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Ettore
Die Piazza Plebiscito ist voller Männer in der typischen schwarzen Kleidung. Das sind die giornatari, die Tagelöhner – Männer, die nichts besitzen und sich nur durch die Kraft ihrer Arme ernähren können. In der Morgendämmerung bilden sie unregelmäßige schwarze Flecken vor den hellen Pflastersteinen. Die murmelnden Stimmen sind gedämpft, die Männer treten von einem Fuß auf den anderen, husten, wechseln ein paar leise Worte. Hier und da bricht Streit aus, es wird gebrüllt und gerungen. Als Ettore und Valerio bei ihnen angekommen sind, riecht Ettore ihr fettiges Haar, den Schweiß der vergangenen Tage in ihrer Kleidung und ihren warmen, muffigen Atem. Dieser Geruch begleitet ihn, umgibt ihn schon, solange er zurückdenken kann. Das ist der Geruch von harter Arbeit und stetem Mangel. Der Geruch von Männern mit harten Muskeln und Knochen von jahrelanger Plackerei als Arbeitstiere. Auch die Aufseher sind da, zu Pferde oder neben ihren Tieren, die sie am Zügel halten. Manche sitzen auch in kleinen, offenen Kutschen. Sie heuern fünf Männer hier an und dreißig dort. Ein Schäfer will zwei Männer, die ihm helfen sollen, seiner Herde die Klauen zu schneiden. Das ist leichte Arbeit, aber er kann fast nichts dafür bezahlen, und die Männer beäugen ihn voller Abscheu in dem Wissen, dass der eine oder andere von ihnen das bisschen Lohn dennoch wird annehmen müssen.
Bis zum großen Krieg ging das so: Wer Arbeit will, kommt zur Piazza, wer Arbeiter sucht, ebenfalls. Es werden Löhne geboten und Männer ausgewählt. Es gibt keine Verhandlung. Doch durch den Krieg hat sich manches verändert. Zwei Jahre lang lief es anders – die Gewerkschaften und die Sozialisten erwirkten Zugeständnisse an die Arbeiter. Denn Männern wie Ettore und Valerio, die so wenig Grund zum Kämpfen hatten, wurde während des Krieges alles Mögliche versprochen, damit sie in den Schützengräben blieben. Man versprach ihnen Land, höhere Löhne, ein Ende der unendlichen Härte ihres Lebens. Danach kämpften sie darum, dass die Grundbesitzer diese Zusagen auch einhielten. Ein paar fiebrige Monate lang schien es, als hätten sie tatsächlich gewonnen. Sie richteten eine Arbeitsvermittlung ein, bei der nur Gewerkschaftsmitglieder vermittelt wurden und niemand von außerhalb des Bezirks. Löhne und Arbeitszeiten wurden festgelegt. Das Büro sorgte durch einen Plan dafür, dass die Arbeit unter den Männern gerecht verteilt wurde, und auf jedem Gut sollte es einen Gewerkschaftsvertreter geben, der die Einhaltung der Arbeitsbedingungen überwachte. Das war erst im vergangenen Jahr gewesen, gegen Ende 1920. Aber nun fällt all das wieder auseinander. In dieser schwelenden Fehde, die Jahrhunderte alt ist, hat sich das Blatt wieder einmal gewendet.
Ein seltsamer Konflikt – und das alltägliche Leben geht weiter, fließt darum herum wie ein Fluss um Felsen. Das muss es auch tun, denn Menschen müssen essen, und um essen zu können, müssen sie arbeiten. Also muss das Leben weitergehen, selbst wenn es sich bei den Felsen um Ereignisse wie das Massaker auf der Masseria di Girardi Natale handelt. Das war im vorigen Sommer. Arbeiter, bewaffnet nur mit ihren Werkzeugen und ihrem Zorn, wurden vom Landbesitzer und seinen berittenen Wachen zusammengeschossen. Jetzt werden die Verträge, die alle Landbesitzer unterschrieben haben, einfach ignoriert, und Männer, die protestieren, bekommen keine Arbeit. Es gibt Gerüchte über eine ganz neue Art Schlägertrupps, angeführt von ehemaligen Offizieren, denen noch der Wahnsinn der Schützengräben anhaftet und die die einfachen Bauern bis heute dafür verachten, dass sie nicht kämpfen wollten. An gedungene Schläger – mazzieri, benannt nach der mazza, dem Knüppel, den sie führen – als Aufseher sind die Landarbeiter gewöhnt, aber diese neuen Trupps sind anders. Sie bekommen Waffen und Unterstützung von der Polizei, inoffiziell natürlich. Sie nennen sich auch anders: fasci di combattimento, die »Kampfbünde«, bestehend aus Mitgliedern der neuen Faschistischen Partei. Und ihre Zielstrebigkeit macht den Männern Angst.
Manchmal geht Ettore abends in eine Kneipe und liest jenen, die nicht lesen können, aus den Zeitungen vor. Aus dem Corriere delle Puglie, aus La Conquista und Avanti!. Er liest von Angriffen auf Gewerkschaftsführer und Interessenvertreter der Landarbeiter, sogar auf sozialistische Stadträte in anderen Gemeinden. In Gioia del Colle hat sich die traditionelle Form des »Arbeitsmarktes« schleichend wieder ausgebreitet, und die beiden Parteien starren einander über diese bittere Kluft hinweg an – Arbeiter und Lohnherren. Als warteten beide darauf, dass der andere zuerst blinzelt. Im Februar kam es zu einem Generalstreik aus Protest gegen die Organisation und Bewaffnung der neuen Schlägertrupps, ihre Brutalität, und gegen den vielfachen Vertragsbruch der Grundbesitzer. Der Streik dauerte drei Tage, doch es war, als drückte man einen Finger auf einen klaffenden Riss in einem Damm – einem Damm, hinter dem die Flut unerbittlich und unaufhaltsam steigt.
Ettore und Valerio drängen sich zum Aufseher der Masseria Vallarta durch. Der Mann ist weit über sechzig und trägt einen üppigen weißen Schnauzbart. Sein Gesicht ist vollkommen reglos, seine Miene undurchdringlich. Pino ist bereits bei ihm, er fängt Ettores Blick auf und hebt zum Gruß leicht das Kinn. Giuseppe Bianco, genannt Giuseppino oder kurz Pino. Pino und Ettore leben schon von klein auf Seite an Seite. Sie sind gleich alt, haben dieselben Dinge gesehen, dieselben Hoffnungen und Nöte empfunden. Beide haben dieselbe lückenhafte Schulbildung und dieselben Erinnerungen an wilde Feiern an Allerheiligen, eher heidnisch als heilig. Sie waren zusammen im Krieg. Pino hat das Gesicht eines klassischen Helden mit riesengroßen, sanften Augen in einem ungewöhnlichen, warmen Braunton. Seine Lippen sind geschwungen, die Oberlippe überragt ganz leicht die Unterlippe, und mit seinem lockigen Haar und dem offenen Gesichtsausdruck wirkt er auf der Piazza völlig fehl am Platze. Auch sein Herz ist offen – er ist zu gut für diese Welt. Es gibt nur eines, was die beiden Männer nicht miteinander geteilt haben, und das hat dieses Jahr einen Keil zwischen sie getrieben: Pino hat seine Liebste geheiratet und Ettore seine verloren. Davor hatten alle Mädchen um Pinos Aufmerksamkeit gerungen. Sie erkannten Zärtlichkeit, wenn sie sie sahen, und träumten davon, den Rest ihres Lebens neben diesem Gesicht aufzuwachen. Manche geben sich immer noch alle Mühe, ihm den Kopf zu verdrehen, obwohl er jetzt verheiratet ist, aber Pino ist seiner Frau Luna treu. Der kleinen Luna mit ihren wippenden Brüsten und dem langen Haar, das ihr bis auf die breiten Hüften fällt. Soweit Ettore das beurteilen kann, ist Pino der einzige Mann, der im Morgengrauen auf der Piazza ein aufrichtiges Lächeln zustande bringt.
Pino lächelt ihm tatsächlich entgegen und boxt freundschaftlich gegen Ettores Oberarm. »Was gibt’s Neues?«, fragt er.
»Nichts. Gar nichts.« Ettore zuckt mit den Schultern.
»Luna hat etwas für das Baby gemacht. Für Iacopo«, sagt Pino voller Stolz. »Sie hat mal wieder genäht – ein Hemdchen. Sie hat es sogar mit seinen Initialen bestickt.« Luna arbeitet hin und wieder für eine Schneiderin und hebt sorgsam alle Reste von Stoffen und Garnen auf. Es reicht nie für Kleidung für Erwachsene, aber Iacopo hat inzwischen ein Leibchen, einen Hut und ein winziges Paar Schühchen.
»Sie sollte so etwas lieber für euer eigenes Baby aufheben«, sagt Ettore, und Pino grinst. Er wünscht sich sehnlichst Kinder – eine ganze Schar. Wie er sie alle ernähren will, ist eine Frage, von der er sich nicht verunsichern lässt. Offenbar glaubt er, Kinder könnten von Luft und Liebe leben wie Geister oder Engel.
»Bis wir ein Kind bekommen, ist Iacopo aus den Sachen herausgewachsen. Dann leiht Paola sie uns doch bestimmt.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
»Meinst du, sie will sie behalten, als Erinnerung daran, wie klein er einmal war?«, fragt Pino. Ettore gibt nur ein wortloses Brummen von sich. Er hatte eigentlich damit gemeint, dass er nicht sicher war, ob Iacopo so bald aus den kleinen Sachen herauswachsen würde. Sein Neffe ist sehr dünn und viel zu still. So viele Babys sterben. Ettore macht sich Sorgen um ihn, mustert ihn oft mit gerunzelter Stirn. Wenn Paola ihn dabei ertappt, schubst sie ihn weg und schimpft. Sie glaubt, seine Besorgnis werde noch irgendein grimmiges Schicksal auf ihren Sohn herabrufen.
Der Mann von der Masseria Vallarta zieht ein paar Blatt Papier aus der Tasche und faltet sie auseinander. Die wartenden Männer richten ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihn und beobachten ihn ruhig und abwartend. Ein seltsames Ritual beginnt – das Gut hat eine Ernte einzufahren, und all die Männer hier wissen das. Trotzdem trauen sie dem Mann nicht. Sie werden erst glauben, dass sie wirklich Arbeit haben, wenn sie auf dem Feld stehen. Sie vertrauen nicht darauf, dass man sie bezahlen wird, ehe der Verwalter ihnen am folgenden Samstag die baren Münzen in die Hand drückt. Der Aufseher fängt Ettores Blick auf und erwidert ihn hart und ausdruckslos. Ettore starrt zurück. Er ist Gewerkschafter, und der Aufseher weiß das. Er kennt Ettores Namen und sein Gesicht. Manche haben die Streiks und Demonstrationen angeführt, während andere ihnen nur gefolgt sind, und Ettore gehört zu Ersteren. Vielmehr gehörte er dazu – seit er Livia vor einem halben Jahr verloren hat, hat er nichts mehr in dieser Richtung getan, nichts gesagt. Er hat gearbeitet, ohne nachzudenken, in einem konstanten Rhythmus, und seinen Hunger und die Erschöpfung ignoriert. Während all dieser Wochen hat er kein einziges Mal an die Revolution, an seine Brüder, die hungernden Arbeiter oder die ständigen Ungerechtigkeiten gedacht. Doch die Aufseher scheinen seinen Sinneswandel nicht bemerkt zu haben – den völligen Verlust von Sinn in seinem Leben.
Sein Ruf trägt also einen großen dunklen Fleck, der durch nichts zu entfernen ist. Aber er schuftet ohne Pause und bearbeitet den Boden mit der schwersten Hacke. Damit stellt er die Aufseher vor ein Rätsel: ein Unruhestifter, der schuftet wie ein Pferd. Der ehemalige Offizier mit dem breiten Schnauzbart heuert ihn mit einem kaum merklichen Nicken an und notiert seinen Namen. Dann zeigt er mit dem knorrigen Zeigefinger auf die anderen, die er ausgewählt hat. Pino ist auch darunter, und die beiden Freunde machen sich mit den anderen auf den langen Weg zum Gut. Valerio wird nicht ausgewählt. Er hat die Hacke so viele Jahre lang geschwungen, dass sie seinen Rücken verformt hat. Er ist krumm wie ein vom Wind gebeugter Baum und bemüht sich sehr, nicht zu husten, seit sie die Piazza erreicht haben. Doch man sieht ihm an, wie angestrengt er gegen seine Hustenanfälle kämpft – sein Körper verkrampft sich und wird immer wieder von einem Beben geschüttelt. Gestern hat er etwa halb so viel Weizen geschnitten wie einige der anderen Männer, und der unerbittliche Aufseher hat ein hervorragendes Gedächtnis für so etwas. Ettore drückt seinem Vater zum Abschied die Schulter.
»Geh du zu dem Schäfer dort drüben. Geh, ehe andere sich seinen Lohn holen«, sagt er. Valerio nickt.
»Immer fleißig, mein Junge«, sagt Valerio und gibt dem Hustenreiz nach. Ettore spart sich eine Erwiderung. Nur wer fleißig ist, bekommt auch morgen harte Arbeit, und andere Arbeit gibt es nicht.
Als sie das Gut erreichen, geht in zarten Farben die Sonne auf. Pino wendet ihr einen Moment lang das Gesicht zu, schließt die Augen und atmet tief ein, als würde die Sonne ihm die Kraft für den Tag geben wie einer Pflanze. Wenn der Himmel so leuchtet, denkt Ettore an Livia, wie sie ihre schwarzen Augen mit einer Hand beschattete. Wenn es regnet, denkt er daran, wie Livia mit zusammengekniffenen Augen zu den Wolken emporschaute und über die Tropfen lächelte, die auf ihre Haut fielen. Wenn es dunkel wird, denkt er dar-an, wie oft sie sich unter den überwölbten ältesten Gassen von Gioia trafen, wo sie einander nur durch Erspüren und am Geruch erkannten. Wie sie dann seine tastende Hand nahm und seine Fingerspitzen küsste, sodass pochendes Begehren in seine Lenden schoss. Er weiß, dass sich diese Gedanken an sie auf seinem Gesicht widerspiegeln, und er erkennt an Pinos Miene, dass sie ihm nicht verborgen bleiben. Ettore sieht seinem ältesten Freund an, dass er in solchen Momenten hilflos ist und nicht weiß, was er sagen soll.
Sie bekommen einen Becher Wasser und ein Stück Brot, ehe sie mit der Arbeit beginnen. Das Brot ist ausnahmsweise einmal frisch, und die Männer machen sich darüber her wie gierige Hunde. In dem Wasser schmeckt man den körnigen Stein der Zisterne. Gleich danach beginnen sie mit der Arbeit. Sie zwängen die Finger in die hölzernen Griffe, die ihre Hände schützen sollen – doch in Wahrheit schätzen die Landbesitzer sie deshalb, weil die Arbeiter damit eine größere Reichweite haben und so mit jedem Sensenzug eine größere Garbe Weizen schneiden können. Sie arbeiten immer zu zweit: Einer führt die Sense – der größere, stärkere Mann mit der größten Reichweite –, während der zweite hinter ihm die gemähten Halme zu Garben zusammenbindet.
Stundenlang ist nichts zu hören außer dem Schwingen der Sensen und dem Rascheln der Halme, wenn sie gebündelt werden. Hoch über ihren Köpfen kreisen Schwarzmilane in der aufsteigenden Hitze, als erregten der Geruch und die Bewegungen der Arbeiter ihre Neugier. Aus der Ferne sieht es nach einer guten Ernte aus: Ein goldenes Weizenfeld am anderen wogt im heißen Wind, der altina aus dem Süden. Doch aus der Nähe sehen die Männer, dass die Halme spärlicher sind, als sie sein sollten, mit zu wenigen, zu weit auseinanderstehenden Körnern an den Ähren. Der Ertrag wird geringer ausfallen als erhofft und damit auch ihr Lohn. Gegen Mittag wird die Sonne unerträglich. Sie lähmt die Männer, drückt sie nieder wie eine schwere Last. Die Pferde der Aufseher lassen ermattet die Köpfe hängen und schließen die Augen, zu erschöpft, um auch nur die Fliegen abzuschütteln. Der Oberaufseher befiehlt eine Pause, und die Männer ruhen sich aus und bekommen etwas Wasser – gerade genug, um die ausgedörrten Kehlen zu befeuchten. Sobald ihre Schatten zwei Handspannen lang gewachsen sind, sieht der ehemalige Offizier auf seine Taschenuhr, scheucht die Männer hoch, und die Arbeit geht weiter.
Pino und Ettore begegnen sich für kurze Zeit in Hörweite, wenn sie in ihren Reihen die gleiche Höhe erreichen.
»Luna will heute versuchen, Bohnen zu kaufen«, bemerkt Pino beiläufig.
»Dann wünsche ich ihr viel Glück. Hoffentlich haut der Krämer sie nicht übers Ohr.«
»Sie ist klug, meine Luna. Ich glaube schon, dass sie welche bekommen wird, und dann gibt es heute ein gutes Abendessen.« Das tut Pino sehr oft – von Essen reden. Von Essen fantasieren. Anscheinend hilft es bei ihm gegen den Hunger, doch bei Ettore bewirkt es das Gegenteil. Sein Magen windet sich und grummelt beim Gedanken an dicke Bohnen, gekocht mit Lorbeerblättern, vielleicht ein bisschen Knoblauch und Pfeffer, gestampft und mit einem kräftigen Olivenöl vermengt. Er schluckt.
»Sprich nicht von Essen, Pino«, bittet er.
»Tut mir leid, Ettore. Ich kann nicht anders. Das ist alles, wovon ich träume: Essen, und Luna.«
»Dann träum gefälligst still, verdammt«, schimpft der Mann, der hinter Ettore arbeitet.
»Ich habe nichts dagegen, wenn er von seiner Frau redet, solange er ja keine Einzelheiten auslässt.« Dieser Kommentar kommt von einem Burschen, der nicht älter sein kann als vierzehn und Pino schief angrinst.
»Wenn ich dich dabei erwische, dass du von meiner Frau träumst, schneide ich dir den Schwanz ab«, entgegnet Pino, dreht die Sense in Richtung des Jungen und hebt die bösartig scharfe Spitze an. Doch er meint es nicht ernst, und der Junge grinst noch breiter und zeigt ihnen dabei seine abgebrochenen Schneidezähne.
Der Wind frischt auf. Er riecht nach einer fernen Wüste und braust über die grauen Steinmauern um das Feld und durch die ledrigen Blätter des einsamen Feigenbaums in einer Ecke. Der Boden ist staubtrocken, der Weizen ausgedörrt, der Himmel erbarmungslos klar. Die Männer befeuchten sich mit der Zunge die Lippen, können aber nicht verhindern, dass sie rissig werden und aufspringen. Fliegen schwirren ihnen dreist um Kopf und Hals und stechen zu, als wüssten sie, dass die Männer sich nicht die Mühe machen werden, nach ihnen zu schlagen. Ettore arbeitet und versucht, an nichts zu denken. Als er auf ein Büschel wilder Rauke stößt, kärglich und bitter, pflückt er alle Blätter, die er finden kann, und stopft sie sich hastig in den Mund, wenn gerade niemand hinschaut. Der scharfe Geschmack der Rucolablätter würgt ihn in der Kehle. Die Wachen sind jetzt, gegen Ende des Tages, besonders aufmerksam. Mit scharfen Augen halten sie Ausschau nach Männern, die zu langsam werden, nach verstohlenen Pausen, nach Sensen, die als Stütze dienen, statt geschwungen zu werden. Der Mann, der den von Ettore geschnittenen Weizen aufsammelt, ist weit zurückgefallen. Er richtet sich immer wieder auf, presst die Finger in den Rücken und verzieht das Gesicht. Der Aufseher hat eine lange Lederpeitsche, die er zusammengerollt an der Hüfte trägt. Seine Hand verirrt sich immer wieder dorthin, als würde er sie zu gern gebrauchen. Ettores Magen verkrampft sich nach den heruntergeschlungenen Rucolablättern noch heftiger, und sein Kopf fühlt sich eigenartig leicht an, wie so oft gegen Ende des Tages. Sein Körper arbeitet trotzdem weiter – die Schultern schwingen die schwere Sense, die Muskeln im Rücken spannen sich, um den Schwung wieder zu bremsen, in der Taille verdreht, den Griff fest gepackt. Er spürt jede Sehne über Knochen reiben, doch seine Gedanken entgleiten ihm, treiben fort von Hitze, Plackerei und dem erstickend heißen Wind.
Er hat gehört, dass es bei einem Ort namens Castellana, fünfundzwanzig Kilometer von Gioia entfernt in Richtung Küste, ein Loch im Boden gibt. Dieses Loch ist weit und tief, und nichts, was dort hineinfällt, kommt je wieder heraus, bis auf Fledermäuse – Tausende flatternder Fledermäuse, die aufsteigen wie eine Rauchsäule. Manchmal rülpst es auch kleine Schwaden kalten weißen Nebels aus, angeblich die Geister von Menschen, die zu nah an den Rand getreten und hineingefallen sind. Die Einheimischen behaupten, es sei das Maul der Hölle, ein Schlund, der bis ins tiefste Herz der Erde reicht, wo die Finsternis so schwer ist, dass sie einen zerquetscht. Ettore denkt an dieses Loch, während sein Körper weitermäht, sein Rücken brennt, als steckte ein Messer darin, und seine Eingeweide sich um die Raukeblätter verkrampfen. Er stellt sich vor, wie es wäre, in das Loch zu springen und erst durch weißen Nebel und dann in kühle, feuchte Dunkelheit zu fallen. Wie es wäre, sich in der uralten, pechschwarzen Tiefe zusammenzurollen, im steinernen Herzen der Welt, wo Menschen nichts zu suchen haben, und dort zu warten. Auf nichts Bestimmtes – einfach nur zu warten, wo es kalt und ruhig und still ist.
Plötzlich wird ihm bewusst, dass jemand seinen Namen genannt hat. Ettore blinzelt und sieht Pino mit besorgt aufgerissenen Augen ein paar Meter weiter stehen. Ettore merkt, dass seine Sense stillsteht, dass er sich aufgerichtet und sie auf seinem Stiefel hat ruhen lassen. Er kann seine Hände nicht dazu bringen, sich wieder fest um den Stiel zu schließen. Hinter Pino sieht er zwei Wachen, die ein paar Worte wechseln und sich zunicken. Er sieht, wie sie ihre trägen Pferde kräftig vorwärtstreiben, in seine Richtung. Es fällt ihm so schwer, seine Gedanken aus diesem Loch im Erdboden zurückzuholen, aus der plötzlichen Sehnsucht danach. Mit aller Willenskraft packt er die Sense, hebt sie an, dreht den Oberkörper nach rechts und neigt die Klinge so, dass sie die richtige Anzahl Halme erfassen wird. Doch er steht zu weit davon weg, und das Gewicht der frei schwingenden Sense bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Sein verdrehter Oberkörper löst sich wie eine gespannte Feder, ganz selbstverständlich. Er hat diese Bewegung schon Tausende Male an tausend Tagen gemacht, und Ettore kann sie ebenso wenig aufhalten wie seinen Herzschlag. Aber wenn er sich nicht ausbalanciert, wird er stürzen, und das wäre zwar besser als die Alternative, doch auch hier bleibt ihm keine Wahl. Sein Körper bewegt sich von allein, ohne Ettores Zutun, aus eigenem Antrieb, denn darauf hat Ettore ihn trainiert. Ettore taumelt und kippt nach vorn. Sein linkes Bein landet vor der schwingenden Sense, und obwohl er klar und deutlich sieht, was geschehen wird, kann er es nicht verhindern. Das Metall gleitet leicht und sauber in sein Bein. Er spürt, wie die Klinge auf den Knochen trifft und darin stecken bleibt. Pino schreit auf, der Mann hinter ihm ebenfalls. Blut spritzt auf die Weizenhalme, zu glänzend und zu rot, um echt zu sein, und Ettore fällt.