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Über das Buch

Marianne und Antoine stammen beide aus reichen Elternhäusern, bewegen sich im gleichen vergnügungssüchtigen Freundeskreis und genießen ihr Leben in vollen Zügen. Doch hinter Antoines fieberähnlicher Maßlosigkeit verbirgt sich eine Verletzung; wie viele junge Männer seiner Generation ist er seit den Traumata des Krieges zu einer tiefen Bindung nicht mehr fähig. Als die verwöhnte Marianne sich in ihn verliebt, sind Leid und Schmerz vorprogrammiert. Ihre Ehe wird zur Kampfzone. Bis ihre stürmische Liebe in ruhiges Fahrwasser kommt und die Zeit alle Wogen glättet.

Über die Autorin

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren. Vor der Revolution von 1917 floh die Familie und ließ sich in Paris nieder. Irene etablierte sich als Star der französischen Literaturszene. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs floh sie mit ihren Töchtern in die Provinz, wurde 1942 verhaftet und starb in Auschwitz. Erst sechzig Jahre später wurde ihr Werk wiederentdeckt. »Suite française« wurde zum Weltbestseller.

Weitere Informationen zum Werk der Autorin befinden sich am Ende des Buches.

Irène Némirovsky

Zu zweit

Roman

Aus dem Französischen
von Susanne Röckel

Knaus

Der Roman erschien unter dem Titel »Deux« im Jahr 1936

und wurde 2011 bei Éditions Albin Michel wieder aufgelegt.

1. Auflage

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotiv: Alinari Archives/Collections-Studio Wulz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-14724-2

www.knaus-verlag.de

We seek no more the tempest for delight,

We skirt no more the indraught and the shoal –

We ask no more of any day or night

Than to come with least adventure to our goal

Rudyard Kipling, »The Second Voyage«

1

Sie küßten sich. Sie waren jung. Die Küsse entstehen so natürlich auf den Lippen, wenn ein Mädchen zwanzig Jahre alt ist! Es ist nicht Liebe, sondern ein Spiel; man sucht nicht das Glück, sondern einen Moment des Vergnügens. Das Herz begehrt noch nichts: In der Kindheit ist es von Liebe erfüllt gewesen, gesättigt mit Zärtlichkeit. Es soll jetzt still sein. Es soll schlafen! Damit man es vergißt!

Sie lachten. Sie flüsterten einer den Namen des anderen (sie kannten sich kaum).

»Marianne!«

»Antoine!«

Dann:

»Sie gefallen mir.«

»Ach, wie du mir gefällst!«

Sie lagen auf einem schmalen Sofa, in einem dunklen Zimmer; sie hatten die Lampen gelöscht. Ein anderes Paar, halb verborgen von einem Schirm, unterhielt sich leise am glimmenden Feuer, ohne sich um sie zu kümmern. Ein junger Mann, der, den Kopf auf die Hand gestützt, mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß, schien zu schlafen. Zu fünft hatten sie das Abendessen eingenommen, in einem kleinen Hotel irgendwo auf dem Land. Die jungen Frauen trugen Ballkleider. Es war eine Laune gewesen, ein verrücktes Abenteuer. Sie hatten sich von einem langweiligen Abend fortgestohlen. Sie waren immer weiter gefahren, hatten Paris hinter sich gelassen. Es war die Osternacht im ersten Frühling nach dem Krieg, einem verdrießlichen Frühling voller Tränen. Doch nun mußten sie zurückkehren: Es war hell geworden.

Marianne stand auf, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster. Nebel, dicht und weiß wie Milch, glitt langsam über einen unsichtbaren Fluß, dessen Nähe sich durch den kühlen Geruch des Wassers bemerkbar machte. Schien noch der Mond, oder war es schon Tag? Aber nein, die Nacht war wirklich zu Ende. Es regnete. Und doch war alles herrlich. Sie hatten nicht geschlafen. Im Saal des leeren Hotels hatten sie getanzt; sie hatten getrunken; sie hatten sich umarmt; ihre Gesichter waren müde, verfeinert, nicht aber gealtert oder befleckt durch das Vergnügen. Nichts kann den Glanz der Jugend trüben.

Marianne näherte sich dem Feuer; sie trug ein Kleid aus rotem Musselin, eine Bernsteinkette um den Hals; die Steine wirkten, von den Flammen beleuchtet, wie goldene Rosinen. Antoine streichelte sie, küßte den mageren bloßen Hals. Ohne etwas zu sagen, ließ sie sich lächelnd küssen, wie Solange Saint-Clair sich von Dominique Hériot küssen ließ, wie alle jungen Mädchen sich küssen ließen, die er kannte. Ohne Liebe, ohne Lust, gab die Ahnung von Liebe und Lust diesen unfertigen, keuchenden Küssen einen einzigartigen Geschmack.

Solange fragte flüsternd:

»Wieviel Uhr ist es denn? Ist es schon spät?«

Niemand antwortete. Noch ein Kuß, noch … diese Küsse, die ihren Hunger und ihr Fieber täuschten … Das blonde Haar von Solange, ein leichtes, zartes Gold, fiel auf ihre Schultern. Ihr Gesicht wirkte geheimnisvoll, engelhaft; sie war in diesem Moment so schön, daß Marianne sagte:

»Wie hinreißend du aussiehst, Solange … Ich glaube, ich habe dich bis jetzt noch nie richtig gesehen …«

Solange schloß ohne eine Antwort halb ihre großen schwarzen Augen. Alle Gefühle waren zwiespältig und verworren in dieser Nacht … die Wollust und die Freundschaft, die Erschöpfung und das Vergnügen. Marianne stocherte mit ihren Absätzen im Feuer, damit es ein letztes Mal Licht gab. Sie setzte ihren Hut wieder auf. Sie war schmal, fast mager, lebhaft und sprühend wie eine Flamme; ihre von brauner Haut umgebenen dunklen Augen funkelten. Antoine ging zum gedeckten Tisch, goß sich etwas zu trinken ein. Man mußte aufbrechen. Das war schade. Was für eine sonderbare Nacht … Sie schwiegen jetzt alle. Sie hatten keine Lust mehr zu lachen. Er sagte:

»Los, Dominique! Gilbert! Wir müssen fahren.«

Gilbert, Antoines Bruder, tat, als würde er noch schlafen; er saß zu Füßen von Solange und Dominique, die sich küßten, ohne sich um ihn zu kümmern. Dominique war älter als die anderen, verletzlicher; er konnte leichte Dinge nicht leicht nehmen; er liebte Solange.

»Gehen wir«, sagte Antoine noch einmal.

Dominiques Gesicht, blaß und matt, hob sich mit Mühe:

»Geh, laß uns allein! Los, geh! Wir werden nie mehr so glücklich sein …«

»Ich könnte hier sterben«, murmelte Solange.

Sterben … Sie waren von Sinnen. Am hellen Tag würden sie wieder zu sich kommen. Aber er selbst, Antoine, was tat er hier? Seine Geliebte hatte heute Nacht wohl vergeblich auf ihn gewartet. Denn Nicole war seine Geliebte. Er hatte sie vergessen … Marianne war nur ein Moment der Lust. Er sah das alles mit der Hellsichtigkeit des Berauschten. Langsam drang der Nebel in das Zimmer ein. Noch vor wenigen Monaten hatten sie alle drei, Gilbert, Dominique und er selbst, im Schlamm der Picardie oder im Sand von Flandern gelegen. Sein großer Mund zog sich heftig zusammen. Seine grünen, ein wenig schrägen, fast mongolischen Augen zuckten. Oh! Wie glücklich er war, am Leben zu sein!

Marianne stand neben ihm, fast an ihn gelehnt. Unvermittelt, als hätte sie seinen Gedanken erraten, sagte sie:

»Das ist wunderbar …«

»Ja«, sagte er voll Wärme.

Sie dachten beide an junge Männer, ihre Brüder, ihre Freunde, deren Knochen seit langem unter der Erde, in unzähligen Massengräbern moderten. Sie, die Überlebenden, wußten, daß sie sterblich waren – eine Lektion, die man gewöhnlich erst lernt, wenn die Jugend zu Ende ist. Doch diejenigen, die sie schon mit zwanzig gelernt haben, werden sie nie vergessen. Oh! Wie mußte man sich beeilen zu atmen, zu küssen, zu trinken, zu lieben!

»Werden Sie zu mir kommen?« flüsterte er Marianne ins Ohr.

»Ja. Wann Sie wollen.«

Gilbert trat zu ihnen. Sein Gesicht sah gequält aus, seine Augen waren matt; auf Kinn und Wangen zeichnete sich dunkler Bartwuchs ab. Es war Zeit aufzubrechen …

Antoine nahm die Mäntel der Mädchen, die sie beim Eintreten auf das Bett geworfen hatten. Sie standen auf. Dominique knipste die Lampe an, holte die Handtaschen und vergessenen Handschuhe und betrachtete den Tisch. Kein Tropfen Wein war übriggeblieben. Marianne zog sich langsam die Lippen nach. Wie sollte man jetzt zurückkehren? Wenn ihre Eltern entgegen ihrer erklärten Absicht Paris doch nicht verlassen hatten, würde sie Schwierigkeiten bekommen. Pah! Sie verließ sich auf ihr Glück. Solange würde sagen, daß sie bei Marianne übernachtet habe. Sie, Marianne, daß sie bei Solange gewesen sei. Es würde nichts herauskommen, nie kam etwas heraus. Und sowohl ihre eigenen Eltern wie die von Solange waren noch jung; ihre eigenen Leidenschaften beschäftigten sie mehr als die ihrer Kinder. Sie waren vier Schwestern bei ihr zu Hause, die alle zusammenhielten, wie es sich gehörte. Marianne bedauerte, daß ihre jüngere Lieblingsschwester Evelyne nicht da war. ›Wie schade … Sie sollte dabeisein …‹, dachte sie. Sie wußte nicht, warum, doch in dieser Nacht war es anders gewesen als bei ihren gewöhnlichen Eskapaden. Diese Nacht war … unvergeßlich …

Kurz bevor sie gingen, sah sie sich noch einmal im Zimmer um, betrachtete das alte Bett in der Dunkelheit, die geblümte Steppdecke, die zerknittert am Boden lag, das kleine rosarote Sofa. Von dem großen Feuer, das sie mit soviel Freude angezündet hatten, war nur glimmende Asche übriggeblieben.

Solanges Kleid, mit Rüschen aus Spitze, weiß und leicht wie Meerschaum, tauchte kurz vor dem offenen Fenster auf, dann liefen sie durch lange, dämmrige Gänge; der Speisesaal war leer, die Korbstühle reihten sich umgedreht auf den Tischen auf. Sie betraten eine mit Sand bestreute leere Terrasse und sahen endlich die Scheinwerfer des Autos, die mit ihrem hellen Gelb den Nebel durchdrangen. Marianne empfand plötzlich die Morgenkühle auf ihren bloßen Armen und am Hals. Sie nahm den Mantel, den Antoine ihr reichte. Solange machte ein paar Schritte, legte die Hand an die Stirn und sagte theatralisch:

»Ach! Ich mag nicht fort!«

Sie empfanden alle dieselbe sinnliche Verzweiflung, jene Angst, die sich der Seele bemächtigt, wenn das Glück endet, die jedoch noch gemischt ist mit Glück, wie der Lehm durchdrungen ist von Wasser. Der Fluß strömte in größter Stille dahin. So sieht man im Traum eine stumme, farblose Woge vor sich, die einen mitreißt an bleiche Gestade.

Reglos, verzaubert, standen sie am Ufer. Ein kleiner ängstlicher Schrei kam aus einem Gebüsch in der Nähe, und sie sahen einen Vogel mit grauem Gefieder zitternd auffliegen; er setzte sich auf die Spitze eines Baums; ein Fisch sprang in die Luft. Die Glocken begannen zu läuten: Es war der Ostermorgen.

2

Die alten Carmontels hatten ihre Kinder um sich versammelt: Pascal und seine Frau, Gilbert, und der Jüngste, Antoine.

Der Ostersonntag ging zu Ende. Man hatte gegessen; es war ein gutes Essen gewesen, wenn auch ein wenig schwer, mit ausgezeichneten Weinen.

Die Familie befand sich im roten Salon, hinter geschlossenen Fenstern, zum Schutz vor dem eiskalten Frühling.

Vater und Mutter saßen einander gegenüber, die Söhne bildeten einen lockeren Kreis um sie. Kleine, rosafarbene Kekse, mit Zucker bestreut, waren serviert worden; die Carmontels tranken ihren koffeinfreien Kaffee, für die Kinder war Filterkaffee zubereitet worden, der aber auch ein wenig schwach war.

Die Eltern hörten zu, blickten umher, sprachen wenig.

›Sie haben nichts mehr zu sagen‹, dachten die Kinder, ›nichts auf der Welt interessiert sie mehr. Von uns erwarten sie, daß wir ihnen angenehme Dinge erzählen, die sie anregen, nicht erschrecken. Woran denken sie nur den ganzen Tag? Was ist das Alter anderes als ein vorweggenommenes Sterben?‹

Die Carmontels gingen selten aus. Sie klagten über ein schwaches Herz, Erstickungsanfälle, tausend Wehwehchen; Monsieur Carmontel war ein trauriger und in sich gekehrter Mann, der sich zu seinen Büchern flüchtete. Schon lange hatte er aufgehört zu arbeiten: Die alte Firma Carmontel und Söhne gehörte der Familie nicht mehr.

Die beiden ältesten, Pascal und Gilbert, waren Advokaten. Antoine, dessen Studium vom Krieg unterbrochen worden war, hatte sich noch für keine Laufbahn entschieden. Die Carmontels waren von alter und wohlhabender bürgerlicher Herkunft und lebten auf großem Fuß. Keines der Kinder wohnte mehr in der großen, düsteren Wohnung am Boulevard Malesherbes. Wie Fremde betraten sie den riesigen, erdrückenden altertümlichen Saal, in dem es keine Blumen gab. Jeder von ihnen bemühte sich, herzlich und wohlmeinend zu sein und soviel Kindesliebe wie möglich an den Tag zu legen, die älteren, um ihrer Mutter zu gefallen, und Antoine, der nie ein mütterlicher Liebling gewesen war, um ein Lächeln auf die feinen, welken Züge, den großen, traurigen Mund seines Vaters zu zaubern.

Die Eltern waren miteinander nicht glücklich gewesen, aber jetzt waren sie alt, und es hatte sich zwischen ihnen ein unsichtbares Band der Freundschaft gebildet; sie hatten sich vereint gegen gemeinsame Feinde: die häuslichen Sorgen, die Undankbarkeit der Kinder, die Angst vor dem Tod. In gewissen Momenten war ihnen deutlich bewußt, daß es trotz der Stürme der Vergangenheit diese Einheit gab gegen alles, was ihre Ruhe bedrohte, diesen teuer erworbenen Frieden des Alters.

Sie betrachteten die Kinder. Antoine, der kam und ging und nicht dazu in der Lage war, seinen Körper einen Augenblick lang stillzuhalten. Gilbert, schweigsam, über quälende Fragen brütend, die sie nicht kannten, niemals kennen würden. Pascal, in Anspruch genommen von seiner Familie, seinen Kindern, seiner Karriere, seinen Geliebten, tausend Sorgen. Sie freuten sich, sie zu sehen. Sie lebten nur noch für diese Abende, an denen sie sie um sich versammelten. Sie wünschten sich, daß die Kinder kamen, dachten ständig an sie, aber kaum waren sie da, wurden sie von Unruhe ergriffen. Wie würde sich Pascal aus der Affäre Brun retten? … Er erklärte die Dinge nie klar, ausführlich. Immer diese unselige Ungeduld der Jugend, diese Hast … Und Gilbert? … Er war verliebt, das war deutlich sichtbar. In wen? … Antoine hatte eine Geliebte, diese Nicole Delaney, eine geschiedene Frau, älter als er. Würde er sie heiraten? Wann würde er sich für einen Beruf entscheiden? Man war niemals ruhig mit den Kindern! Doch wozu sollte man sie fragen, Dinge zu erfahren suchen, ohne Unterlaß diese alten Herzen quälen, die schon so lange gepocht hatten, die müde waren? Sie zogen es vor, nichts zu erfahren. Diesem turbulenten Leben setzten sie ihr Schweigen entgegen, ein scheinbares Unverständnis, hinter dem sich eine geheime Bitte verbarg: Laßt uns in Ruhe! Ihr habt uns genug gepeinigt. Wir sind müde … Laßt uns in Ruhe, ihr armen Kinder! … Pascals Schulden, die zwei Jahre, die Gilbert, von Tuberkulose bedroht, in der Schweiz hatte verbringen müssen, der undisziplinierte Charakter Antoines, all das war Vergangenheit … Ihr eigenes Leben, das so schwierig gewesen war, die ehelichen Unstimmigkeiten, die Krankheiten und vor allem der Krieg, die drei Söhne an der Front, zwei von ihnen verwundet … Aber schließlich waren sie alle hier, Gott sei Dank, und alle lebten … Sie, die Eltern, fanden, daß sie ihre Ruhe durchaus verdient hätten.

Die Kaffeetasse in der Hand, sagte Berthe Carmontel:

»Ihr dürft gern eine Zigarette rauchen …«

Doch sie fürchtete sich vor dem Rauch; unruhig folgte sie ihm mit dem Blick. Auf einem kleinen Tisch neben ihr lagen ihr geschlossener Fächer, Arzneien, Pillen, ein Antimigränestift. Sie nahm den Fächer und begann, ohne ihn zu öffnen, mit abgehackten Bewegungen ihrer langen, mageren Arme den Rauch vor ihr zu zerteilen. Ihr gefurchtes Gesicht, ihr bleifarbener Teint zeigten, wie sehr die Zeit ihrem Organismus zugesetzt hatte, doch ihr Körper war stark, die Knochen hart und robust. Seit sechsundzwanzig Jahren, seit Antoines Geburt, hielt sie den Tod in Schach. Sie war nie schön gewesen, sie war schwerfällig und ohne Anmut, doch ihr Gesicht war vom Feuer des Lebens und der Leidenschaft erhellt worden. Noch heute zuckte die alte Flamme gelegentlich auf, wenn sie munter wurde. Aber nicht heute abend … Heute abend war sie griesgrämig und gedrückt. Ihre Lippen waren blaß und gespannt, kaum sichtbar; ihre Züge wirkten wie entfärbt. Nur die schwarzen Augen waren immer noch schön und blickten durchdringend. Ihr Ehemann nahm als erster ihre Ängstlichkeit wahr und wandte sich müde und resigniert an seine Söhne, um ihnen auf fast unmerkliche Weise ein Zeichen zu geben, das sie, da sie seit langem gelernt hatten, darauf zu achten, sofort wahrnahmen. Sie drückten ihre Zigaretten aus. Madame Carmontel fragte mit gespieltem Erstaunen:

»Ihr raucht nicht weiter? Habt ihr Angst, Raymonde unangenehm zu sein?«

Sie wollte nicht, daß man Mitleid mit ihr hatte, daß man ihr ihre Schmerzen in Erinnerung rief, sie wollte nicht an den Tod denken.

Raymonde, Pascals Frau, ein hübsches und kräftiges Geschöpf mit weißer Haut und sehr dunklem Haar, das über ihrer Stirn und an den Schläfen eine fünffache Welle bildete, mit schweren, muskulösen Armen, stand am Anfang ihrer dritten Mutterschaft. Sie lächelte verächtlich und senkte, ohne zu antworten, die Augen auf das Kinderjäckchen, das sie strickte.

Gilbert lag in einem großen, mit rotem Damast bezogenen Sessel. Wie er es oft tat, legte er die Fingerspitzen an die Lippen und gab mit kalter und schneidender Stimme (alle Carmontels hatten diese Stimme, sie war ein Erbteil ihrer Mutter) Pascal Antwort, der ihn zu einem strittigen Punkt im Prozeß Lucain gegen Bourges befragt hatte. Jeder von ihnen beurteilte den anderen mit fast manischer Gewissenhaftigkeit, doch ihre Urteile waren vom Zufall bestimmt und hatten keinen wirklichen Wert: Wenn man die seelischen Qualitäten eines Bruders anerkennt, ehrt man damit sich selbst, das eigene Blut, den Stamm, dem man entsprang, während der Vorwurf der mangelnden Intelligenz nur das Individuum betrifft.

Zuweilen wunderte sich Gilbert über seine eigenen Worte und den scharfen Ton seiner Äußerungen. Wieviel Besorgnis, wieviel Wissen verschwendete er an einen Gegenstand, der so unwichtig für ihn war! Doch nichts auf der Welt war wichtig … außer Solange …

Er kannte sie seit seiner Kindheit; er hatte sie immer geliebt. Sie hatte sich geweigert, seine Frau zu werden, doch eines Abends, als Dominique mit einer anderen zusammen war, hatte sie sich ihm hingegeben. Danach hatte sie in seinen Armen geweint. Sonderbare Mädchen. Wenn man das Pech hatte, mit einer von ihnen zu schlafen, war nicht nur die physische Leidenschaft lebhafter als beim Verkehr mit gleich welcher Frau, man ließ sich auch dazu verleiten, sich an sie zu binden. Wenigstens bei ihm war es so. Jene beiden Jahre in der Schweiz, zwischen seinem fünfzehnten und dem siebzehnten Lebensjahr, die Krankheit, die Einsamkeit, die Stunden der Betrachtung und der Stille während der Kur, all das hatte sich auf sein Herz, seine Nerven ausgewirkt. Antoine hatte es gut. Ob mit Nicole Delaney, Marianne Segré oder irgendeiner anderen, er suchte nur sein Vergnügen, und wenn er es gefunden hatte, war er klug genug, nichts darüber hinaus zu verlangen. Fast haßerfüllt betrachtete er Antoine: Die beiden Brüder waren immer Gegner gewesen. Wo war Solange heute abend? … Er beugte sich zur Lampe, rückte lange den Schirm zurecht und legte dann die Hand vor seine Augen, wie um sie vor einem allzu hellen Licht zu schützen.

»Die Deutschen würden gern ihre Produkte bei uns einführen«, sagte Albert Carmontel, »sie würden gern ihre Sachen verkaufen und so ihre ganzen Schulden loswerden …«

Antoine stimmte eifrig zu. Von dem vorangegangenen Gespräch hatte er kein Wort mitbekommen, doch er liebte seinen Vater sehr. Hier änderte sich nie etwas; die Luft war weich, ein wenig stickig; die Familie verbreitete eine besondere Art der Langeweile, entnervend, doch nicht ohne Charme.

»Die Ausländer werden kommen und über uns herrschen, die Mittelsmänner, die Hamsterer«, sagte Pascal, der sich nun mit Nachdruck einmischte, wie er es gern tat.

Antoine stand auf und entfernte sich, um sich auf das kleine Plüschsofa zu setzen, wo er auch schon als Kind, verborgen vor den Blicken der anderen, gesessen hatte, um Onkel Toms Hütte zu lesen; er hatte den Kopf zur Wand gedreht, damit man seine Tränen nicht sah, doch seine Mutter hatte ihn eines Tages beim Weinen ertappt. Er erinnerte sich an den kalten Blick, mit dem sie auf ihn hinuntergesehen hatte:

»Dieses Kind weint nur über eingebildeten Kummer …«

Sie hatte immer ihre älteren Söhne vorgezogen, diesen Rohling Pascal, diesen hassenswerten Gilbert … Nur er und Gilbert sahen ihrer Mutter ein wenig ähnlich, und nur sie sprachen in Momenten innerer Erregung in diesem eisigen Ton. Pascal, mit rosigem Teint und fleischigen Lippen, schien von anderer Herkunft zu sein.

Madame Carmontel rief das Dienstmädchen und wies es mit leiser Stimme an, ihr Bett zu richten.

»Schon? Sie sind schon müde, Maman?« fragte Raymonde. »Sie sehen auch heute abend gar nicht gut aus.«

Madame Carmontel erwiderte nichts und wandte sich an Antoine:

»Dieser Junge, dein Freund Dominique Hériot, ich habe gehört, er hat die kleine Saint-Clair geheiratet. Stimmt das?«

»Ich weiß nicht. Warum fragen Sie mich das?«

»Nur so.«

›Sie hat erraten, daß Dominque Hériot etwas mit der Laune, dem Schweigen von Gilbert zu tun hat. Ihr Mutterinstinkt ist wach. Wenn es sich um mich handelt, ist sie weniger scharfsichtig‹, dachte Antoine.

Auf ihren Stock gestützt, verließ Madame Carmontel das Zimmer; etwas später gingen die drei Söhne, einer nach dem anderen. Pascal war zu einem Abendessen eingeladen. Antoine ging zu seiner Geliebten, Gilbert zu sich nach Hause. Der alte, oben offene Aufzug zitterte und ächzte, während er sich langsam den unteren Etagen näherte. Das Treppenhaus, dunkel und riesengroß, wie früher üblich, war still, finster, feierlich wie eine Kathedrale. Als das Tor hinter ihnen ins Schloß fiel, atmeten die Söhne erleichtert auf.

Die Eltern gingen zu Bett. Der alte Carmontel löschte die Lichter und betrat die Bibliothek, wo er ein Buch suchen wollte, das er bis zum Morgen bei sich behalten würde. Er hatte schon eine Wahl getroffen; sie fiel auf die vier oder fünf Klassiker, die er unaufhörlich wiederlas, doch er kostete die Vorfreude noch ein wenig aus, zögerte lange und streichelte die Einbände mit liebevoller Hand. Zuweilen nahm er aufs Geratewohl ein Buch heraus, las nicht darin, sondern öffnete es nur und sog seinen Geruch ein, wie man an einem Wein schnuppern mag, stellte es dann an seinen Platz zurück und suchte sich einen anderen Band aus.

Schließlich kam er mit den Büchern unterm Arm in das Zimmer, das er mit seiner Frau teilte, und legte sich hin. Sie schlief noch nicht; zuerst klagte sie über Schmerzen im Bein, dann fragte sie:

»War das Essen gut? Ich habe keinen Bissen herunterbekommen … Sie sind nicht lange geblieben … Immer in Eile, immer in Bewegung. Die Eltern kommen an letzter Stelle, das weiß man ja, aber schließlich … Ich begreife nicht, was Raymonde will. Wie zieht sie ihre Kinder auf? … Der kleine Bruno soll mit fünf Jahren anfangen, Geige zu spielen. Das ist viel zu früh. Er ist so zart, der Kleine. Er wird so werden wie Gilbert …«

Er hörte zu und antwortete, jedoch nicht auf das, was sie sagte, sondern auf das, was ihn selbst bewegte:

»Pascal hat den Brief von Fargue nicht gefunden. Aber ich bin sicher, er war bei den Akten. Ich glaube, er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, danach zu suchen. Ich kenne keinen weicheren Jungen, keinen, der leichtfertiger wäre, trotz all seiner Aktivität … Ich mache jetzt die Lampe aus, Berthe«, sagte er schließlich.

Er würde warten, bis sie eingeschlafen war, um dann wieder Licht zu machen und anzufangen zu lesen. Sie würde die Augen schließen und sich schlafend stellen: Sie wußte, wie sehr er es liebte, ungestört zu lesen. Doch zuvor mußte sie noch weiter klagen, sie brauchte es, diesen langen Seufzer in dem dunklen Zimmer zu vernehmen, den Klang dieser Stimme, die ihr Sicherheit gab. Ja, das war es, was sie suchte, was nur das Paradies, wenn es existierte, ihr geben konnte. Sicher zu sein … »Am Busen Gottes ruhen …« Wo hatte sie das gelesen? … Vertrauensvoll, beruhigt, versöhnt auf immer am Busen Gottes … Pascal, Gilbert, Raymonde … der kleine Bruno, die kleine Brigitte, das dritte Kind, das bald geboren würde, Gilbert … Ach! Wie schwer war es, diese innere Unruhe mit sich herumzutragen! Gilbert war wie sie. Sie hatte unendliches Mitleid mit ihm. Es hatte immer so ausgesehen, als wäre Pascal zum Glück bestimmt. Pascal war ihre heimliche Rache am Schicksal. Guter kleiner Pascal mit den roten Wangen. Antoine … Sie erinnerte sich plötzlich an jenen Novembertag des Jahres 14, als er das erste Mal von der Front nach Hause kam und sie an Stelle des Heranwachsenden, der einige Wochen zuvor abgereist war, einen Mann mit bärtigem Gesicht und tief in den Höhlen liegenden Augen gesehen hatte, dessen Gang gleichmäßig und langsam gewesen war und der kaum einmal den Mund geöffnet hatte, um zu sprechen. Es war seltsam … Die beiden anderen waren trotz der Jahre, trotz des schrecklichen Krieges ihre Kleinen geblieben, ihre Babys, und man mußte manchmal an sich halten, um ihnen nicht das Haar aus dem Gesicht zu streichen wie früher und sie in den Armen zu wiegen; aber Antoine war ein Mann, ein Fremder. Pascal … Gilbert … Indessen war das große, so freundliche Messingbett, von dem ihr Körper jede Mulde kannte, und der Atem ihres Mannes im Dunkeln das, was dem inneren Frieden am nächsten kam. Sie fuhr fort, mit gedämpfter Stimme Dinge zu äußern, alle möglichen Dinge, die ihr in den Kopf kamen. Er wartete ab, ohne jede Ungeduld. Die brummige Stimme der alten Frau störte seine Ruhe schon längst nicht mehr, jene Stille des Herzens, die am Ende eines Tages in ihm entstand, am Ende des Lebens … Berthes Anwesenheit an seiner Seite beruhigte ihn vielmehr, entspannte ihn. Und doch, wie viele Tränen waren in diesem Bett vergossen worden, wie viele Nächte hatte er ohne Schlaf verbracht. Berthes Eifersucht, diese Kämpfe, bei denen sie am Ende einer in den Armen des anderen erschöpft eingeschlafen und dann erwacht waren, um einander erneut in Stücke zu reißen … Antoines Geburt; Berthes lange Krankheit … Doch trotz aller Unpäßlichkeiten seiner Frau wußte er sehr wohl, daß er als Erster gehen würde. Er schloß die Augen. Sie war still geworden, döste ein und erwachte wieder, um noch einmal ein Klagelied über Raymonde anzustimmen. Er wurde lebhaft, gab ihr recht. Sie haßten beide ihre Schwiegertochter. Sie selbst waren gegeneinander toleranter als in der Zeit ihrer Jugend, doch das, was man nicht mehr vom Leben verlangt, verlangt man von seinen Kindern. So war es immer dasselbe, das Glück verging, die Seele fand keinen Frieden. Schließlich schlief sie ein; er knipste die Lampe wieder an und begann zu lesen.

3

Um Mitternacht war Antoine zurück in seiner Wohnung auf der Île Saint-Louis, die er seit dem Krieg mit Dominique Hériot, seinem besten Freund, teilte; Nicole hatte wieder einmal umsonst die Bitte geäußert, daß er bis zum Morgen bei ihr blieb. Er haßte es, neben einer Frau zu schlafen, nachdem sein Verlangen gestillt war. ›Ich brauche mein schmales Schlafsofa‹, dachte er, ›mein flaches, hartes Kopfkissen.‹

Nicole Delaney, eine immer noch sehr schöne Blondine mit Samtaugen, deren Haar heller war als ihre bräunliche Haut, war seit drei Jahren seine Geliebte. Er hatte sich in sie verliebt, weil ihm dieser weiche Blick gefiel, dieses ein wenig schwere Kinn, dieser sinnliche und gutmütige Mund. Wie von der Hündin Mirza, die er zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und deren Tod eines seiner größten Kümmernisse gewesen war, sagte er von Nicole: »Sie ist so lieb …« Der Kontrast zwischen dieser Gutartigkeit, diesem zärtlichen Willen, sich an ihn zu binden, und den ausschweifenden Gewohnheiten, die sie zur Schau stellte, war unwiderstehlich.

›Das ist es, was mich so an ihr reizt‹, dachte Antoine, ›dieser alte bürgerliche Hintergrund, der ihre Maske à la Marquise de Merteuil durchdringt, und wie oft! Sie würde eine ausgezeichnete Ehefrau abgeben. Aber sie hat immer nur alte Wüstlinge oder junge Narren kennengelernt.‹

Er schüttelte lächelnd den Kopf, als er sich daran erinnerte, wie sie vor ein paar Tagen, nachdem sie nachts einen verrufenen Ort verlassen hatten, mütterlich das Tuch um seinen Hals festgeknotet hatte. Er hing noch an ihr, doch in letzter Zeit langweilte sie ihn recht oft. Wenn er sein Schlafzimmer betrat, sah er den Rosenstrauß, den sie ihm am Vortag gebracht hatte; sie spielte gern die Rolle des Mannes. Mit Vergnügen hatte er ihre Blumen entgegengenommen; er liebte Blumen, besonders diese fast wild wirkenden kleinen dunklen Rosen mit ihren festen, duftenden Blüten und starken korallenroten Dornen.

An einem der Stiele war ein Briefchen von Dominique befestigt: »Solange Saint-Clair hat mich gerade angerufen, sie lädt uns zu den Segrés ein. Die Eltern sind nicht da, scheint es, und die Mäuse tanzen auf dem Tisch. Ich warte dort auf Sie. Kommen Sie, wann Sie wollen.«

›Ich werde nicht hingehen‹, dachte Antoine, ›es ist zu spät. Ich schaffe es nicht mehr, noch einmal in den Wagen zu steigen, und wie soll ich in diesem Viertel ein Taxi finden, jetzt, nach Mitternacht?‹

Und doch stieg Interesse in ihm auf. Es könnte vergnüglich werden. Bis jetzt hatte er Marianne nur bei den Saint-Clairs und anderen gemeinsamen Freunden getroffen, er war noch nie bei ihr eingeladen gewesen. Er war neugierig auf das Haus, in dem sie wohnte. Er wußte, daß sie die Tochter des Malers Didier Segré war und daß ihre Mutter eine Wally war (von den Wallys, denen die Eisengießereien in Lothringen gehörten).

Er hatte von dieser Verbindung und von dem, was ihr voraufgegangen war, reden hören wie von einem Skandal. Die Liebenden, der glücklose Maler und die reiche Erbin, waren geflohen, und vor der Trauung war ein Kind geboren worden: Marianne – oder eine ihrer Schwestern?

›Ach, egal! Ich werde hingehen und ein Stündchen bleiben‹, beschloß er schließlich.

Als er bei den Segrés eintraf, war es schon nach zwei Uhr. Sie wohnten nahe dem Bois de Boulogne in einem stattlichen Haus mit Vorgarten. Die Eltern waren nicht da; die Mädchen hatten ihre Freunde eingeladen. Im schwach erleuchteten Gartenhaus tanzten einige Paare. Andere saßen auf Kissen am Boden. Das Grammophon spielte krächzend eine leise, kristalline Melodie, die halb erstickt schien von wogendem Wasser (damals waren Lieder aus Hawai der neueste Schrei). Marianne trug dasselbe Kleid wie am Vortag, flammend rot, und ihre Bernsteinkette um den Hals. Sie liebte die auffallenden Farben und den Schmuck einer Bohemienne. Schminke und Puder auf ihrem Gesicht waren schon lange verwischt, doch die durchwachten Nächte, der Wein und die Müdigkeit konnten der Leuchtkraft ihrer jugendlich-glühenden und gebräunten Haut nichts anhaben. Sie tanzte, und im selben Moment betrachtete eine unsichtbare Doppelgängerin ihr eigenes Bild, ihr rotes Kleid, das schwarze Haar, die bloßen Arme, wie sie schweigend und geschmeidig in Antoines Armen durch die Luft glitt. In gewissen Augenblicken der Jugend, wenn die Seligkeit ihren höchsten Punkt erreicht und fast schmerzhaft wird, ist man auf diese Weise zugleich Akteur und Beobachter – ein Beobachter, der berauscht ist, verliebt in sich selbst. Wie sehr liebte Marianne das Vergnügen! Wenn die Eltern nicht da waren, war es unmöglicher, brav zu Bett zu gehen. Wie konnte man eine einzige Nacht verlieren, ohne sich zu vergnügen, ohne dieses außerordentliche innere Strömen zu spüren, das die Anwesenheit junger Herzen in ihnen allen auslöste und gegen das der glanzvollste Ball niemals ankam! Jede Sekunde war wertvoll, unersetzlich! Nur die Jugend weiß, wie schnell die Zeit vergeht. Später gewöhnt man sich an die Kürze des Lebens wie an die Krankheit, das Unglück, doch mit zwanzig will man jeden vorüberfliegenden Augenblick anhalten, ihn an sich drücken wie später das wachsende Kind! Es war noch nicht Antoine, der wichtig war, nicht die Liebe, sondern das Vergnügen. Wie glücklich sie war! So glücklich, daß sich ihre Augen zuweilen mit Tränen füllten. (Sie hatte zuviel getrunken, und der Schlafmangel war Gift für sie.)

Sie sprachen mit gedämpften Stimmen:

»Wer sind Sie? Ich weiß nichts von Ihnen. Man hat mir gesagt, sie sind die Tochter von Didier Segré. Das ist doch Segré, der Maler?«

»Ja.«

»Sie haben drei Geschwister, nicht? Wo sind Ihre Schwestern?«

»Dort ist die älteste, Régine«, sagte sie, indem sie auf ein Mädchen in einem schwarzen Samtkleid zeigte, mit makellosen, eisigen Zügen, die auf fast unmerkliche Weise bereits verblüht waren. »Die dort hinten, die kleine Blonde, die wie eine Katze aussieht, das ist Odile. Und dort ist Évelyne.«

»Sie sind die Jüngste?«

»Nein, Évelyne. Ich bin zwanzig, aber sie ist schon viel mehr Frau als ich.«

Antoine sah ein junges Mädchen, das größer und schöner war als Marianne, mit bloßem Rücken und Armen, strahlend wie eine Blüte. Die außerordentliche Schönheit ihres Körpers und ihres Gesichts verblüffte ihn.

»Und Ihre Eltern?«

»Reizende Menschen, aber weit voneinander und von uns entfernt. Und Sie? Ich weiß ja auch nichts von Ihnen. Sie sind der Freund von Dominique Hériot? Wie alt sind Sie? … Nein, warten Sie! Sind Sie Dominique ähnlich? Was macht Ihnen Spaß?«

»Ich bin sechsundzwanzig. Ich bin ganz anders als Dominique. Ganz gewiss bin ich gröber als er. Was mir Spaß macht?«

Er schwieg und drückte sie an sich. Doch bald begannen sie wieder zu sprechen; flüsternd, atemlos machten sie einander Geständnisse; sie hatten es eilig, ein Bild von sich anzufertigen, um es dem anderen zu zeigen:

»Wie waren Sie, als Sie klein waren?«

»Draufgängerisch, kämpferisch, faul. Und Sie?«

»Meine Schwestern haben mich immer Perpetuum mobile genannt.«

»Ich werde Sie die Flamme nennen«, sagte er. »Schon gestern, als ich Sie in den Armen hielt, habe ich gedacht, Sie seien … glühend und nicht zu fassen, wie das Feuer«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Ach! Gestern, daran erinnern Sie sich?«

»Morgen fahren wir weg von Paris, wir beide, allein.«

»Ja.«

»Und … alles, was ich will?«

»Ja«, wiederholte sie mit gesenktem Kopf.

»Haben Sie Liebhaber gehabt?«

»Nein. Noch nie«, sagte sie.

Unvermittelt blieben sie stehen, erstaunt darüber, daß sie das alles gesagt hatten. Marianne sagte leise:

»Es ist wie im Traum, nicht?«

Da sahen sie, daß das Morgenlicht durch die Fenster schien. Das Grammophon schwieg. Man hörte keinen Menschen mehr im Haus. Sie gingen auseinander.

4

Dominique Hériot hatte sich in einen kleinen leeren Salon geflüchtet, wo die Musik nur leise und gedämpft zu hören war und er allein sein konnte. Er verbrachte sein Leben in ständigem Schwanken zwischen dem Wunsch nach Einsamkeit und der Sehnsucht nach Gesellschaft. ›Noch nie hat jemand bei den oberflächlichsten Gesprächen soviel Kraft vergeudet. Noch nie hat jemand die Leute so gehaßt.‹

Er goß sich einen Whisky ein und betrachtete einige unvollendete Bilder von Segré; sie standen, an die Wand gelehnt, am Boden; eines davon drehte er um und trug es ans Licht: Es war das Gesicht einer Frau, Haar und Hals waren noch weiß, doch jeder Pinselstrich zeugte von Talent … Und wie redlich war das gemalt … Die Leinwand trug das Datum 1903. Dieser Maler war ein geschickter Arbeiter geworden, dieser Didier Segré … ›Ist es möglich, daß derselbe Mann, der das hier gemacht hat, auch das Porträt der alten Lady Mackay malte?‹ dachte Dominique. ›Es wäre interessant herauszufinden … sich vorzustellen, wie wohl sein Leben verlaufen ist, seine Ehe, der Roman mit Marie-Louise Wally, und dann … Sicher gab es die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, oder es waren Drogen im Spiel, man sagt, er sei Morphinist, oder Frauen, oder ganz einfach die schreckliche Gewohnheit zu leben? …‹ Er goß sich noch ein Glas Whisky ein. Seit dem Vortag hatte er zuviel getrunken. Doch er fühlte sich nicht berauscht. Nur müde. Müde von allem auf der Welt, vor allem von sich selbst …

Er näherte sich einem Spiegel, betrachtete seine bleichen Züge, in denen nichts Jugendliches lag, seine durchdringenden Augen, den fein gemeißelten, kräftigen Schädel mit der hohen Stirn.

›Nur das ist gut an mir‹, dachte er, indem er mit unerbittlichem Blick seinen mageren Körper musterte, seine gebeugten, schmalen Schultern, sein langes Gesicht mit den blonden, kaum sichtbaren Wimpern, dem fast weiblichen Mund mit der kleinen sarkastischen Falte am Mundwinkel. Er fragte sich ehrlich erstaunt:

›Was gefällt diesem Mädchen an mir? Und ich? Was suche ich in ihr? Wir haben nur das Begehren, das uns verbindet. Wie alle Frauen will sie nur genommen und beschützt werden. Sie wünscht sich die Ehe, Stabilität, Dauer, Gefangenschaft, und ich … innere Freiheit, ganz gewiß …‹

Er stellte sich Solange und sich selbst als Ehepaar vor. Ein schönes Haus, reich geschmückt, höchst geschmackvoll möbliert. Sie besaßen beide einen Sinn für Stil. Und dann … Was würde in diesen langen Jahren geschehen bis zu seinem oder ihrem Tod?

Aber vielleicht war er zu frei? Vielleicht ist es für einen Mann notwendig, zum Sklaven gemacht zu werden? Vielleicht stammt dieser Hunger danach, sich frei zu fühlen, sich treiben zu lassen, einfach aus den unvergeßlichen Jahren der Jugend, vielleicht ist das bei jedem Menschen so? … Schon kurz nach seiner Geburt war er Waise geworden, war als reicher Erbe in den düstersten Schulen eingesperrt gewesen und hatte stets den Neid, die Begehrlichkeit der Verwandten gespürt, die zu Verwaltern seines Vermögens geworden waren, hatte bei jedem Unwohlsein gesehen, daß sich die Mienen seiner Vormünder aufhellten …