswertes. Die Blumensteckerin kann das sehen, sie wird augenblicklich Zeugin ihres eigenen Erfolges. Keine Spur von Entfremdung oder Trennung zwischen Tätigkeit und Endprodukt. Wer kann das schon von seiner Arbeit sagen? Wir hatten auch meistens hinreichend Zeit, es war keine Eile geboten. Und man erntet viel Lob und Anerkennung. Die meisten freuen sich an einem gelungenen Blumengesteck. Keiner geht vorüber, ohne es zur Kenntnis zu nehmen, ja, manch ein Blumenschmuck lockt Ausrufe des Entzückens oder spontane Beifallsäußerungen hervor.
Doch meine Cousine und ich hassten es. Sobald der Aufruf zum Blumenstecken erscholl, war der Tag für uns gelaufen. In einem Schloss sind einfach zu viele Zimmer. Hinzu kommen unendlich lange Flure und weitläufige Salons, zahlreiche Erker und riesige Säle. Da wird Blumenstecken rasch zur lästigen Pflicht. Wer eine oder zwei Vasen füllen muss, ist glücklich, wer dasselbe zwanzig- oder vierzigmal machen muss, wer Gestecke aus Hunderten von Blumen und grünen Zweigen herstellen, wer Schmuck für meterhohe Räume herrichten muss, verliert schnell den Spaß daran. Außerdem ist es eine Kunst, deren Ergebnis schnell vergeht. Die Blumen verblühen, und die Vasen müssen ständig erneuert werden.
Immer waren wir mitten im schönsten Spiel, wenn es ans Blumenstecken ging, immer wurden wir bei angenehmsten Tätigkeiten unterbrochen. Eigentlich hatten wir Ferien, aber mit Strenge wurden wir zu Erfüllung unserer Pflichten ermahnt, sie galt als Selbstverständlichkeit. Blumenstecken überhaupt eine Pflicht zu nennen, war dabei schon ein grundsätzlicher Fehler. Sofort entstand Druck, Unmut, Unlust, Zorn über die grässliche Aufgabe, und wir beschlossen, uns irgendwann einmal schrecklich zu rächen.
Dabei freute sich eine im Haus immer maßlos über unseren Blumenschmuck. Die Großmutter meiner Cousine wohnte oben im Haus, hatte ihre eigenen Salons, ein eigenes Schlafzimmer mit Bad und allen Annehmlichkeiten, die zu einem herrschaftlichen Leben gehören. Sie pries die Farbzusammenstellung der Blumen in den höchsten Tönen, fand jede noch so hilflos zusammengefügte Komposition schön und elegant, kommentierte wohlwollend selbst nachlässig hinzugefügtes Beiwerk und lobte das Gesteck über alle Maßen. Kein Wunder, dass wir sie mit den schönsten und immer ganz frischen Blüten bedachten. Kein Wunder, dass wir für ihre Gestecke die Blumen nutzten, die schon frühmorgens geschnitten worden waren und eigentlich erst in der Vase richtig aufgingen.
Bei den anderen Gestecken gaben wir uns keine Mühe. Ausgerechnet für den Esstisch – das Zentrum tagtäglicher Aufmerksamkeit und der einzige Ort, an dem schöner Blumenschmuck sofort auffällt – fabrizierten wir sogar ein besonders unmögliches Gesteck. Wir suchten Rosen aus, die zwar wunderschön waren, auch in Farbe und Form gut zueinander passten, aber kurz davor waren, zu verblühen. Bis zum Essen blieben sie makellos, aber schon beim Hinsetzen, als einer versehentlich an den Tisch stieß, segelte das erste Blütenblatt sanft herab, dicht gefolgt vom nächsten. Es war fabelhaft. Unauffällig stießen wir extra an den Tisch und frohlockten heimlich über jedes weitere Blättchen, das zu Boden ging. Am Ende standen fast nur noch leere Stiele in der Vase.
Doch wie kläglich waren solche Racheakte gegen das strenge Regime. Wie lächerlich waren sie gegen andere Momente, in denen wir unten im Garten am Schwimmbad in der Sonne lagen und ein Vetter von mir mitten im Hochsommer bekleidet mit Cordhose, langärmeligem Hemd und Wollpullover aus seinem Zimmer herunterkam, seiner Mutter das Schreibheft hinhielt, die Zeilen eng beschrieben mit irgendwelchen Ferienhausaufgaben, sie nur ein Blick darauf warf, auf Anhieb drei Fehler entdeckte und ihn mit strenger Miene zurück an den Schreibtisch schickte. Er möge das Ganze bitte noch einmal abschreiben. Was waren solche lächerlichen Racheversuche gegen die schreckliche Auflage einer anderen Tante von mir, deren Kinder nacheinander alle in den Sommerferien den ganzen Reiseführer über die Region, in der sie lebten, auswendig lernen mussten. Sie sollten dadurch in der Lage sein, später kundige Führungen für die Gäste des Hauses zu veranstalten. Alle Jahreszahlen, alle Fakten und Zusammenhänge wurden später mit gestrenger Miene abgefragt.
Der Reiseführer war in schwarz-weiß gedruckt und randvoll mit eng gestellten Zeilen, nicht einmal die Abbildungen waren in Farbe. Er umfasste viele Seiten mit vielen langen, langweiligen Sätzen und komplizierten Worten und Begriffen. Es war mir unbegreiflich, wie man in den, wie mir schien, wenigen Wochen, die wir gemeinhin hatten, ein ganzes Buch auswendig lernen können sollte. So lang waren die Ferien doch gar nicht. Und hatte man das nicht womöglich alles bis zum nächsten Sommer wieder vergessen?
Dennoch ist der Sinn des Ganzen nicht völlig abwegig. Wer die Region und ihre Geschichte kennenlernt, erfährt auch einiges über die eigene Familie, die bei Adligen ja meist untrennbar mit der nächsten Umgebung und ihren historischen Ereignissen verwoben ist. Wer in der Lage ist, Gästen davon zu berichten und sie durch die Gegend zu führen, lernt reden und sich zu präsentieren. Aber warum muss man diese Fertigkeiten auf so unendlich langweilige Art erwerben? Warum mit stupider Paukerei? Und damit nicht genug: Meine Cousine musste den Führer, das ganze langweilige Buch mit seinen langen Sätzen und unverständlichen Begriffen auch noch auf Französisch übersetzen. Zwar ging sie auf ein Schweizer Internat und beherrschte die Sprache perfekt, hatte also wenig Mühe mit der Übersetzung, aber ich war fassungslos. Wozu sollte das gut sein? Wann um alles in der Welt hatte sich zuletzt ein ausgerechnet französischer Tourist in die abgeschiedene Region verirrt, in der meine Verwandtschaft zu Hause war?
Der Erwerb von guten Manieren und einem Gefühl für standesgemäßes Verhalten wird bei Adligen weiterhin großgeschrieben. Zwar galt das Haus meiner Tante schon in meiner Kindheit als extrem streng und heute würde wohl keiner mehr zu derart drastischen Erziehungsmethoden greifen, aber wie bei allem verlässt man sich auch bei der Vermittlung von Manieren auf tradierte Werte und historische Wahrheiten, und das geht nach wie vor mit gewisser Strenge einher. Im Zweifelsfall entscheiden nicht die Vernunft, sondern Disziplin und Maßnahmen, die eine solche ohne Widerrede herstellen. Meine Generation ist noch mit Regeln und feststehenden Redensarten aufgewachsen wie „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen“ oder „Kinder soll man sehen, nicht hören“ oder „Mädchen pfeifen, Hühner krähen – muss man gleich den Kopf abdrehen“. Das prägt heute auch die Erziehung der eigenen Kinder. Und so wird es immer weitergehen.
Denn wer solche Regeln im eigenen Hause nicht erlebt hat, lernt sie spätestens auf den Festen kennen. Nichts ist ein so beliebtes Gesprächsthema wie die schrecklichen Erziehungsmaßnahmen und Strafen, unter denen Adlige als Kinder zu leiden hatten. Oft sind es nur Anekdoten, oft ist ihnen mit den Strafen, von denen sie erzählen, nur gedroht worden, oder sie haben selbst davon nur gehört. Auch behält man die schlimmsten Episoden ja gemeinhin am besten im Gedächtnis, die extremsten Maßnahmen, seien sie einem auch nur berichtet worden, prägen sich am tiefsten ein. Zusätzlich stellen Feste und ähnliche gesellschaftliche Zusammenkünfte Gesprächssituationen her, in denen man eher dazu neigt, sich gegenseitig zu übertrumpfen, als tunlichst bei der Wahrheit zu bleiben. Wer weiß, was an den harten Strafen und rigiden Erziehungsmethoden, von denen gemeinhin die Rede ist, alles der Wirklichkeit entspricht. Doch die Geschichten davon sind zahlreich. Sie prägen die Wahrnehmung und bestimmen die Atmosphäre, das allgemeine Selbstverständnis.
Wie die Episode von einer meiner Cousinen, die kein Orangeat und Zitronat mochte und es daher fein säuberlich aus dem Christstollen klaubte und sorgfältig auf ihrem Teller zu einem kleinen Haufen aufschichtete. Natürlich wurde sie dabei entdeckt und nach dem Essen dazu verdonnert, bis spät in den Nachmittag vor ihrem Teller sitzen zu bleiben und würgend und spuckend die verhassten Zutaten alle einzeln aufzuessen. Zum Glück durfte sie Wasser dazu trinken.
Schlimm und vor allem sehr real ist die Angst, die solche Geschichten, seien sie nun tatsächlich passiert oder nicht, auslösen. Entsprechend himmelhochschreiend war die Furcht einer meiner Vettern, der ausgerechnet Rosinen und, unabhängig davon, Zwiebeln überhaupt nicht mochte. Zwar kam er nie in die entsetzliche Lage, gerade diese beiden Zutaten nur, weil er sie zuvor sorgfältig aus dem Essen gelesen hatte, pur verzehren zu müssen, aber er träumt regelmäßig davon, denn er schilderte mir schon wiederholt die Panik, die ihn noch heute beschleicht, wenn er bei einem feinen Essen an das Buffet herantritt, weil er fürchtet, dort ausschließlich Speisen voll mit Rosinen oder Zwiebeln vorzufinden.
Viele Anordnungen führen zu Ergebnissen, die im krassen Gegensatz zu dem stehen, was die Erwachsenen beibringen wollen. Die Regel: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“ führt zum Beispiel zu einer innigen Allianz zwischen Kindern und den Hunden, die gemeinhin in adligen Haushalten zugegen sind. Es gibt kaum Adlige, die ohne Hund aufwachsen, bei den meisten leben gleich mehrere auf einmal. Sei es, weil die Häuser so groß sind, dass man sich ohne Hund darin fürchtet, sei es, weil es so viel Platz gibt, dass kein triftiger Grund grundsätzlich gegen die Anschaffung eines Vierbeiners spricht. Hunde gehören einfach dazu. Irgendeinen alten Jagdhund gibt es eigentlich überall. Die Tiere werden natürlich ähnlich streng gehalten wie die Kinder. Bisweilen scheint es bei der Erziehung keinen nennenswerten Unterschied zu geben.
Meist sind die Hunde überall dabei, auch wenn gegessen wird. Die Kinder, die kein Fleisch mögen, werfen es einfach unter den Tisch. Die Hunde sorgen dafür, dass es unauffällig verschwindet. Das kann jahrelang gut gehen. Den Kindern wird Fleisch auf den Teller gehäuft, denn Fleisch ist gut für das Wachstum, die Kinder schieben brav die Kartoffeln und die Soße in den Mund, kauen mit vollen Backen und schubsen das Fleisch zum Hund hinunter. Nach dem Essen ist der Teller leer, und die Eltern sind zufrieden. Wichtig ist, dass der Hund schnell begreift, dass er leise kauen muss und um nichts in der Welt um Nachschub betteln darf. Werden Tier und Kind wider Erwarten einmal doch bei ihrer heimlichen Zusammenarbeit entdeckt, können die Kinder immer noch sagen, das Fleisch sei ihnen versehentlich hinuntergefallen.
In manchen Häusern dürfen keine Hunde beim Essen dabei sein. Das ist natürlich fatal. Aber zum Glück stehen in allen Schlössern und Burgen irgendwelche nutzlosen Möbelstücke in der Ecke wie hübsche Sofas oder bequeme Sessel. Sie dienen rein der Verzierung. Dann entwickeln die Kinder des Hauses vollendete Fertigkeiten, das Fleisch solange in den Backen aufzubewahren, bis das Essen zu Ende ist. Sie schieben alles, was ihnen schmeckt, bis über das Dessert hinaus sorgfältig an dieser mit Fleisch gefüllten Backentasche vorbei. Anschließend begeben sie sich unauffällig zu dem Schmucksofa, beugen sich ebenso unauffällig über die Lehne und lassen alles aus der Backe dahinter rasch auf den Boden fallen.