DAS BUCH
Harry Clifton, aufgewachsen bei den Hafendocks in Bristol, und Giles Barrington, Nachkömmling einer großen Schifffahrt-Dynastie, verbindet seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft. Aus der Enge des Arbeitermilieus hat Harry es auf eine Eliteschule geschafft und steht als junger Mann jetzt an der Seite seiner großen Liebe Emma, der Schwester von Giles. Mit dem Eintritt Englands in den Zweiten Weltkrieg 1939 werden die Schicksale beider Familien erschüttert. Giles gerät in Kriegsgefangenschaft und Harry verschlägt es von Bristol nach New York, wo er eines Mordes angeklagt und verhaftet wird. Emma macht sich auf, um den Mann zu retten, den sie liebt …
DER AUTOR
Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Er schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde Archer als Schriftsteller. Er verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos Die Clifton-Saga stürmte die englischen und amerikanischen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.
LIEFERBARE TITEL
Die Clifton-Saga:
Spiel der Zeit
JEFFREY ARCHER
ERBE UND
SCHICKSAL
DIE CLIFTON-SAGA 3
ROMAN
Aus dem Englischen
von Martin Ruf
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe BEST KEPT SECRET
erschien 2013 bei Macmillan, London
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Copyright © 2013 by Jeffrey Archer
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Umschlagillustration: Johannes Wiebel/punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von
CollaborationJS/Arcangel Images und shutterstock.com
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-15521-6
V006
www.heyne.de
FÜR
SHABNAM UND ALEXANDER
PROLOG
Big Ben schlug viermal.
Obwohl der Lordkanzler erschöpft war und die Ereignisse der letzten Nacht seine ganze Kraft gefordert hatten, strömte noch so viel Adrenalin durch seinen Körper, dass er nicht einschlafen konnte. Er hatte Ihren Lordschaften versichert, dass er in der Sache Barrington gegen Clifton ein Urteil sprechen und darüber entscheiden würde, welcher der beiden jungen Männer den Titel und die umfangreichen Besitztümer der Familie erben würde.
Noch einmal erwog er die Fakten, denn er war davon überzeugt, dass die Fakten – und nur die Fakten – seine endgültige Wahl bestimmen sollten. Schon als er vor etwa vierzig Jahren nach Beendigung seines Jurastudiums sein Praxisjahr begonnen hatte und noch bevor er als Anwalt zugelassen worden war, hatte sein Supervisor ihm eingeschärft, alle persönlichen Gefühle, vagen Eindrücke und Voreingenommenheiten zurückzustellen, wenn es darum ging, gegenüber dem Mandanten und dem Fall, mit dem er sich beschäftigte, zu einer Entscheidung zu kommen. Das Gesetz, so hatte sein Supervisor betont, war nichts für ängstliche Gemüter oder romantische Schwärmer. Doch obwohl der Lordkanzler vier Jahrzehnte lang dieses Mantra beherzigt hatte, musste er zugeben, dass er noch nie mit einem Fall befasst war, in welchem der Anspruch beider Seiten auf eine so nachdrückliche Weise gleichermaßen berechtigt schien. Er wünschte sich, F. E. Smith wäre noch am Leben, damit er ihn um Rat fragen könnte.
Auf der einen Seite … wie er diesen klischeehaften Ausdruck hasste. Auf der einen Seite war Harry Clifton drei Wochen vor seinem besten Freund Giles Barrington geboren worden: eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Giles Barrington zweifellos der eheliche Sohn von Sir Hugo Barrington und seiner ihm rechtmäßig angetrauten Frau Elizabeth: eine Tatsache. Doch das machte Giles Barrington noch nicht unbedingt zu Sir Hugos Erstgeborenem, und genau auf diesen Punkt bezog sich die entscheidende Passage des Testaments. Auf der einen Seite hatte Maisie Tancock Harry am achtundzwanzigsten Tag des neunten Monats nach ihrer einmaligen Beziehung zu Hugo Barrington – sie hatten an jenem Tag an einem Ausflug nach Weston-super-Mare teilgenommen – zur Welt gebracht. Eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Maisie Tancock mit Arthur Clifton verheiratet, als Harry geboren wurde, und in der Geburtsurkunde wurde Arthur unmissverständlich als Vater des Kindes genannt. Eine Tatsache.
Auf der einen Seite … die Gedanken des Lordkanzlers schweiften ab zu den Ereignissen, die sich im Oberhaus abgespielt hatten, nachdem von den Mitgliedern der Kammer darüber abgestimmt worden war, ob Giles Barrington oder Harry Clifton den Titel samt allem, was darin inbegriffen ist, erben sollte. Er erinnerte sich an die genauen Worte des leitenden Repräsentanten der Parteien, mit denen dieser einem bis auf den letzten Platz besetzten Haus das Ergebnis der Abstimmung verkündet hatte:
»Ja-Stimmen zur Rechten: zweihundertdreiundsiebzig. Nein-Stimmen zur Linken: zweihundertdreiundsiebzig.«
Unruhe war daraufhin auf den roten Bänken ausgebrochen. Der Lordkanzler akzeptierte, dass ihm aufgrund der Stimmengleichheit die wenig beneidenswerte Aufgabe zufiel, über das Erbe des Familientitels der Barringtons einschließlich der angesehenen Schifffahrtslinie, der Ländereien und aller sonstigen Besitztümer zu entscheiden. Wenn doch nur nicht so viel von seiner Entscheidung abhängen würde im Hinblick auf die Zukunft der beiden jungen Männer. Sollte er sich von der Tatsache beeinflussen lassen, dass Giles Barrington den Titel erben wollte und Harry Clifton nicht? Nein, keineswegs. Wie Lord Preston in seiner überzeugenden Rede für die Opposition ausgeführt hatte, würde dies einen Präzedenzfall schaffen, der höchst unglückliche Folgen haben konnte, auch wenn eine solche Entscheidung im Augenblick bequem erscheinen musste.
Wenn er jedoch auf der anderen Seite zum Schluss käme, dass Harry zu begünstigen wäre … der Lordkanzler nickte schließlich ein, doch nur um, so schien es, gleich darauf von einem leisen Klopfen an seiner Tür zu ungewöhnlich später Stunde wieder geweckt zu werden: Es war sieben Uhr morgens. Er seufzte, doch seine Augen blieben geschlossen, während er die Schläge Big Bens zählte. Schon in drei Stunden würde er seine Entscheidung verkünden müssen, und er war noch immer zu keinem Entschluss gelangt.
Der Lordkanzler seufzte ein zweites Mal, senkte die Füße auf den Boden, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging ins Bad. Selbst als er in der Badewanne saß, ließ ihm das Problem keine Ruhe.
Eine Tatsache: Harry Clifton und Giles Barrington waren genauso farbenblind wie Sir Hugo. Eine Tatsache: Farbenblindheit wird nur über die mütterliche Linie vererbt, weswegen dieses Charakteristikum nur ein Zufall war und nicht in die Überlegungen mit einbezogen werden sollte.
Er stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und streifte einen Morgenmantel über. Dann verließ er das Bad und ging durch einen mit dicken Teppichen ausgelegten Korridor in sein Arbeitszimmer.
Der Lordkanzler griff nach einem Füllfederhalter, schrieb die Namen »Barrington« und »Clifton« auf ein weißes Blatt Papier und notierte darunter die Dinge, die für oder gegen den jeweiligen jungen Mann sprachen. Als drei in seiner fein säuberlichen Handschrift abgefasste Seiten vor ihm lagen, schlug Big Ben achtmal. Aber der Lordkanzler hatte immer noch keine Lösung gefunden.
Er legte den Füllfederhalter nieder und erhob sich widerstrebend, um etwas zu essen.
Der Lordkanzler saß alleine und stumm beim Frühstück. Er verzichtete bewusst darauf, einen Blick in die Morgenzeitungen zu werfen, die ordentlich am anderen Ende des Tisches ausgebreitet waren, oder das Radio einzuschalten, denn er wollte nicht, dass irgendein schlecht informierter Kommentator sein Urteil beeinflussen würde. Die seriösen Zeitungen sprachen in besorgtem Ton über die zukünftigen Aussichten bei der Vererbung von Adelstiteln, sollte der Lordkanzler zugunsten Harrys entscheiden, während die Massenblätter nur daran interessiert schienen, ob Emma den Mann, den sie liebte, würde heiraten können.
Als er ins Badezimmer zurückging, um sich die Zähne zu putzen, hatte sich Justitias Waage noch in keine Richtung geneigt.
Kurz nachdem Big Ben neun geschlagen hatte, ging der Lordkanzler wieder ins Arbeitszimmer und sah seine Notizen durch, denn er hoffte, dass sich jetzt eine der beiden Schalen senken würde, doch die Waage befand sich noch immer in vollkommenem Gleichgewicht. Er war gerade im Begriff, seine Notizen ein weiteres Mal durchzusehen, als ein Klopfen an der Tür ihn daran erinnerte, dass er trotz all seiner Macht die Zeit nicht aufhalten konnte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, riss die drei Seiten von seinem Block ab, stand auf und las sie, während er sein Arbeitszimmer verließ und den Korridor hinabging. Als er das Schlafzimmer betrat, sah er, dass East, sein Kammerdiener, für das morgendliche Ritual am Fuß des Bettes bereitstand.
Flink und geschickt streifte East seinem Herrn den seidenen Morgenmantel von den Schultern, bevor er ihm mit dem Anlegen des weißen Hemds half, das vom Bügeln noch warm war. Dann folgten der steife Kragen und das Halstuch aus feiner Spitze. Als der Lordkanzler die schwarze Kniehose anzog, bemerkte er nicht zum ersten Mal, dass er seit dem Antritt seines Amts ein paar Pfund zugelegt hatte. Danach half ihm East in die lange, schwarze, mit Goldbrokat verzierte Robe, um sich anschließend seinem Kopf und seinen Füßen zu widmen. Eine Perücke wurde ihm übergestreift, und dann schlüpfte er in ein Paar Schnallenschuhe. Aber erst als die goldene Amtskette, die neununddreißig Lordkanzler vor ihm getragen hatten, um seine Schultern drapiert wurde, glich er nicht mehr jener grotesken alten Dame, die in englischen Weihnachtsstücken von männlichen Schauspielern dargestellt wird, sondern verwandelte sich in die höchste juristische Autorität des Landes. Ein kurzer Blick in den Spiegel, dann war er bereit, die Bühne zu betreten und seine Rolle im sich entfaltenden Drama zu spielen. Bedauerlich war nur, dass er seinen Text immer noch nicht konnte.
Die minutiöse Genauigkeit, mit der sich der Lordkanzler an den Zeitplan hielt, als er den Nordturm des Palace of Westminster betrat und wieder verließ, hätte jeden Ausbilder beim Militär beeindruckt. Punkt neun Uhr siebenundvierzig klopfte es an die Tür, und sein Sekretär David Bartholomew trat ein.
»Guten Morgen, Mylord«, sagte Bartholomew.
»Guten Morgen, Mr. Bartholomew«, erwiderte der Lordkanzler.
»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen«, sagte Bartholomew, »dass Lord Harvey letzte Nacht auf dem Weg in die Klinik im Rettungswagen verstorben ist.«
Beide Männer wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Lord Harvey, Giles und Emma Barringtons Großvater, war nur wenige Augenblicke, bevor die Glocke zur Abstimmung rief, in der Kammer zusammengebrochen. Der Lordkanzler und sein Sekretär folgten jedoch einer jahrhundertealten Tradition: Wenn ein Mitglied des Ober- oder Unterhauses während einer Sitzung starb, so musste eine Untersuchung der genauen Todesumstände stattfinden. Um diese unangenehme und überflüssige Scharade zu vermeiden, verständigte man sich in solchen Fällen auf die allgemein anerkannte Wendung »auf dem Weg in die Klinik«. Der Brauch ging zurück auf die Zeit von Oliver Cromwell, als es den Mitgliedern der Kammer erlaubt war, Schwerter zu tragen, und durchaus die Möglichkeit bestand, dass es nicht immer mit rechten Dingen zuging, wenn es zu einem solchen Todesfall kam.
Der Tod Lord Harveys stimmte den Lordkanzler traurig, denn er hatte diesen Kollegen gemocht und bewundert. Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, wenn ihn sein Sekretär mit dieser Nachricht nicht an eine Tatsache erinnert hätte, die er in seiner fein säuberlichen Handschrift unter Giles Barringtons Namen notiert hatte – nämlich dass Lord Harvey nicht mehr in der Lage gewesen war, an der Wahl teilzunehmen, bevor er zusammengebrochen war, und dass er, wäre es ihm möglich gewesen, für Giles Barrington gestimmt hätte. Damit wäre die ganze Angelegenheit ein für alle Mal entschieden worden, und der Lordkanzler hätte eine ruhige Nacht verbringen können. Nun jedoch musste er ein für alle Mal eine Entscheidung treffen – eine Entscheidung, die für alle galt.
Unter Harry Cliftons Namen hatte er eine weitere Tatsache eingetragen. Als der Fall sechs Monate zuvor vor die Lordrichter gekommen war, hatten sie mit vier zu drei Stimmen zugunsten von Clifton entschieden. Er sollte den Titel erben samt allem, was darin inbegriffen ist, wie die genauen Worte des Testaments lauteten.
Ein zweites Klopfen an der Tür, und der Schleppenträger erschien. Auch er wirkte, als trüge er ein Kostüm aus einem Musical von Gilbert und Sullivan, doch seine Anwesenheit bedeutete, dass die traditionelle Zeremonie in wenigen Augenblicken beginnen würde.
»Guten Morgen, Mylord.«
»Guten Morgen, Mr. Duncan.«
In dem Augenblick, in dem der Schleppenträger den Saum der langen, schwarzen Robe des Lordkanzlers hob, trat David Bartholomew nach vorn und stieß die Doppeltür des Prunkzimmers auf, damit sein Herr den siebenminütigen Weg zur Kammer des Oberhauses antreten konnte.
Mitglieder des Hauses, Boten und sonstige Mitarbeiter, die mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt waren, traten rasch beiseite, als sie sahen, dass der Lordkanzler sich näherte, damit ihn niemand auf seinem Weg in die Kammer behindern würde. Als er an ihnen vorbeikam, verbeugten sie sich tief, doch diese Verbeugung galt nicht ihm, sondern dem Herrscher, den er repräsentierte. Genauso schnell wie an jedem Tag in den sechs zurückliegenden Jahren folgte er dem mit rotem Teppichboden ausgelegten Korridor, damit er mit dem ersten Schlag des vormittäglichen Zehn-Uhr-Läutens von Big Ben die Kammer betreten würde.
An einem normalen Tag erwarteten ihn in der Kammer nur eine Handvoll Oberhausmitglieder, die sich höflich von ihren roten Bänken erheben und vor dem Lordkanzler verbeugen würden; danach würden sie stehen bleiben, während der diensthabende Bischof das Morgengebet spräche, woraufhin man sich den anstehenden Aufgaben des Tages widmen würde.
Heute nicht. Schon lange bevor er die Kammer erreicht hatte, hörte er das Gemurmel zahlreicher Stimmen. Sogar der Lordkanzler war überrascht, welcher Anblick sich ihm bot, als er das Oberhaus betrat. Die roten Bänke waren so dicht besetzt, dass einige Mitglieder des Hauses sich auf die Stufen vor dem Thron begeben hatten, während andere am Geländer vor den Bänken standen, weil sie nirgendwo mehr einen Sitzplatz finden konnten. Es gab nur eine einzige andere Gelegenheit, bei der das Haus so gut gefüllt war, nämlich dann, wenn der König die Thronrede hielt und Ober- wie Unterhaus über die von seiner Regierung für die nächste Legislaturperiode getroffenen Pläne informierte.
Als der Lordkanzler in die Kammer schritt, beendeten Ihre Lordschaften unverzüglich die Unterhaltungen, erhoben sich wie ein Mann und verbeugten sich, während er vor den Wollsack trat.
Der höchste Jurist des Landes sah sich langsam in der Kammer um, wobei sich über fünfhundert ungeduldige Augenpaare auf ihn richteten. Er ließ seinen Blick schließlich auf drei jungen Leuten ruhen, die auf der gegenüberliegenden Seite der Kammer direkt über ihm auf der Galerie für die Ehrengäste saßen. Giles Barrington, seine Schwester Emma und Harry Clifton trugen schwarze Trauerkleidung aus Respekt für ihren geliebten Großvater oder, was Harry betraf, einen Mentor und guten Freund. Der Lordkanzler fühlte mit allen dreien, denn er war sich bewusst, dass das Urteil, das er sogleich sprechen würde, ihr ganzes Leben ändern würde. Er betete darum, dass es eine Änderung zum Besseren wäre.
Als der Right Reverend Peter Watts, Bischof von Bristol, sein Gebetbuch aufschlug – und dass gerade er es war, schien dem Lordkanzler überaus passend –, senkten Ihre Lordschaften die Köpfe und hoben sie erst wieder bei den Worten: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Die Mitglieder des Hauses setzten sich, nur der Lordkanzler blieb stehen. Sobald sie – wo auch immer – einen Platz gefunden hatten, lehnten sie sich zurück und warteten darauf, dass er sein Urteil sprechen würde.
»Verehrte Lords«, begann er. »Ich kann nicht behaupten, dass mir die Entscheidung, mit der Sie mich betraut haben, leichtgefallen ist. Im Gegenteil. Ich muss gestehen, dass sie eine der schwierigsten war, die ich in all meinen Jahren als Jurist treffen musste. Aber schließlich war es Thomas More höchstselbst, der uns daran erinnert, dass jeder, der diese Robe trägt, bereit sein muss, Entscheidungen zu treffen, die nur selten die Zustimmung aller finden werden. Und in der Tat, verehrte Lords, kam es in der Vergangenheit schon dreimal dazu, dass der Lordkanzler nach seinem Urteilspruch noch am selben Tag enthauptet wurde.«
Das Gelächter, das sich daraufhin erhob, löste die Anspannung ein wenig, doch nur für einen kurzen Augenblick.
»Und doch ist es meine Pflicht«, fuhr er fort, nachdem das Gelächter verklungen war, »dass ich nur dem Allmächtigen Rechenschaft schuldig bin. Und in diesem Bewusstsein, verehrte Lords, habe ich in der Sache Barrington gegen Clifton hinsichtlich der Frage, wer Sir Hugo Barrington als rechtmäßiger Erbe folgen und den Familientitel und die Ländereien samt allem, was darin inbegriffen ist, erben soll …«
Wieder sah der Lordkanzler hinauf zur Galerie. Er zögerte. Noch einmal ruhte sein Blick auf den drei unschuldigen jungen Leuten, die da oben wie auf einer Anklagebank saßen und zu ihm hinunterstarrten. Er betete um die Weisheit eines Salomo, bevor er fortfuhr: »Habe ich nach Abwägung aller Fakten zugunsten von … Giles Barrington entschieden.«
Sofort stieg lautes Stimmengewirr von den Bänken auf. Reporter verließen eilig die Pressegalerie, um ihren wartenden Redakteuren zu berichten, dass durch die Entscheidung des Lordkanzlers die tradierte Form der Vererbung von Adelstiteln nicht angetastet worden war und Harry Clifton jetzt Emma Barrington zu seiner rechtmäßigen Ehefrau nehmen konnte, während sich die Gäste auf der Besuchergalerie über das Geländer beugten, um zu sehen, wie Ihre Lordschaften auf das Urteil reagierten. Aber das hier war kein Fußballspiel, und der Lordkanzler war kein Schiedsrichter. Niemand musste zur Pfeife greifen und ein Match mit einem Pfiff unterbrechen, da jedes Oberhausmitglied das Urteil des Lordkanzlers ohne Widerspruch oder öffentliche Kritik akzeptieren würde. Während der Lordkanzler darauf wartete, dass der Lärm abklingen würde, sah er noch einmal hinauf zu den drei Menschen auf der Galerie, die am meisten von diesem Urteil betroffen sein würden. Harry, Emma und Giles starrten immer noch mit ausdruckslosen Mienen zu ihm herab, als hätten sie die volle Bedeutung seiner Entscheidung noch gar nicht begriffen.
Nach Monaten der Unsicherheit fühlte sich Giles vor allem erleichtert, obwohl der Tod seines geliebten Großvaters jegliches Triumphgefühl verhinderte.
Harry hatte nur einen einzigen Gedanken, als er Emma fest bei der Hand nahm. Jetzt konnte er endlich die Frau heiraten, die er liebte.
Emma war unsicher. Schließlich kamen durch die Entscheidung des Lordkanzlers eine ganze Reihe neuer Probleme auf sie zu, die nicht er lösen musste, sondern sie, Harry und Giles.
Der Lordkanzler öffnete seine mit goldenen Quasten verzierte rote Ledermappe und studierte die vor ihm liegenden Aufgaben. Eine Debatte über die Einrichtung eines nationalen Gesundheitsdienstes war der zweite Punkt auf der Tagesordnung. Mehrere Lordschaften verließen die Kammer, als die Dinge wieder ihren gewohnten Gang zu nehmen begannen.
Niemals würde der Lordkanzler gegenüber irgendjemandem, nicht einmal gegenüber seinem engsten Vertrauten, zugeben, dass er seine Meinung im allerletzten Augenblick noch einmal geändert hatte.
HARRY CLIFTON UND EMMA BARRINGTON
1945 – 1951
1
»Weshalb jeder, der einen berechtigten Grund dafür vorbringen kann, warum diese beiden nicht nach Recht und Gesetz vereint werden sollten, jetzt sprechen oder für immer schweigen möge.«
Harry Clifton würde nie vergessen, wie es gewesen war, als er diese Worte zum ersten Mal gehört hatte und sein Leben nur wenige Augenblicke später ins Chaos gestürzt wurde. Old Jack, der genau wie George Washington unfähig war zu lügen, hatte in einer hastig einberufenen Familienzusammenkunft in der Sakristei enthüllt, dass Emma Barrington, die Frau, die Harry anbetete und die kurz davorstand, ihn zu heiraten, möglicherweise seine Halbschwester war.
Alles stand kopf, als Harrys Mutter zugab, dass sie – wenn auch nur bei einer einzigen Gelegenheit – mit Emmas Vater Hugo Barrington geschlafen hatte. Deshalb war nicht auszuschließen, dass er und Emma Kinder desselben Mannes waren.
Während der ganzen Zeit vor und nach ihrer kurzen Affäre mit Hugo Barrington war Arthur Clifton, ein Hafenarbeiter der Barrington-Werft, der feste Partner von Harrys Mutter gewesen. Trotz der Tatsache, dass Maisie Arthur kurz danach geheiratet hatte, hatte sich der Pfarrer geweigert, die Hochzeitszeremonie von Harry und Emma fortzuführen, da die Möglichkeit bestand, dass diese den althergebrachten Gesetzen der Kirche bezüglich der Ehe von Blutsverwandten widersprach.
Wenige Augenblicke später war Hugo aus der Kirche verschwunden wie ein Feigling, der vom Schlachtfeld flieht. Emma und ihre Mutter waren nach Schottland gefahren, während Harry, der zu diesem Zeitpunkt eine wahrhaft einsame Seele war, zunächst in seinem College in Oxford geblieben war, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Adolf Hitler hatte ihm die Entscheidung schließlich abgenommen.
Harry verließ wenige Tage später die Universität. Er zog seine Studentenrobe aus und die Uniform eines vierten Offiziers auf einem Handelsschiff an. Doch er hatte noch nicht einmal vierzehn Tage auf hoher See verbracht, als ein deutscher Torpedo sein Schiff versenkte und der Name Harry Clifton auf der Liste der auf See Verstorbenen erschien.
»Willst du diese Frau zu deiner dir rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen und treu zu ihr stehen, solange ihr beide leben werdet?«
»Ich will.«
Erst nach Kriegsende, als Harry verletzt, aber hochdekoriert vom Schlachtfeld zurückgekehrt war, hatte er erfahren, dass Emma ihren gemeinsamen Sohn Sebastian Arthur Clifton zur Welt gebracht hatte. Und erst als er wieder völlig gesund war, hatte er herausgefunden, dass Hugo Barrington unter grässlichen Umständen getötet worden war und der Familie ein weiteres Problem hinterlassen hatte, das Harry als ebenso verheerend empfand wie die Tatsache, dass er die Frau, die er liebte, nicht heiraten konnte.
Harry hatte der Tatsache, dass er ein paar Wochen älter war als Giles Barrington – Emmas Bruder und sein bester Freund –, nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ihm erklärt worden war, dass er selbst möglicherweise der nächste Erbe des Familientitels, der ausgedehnten Ländereien und der zahlreichen Besitztümer samt allem, was darin inbegriffen ist, wie es wörtlich im Testament hieß, sein könnte. Er stellte rasch klar, dass er kein Interesse am Barrington-Erbe hatte, und war nur allzu gerne bereit, zugunsten von Giles auf sein Erstgeburtsrecht zu verzichten, sofern ihm dieses denn tatsächlich zukommen sollte. Auch der Garter King of Arms, der Leiter des Wappenkönigamtes, schien bereit, sich darauf einzulassen, und alles Weitere hätte sich problemlos aus dieser Entscheidung ergeben können, hätte Lord Preston, der für Labour im Oberhaus saß, nicht beschlossen, sich für Harrys Anspruch auf den Titel einzusetzen, ohne Harry überhaupt zurate zu ziehen.
»Es geht ums Prinzip«, hatte Lord Preston jedem politischen Korrespondenten erklärt, der ihn danach gefragt hatte.
»Willst du diesen Mann zu deinem dir angetrauten Ehemann nehmen und mit ihm nach Gottes Willen im heiligen Stand der Ehe zusammenleben?«
»Ich will.«
Harry und Giles waren während dieser ganzen Episode unzertrennliche Freunde geblieben, obwohl sie sich vor dem höchsten Gericht des Landes wie auch auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen als Gegner gegenüberstanden.
Die Freude der beiden über die Entscheidung des Lordkanzlers wäre noch größer gewesen, hätte Emmas und Giles’ Großvater Lord Harvey bei ihrer Verkündigung noch auf seiner Bank im Oberhaus gesessen, doch dem alten Herrn war es nicht mehr vergönnt, seinen Triumph mitzuerleben. Die Nation blieb auch weiterhin gespalten, und den beiden Familien blieb es überlassen, mit diesem Ergebnis zurechtzukommen.
Wie die Presse ihren begierigen Lesern versicherte, hatte das Urteil des Lordkanzlers noch eine weitere Folge. Die Entscheidung des höchsten Gerichts des Landes bedeutete nämlich auch, dass Harry und Emma keine Blutsverwandten waren, weshalb es Harry freistand, Emma zu seiner ordentlich angetrauten Ehefrau zu nehmen.
»Mit diesem Ring heirate ich dich, mit meinem Leib ehre ich dich, und all meine weltlichen Güter gebe ich dir.«
Doch Emma und Harry wussten, dass eine von Menschen getroffene Entscheidung nicht mit absoluter Sicherheit beweisen konnte, dass Hugo Barrington nicht doch Harrys Vater war, und als praktizierende Christen hatten sie zunächst Bedenken, dass sie Gottes Gesetz brechen könnten.
Ihre Liebe war nicht geringer geworden angesichts dessen, was sie durchgemacht hatten. Sie war eher noch gewachsen, und ermutigt von ihrer Mutter Elizabeth und mit dem Segen von Harrys Mutter Maisie akzeptierte Emma Harrys Heiratsantrag. Es machte sie nur traurig, dass keine ihrer Großmütter mehr am Leben war, um an der Hochzeitszeremonie teilzunehmen.
Anders als ursprünglich geplant fand die Hochzeit nicht in Oxford statt. Die Beteiligten entzogen sich dem Pomp und Prunk, den eine solche Zeremonie an der Universität mit sich gebracht hätte, ebenso wie der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die unvermeidlich damit verbunden gewesen wäre, und entschieden sich stattdessen für eine einfache standesamtliche Trauung in Bristol, an der nur die Familie und einige gute Freunde teilnahmen.
Die vielleicht traurigste Entscheidung, zu der Harry und Emma sich mühsam durchrangen, bestand darin, dass Sebastian Arthur Clifton ihr einziges Kind bleiben sollte.