England in den 1930er Jahren: Die hübsche, mittellose Mary Preston ist nach Barsetshire gereist, um als Gast ihrer Tante Agnes auf dem Landsitz der Familie Leslie den Sommer zu verbringen. Dass die hübsche Frau im heiratsfähigen Alter ihr Herz ausgerechnet an den Bonvivant David Leslie verliert, stört den Familienfrieden empfindlich. Schließlich haben Agnes und ihre Mutter, die liebenswert exzentrische Lady Emily, eine bessere Partie für Mary im Auge. Dumm nur, dass Mary sich so wenig kooperativ und kaum Interesse an ihrem Verehrer mit den tadellosen Manieren zeigt. Und während der Sommer ungewohnt beständig bleibt, wird das Haus der Leslies bald zum Schauplatz von Gefühlsaufruhr, Liebe und Leidenschaft …
Angela Thirkell
Der Duft von
wilden Erdbeeren
Roman
Aus dem Englischen
von Thomas Stegers
MANHATTAN
Die Originalausgabe erschien 1933 unter dem Titel
»Wild Strawberries« bei Hamish Hamilton Ltd., wiederveröffentlicht
2012 bei Virago Press, London.
Manhattan Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe by
The Estate of Angela Thirkell 1933
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Nutzung des Labels Manhattan
erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Hans-im-Glück-Verlags, München.
Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign / München
mit einer Illustration von © Mick Wiggins
unter Verwendung der Originalgestaltung
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15071-6
www.manhattan-verlag.de
1
Morgenmesse
Der Pfarrer von St Mary’s in Rushwater sah besorgt aus dem Sakristeifenster, das einen Blick auf das Törchen in der Friedhofsmauer gestattete. Seit er die Gemeinde übernommen hatte, erschien die Familie Leslie jeden Sonntag durch dieses Törchen zur Messe, mehr oder weniger unpünktlich, und die Vermutung, dass sie in der Zeit vor seinem Dienstantritt nicht pünktlicher gewesen war, hatte durchaus ihre Berechtigung. Offenbar war das ein Ausdruck von Respekt gegenüber Lady Emily Leslie, dachte der Pfarrer, dass jeder, der mit ihr unter einem Dach lebte, sich ihre Unpünktlichkeit zu eigen machte. Das galt selbst für die Wochenendgäste. In seiner Anfangszeit als Pfarrer von St Mary hatten die vier Leslie-Sprösslinge noch den Kindergarten besucht. Jeden Sonntag Unruhe und Ärger, wenn die gesamte Familie in das allgemeine Sündenbekenntnis hereinplatzte und Lady Emily Gesangbücher und Schals auf die Plätze warf und im lauten fürsorglichen Flüsterton überlegte, wo jeder zu sitzen hatte. Während des Krieges war der älteste Sohn in Frankreich gewesen, der zweite, John, auf See, und Rushwater House war in ein Sanatorium umgewandelt worden, doch Lady Emilys Lebensfreude war ungebrochen geblieben, und ihr Besuch der Morgenmesse setzte dem entnervten Pfarrer mehr zu denn je. Sie führte die genesenden Patienten zu ihrer angestammten Kirchenbank, leistete unnötige Hilfe beim Verstauen der Krücken, rückte Kniepolster zurecht, legte dankbaren, beschämt blickenden Männern zum Schutz vor eingebildetem Windzug Tücher um den Hals, redete in einem durchdringenden Wispern, das den Pfarrer von der Liturgie ablenkte, kurz: benahm sich, als wäre sie zu Besuch bei Freunden. Irgendwann schien der Moment gekommen, da sich der Pfarrer den anderen Gottesdienstbesuchern gegenüber verpflichtet meinte, Lady Emily um pünktlicheres Erscheinen und diskreteres Auftreten zu bitten. Gerade hatte er genug Mut gesammelt, um aufzubegehren, da kam die Nachricht, der älteste Sohn sei gefallen. Als der Pfarrer am darauf folgenden Sonntag Lady Emilys hübsches Gesicht erblickte, bleich und zugerichtet, tat er während des Gebets den Schwur, sich nie wieder zu einer Kritik ihrer Person hinreißen zu lassen. Und obgleich sie ausgerechnet an diesem Sonntag zum Wohl der verwundeten Soldaten besonders eifrig mit Kissen und Polstern hantierte, so dass sich die Männer ins Krankenhaus zurücksehnten, und obgleich sie mit Holden, dem Küster, ein stummes, dennoch die Aufmerksamkeit der gesamten Kirchengemeinde in Anspruch nehmendes Verständigungssystem über das Öffnen und Schließen der Fenster entwickelte, wich der Pfarrer weder an diesem Tag noch jemals danach von seinem Schwur ab.
Zur Vermählung ihrer Tochter Agnes mit Colonel Graham war sie ausnahmsweise mal pünktlich erschienen, dafür gerieten ihre Versuche, während der Trauzeremonie die Aufstellung der Brautjungfern zu ändern, sowie ihr beharrliches Vorbeidrängen an den Sitznachbarn in ihrer Kirchenbank, um die Mutter des Bräutigams unverlangt mit einem Gesangbuch zu versorgen, zu einem spektakulären Auftritt. Und bei dem Gedanken an den Empfang, den Lady Emily im Anschluss an die Konfirmation des jüngsten Sohnes, David, im Altarraum meinte geben zu müssen, was wiederum den Bischof offenbar nicht im Geringsten störte, wachte der Pfarrer noch heute ab und an mitten in der Nacht schweißgebadet auf.
Rushwater betete sie an. Der Pfarrer wusste genau, dass Holden den letzten Glockenschlag jedes Mal extra ein wenig hinauszögerte, um Lady Emily genug Zeit zu geben, hatte jedoch auch hier nie den Mut gefunden, ihm deswegen einen Vorwurf zu machen. In diesem Moment machte das Törchen klick, und die Familie betrat den Gottesacker. Erleichtert wandte sich der Pfarrer vom Fenster ab und begab sich in die Kirche.
Eine große Gesellschaft war von Rushwater House herübergekommen. Lady Emily, seit einiger Zeit leicht von Arthritis geplagt, stützte sich auf einen schwarzen Krückstock und hielt den Arm ihres zweiten Sohnes, John; ihr Ehemann ging neben ihr. Ihnen folgte Agnes Graham mit zwei Kindermädchen und drei Kindern, dann David und Martin, der älteste Enkel der Leslies, ein sechzehnjähriger Schüler. Es war sein Vater, der im Krieg gefallen war.
Im Kirchenportal machte Lady Emily mit ihrer Entourage Halt.
»Einen Moment, Nannie«, sagte sie zu einem der Kindermädchen. »Wir wollen erst überlegen, wo sich jeder hinsetzen soll. Also. Wer geht zur Kommunion?«
Beide Kindermädchen schauten blasiert zur Seite.
»Sie nicht, Nannie, und Ivy doch wohl auch nicht, nehme ich an«, sagte Lady Emily.
»Ivy kann von mir aus jeden Morgen in der Frühmesse zur Kommunion gehen, wenn sie will«, sagte Nannie gönnerhaft. »Ich gehöre der Freikirche an.«
Lady Emily blickte verstört.
»Agnes«, rief sie, eine behandschuhte Hand auf den Arm ihrer Tochter legend, »was habe ich nur getan? Ich wusste ja gar nicht, dass Nannie zur Freikirche gehört. Könnten wir nicht einen der Männer bitten, sie zurück ins Dorf zu bringen, falls es nicht zu spät ist? Leider ist heute Westons freier Tag, aber es kann doch sicher einer der anderen Männer den Ford fahren. Oder würde es ihr nichts ausmachen, mit uns in die Kirche zu gehen?«
Agnes Graham richtete ihre schönen sanften Augen auf ihre Mutter.
»Ist schon gut, Mamma«, sagte sie mit ihrer leisen, angenehmen Stimme. »Nannie geht gerne mit den Kindern in die Kirche, nicht wahr, Nannie? Für sie hat es nichts mit Religion zu tun.«
»Ich bin mit dem Leitsatz aufgewachsen: Dein Wille geschehe, my Lady«, erwiderte Nannie und brachte damit plötzlich einen gereizten Ton in die Unterhaltung. »Ich kenne meine Pflichten. Lass das, Baby! Du sollst Granny nicht die Handschuhe ausziehen, sonst geht sie nicht mit dir zur feierlichen Messe.«
»Emily, ich bitte dich«, mischte sich, einen Schritt vortretend, Mr Leslie ein, groß, jugendlich frisch, grobschlächtig, gewohnt, seinen Willen zu bekommen, nur nicht, wenn es seine Frau betraf. »Was vertrödelst du hier Zeit mit Gerede. Der arme Banister wird schon ganz zappelig auf seiner Kanzel, und Holden hat aufgehört, sein Totenglöckchen zu läuten. Nun komm schon.«
Niemand wusste, ob Mr Leslie in kirchlichen Dingen tatsächlich so unwissend war, wie er vorgab, doch von frühester Jugend an vertrat er die Haltung, dass das Wort Gottes so gut wie jedes andere war.
»Also wirklich, Henry, ob Kommunion oder nicht, ist äußerst wichtig«, sagte Lady Emily ernst. »Diejenigen, die aus der Bank treten wollen, sollten sich einen Platz am Rand suchen, und diejenigen, die sitzen bleiben, lieber einen in der Mitte, damit es keine Umstände macht. Allerdings muss ich ebenfalls außen sitzen, nur da kann ich mein Bein ausstrecken, in der Mitte würde ich ein steifes Knie bekommen. Wenn ich mit Nannie und Ivy und den Kindern in die zweite Bank gehe, können alle bequem an mir vorbei, habe ich recht, Nannie?«
»Ja, my Lady.«
»Wir machen es so: Du gehst in die erste Bank, Henry, mit Agnes und David und Martin, und wir setzen uns hinter euch. Aber denkt daran, Agnes weit nach hinten an die Wand zu setzen, weil sie zur Kommunion bleibt, und wenn sie außen sitzen würde, müsstest du und die beiden Jungen an ihr vorbei.«
»Aber Martin und ich bleiben nicht bis zur Kommunion«, sagte David.
»Nein, meine Lieben? Wie ihr wollt. Schade eigentlich, weil der Pfarrer gerne ein volles Haus hat. Aber was ich sagen wollte: Wenn Agnes außen sitzen würde, müssten du und dein Vater und Martin alle über sie hinwegsteigen beziehungsweise dein Vater über sie und euch beide, wie es jetzt scheint.«
Mittlerweile hatte Nannie, eine charakterstarke junge Frau, die ihren Arbeitgebern aufgrund der Kinder, die sie ihr anvertrauten, freundlich und mit Nachsicht begegnete, mit ihren Zöglingen die zweite Bank betreten und sich und Ivy so platziert, dass keine zwei Kinder nebeneinander zu sitzen kamen. Die übrige Gesellschaft folgte ihnen zwischen den Reihen der bereits knienden Gemeindemitglieder hindurch. In dem Moment, als sie an der Bank mit den Kindern vorbeikamen, rief Lady Emily plötzlich laut: »John! Ich habe John ganz vergessen! John, wenn du nicht zur Kommunion willst, dann geh lieber vor zu David und Martin und den anderen, überlass nur deinem Vater den Eckplatz.«
John geleitete seine Mutter zu ihrem Platz in der Bank der Familie Leslie und schlüpfte danach in die Bank dahinter. Lady Emily ließ ihre Krücke mit lautem Getöse in den Gang fallen, John stand auf und reichte sie seiner Mutter, die es mit einem aufblitzenden Lächeln und der zur Seite geäußerten, aber deutlich vernehmbaren Bemerkung quittierte: »Ich kann mich nicht hinknien, wegen meinem steifen Knie. Aber mein Geist fällt auf die Knie.«
Doch bevor ihr Geist in Andacht versinken konnte, beugte sie sich vor und tippte ihrem Mann auf die Schulter.
»Liest du heute aus dem Evangelium, Henry?«, erkundigte sie sich.
»Wie bitte?«, fragte Henry mitten während des Venite.
Lady Emily stieß Agnes mit ihrem Stock an.
»Darling«, flüsterte sie laut genug, dass es jeder hören konnte. »Liest dein Vater heute aus dem Evangelium?«
»Natürlich«, sagte Mr Leslie. »Ich lese immer die Lesung.«
»Dann sag mir, welche Stelle«, bat Lady Emily ihn. »Ich will sie den Kindern in der Bibel zeigen.«
»Ich kenne sie nicht«, sagte Mr Leslie verärgert. »Darum kümmere ich mich nicht.«
»Henry. Du musst doch wissen, was du liest?«
Mr Leslie drehte sich empört zu seiner Frau um.
»Ich kenne sie nicht«, widerholte er, ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, leise, aber doch angemessen wütend und vernehmbar zu sprechen. »Holden markiert die Stellen für mich. Guck in dein Gesangbuch, Emily. Es geht alles aus der goldenen Zahl hervor oder dem Sonntagsbuchstaben oder wie das heißt.«
Nachdem er diese falsche Information gegeben hatte, drehte er sich wieder um und fuhr mit dem Gesang fort. Als er vom Pult aus die erste Lesung ankündigte, wiederholte seine Frau laut Buch, Kapitel und Vers und fügte hinzu: »Alle verstanden?« Danach durchforstete sie angestrengt die Bibel, was ihr Enkel James, gerade einmal sieben Jahre alt, ungeduldig beobachtete.
»Schlag sie doch einfach irgendwo auf, Granny«, flüsterte er.
Seine Großmutter jedoch hielt es für nötig, nicht nur die Stelle zu suchen, sondern auch alle Familienmitglieder in beiden Bänken auf sie hinzuweisen, nachdem sie sie gefunden hatte. Als der Zeitpunkt für die zweite Lesung gekommen war, hatte sie ihre Brille verlegt, so dass jetzt James es auf sich nahm, die Stelle für sie zu suchen. Dabei beugte er sich zur Seite und fragte Nannie: »Gibt es in der Freikirche auch Lesungen?«
Nannie, die ihren Platz durchaus kannte, tat so, als hätte sie nichts gehört.
Der Pfarrer setzte zu einer braven, aber uninspirierten Predigt an, und James kuschelte sich an seine Großmutter. Sie legte einen Arm um ihn, und so behaglich sie beieinander saßen, war doch jeder mit den Gedanken woanders. Emily Leslie gedachte unweigerlich der geliebten Verstorbenen: ihres ältesten, in französischer Erde ruhenden Sohnes und Johns Frau Gay, die nach einem glücklichen Jahr mit ihrem Mann kinderlos verstorben war. John hatte sich, nach dem Krieg aus der Navy ausgeschieden, selbständig gemacht, doch fragte sich seine Mutter nicht selten, ob jemals wieder irgendwer oder irgendwas vermochte, sein Herz zu berühren. Erwischte sie ihn in unbeobachteten Momenten, war sie jedes Mal erschüttert über seine harten Gesichtszüge. Er selbst dagegen schien einigermaßen zufrieden, hatte Erfolg, überlegte, in die Politik zu gehen, half seinem Vater bei der Verwaltung der Güter, war Martin und Agnes’ Kindern ein gütiger Onkel, ging in London auf Bälle, ins Theater, in Konzerte und hier in Rushwater auf die Jagd oder ritt aus. Manchmal jedoch, wenn sie leise und unbemerkt an ihn herantrat, meinte sie eine Maske zu sehen.
Dann gab es noch Martin, der seinem toten Vater wie aus dem Gesicht geschnitten schien und der so glücklich und zufrieden war, wie man es von einem Sechzehnjährigen, der sich für erwachsen hält, nur erwarten konnte. Seine Mutter hatte zum zweiten Mal geheiratet, und obwohl Martin sich mit seinem amerikanischen Stiefvater ausgezeichnet verstand, hatte er, zur heimlichen Freude seiner Großeltern, Rushwater zu seinem Zuhause erklärt. Worte wie Erbe und Erbschaftssteuer schreckten ihn nicht ab. Er wusste, dass Rushwater eines Tages ihm gehören würde, und dennoch besaß er das selige Vertrauen der Jüngeren, dass die Älteren ewig leben. Momentan hatte er nur eins im Kopf, das Motorrad, das er sich zu seinem siebzehnten Geburtstag kaufen wollte, und er hoffte, seine Mutter würde den Plan, ihn über die Sommerferien nach Frankreich zu schicken, aufgeben. Es wäre einfach unverzeihlich, jetzt in dieses grässliche Ausland reisen zu müssen, wo man doch in Rushwater bleiben und zusammen mit der Dorfmannschaft gegen die Nachbarelf antreten konnte. Außerdem wollte er in England sein, falls David den Job bei der BBC an Land zog.
David war eigentlich Onkel David, verwandtschaftlich gesehen, und obwohl Martin seinem Onkel John gegenüber diese Anrede wählte, sah er sich mit David eher auf einer Stufe. David war nur zehn Jahre älter als er und nicht der Typ, den man als Onkel bezeichnete. David war vielmehr wie ein älterer Bruder, nur dass er einen nicht bevormundete, so wie einige seiner gleichaltrigen Freunde von ihren älteren Brüdern drangsaliert wurden. David war überhaupt ein perfekter Mensch, und wenn Martin älter war, könnte er, mit etwas Glück, genauso wie David werden. Er würde so traumhaft gut tanzen können wie David, die neusten Jazz-Hits singen und spielen, er würde die Theatergruppe seiner Universität leiten, würde ein Stück schreiben, das nur ein einziges Mal an einem Sonntag aufgeführt würde, einen Roman verfassen, den nur intelligente Menschen verstünden, und vielleicht wäre er– doch vor diesem Thema scheute sich Martin – umschwärmt von jungen Mädchen. Aber wohl nicht lange.
Unnötig zu betonen, dass die Eigenschaften, die Martin in seinem Helden so verehrte, nicht unbedingt die gleichen waren, die sich Davids Eltern am meisten für ihren Sohn wünschten. Hätte David seinen Lebensunterhalt verdienen müssen, es wäre eng geworden. Doch dank der leichtfertig gewährten Begünstigung durch eine Tante war er seit Jahren unabhängig. Er wohnte in der Stadt, hatte Ambitionen für das Theater und für Film und Funk. Sein Aussehen, seine lockere Art und seine finanzielle Unabhängigkeit brachten ihm hin und wieder einen Job ein, jedoch nie für Dauer. Und wie Martin schon vermutet hatte, verliebten sich die Mädchen scharenweise in ihn. Wünschten sich die Leslies für David auch eine feste Anstellung, so vergaßen sie doch nie zu erwähnen, dass das Haus nicht dasselbe sein würde, wenn er nicht mehr so häufig da wäre.
Mr Leslie dachte zum einen daran, wie geschickt er einen komplizierten Namen in der Lesung umschifft hatte, hüstelnd und geräuschvoll die Seite umschlagend, als er an die Stelle kam, zum anderen an einen jungen Bullen, den er nach dem Lunch zu besichtigen sich vorgenommen hatte, und zum dritten, gelegentlich nur, warum Emily nicht so wie andere Menschen sein konnte.
Was John betraf, so sah er seine Mutter in der Bank vor sich sitzen, den Arm um ihren Enkel James gelegt, und wünschte sich, mit Schmerzen, die sein Herz beständig umgaben, dass es auch in seinem Leben jemanden gäbe, den er an sich drücken konnte, und wäre es nur für einen Augenblick und auf diskreteste Art, ohne jeden Gedanken an Untreue gegenüber Gay, bloß um nicht die Leere an seiner Seite spüren zu müssen, Tag und Nacht.
In der Kirche war das wohl nicht möglich, dachte er und hätte beinahe, ganz Sohn seiner Mutter, laut gelacht, tat dann aber so, als müsste er husten. Zum Glück ging gerade die Predigt zu Ende, und in dem folgenden Gescharre erregte das keinen Verdacht.
In dem Moment wandte sich seine Mutter, James den Arm entziehend, mit der Bemerkung an ihn: »Ein guter Zeitpunkt, sich davonzustehlen.«
John beugte sich vor.
»Das geht nicht, Mutter«, flüsterte er. »Wir müssen bis zur Kollekte bleiben.«
Seine Mutter nickte übertrieben heftig und bat James, nach ihrer Tasche zu suchen. Nach längerem Wühlen fand sie sich unter dem Kniepolster, gerade noch rechtzeitig für den Klingelbeutel. Mr Leslie stopfte einen Geldschein hinein, übergab Agnes den Beutel, die ihn nach hinten an Nannie weiterreichte. Die beiden Kinder warfen ihre Sixpence hinein, doch James zeigte nur lachend seine leeren Hände.
John gab ihm einen Sixpence. »Da hast du was zum Reinwerfen«, sagte er.
»Danke, Onkel John«, sagte James und nahm die Münze, »aber Großvater spendet regelmäßig, deswegen brauchen wir nichts zu geben.«
Nur mit Gewalt hätte er James den Sixpence entreißen können. Die Kindergruppe zog an Lady Emily vorbei und verließ die Kirche, gefolgt von den Männern, nur Agnes blieb bei ihrer Mutter.
John und sein Vater gingen draußen in der Sonne vor der Kirchenmauer auf und ab und unterhielten sich über den Bullen.
»Wie soll er denn heißen?«, fragte John.
Die Namensgebung war für Mr Leslie von großer Bedeutung. Alle Bullen trugen den Vornamen Rushwater, und der zweite Name musste mit R anfangen. Ihr Besitzer, der sie selbst züchtete, suchte Namen aus, die seinen Käufern, meist argentinische Rancher, leicht über die Lippen gingen. Der Vorrat an Namen, die, Mr Leslies Meinung nach, für den spanischen Muttersprachler kein Problem darstellten, war jedoch beinahe erschöpft, und so widmete er diesem Thema viel Zeit, seine Gespräche drehten sich um nichts anderes.
»Ich hatte an Rackstraw oder Richmond gedacht«, sagte Mr Leslie skeptisch. »Aber die klingen mir nicht spanisch genug.«
»Was meint denn Macpherson dazu?«
Mr Leslie schnaubte wütend.
»Macpherson kann von mir aus seit dreißig Jahren Gutsverwalter sein«, sagte er, »aber was anderes als Rannoch fällt dem auch nicht ein. Wie soll ein Argentinier bitteschön Rushwater Rannoch aussprechen?«
John räumte ein, dass das schwierig sein könnte, fragte sich aber gleichzeitig, warum Argentinier dümmer sein sollten als andere Völker.
»Und jetzt noch das Problem mit dem Pfarrhaus«, sagte Mr Leslie. »Banister ist im August nicht da und will es untervermieten. Das passt mir überhaupt nicht in den Kram.«
»Banisters Mieter brauchen dich nicht zu kümmern, Vater.«
»Es war die Rede von Ausländern«, sagte Mr Leslie. »Leute, die er irgendwo im Ausland aufgelesen hat. Nie hat man seine Ruhe. Deine Mutter wird sie zweimal die Woche zum Essen einladen. Am besten, ich fahre im August ins Ausland.«
»Da soll es viele Ausländer geben«, sagte John.
»Ja, aber bei sich zu Hause stören sie nicht. Nur hier, bei uns, wollen wir sie nicht haben. Von wegen ›Kauf nur britische Ware‹ und so. Ohne Ausländer stünden wir viel besser da.«
»Und was ist mit den Argentiniern, die deine preisgekrönten Stiere kaufen?«
»Ich meinte richtige Ausländer. Also Deutsche und Franzosen, solche Leute«, sagte Mr Leslie, der zwischen den diversen Völkern, die kein Englisch sprachen, sehr fein unterschied.
»Sind Argentinier keine Ausländer?«, fragte John etwas frech.
»In meiner Kindheit waren mit Ausländern Franzosen, Deutsche und Italiener gemeint«, erwiderte Mr Leslie würdevoll.
Lady Emily und Agnes kamen aus der Kirche, und Mr Leslie und John gingen ihnen entgegen.
Lady Emily ließ sich auf die Bank unter dem Kirchenportal nieder und fing an, sich ein langes lavendelfarbenes Tuch um den Kopf zu binden, wobei sie ununterbrochen plapperte.
»Weißt du was, Henry? Eben in der Kirche habe ich mir gedacht: Wenn wir Agnes’ Nichte, das heißt, eigentlich die Nichte ihres Mannes, aber Agnes liebt sie abgöttisch, wenn wir also Agnes’ Nichte im Sommer zu uns holen, könnten wir zu Martins Geburtstag im August ein kleines Fest geben. Vormittags ein Cricketmatch, abends ein Ball. Agnes, meine Liebe, sei so gut und schau doch mal, wo das andere Ende des Tuchs geblieben ist, und reich es mir – nein, nicht dieses Ende, das habe ich ja, das andere, Darling. Ja, richtig. Es ist so unpraktisch, dass man für die Kommunion die Handschuhe ausziehen muss, und weil ich es beinahe immer vergesse, muss Mr Banister jedes Mal warten.«
Mittlerweile hatte sie das Tuch zu einem kunstvollen Turban gewickelt, der ihrem hübschen schmalen Gesicht mit der Adlernase, den dünnen sinnlichen Lippen und den glänzenden dunklen Augen gut stand. Auf Johns Arm gestützt, stand sie auf.
»Meinen Stock, bitte, Henry. Und wenn du mir bitte den Schal um die Schultern legen würdest. Die Handschuhe ziehe ich jetzt für den Heimweg nicht mehr an. Worüber hast du mit deinem Vater gesprochen, John?«
»Über Stiere, Mamma, und Ausländer. Vater sagte, er würde ins Ausland fahren, falls Banister das Pfarrhaus an unpassende Gäste vermietet.«
»Nein, Henry!« Lady Emily ließ vor Schreck ihre Tasche fallen. »Das ist nicht dein Ernst. Das würde Mr Banister dir übel nehmen.«
»Meine Liebe«, sagte ihr Mann, die Tasche aufhebend, »er reist doch selbst ins Ausland, und ich wüsste nicht, dass es ihn etwas angeht, wo ich hinfahre.«
»Darüber unterhalten wir uns noch«, sagte Lady Emily, schritt durch das Tor in der Friedhofsmauer und durchquerte ihren Rosengarten. »Wir besprechen es beim Lunch. Mir ist noch etwas eingefallen, während der grässlichen Pause, die immer entsteht, wenn diejenigen, die nicht zur Kommunion bleiben, aus der Bank treten. Es wäre doch sehr schön, wenn wir vor dem Cricketmatch noch das Dach des Pavillons reparieren lassen könnten. Würdest du wohl Macpherson darum bitten, Henry?«
»Das habe ich bereits getan, Emily. Im Oktober. Es ist seit einem halben Jahr repariert.«
»Ach ja, richtig«, sagte Emily, blieb stehen und band sich das Tuch neu, das über den Boden schleifte. »Ich muss an die kleine Scheune neben der Sägemühle gedacht haben, in der David früher manchmal sein Fahrrad untergestellt hat. Oder war das doch ganz woanders? Ach, herrje, wo bin ich nur mit meinen Gedanken. In der Kirche komme ich immer ganz durcheinander.«
Da scheinbar niemand ihr Interesse, herauszufinden, wo sie mit ihren Gedanken gewesen war, teilte, setzte sie den Weg fort, hinterließ eine Spur persönlicher Gegenstände auf dem Boden, die ihre Familie für sie aufheben durfte, und verschwand im Haus.
2
Die Leslies beim Lunch
Rushwater House war ein stattlicher, von Mr Leslies Großvater in vorwiegend neogotischem Stil errichteter Bau. Seine äußeren Vorzüge bestanden einzig darin, dass es nicht gar so hässlich war, wie es schien, seine inneren in einer gewissen Geräumigkeit und einem breiten, über die gesamte Länge der obere Etage verlaufenden Korridor, wo Kinder außer Sicht- und Hörweite ausquartiert werden und nach Herzenslust toben konnten. Alle Wohnräume gingen auf eine kiesbestreute Terrasse hinaus, von der aus man in den Garten hinabstieg, den ein kleiner Bach durchfloss und der an Wälder und Felder grenzte.
Gudgeon, der Butler, legte gerade letzte Hand an den Esstisch, als eine kleine Frau mittleren Alters in einem dunkelgrauen gestreiften Kostüm das Zimmer betrat.
»Guten Morgen, Mr Gudgeon«, sagte sie mit einem ausländischen Akzent. »Wir suchen die ’andtasche Ihrer Ladyschaft, mal wieder.«
»Mr Leslie trug eine Handtasche, als sie von der Kirche zurückkamen, Miss Conk«, sagte Mr Gudgeon. »Wahrscheinlich liegt sie auf dem Tisch in der Bibliothek. Walter, schauen Sie doch mal nach, ob die Handtasche Ihrer Ladyschaft in der Bibliothek ist.«
Der Diener machte sich daran, den Auftrag zu erfüllen, Mr Gudgeon setzte seine pedantischen Tischvorbereitungen fort, und Miss Conk sah aus dem Fenster. Lady Emilys Zofe war vor vielen Jahren als Amélie Conque in die Dienste ihrer Herrin getreten, doch die Anpassungsfähigkeit des Englischen, Mr Leslies feste Entschlossenheit, in Fragen der Aussprache nicht vor Ausländern zu Kreuze zu kriechen, und schließlich Mr Gudgeons tiefe Überzeugung, sein Französisch sei absolut fehlerfrei, hatten sich aufs Schönste miteinander vereint und den Namen Conk hervorgebracht. Unter diesem Namen kannten die Kinder und Enkelkinder von Lady Emily sie, Schreckgespenst für die einen, lebende Schabracke für die anderen. Ob Conk im Laufe der Jahre nachsichtiger geworden war oder einfach nur die neue Generation selbstbewusster – vielleicht beides.
Soweit bekannt, hatte Conk kein eigenes Zuhause, keine Angehörigen und über Rushwater und die Familie Leslie hinaus keine Interessen. Ihren Urlaub verbrachte sie regelmäßig in Folkestone bei der griesgrämigen alten Mrs Baker, einer ehemaligen Haushälterin der Leslies. Um Heimatluft zu schnuppern, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, im Anschluss an den alljährlichen Streit mit ihrer Wirtin einen Tagesausflug nach Boulogne zu unternehmen, von wo sie stets tränenüberströmt zurückkehrte, weil sie solches Heimweh nach England bekommen hatte.
Walter kehrte mit der Tasche zurück und versuchte, sie Miss Conk zu übergeben, die ihn geflissentlich übersah und mit Leidensmiene wartete, bis Gudgeon sie Walter abnahm und ihr reichte.
»Wir kommen etwas später zum Lunch«, sagte Conk, die zum Pluralis Majestatis oder Auctoris neigte, wenn von ihrer Herrin die Rede war.
»Das ist doch nichts Neues, oder, Mr Gudgeon?«, sagte Walter, nachdem Conk den Raum verlassen hatte.
Gudgeon scheuchte Walter mit einem Blick ins Dienstbotenzimmer und richtete alles neu aus, was der Diener zufällig berührt hatte. Danach ging er hinaus, um den Gong zu schlagen.
Den Gong zu schlagen gehörte zu den großen Freuden in seinem Leben, auch wenn er lieber gestorben wäre, als sich das einzugestehen. Viermal am Tag, unbemerkt von der nichts ahnenden Herrschaft, seinen Gleichgestellten – eigentlich nur zwei Menschen, Conk und Mrs Siddon, die gegenwärtige Haushälterin – und seinen Untergebenen, wurde die Seele, die in seiner großen und würdevollen Gestalt schlummerte, die Seele eines Künstlers, Dichters, Soldaten, Forschers und Mystikers, freigelassen und durfte sich zu himmlischen Höhen emporschwingen. Im Herbst vergangenen Jahres, als Mr Leslie, besorgt um die Nerven seiner von einer langen Krankheit genesenden Frau, angeordnet hatte, die Mahlzeiten mündlich auszurufen, hatte Gudgeon daher eine finstere Zeit erlebt. Nur die grenzenlose Ergebenheit gegenüber seiner Herrin hatte ihn diese Drangsal ertragen lassen. Es machte ihm wahrlich keine Freude, den Salon zu betreten und die erlesenen Gäste mit seiner Anwesenheit zu beschämen; keine Freude, mit einer Stimme, die ihn, abgesehen von einer leichten Unsicherheit bei gehauchten Initiallauten, ins höchste Kirchenamt befördert hätte, zu verkünden, dass das Dinner angerichtet sei. Sein inneres Wesen blieb stumm und darbte. Eines Tages, während einer Unterhaltung mit Conk, wagte er sich vor mit der Bemerkung, Ihre Ladyschaft käme, seit Mr Leslie den Gongschlag abgeschafft habe, immer etwas zu spät zu den Mahlzeiten.
»Ihre Ladyschaft ist wie immer«, sagte Conk. »Sie hört die Gong gar nicht. Wenn sie ist im Schlafzimmer, sie sagt oft zu mir: ›Ist die Gong weg, Conk?‹«.
Gudgeon dachte über die Antwort nach. Ein paar Tage später erdreistete er sich, den Gong zu schlagen, sanft, flüchtig und nur zum Lunch. Da niemand ihn zur Rede stellte, schlug er ein paar Tage darauf den Gong zum Tee, dann zum Abendessen, aber immer nur für einen kurzen Zeitraum und nicht mit voller Kraft. Schließlich nutzte er Mr Leslies Abwesenheit und ließ seiner Seele mit Sturmgeläut, Alarmglocken, Fanfaren freien Lauf. Als zum Ende der Woche Mr Leslie aus der Stadt zurückkehrte, bemerkte Lady Emily beim Essen: »Haben Sie heute den Gong geschlagen, Gudgeon? Ich habe ihn gar nicht gehört?«
»Jawohl, my Lady«, sagte Gudgeon. »Wenn Sie wünschen, kann ich ihn in Zukunft auch länger schlagen.«
»Ja, bitte«, sagte Lady Emily.
Da Mr Leslie mit Mr Macpherson und der Frage der Dachreparatur am Cricket-Pavillon beschäftigt war und zu dem Zeitpunkt ohnehin von einer Viehausstellung, auf der Rushwater Robert sehr wahrscheinlich gut abschneiden würde, ganz in Anspruch genommen, fiel ihm überhaupt nicht auf, dass der Gong wieder geschlagen wurde.
Schlug Gudgeon den Gong zum Abendessen, konnte man einen Künstler bei der Arbeit beobachten. Er nahm den Schlägel, dessen Kopf mit Fensterleder umwickelt war, das er eigenhändig von Zeit zu Zeit auswechselte, und vollführte zu Beginn ein paar raumgreifende Gesten, wie ein Tambourmajor oder wie ein Löwe, der sich mit der berüchtigten Klaue im Schwanz zur Ekstase peitscht. Dann ließ er den Kopf auf das Zentrum des Beckens sinken, was einen niedrigen klingenden Ton erzeugte. Mit zunehmender Kraft schlug er auf den Gong ein und bewegte den Schlägelkopf auf der dunklen narbigen Oberfläche der Metallscheibe in konzentrischen Kreisen, bis der Klang das ganze Haus erfüllte, durch die Korridore dröhnte, jeden Balken zum Vibrieren brachte, Agnes’ Kinder oben im Bett angenehm aufrüttelte und in Erregung versetzte, David im Badezimmer zu den Worten hinriss: »Blöder Gong. Ich dachte, ich hätte noch fünf Minuten Zeit«, Mr Leslie im Salon, zu: »Wie üblich kommen mal wieder alle zu spät«, und Lady Emily, während Conk ihr das Haar hochsteckte zu: »Hat der Gong schon geschlagen, Conque?«
Heute waren die letzten Klangausläufer kaum versiegt, da trat Mr Leslie ein, zusammen mit Macpherson, dem Gutsverwalter und Banister. Agnes mit James, der zum Sonntagslunch nach unten kam, sowie David und Martin folgten kurz darauf.
»Wir wollen nicht warten, Gudgeon«, entschied Mr Leslie. »Ihre Ladyschaft kommt später.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Gudgeon bedauernd. Gudgeon wusste so gut wie alles über die Familie, meist früher als sie selbst.
»Wann erwarten Sie Ihre Nichte, Mrs Graham?«, fragte Mr Macpherson.
»Morgen, zum Lunch. Sie will heute ihre Mutter verabschieden.«
»Dann dürfte sie also«, setzte Mr Macpherson an, der sich viel darauf zugutetat, die Familie Leslie bis in die letzte Verästelung des Stammbaums zu kennen, »die Tochter von Colonel Grahams ältester Schwester sein, habe ich recht. Die Frau, die Colonel Preston geheiratet hat, der dann im Krieg gefallen ist.«
»Ja, richtig. Mein ältester Bruder gehörte als subalterner Offizier seinem Regiment an, wie Sie sicher erinnern werden. Sie sind beide etwa zur gleichen Zeit gefallen, die Armen. Mrs Preston hat sich seitdem nie richtig erholt.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Mr Macpherson. »Es gab nur dieses eine Kind, Miss Mary. Ich habe sie hier einmal gesehen, da war sie noch ein kleines Mädchen.«
»Eine ganz reizende Person, alle vergöttern sie. Wirklich traurig für sie, dass ihre Mutter ins Ausland muss. Deswegen haben wir uns überlegt, dass sie den Sommer über lieber zu uns kommen sollte.«
»Warum möchte Mrs Preston denn ins Ausland?«, fragte Mr Leslie.
»Ich glaube, ihr Arzt hat es ihr empfohlen, Vater«, sagte Agnes.
»Ärzte!«, erwiderte Mr Leslie und fegte mit diesem vernichtenden Ausruf alle Mitglieder des Royal College of Physicians vom Angesicht der Erde.
»Und wann erwarten Sie Ihren Mann zurück, Mrs Graham?«, fuhr Macpherson fort, der danach gierte, seine Kenntnisse über die Familie Leslie auf den neusten Stand zu bringen.
»Ich weiß es nicht genau. Das ist alles sehr unerfreulich«, antwortete Agnes in einem leicht wehleidigen Ton. »Das Kriegsministerium sagt, in drei Monaten, aber man kann nie wissen. Die Rückreise von Südamerika braucht ja auch ihre Zeit. Ein Gutes hat es doch, er hat nämlich Vaters Bullen dort gesehen.«
»Doch nicht Rushwater Robert«, sagte Mr Macpherson.
»Ja, er war Champion in Buenos Aires, und Robert, ich meine, mein Robert, nicht den Bullen, Robert hat Robert in der Schau gesehen. Aber er hat ihn nicht erkannt.«
»Woher wusste er dann, dass es Robert war?«, fragte Mr Leslie.
»Er wusste es nicht, Vater. Das ist ja das Traurige. Darling Robert hat ihn mit seinen herrlichen großen Augen angeschaut, aber er erinnerte sich nicht mehr an ihn. Wenn man bedenkt, dass er nach ihm benannt wurde!« Agnes seufzte behaglich.
»Es hatte was für sich, dass die Römer mehr als nur ein Personalpronomen hatten«, sagte John zu niemand Bestimmtem. Mr Leslie schlug sich im Geist mit dem Unterschied zwischen einem preisgekröntem Stier und seinem Schwiegersohn herum, da riss Agnes’ nächste Frage ihn aus seinen Grübeleien.
»Könnte Weston wohl Mary morgen abholen, Vater?«
»Wen abholen? Ach so, Mary, ja, natürlich, Mary Preston. Meine Güte, ich kann mich noch gut an ihre Mutter erinnern, auf deiner Hochzeit, Agnes. Warum hört sie überhaupt auf ihre Ärzte? Warum kommt sie nicht hierher? Sie könnte im Pfarrhaus wohnen, Banister, wenn Sie es schon unbedingt vermieten wollen.«
»Mein lieber Leslie, das Pfarrhaus ist bereits vermietet, wie ich Lady Emily vergangene Woche mitgeteilt habe.«
Im selben Moment betrat Lady Emily den Raum, das Haupt veredelt mit feiner Spitze, ein großes Seidentuch um die Schultern gezurrt.
»Was haben Sie mir vergangene Woche gesagt, Mr Banister?«, fragte sie, während sie sich auf ihrem Stuhl einrichtete. »Nehmen Sie mir den Stock ab, Gudgeon, und stellen Sie ihn dort hin. Nein, nicht da. In die Ecke. Und wo ist meine Fußbank? Ach, da. Ich kann sie mit den Füßen ertasten. Ging es um Ihre Mieter, Herr Pfarrer? Ich weiß, Sie haben mir was darüber gesagt und dass ich sie besuchen soll, aber vor Dienstag kann ich nicht, denn Sonntag ist Sonntag.« Sie fuhr fort mit einer Miene, als würde sie einen profunden Gedanken zur Welt bringen »Und Montag ist Montag. Henry, wir müssen uns darum kümmern, dass Mary am Bahnhof abgeholt wird. Können Sie sich noch an ihren Vater erinnern, Colonel Preston, Macpherson? Vor dem Krieg war er mal hier bei uns. Ja, was nun Ihre Mieter betrifft, Mr Banister, also Dienstag ist Dienstag, und dann, hoffe ich, könnte ich meine Aufwartung machen. Was ist das?«, fragte sie Walter, der ihr ein Gericht servierte.
»Eier in Pilzsoße, my Lady.«
»Ah, verstehe. Ihr seid alle schon beim zweiten Gang. Nein, keine Eier. Geben Sie mir von dem, was die anderen haben. Ist das Hühnchen? Geben Sie mir etwas Hühnchen. Mr Macpherson, heute Morgen in der Kirche ist mir wieder das Dach auf dem Cricket-Pavillon eingefallen, aber Henry hat mir gesagt, dass Sie es im Oktober repariert haben. Oh, Walter, das ist viel zu viel Hühnchen für mich. Ich tue etwas davon auf den Salatteller vom Herrn Pfarrer, der hat seinen Salat schon gegessen, und dann können Sie mir die Eier wieder bringen, und ich esse von jedem etwas. Würde Dienstag reichen?«
»Meine Mieter«, sagte Mr Banister, der sich vergeblich bemüht hatte, zu Wort zu kommen, »reisen erst im August an, Lady Emily. Wenn Sie dann so freundlich wären, ihnen einen Besuch abzustatten, wäre das sehr gütig.«
»Ach, erst im August«, gab sich Lady Emily geschlagen. »Dann schaue ich besser nicht am Dienstag vorbei. Henry!«, rief sie ihrem Mann am anderen Ende des Tisches zu: »Rate mal, wer mir einen Brief geschrieben hat.«
»Komme ich nicht drauf, meine Liebe.«
»Moment, irgendwo muss er sein«, sagte Lady Emily, die den Inhalt ihrer großen Tasche auf dem Tisch ausbreitete. »Nein, hier ist er nicht. Gudgeon, sagen Sie Walter, er möchte Conque bitten, nach dem großen flachen Korb mit Briefen in meinem Schlafzimmer zu suchen. Nicht nach dem kleinen runden Korb mit dem grünen Rand, der enthält nur beantwortete Briefe. Ich weiß auch nicht, warum ich beantwortete Briefe aufhebe«, wandte sie sich mit einem selbstironischen Blick an die gesamte Tischgesellschaft, »aber eines Tages werde ich sie mal durchsehen und einige verbrennen. Du wirst mir dabei helfen, David. Das wird Spaß machen, sie uns gegenseitig vorzulesen, bevor wir sie ins Feuer werfen. Also, Gudgeon, nicht den kleinen runden Korb, sondern den anderen, den mit meinen Malutensilien und einer toten Drossel darin. Habe ich dir schon gesagt, dass ich heute Morgen auf meiner Fensterbank eine tote Drossel gefunden habe, Martin? Was soll ich nur mit ihr machen?«
»Oh je, das arme Ding«, sagte Agnes.
James blickte von seinem Schokoladenpudding auf. »Darf ich sie beerdigen?«, fragte er.
»Aber natürlich, Darling. Also, Gudgeon, ich möchte die tote Drossel und den Brief mit dem Krönchen auf der Rückseite. Wer sind denn nun Ihre Mieter, Mr Banister?«, fragte Ihre Ladyschaft, die bisher noch immer auf ihr Ausgangsthema zurückgekommen war, mochten die Abschweifungen noch so zahlreich sein.
»Sehr angenehme Menschen. Sie werden sie ganz bestimmt mögen. Ich habe sie letztes Jahr in Touraine kennengelernt, als ich meinen alten Freund Somers besuchte, der dort ein Fuhrunternehmen betreibt.«
»Bringt er auch Mrs Somers mit?«, fragte Lady Emily, die ihr Hühnchen in kleine Happen zerkleinert hatte und es zusammen mit dem lauwarmen Ei offenbar mit großem Genuss verzehrte.
»Nein. Es sind nicht die Somers, die das Pfarrhaus mieten, Lady Emily. Es sind Freunde der Somers, sie heißen Boulle.«
»Wie lustig«, sagte Mr Leslie. »Ich habe noch nie jemanden mit dem Namen Bull in Frankreich getroffen. In England ist der Name natürlich weit verbreitet.«
»Nicht Bull, Leslie. Boulle. Sie sind Franzosen.«
»So wie die Möbelstücke in der Wallace Collection, Vater«, eilte David ihm zu Hilfe.
»Ein guter Name für einen jungen Champion«, sagte John. »Rushwater Boulle.«
»Bull soll ein französischer Name sein? Das höre ich zum ersten Mal«, sagte Mr Leslie, der nicht locker ließ.
»Ich glaube, die Familie kommt aus dem Elsass«, sagte Mr Banister.
»Wie wäre es mit einem Witz über Elsässer und Boulledogs?«, sagte Martin.
»Das verbietet sich«, sagte David.
Gudgeon kehrte mit einem Silbertablett zurück, auf dem die tote Drossel und ein Brief lagen.
»Oh, vielen Dank«, sagte Lady Emily. »Legen Sie den armen Vogel in eine Schachtel, Gudgeon. Master James kann ihn haben, sobald er mit dem Essen fertig ist.«
In Windeseile verschlang James die Reste des Nachschlags auf seinem Teller. »Darf ich jetzt aufstehen?«, fragte er. Die Erlaubnis wurde erteilt, James rückte mit dem Stuhl nach hinten, nahm den kleinen Vogelkadaver an sich und verließ den Raum.
»Hat jemand meine Brille gesehen?«, rief Lady Emily. »Gudgeon, sagen Sie Conque bitte, dass ich meine Brille brauche. So lange muss ich mich irgendwie anders behelfen.«
»Ich lese dir den Brief vor, Mutter«, sagte David, ging um den Tisch herum und stellte einen Stuhl zwischen seine Mutter und Macpherson. »Er ist von einer Person namens Holt, ihrem sehr ergebenen C. W. Holt. Er möchte morgen zum Lunch kommen und sich den Garten ansehen. Er wohnt bei Lord Capes auf Capes Castle, und er möchte mit dem Auto abgeholt werden, weil Lord Capes seines nicht zur Verfügung stellt. Der scheint ganz schön selbstbewusst zu sein, Mamma. Wer ist denn das?«
»Eigentlich ist er ein sehr netter kleiner Mann«, setzte Lady Emily an.