Buch
Ruby Cardel war zwölf, als ihre Schwester Jamie nahe der elterlichen Farm in den Tod stürzte. Ein traumatisches Erlebnis, von dem sie sich nie vollständig erholte und das ihre Erinnerung an das ganze folgende Jahr auslöschte. Dennoch scheint es, dass sie nun endlich ihr Glück an der Seite eines erfolgreichen Autors gefunden hat, mit dem sie in einem kleinen australischen Küstenort lebt. Doch als sie zum ersten Mal seit Kindertagen wieder nach Lyrebird Hill zurückkehrt, drängen plötzlich lang verschüttete Bilder in ihr Bewusstsein. Stück für Stück setzt Ruby die Puzzleteile der Ereignisse um Jamies Tod zusammen. Und die Wahrheit, die nun ans Licht kommt, birgt ein tödliches Geheimnis…
Autorin
Anna Romer wuchs in New South Wales in einer Familie von Büchernarren und Geschichtenerzählern auf, weshalb sie sich schon früh für Literatur zu interessieren begann. Sie arbeitet als Grafikerin und hat lange Reisen ins australische Outback, nach Asien, Neuseeland, Europa und Amerika unternommen, wo sie viel Stoff sammelte, den sie in ihren Bildern und Texten verarbeitet. Bereits ihr erster Roman »Das Rosenholzzimmer« lebte von ihrer Faszination für vergessene Tagebücher und Briefe, dunkle Familiengeheimnisse und alte Häuser und ihrer Liebe zur einzigartig schönen australischen Landschaft. Die Autorin lebt in einem abgelegenen Landsitz im nördlichen New South Wales, wo sie an ihrem nächsten Roman schreibt.
Mehr von Anna Romer:
Das Rosenholzzimmer. Roman
Anna Romer
Am
dunklen Fluss
Roman
Deutsch von pociao
und Roberto de Hollanda
Für meine wunderschöne Katie,
mit all meiner Liebe
Du bist der Rubin im Herzen des Granitsteins,
wie lange willst du uns noch täuschen?
Wir sehen die Wahrheit in deinen Augen.
Rumi
Prolog
August 1898
Es ist Mitternacht. Ich hocke auf dem kalten Boden der Bibliothek und kritzele diese Zeilen im Licht eines Kerzenstummels. Der Wind rüttelt an den Fensterscheiben, und die Luft ist schwer vom Gestank des Schießpulvers.
Die bewaffneten Männer kommen näher. Ich höre ihr Geschrei, als sie das Farngestrüpp am Waldrand niedertrampeln. Gleich werden sie durch die Auffahrt und die Bäume auf das Haus zustürmen. Ihre Hunde werden den Geruch nach Blut aufnehmen und uns finden.
Neben mir auf dem Boden liegt ein Mann, bedeckt mit meinem Umhang. Ein dunkler Blutfleck sickert durch die graue Wolle.
»Liebster«, flüstere ich ihm ins Ohr. »Kannst du mich hören?«
Er antwortet nicht. Ich höre nur den Wind in den roten Eukalyptusbäumen rauschen und das ferne Bellen der Bluthunde. Ich betrachte ihn im Mondlicht, den breiten, von tiefen Falten gesäumten Mund, die majestätische Nase, die blasse Haut. Sein Gesicht zieht die Blicke auf sich und weckt in unachtsamen Betrachtern Neugier. Und dann Faszination, die sich bei näherer Bekanntschaft in fürchterliche Besessenheit verwandelt.
Ich schließe die Augen, doch es nützt nichts, die Vergangenheit ausblenden zu wollen. Meine Sehnsucht ist wie ein Messer, das sich mitten ins Herz bohrt. Meine Trauer fühlt sich an wie der Tod. Ich will jetzt nur noch sterben, hier, im Dunkeln, in der Nähe meines Liebsten.
Ich rücke dichter an ihn heran. Die Luft riecht nach Kupfer. Mein Vater sagte immer, Blut habe den kräftigen Geruch von Roheisen, doch das finde ich nicht. Mir erscheint er eher unangenehm, wie die Schatten der Kasuarinen, unter denen ich als Kind spielte. Es riecht nach Meer und Asche, nach den Schlangen, die sich unter dem alten Haus verbergen, nach Metall, das zu lange im Erdreich vergraben war.
So viel Blut.
Mein Blick schweift durch den Raum, aber irgendwie bringe ich es nicht fertig, den anderen leblosen Körper zu betrachten, der im Dunkeln liegt. Die Aufmerksamkeit huscht an ihm vorbei, flüchtig wie eine Maus. Nicht dass sein Tod mir leidtäte, im Gegenteil, er war mein ärgster Feind, und ich habe gute Gründe, mich über sein Ableben zu freuen. Das Einzige, was ich bedaure, ist, dass er uns mit seinem Tod alle verdammt hat.
Ich raffe die Röcke zusammen, strecke mich neben meinem Liebsten aus und zwänge meine warmen Finger in seine kalte Hand. Mein Schluchzen zerreißt für einen Moment die Stille. Dann ist alles wieder ruhig.
Ich versuche, mich an ein Gebet zu erinnern. Nicht für meine eigene Seele, denn mich kann niemand mehr retten, sondern für diejenigen, die ich einst geliebt habe und die mich nun verfolgen. Gott erhört alle Gebete, pflegte mein Vater zu sagen, sogar die der Sünder. Ich versuche, mich auf die Worte zu besinnen, aber sie fallen mir nicht ein. Vielleicht sind meine Sünden doch zu groß, selbst für die Ohren eines gütigen Gottes.
Mit einem Mal wird mir bewusst, welch lange Reise hinter mir liegt. Nicht nur über den stürmischen Ozean in ein unbekanntes Land, sondern auch von einem Kind zur Frau und darüber hinaus. Auf dem Weg habe ich mein früheres Ich verloren, und dieses neue, fremde Wesen kam zum Vorschein. Es ist eine Fremde, die mich nervös und oft auch ängstlich macht. Trotzdem fühle ich mich in ihrer Haut wohler als in der des naiven Mädchens, das ich einmal war.
Ich schmiege mich noch enger an den Mann neben mir, halte seinen reglosen Körper in den Armen und wünsche mir, meine Wärme könnte ihn wieder zum Leben erwecken. Einmal sagte er, dass die Liebe die Macht hat, Wunder zu wirken. Wenn das wahr ist, wird mir die Liebe dann diesen letzten Wunsch erfüllen?
Komm zurück, flehe ich. Bitte, komm zurück.
Es gibt so vieles zu erzählen, so viele Lügen zu entwirren, so viele Enttäuschungen zu überwinden und so viele Wahrheiten, die ich ihm verzweifelt gern anvertrauen würde. Bevor ich auch ihn verliere.
Doch wo anfangen?
Mein Atem wird tiefer, meine Gedanken wandern zurück zu einer vergangenen, glücklicheren Zeit. Der Zeit, ehe das Schicksal mich hierherverschlug und die Liebe mich zu einer Mörderin machte.
»Ich komme aus einem wilden, rauen Teil dieses Landes«, erzähle ich ihm leise, »mit endlosen Granitfelsen und Teebaumwäldern, die so dicht sind, dass sich nicht einmal eine Katze hindurchschlängeln könnte. Einer Gegend, in der Wasserlöcher in der sengenden Sonne verdunsten und der mächtige Muluerindie nach Westen rauscht, wo schwarze Ironbarks in einen Himmel ragen, der so weit und blau ist, dass einem die Augen brennen …«