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ZUM BUCH

Etwas an Dr. Jenna Rameys Gehirn ist ungewöhnlich, eine seltene Eigenart in der Wahrnehmung, durch die ihre Eindrücke farblich aufblitzen: Rot kann Zorn bedeuten, Liebe oder Kraft. Doch Jenna ist imstande, diese plötzlichen Assoziationen zu nutzen, sie ausreichend zu verstehen und zu deuten, um aus Personen und Situationen zu lesen wie niemand sonst. Als forensische Psychiaterin beim FBI machte sie davon für das Profiling und zur Festnahme von Tätern Gebrauch. Jahre zuvor nutzte sie die Assoziationen, um ihre eigene Familie vor der soziopathischen Mutter zu schützen. Nun hat das FBI den Massenmörder Isaac Keaton festgenommen und Jenna zu Hilfe gerufen. Im Verhör erfährt sie, dass er es – ob hinter Gittern oder nicht – in der Hand hat, noch mehr Unschuldigen Leid zuzufügen und besessen davon ist, auch sie unter Kontrolle zu bringen. Und allein Jenna mit ihrem einzigartigen wundersamen Feingespür kann verhindern, dass etwas Schreckliches Wirklichkeit wird …

ZUR AUTORIN

Tagsüber ist Colby Marshall Autorin, abends Tänzerin und Choreografin. Sie hat die Angewohnheit, jedes ihrer Hobbys zum Beruf zu machen, so dass ihr als Workaholic nie die Arbeit ausgeht. Neben ihren gefühlten 9502 normalen Jobs ist sie stolzes Mitglied der International Thriller Writers und der Sisters in Crime. Colby lebt mit ihrer Familie in Georgia.

COLBY MARSHALL

FARBENBLIND

Thriller

Aus dem Amerikanischen
von Heike Schlatterer

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel Colorblind bei Berkley.

Taschenbucherstausgabe 12/2015

Copyright © 2013 by Monica Murphy

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Printed in Germany

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung eines Fotos von Jason Gill

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-15837-8
V002

www.heyne.de

Für David
Ein tiefes, sattes Marineblau

PROLOG

Isaac Keaton richtete das Zielvisier seines M16 von dem Fünfjährigen, der über seine Schnürsenkel stolperte, auf einen etwa vierzig Jahre alten Mann, der zehn Schritte von dem Jungen entfernt vor dem Fast-Food-Restaurant von Futureland saß. Aus dem Jungen würde vielleicht auch mal ein jämmerlicher Waschlappen werden, wie der Mann, den Isaac erschießen wollte, aber wer weiß, vielleicht verschonte er gerade ein zukünftiges Genie. Der Junge würde womöglich wie Isaac werden; hoffte und betete, dass jemand seine Eltern mit zwei schnellen Schüssen erledigen würde. Isaac lachte.

Idioten, alle miteinander. Behandelten Kinder, als ob man sie vor so wertvollen Erfahrungen schützen müsste. Trichterten ihnen Toleranz ein, versicherten ihnen, dass Weinen okay war. Nach dem Amoklauf von zwei Jugendlichen an ihrer Highschool in Colorado forderten die Medien hysterisch eine nationale Kampagne gegen Mobbing an Schulen. Eltern rasteten aus, wenn ihre Kinder die falsche Musik hörten oder einen Trenchcoat im Schrank hängen hatten. Diese Vollidioten! War ihnen denn nicht klar, dass sie mit den beiden Jungs, wenn sie nicht ihre Mitschüler und dann sich selbst erschossen hätten, ein paar Jahre später ein noch viel größeres Problem am Hals gehabt hätten?

Ein Problem wie ihn.

Der Typ in Isaacs Visier schleckte ein Eis, das ihm über die fetten Finger tropfte. Vielleicht war es Zufall. Oder Schicksal. Egal, der Typ saß nun mal genau in Isaacs Schusslinie direkt unter dem Kabel, an dem die kleine Fee jeden Abend vom höchsten Turm des Märchenschlosses schwebte, über die Köpfe der staunenden Mittelklassetrottel hinweg. Er sah auf seine Stoppuhr. Dreißig Sekunden. Zwanzig. Zehn.

Zeit zum Abflug.

Er schoss das erste Magazin leer. Hundert Gesichter blickten entsetzt in seine Richtung. Der Typ mit dem Eis kippte weg und brach auf der Bank zusammen.

Keine Zeit zum Überlegen. Jeder, der über dreißig war, musste sterben. Je grauer der Kopf, desto besser fungierte er als Zielscheibe. Er mähte noch drei um: eine große, schlanke schwarze Frau in ausgebleichten Jeans, einen Typen mit einem Lippenpiercing, eine fette Inderin. Die Leute rannten davon, taumelten gegeneinander, manche suchten Deckung. In seinem Visier waren nun zwei Kinder, doch er richtete die Waffe auf den Vater, der das eine Kind an der Hand hatte und hinter sich herzerrte. Lauf weg. Bum!

Der Vater brach zusammen. Isaac ließ den Blick über die Menge schweifen. Ein alter Asiate, eine Brünette mit Bauchtasche. Ein rothaariger Mitarbeiter des Freizeitparks, der in sein Walkie Talkie schrie. Ein Arschloch nach dem anderen.

Schon bald gingen ihm die Ziele aus, immer mehr Menschen lagen getroffen am Boden. Als er sie endlich kommen hörte, legte er das M16 auf den Boden und wandte sich mit erhobenen Händen zu ihnen um. Sie würden es nicht verstehen, natürlich nicht. Lass ihnen Zeit.

»Keine Bewegung!«, brüllte der leitende Cop, die Waffe auf Isaacs Brust gerichtet. Der Typ hatte wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nie jemanden erschossen.

Isaac zog den Kopf ein. »Nicht schießen!«

Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken und drückten sein Gesicht auf den Boden. Er hatte das Recht zu schweigen …

Aber er wollte nicht schweigen. Diese Idioten hatten ja keine Ahnung. Der Spaß fing gerade erst an.

1

»Dad! Hast du meine Schlüssel gesehen?«

Jenna Ramey drehte die Sofakissen um und sah unter dem Laufstall nach. »Dad!«

Ihr Vater erschien im Flur mit Ayana auf dem Arm. Jennas flachsblonde Tochter hielt in der einen Hand ihren Schnuller und in der anderen Hand den Schlüsselbund. Bevor ihre Tochter zur Welt kam, hatte Jenna nie ihre Schlüssel verloren. Jetzt verschwanden sie fast täglich aus ihrer Handtasche.

»Wer ist nur auf die Idee gekommen, Spielzeug in Form von riesigen bunten Schlüsselringen herzustellen, das würde mich echt interessieren«, sagte Vern.

Jenna lächelte und küsste ihren Vater auf die Wange. »Ayana, kann Mommy die zurückhaben?«

Ihre kleine Tochter steckte sich den Schnuller in den Mund und hielt ihr bereitwillig die Schlüssel hin.

»Vielen Dank, Miss«, sagte Jenna und küsste Ayana auf die Stirn. Und an ihren Vater gewandt: »Ich hoffe, ich bin in ein paar Stunden wieder da. Keine Ahnung, was da los ist.«

»Muss schlimm sein, wenn sie so eine Kapazität wie dich hinzuziehen.«

Jenna schnipste mit dem Zeigefinger gegen den Oberarm ihres Vaters. »Ich war FBI-Profilerin, Dad. Ich merke es, wenn mich jemand auf die Schippe nimmt.«

»Mach sie fertig, El Tigre.«

Auf der gesamten Fahrt zum Police Department von Orlando schien Jenna die Sonne in die Augen. Sie hatte die Sonnenblende mit Klebeband repariert, jetzt blieb sie zwar an Ort und Stelle, ließ sich aber nicht herunterklappen. Sehr hilfreich.

Noch im Auto rief sie Special Agent Hank Ellis an, ihren früheren Vorgesetzten beim FBI, mit dem sie in der Einheit für Verhaltensanalyse zusammengearbeitet hatte, der sogenannten Behavioral Analysis Unit (BAU).

»Nur damit ich das richtig verstehe, Hank: Ihr habt heute Morgen einen Serienkiller auf frischer Tat geschnappt und holt mich jetzt dazu? Nichts für ungut, aber warum?«

»Na toll«, sagte Hank, wobei seine Frustration deutlich zu hören war. »Ich dachte, man hätte dir mehr erzählt, als man dich anrief. Shit.«

»Hank, ich plaudere ja gern mit dir über den inkompetenten Kollegen, der mich angerufen hat, aber vor allem interessiert mich, was mich erwartet.«

»Du hast recht, sorry. Ja, wir haben einen Serienmörder geschnappt, und zwar einen, der nicht nur in Florida aktiv war. Sie waren an der ganzen Ostküste unterwegs. Du hast schon von ihnen gehört.«

»Ihnen?«, unterbrach ihn Jenna überrascht. »Du meinst doch nicht etwa …?«

Sie fuhr auf den Parkplatz des Polizeireviers.

»Ja«, sagte Hank. »Die Zwillinge. Aber wir haben nur einen geschnappt, und er sagt, er will nur mit dir reden.«

2

Officer Mel Nelson holte Jenna am Eingang ab und führte sie durch die Gänge zum Verhörraum. »Cool, Sie persönlich kennenzulernen, Dr. Ramey. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«

Wenn ihr Ruf ihr doch nicht ganz so schnell vorauseilen würde. »Danke. Könnten Sie mich auf den neuesten Stand bringen? Ich weiß so gut wie nichts.«

Hank hatte ihr zwar schon das meiste erzählt, aber es war immer gut, einen Fall von unterschiedlichen Seiten zu hören. Vielleicht tauchte ein entscheidendes Detail auf.

Nelson, der sie wie gebannt angestarrt hatte, straffte seinen stämmigen Körper und beschleunigte seine kurzen Schritte, vermutlich wollte er dadurch energisch wirken. »Gut. Der Verdächtige wurde oben auf dem Märchenschloss gefasst. Hatte bereits die Waffe niedergelegt und die Hände erhoben. Die Waffe war ein M16, Standard. Zwanzig Tote, sieben Verletzte. Der Verhaftete ist ein gewisser Isaac Keaton aus Norton, Virginia. Wir sind noch dabei, mehr über ihn herauszufinden, aber viel gibt es nicht. Hat fast sofort nach Ihnen gefragt, aber nicht gesagt warum. Es hieß, dass sie zusammen mit der BAU kommen. Ich dachte, Sie wären nicht mehr bei der BAU? Hab gehört, Sie hätten sich selbstständig gemacht.«

Typisch. Da liest einer etwas über dich und meint gleich, er wäre dein bester Freund oder zumindest ein guter Nachbar.

»Ja und nein«, sagte Jenna.

Sie standen vor einer geschlossenen Tür, Nelson hatte die Hand schon am Türknauf. »Machen Sie mit ihm dieses Farbending?«

Jennas Graphem-Farb-Synästhesie war der Grund für ihre »Berühmtheit« im positiven wie negativen Sinn. Seit sie denken konnte, assoziierte sie alles – Buchstaben, Tage, Zahlen, Menschen – mit bestimmten Farben.

»So funktioniert das nicht«, sagte sie und nickte zur Tür.

Nelson drehte den Knauf. Vor der verspiegelten Scheibe zum Verhörraum stand ein Mann und sah hinein.

»Detective Arnold Richards, das ist Dr. Jenna Ramey«, sagte Nelson.

Der ungeschlachte, glatzköpfige Mann streckte die Hand aus. »Dr. Ramey. Gut, dass Sie da sind. Das BAU-Team ist noch unterwegs. Sie werden in einer knappen Stunde hier sein, aber wir dachten, am besten kommen Sie so schnell wie möglich. Ich leite die Ermittlungen bei dem Anschlag im Freizeitpark.«

Er hatte das Kinn vorgereckt, wobei sein Lächeln nicht einmal seine Wangen erreichte. Der autoritäre Ton sollte ihr wohl vermitteln, dass sie nur hier war, weil er es so wollte.

Er nickte kurz, und Jenna nickte zurück.

Richards wandte sich an Officer Nelson: »Danke, Moose«, worauf Nelson ging und die Tür schloss. Richard folgte ihm mit den Augen und richtete dann den Blick auf Jenna. »Er ist Kanadier.«

Abermals schaute er durch die Scheibe in den Verhörraum. Jenna ebenfalls. Abgesehen von den hochgezogenen Schultern und den Tränensäcken sah der Mann auf der anderen Seite der Scheibe aus, als ob er einem Prospekt von Abercrombie & Fitch entsprungen wäre. Seine hellbraunen Haare waren modisch geschnitten, zerzaust, aber dennoch gepflegt, womöglich hatte er sogar Strähnchen. Er war glatt rasiert, hatte einen ausgeprägten Kiefer und sah fit aus.

»Darf ich fragen, in welcher Farbe Sie ihn sehen?«, fragte Richards.

»Sie dürfen«, antwortete Jenna, »aber ich kann es Ihnen noch nicht sagen. Ich kenne ihn ja noch nicht.«

»In den Interviews mit Ihnen stand, dass es nichts damit zu tun hat, was Sie für jemanden empfinden.«

Isaac Keaton wippte auf seinem Metallstuhl vor und zurück und presste die Handflächen auf die dunkle Hose. Interessant. Jenna schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah genauer hin. Sie versuchte, speziell auf die Farben zu achten. Nichts.

»Nein. Gibt es irgendwas über den anderen Schützen?«

Detective Richards’ Hände wanderten zu seinen Hosentaschen. Er klimperte mit seinen Schlüsseln. »Wir haben noch keinen Bericht von der Ballistik, die Patronen sehen aber aus wie eine .308 Norma Magnum. Sechs Tote.«

Jenna blinzelte und zählte zusammen. »Moment. Officer Nelson sagte zwanzig Tote und sieben Verletzte. Seine Opfer« – sie nickte zu Keaton hinüber – »oder insgesamt?«

»Insgesamt«, antwortet Richards. »Vierzehn Tote und drei Verletzte beim Märchenschloss, sechs weitere auf der anderen Seite des Parks, sofort tot. Vier Verletzte in der Nähe der Fähre.«

Jenna speicherte die Informationen über den zweiten Schützen ab, schob sie aber vorerst beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Keaton. »Und wie hat er sich verhalten?«

Richard zog die Brauen zusammen. »Der Polizist, der ihn verhaftete, sagte, er hatte das Feuer schon eingestellt und die Waffe fallen lassen. Er ließ sich einfach festnehmen.«

»Zu einfach«, murmelte Jenna. Entweder wollte dieser Typ wirklich nicht sterben, oder er wollte festgenommen werden. Oder beides. »Und Keatons Waffe haben Sie sichergestellt?«

»Mm-hm. Ein M16, Standardausführung. Wahrscheinlich gestohlen. Wir sind an der Sache dran. Bei der Fähre haben wir eine Patrone gefunden, weitere hoffentlich bei den Opfern. Für Zwillinge haben sie ziemlich unterschiedliche Waffenvorlieben.«

Dreißig Magazine, und Keaton hatte einen großen Teil davon verschossen. Allerdings hatte es eine Weile gedauert, bis die Polizei die Schüsse hörte, reagierte und herausfand, woher sie kamen. Theoretisch hätte er mit einem automatischen Gewehr, selbst wenn es auf Einzelfeuer gestellt war, noch viel mehr Menschen erschießen können.

Ohne zu überlegen, sagte Jenna: »Die Zeitungen nennen die beiden vielleicht die Zwillinge, aber davon sollten wir uns nicht in die Irre führen lassen. Wahrscheinlich sind die beiden völlig verschieden.«

»Das heißt?«, fragte Richards.

Jenna sah ein letztes Mal durch die Scheibe zu Keaton. Von hier aus konnte sie ihn unvoreingenommen betrachten. Dann ging sie zur Tür. Sie war zwar nicht mehr bei der BAU, der Abteilung des FBI, die das Verhalten von Massenmördern, Entführern und Serienvergewaltigern analysierte, aber wenn man sich einmal mit diesen Monstern beschäftigt hatte, vergaß man nie mehr, wie sie tickten. Wenn man sich in sie hineinversetzte und erkannte, was sie antrieb, verlor man einen Teil seiner eigenen Menschlichkeit, weil man wie sie wurde, weil man verstehen musste, warum sie ihre Verbrechen begingen. »Bei einem Serienkiller-Duo ist immer einer dominant. Der andere ist der Gefolgsmann, der Untergebene. Anders ausgedrückt, der eine ist der Soldat, der andere der General. Bevor wir irgendetwas unternehmen, müssen wir herausfinden, welchen wir geschnappt haben.«

3

Als Jenna den Verhörraum betrat, hielt Isaac Keaton den Kopf gesenkt und hatte die Hand über die Augen gelegt. Angst? Eine bewusste Defensivhaltung? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

»Isaac. Ich bin Dr. Jenna Ramey. Sie wollten mit mir sprechen?«

Er sah auf und musterte sie von Kopf bis Fuß. Dieser Typ hatte gerade mehr als ein Dutzend Menschen in einem Freizeitpark für Kinder erschossen, und sie stellte sich vor, als ob sie Geschäftspartner wären. Als langweilig konnte man ihren Job nun wirklich nicht bezeichnen.

»Sie sind also die berühmte Jenna Ramey«, sagte er mit müder Stimme.

Farben blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Sie zog einen Stuhl mit Rollen zu sich heran und setzte sich Keaton gegenüber. »Warum wollen Sie ausdrücklich mit mir sprechen, Isaac?«

Er beugte sich über den Tisch und blinzelte. Sorgenfalten hatten sich auf seiner Stirn gebildet. »Sie sind der einzige Mensch, von dem ich mir vorstellen kann, dass er es versteht. Sie wissen es. Dass jemand ein Mensch sein kann, auch wenn er etwas Schlimmes getan hat.«

Jenna presste die Lippen zusammen. Sie begriff, worauf er anspielte, aber sie war nicht bereit, ihm gleich entgegenzukommen. Sicher, viele wussten von ihrer Mutter, aber dass er sich so ausdrücklich darauf bezog, sprach Bände. Mit den Jahren hatte sie jedoch gelernt, nicht sofort Vermutungen anzustellen. »Das stimmt. Wollen Sie damit sagen, dass Sie etwas Schlimmes getan haben?«

Er nickte energisch und wippte wieder mit dem Stuhl. »Allerdings. Ich habe Menschen umgebracht.«

Verschiedene Farben leuchteten auf, aber Jenna versuchte nicht, sie festzuhalten. Ein tieferer Teil ihres Gehirns würde sich festlegen, wenn es so weit war.

Sie war aufgebracht. Schnell ging sie die Fakten durch. Er hatte eine Schussposition gewählt, die ihm keine Fluchtmöglichkeit bot; andererseits hatte er weder versucht, sich den Weg freizuschießen noch Selbstmord zu verüben. Aber jetzt wirkte er gequält und reumütig. Er wollte auf jeden Fall gefasst und nicht getötet werden.

Damit alles ein Ende hatte oder um zu spielen?

»Warum haben Sie die Waffe niedergelegt?«, fragte sie ruhig.

»Ich habe nicht … ich dachte, damit würde der Schmerz aufhören. Und dann waren sie tot. Überall Blut, Verletzte. Meine Schuld. Ich wusste, dass ich mit Ihnen sprechen sollte.«

Interessant, aber ich habe nicht gefragt, warum er geschossen hat. Die unterschiedlichen Farben verschmolzen miteinander, verdichteten sich zu einem konkreten Farbton. Nur wenige Sekunden lang, aber Jenna speicherte ihn ab, um später die wachsende Datenbank ihrer Farbassoziationen zu befragen, was die Farben über Isaac aussagten.

»Möchten Sie ein Glas Wasser, Isaac? Ich glaube, Sie sollten etwas trinken. Damit Sie bei Kräften bleiben. Es war ein langer, harter Tag«, sagte Jenna und stand auf.

Draußen wartete Detective Richards.

»Bei Kräften bleiben?«, wiederholte Richards.

Jenna starrte zu Keaton, der immer noch hin- und herwippte. Er wusste, dass er beobachtet wurde.

Sie wandte sich zu Richards um: »Ich sehe ihn rot.«

»Was?«

Es kostete immer Mühe, es zu erklären. »Rot. Er könnte beide Rollen im Team übernehmen, könnte der führende Kopf oder der Untergebene sein. Entweder hat er die Stelle gewählt, wo er sicher gefasst werden würde, oder jemand hat sie für ihn ausgesucht. Er hatte keine Angst, gefasst zu werden. Er stand quasi mit dem Rücken zur Wand, hat aber nicht alle mit sich in den Abgrund gerissen. Könnte bedeuten, dass er aufhören wollte, muss es jedoch nicht. Außerdem wusste er, dass er nach mir fragen sollte. Auch das könnte ihm jemand gesagt haben. Aber als ich mich nach der Waffe erkundigte, reagierte er seltsam. Ich stellte ihm eine Frage, und er antwortete etwas ganz anderes. Er folgt seinem eigenen Plan. Für mich ist er rot.«

Die meisten Menschen assoziieren Rot mit Wut. Bei Jenna war die Bedeutung nicht so festgelegt. Ihre Farbassoziationen waren willkürlicher, andererseits aber auch wieder nicht. Sie erkannte die Bedeutung immer erst, wenn sie die Farbe sah. Sie blitzte nur kurz auf, doch Jenna konnte die Assoziation jederzeit abrufen, wenn sie die Augen schloss und an eine Person oder ein Ereignis dachte. Für sie war eine Farbassoziation wie jedes andere Detail, das ihr an jemandem auffiel und aus dem sich ihr Bild von diesem Menschen zusammensetzte, ähnlich wie etwa die Körpersprache oder ein bestimmter Tonfall. Obwohl der erste Lichtblitz nur kurz war, brannte er sich für immer ein. Im bizarren Farbwörterbuch ihres Gehirns konnte Rot Wut, Liebe oder etwas ganz anderes bedeuten. Oft leuchtete Rot in ihr auf, wenn sie einen Menschen als stark wahrnahm, als Alphatier. Isaac Keaton hatte bei den Zwillingen das Sagen. Er war der General.

»In diesem Fall sagt mir Rot, dass er jemand ist, der seine Macht nutzt. Er ist der dominante der beiden, und aus irgendeinem Grund wollte er verhaftet werden.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass dieses Farbending nichts mit Emotionen zu tun hat«, sagte Richards.

»Hat es auch nicht.«

Richards hob die Hände. »Wie auch immer. Wie machen wir weiter?«

Jenna ging zum Wasserspender und füllte zwei Pappbecher. »Das überlege ich gerade. Wahrscheinlich will er, dass wir ihm seine Nummer glauben, und wenn wir ihn zur Rede stellen, könnte er dichtmachen. In dem Fall lassen wir uns lieber auf sein Spielchen ein.«

»Wenn wir die Wahrheit kennen, ohne dass er es weiß, müssten wir ja eigentlich im Vorteil sein«, meinte Richards.

»Das Problem ist nur, dass wir mehr von ihm erfahren, wenn er uns für einen würdigen Gegner hält«, sagte Jenna. Sie trank einen Schluck Wasser. Wenn sie nicht schon so viele von diesen Monstern getroffen hätte, wäre auch ihr es als naheliegende Möglichkeit erschienen, die Ahnungslose zu spielen.

Wieder leuchtete das Rot auf. Das Naheliegende war hier nicht das Richtige. »Er stellt uns auf die Probe.«

4

Jenna ging wieder in den Verhörraum und reichte Isaac Keaton, der sich die Handflächen an der Hose abwischte, den kleinen Pappbecher mit Wasser.

Isaac führte den Becher zum Mund und trank einen kleinen Schluck. Seine Hände zitterten nicht. Der Becher neigte sich, und das Wasser glitt in den Mund.

Es würde entweder richtig gut oder ganz schlecht laufen. »Gute Show, Isaac.«

Er reckte das Kinn. Als seine haselnussbraunen Augen ihrem Blick begegneten, wich der wilde, ängstliche Ausdruck kühler, berechnender Konzentration.

Seine Mundwinkel hoben sich, und er lachte leise. »Ach ja? Was wissen Sie schon? Na, wenigstens sind Sie nicht nur eine Hochstaplerin.«

Jennas Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte diese Reaktion zwar erwartet, aber das unangenehme Gefühl wurde dadurch nicht schwächer.

»Es wäre doch schade, wenn die ganze Ausbildung umsonst gewesen wäre«, entgegnete sie.

Isaac lachte erneut, heftig und laut. »Ach kommen Sie, Dr. Ramey! Wir wissen beide, dass Ihre Gabe nicht aus irgendwelchen Kursen herrührt, nach dem Motto ›Ich habe einen Hochschulabschluss, und außerdem habe ich schießen gelernt‹!«

Es war eine Gabe. Ähnlich wie die Gabe, in die Zukunft zu sehen.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Partner.«

Isaac hob die dünnen Brauen. »Partner ist eine interessante Wortwahl. Signalisiert Gleichberechtigung.«

»Aber für Sie ist er nicht gleichberechtigt«, meinte Jenna. Es war keine Frage. »Die wenigsten Leute sind das, oder?«

Isaac warf den Kopf zurück. »Oh, Dr. Ramey! Sie analysieren mich! Das ist ja süß. Darf ich auch mal? Sie retten gern Menschen. Sie haben Ihren Vater und Ihren Bruder gerettet, aber Sie kommen nicht damit zurecht, dass Sie Ihre Mutter nicht retten konnten. Sie retten andere Leute, um Ihre Schuldgefühle loszuwerden.«

Jenna musste ihren Zorn hinunterschlucken. »Ich analysiere Sie nicht, Isaac. Es sei denn, Sie wollen das. Allerdings versuche ich zu verstehen, warum Sie das getan haben. Das gebe ich zu.«

»Natürlich tun Sie das! Das ist Ihr Job!«

Manche Soziopathen waren wie Erstklässler, denen nichts passt, die gleichzeitig als Erste und nicht als Erste mit ihrem Vortrag drankommen wollen. Manchmal bestand der Trick darin, das Thema zu wechseln. »Erzählen Sie mir von der anderen Hälfte des Teams.«

»Drittel.«

»Okay«, gab sie nach, »dem anderen Drittel.«

»Haben Sie bei Ihrer Mutter schon immer die Farbe Schwarz gesehen?«

Blitzartig drängten sich ihr Bilder von dem Steakmesser im Fleisch auf. Blutige Handabdrücke auf der Arbeitsplatte in der Küche, eine Spur von Erbrochenem, die sich zur Tür zog. Freiheit. »Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen, Isaac.«

»Hmpf«, feixte er, »ich schon.«

Jennas Herz krampfte sich zusammen, und Panik ergriff sie. Sie verspürte einen starken Druck auf dem Brustkorb, als würde er gleich explodieren.

Ganz ruhig.

Dieser Psychopath hatte zahlreiche Menschen erschossen und dann darauf gewartet, dass man ihn festnahm. Aber bestimmt nicht nur, weil er mit der »berühmten« Dr. Jenna Ramey reden wollte, so gelangweilt konnte man doch gar nicht sein. Nein, er wollte Zeit schinden. Er wartete auf etwas.

Er grinste hämisch, und Violett tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Die Graphem-Farb-Synästhesie funktionierte bei Jenna wie eine umgekehrte Farbblindheit. Während die meisten Menschen bestimmte Äußerungen oder Gesten mit Charaktereigenschaften assoziierten, hoben die Farben, die vor Jennas innerem Auge erschienen, eine bestimmte Eigenschaft hervor und ließen sie aufleuchten wie eine Brünette in einem Meer von Glatzköpfen.

In dem Fall verwies das aufleuchtende Violett auf einen Hang zum Narzissmus. Mit Schmeichelei würde sie bei ihm weit kommen.

»Ich glaube keine Sekunde lang, dass Sie sich schnappen ließen, nur um ein bisschen mit mir zu plaudern, Isaac.«

»Sagen Sie’s mir, Dr. Ramey. Warum habe ich mich schnappen lassen?«

Geltungsdrang. Du spielst Spielchen, willst beweisen, dass du schlauer bist als wir. »Ihre Handarbeitslehrerin war gemein zu Ihnen?«

»Es kann doch nicht sein, dass ich mich festnehmen lassen wollte, oder, Dr. Ramey?«

Normale Menschen nicht. Isaac schon. »Sie sagten, der andere Täter würde nur ein Drittel Ihres Teams ausmachen, aber er ist noch auf freiem Fuß. Folgt man Ihrer Argumentation, heißt das, dass Sie ihn entweder unterschätzen oder mich anlügen. Was trifft denn nun zu?«

»Wussten Sie, dass sie log, Jenna? Ihre Mutter? Wie konnten Sie das wissen? In den Nachrichten hieß es, Sie hätten einen Verdacht gehabt wegen der Farben, die Sie mit ihr in Verbindung brachten. Es hieß, Sie könnten es nicht erklären. Ihre Farben hätten nichts mit Ihren Gefühlen für jemanden zu tun, Jenna, aber so war es nicht, oder? Sie wollten das nicht, aber Ihre Gefühle kamen Ihnen dazwischen.«

Sie schluckte die Beklemmung hinunter. Isaac wusste erschreckend viel.

Aber Jenna würde diesem Typen lieber eine Niere spenden, als mit ihm über ihre Vergangenheit zu reden. Am besten blieb sie bei der Sache. »Da wir gerade von Ihrem Partner sprechen, Isaac, wenn er nur ein Drittel Ihres Teams ausmacht, warum haben Sie sich dann überhaupt mit ihm zusammengetan? Er wäre doch eher eine Belastung.«

Isaac blies die Backen auf, legte die Hände in den Handschellen an den Mund und presste die Luft heraus. »Sie kennen die Antwort, oder?«

»Wenn ja, würde ich nicht fragen.«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie haben mich gefragt, ob ich andere Leute für ebenbürtig halte, und Sie kannten die Antwort.«

Auch noch ein gutes Gedächtnis. »Warum kommen Sie mir nicht ein wenig entgegen?«

Er kippte den Stuhl nach hinten, bis er auf zwei Beinen stand. »Wenn ich das täte, Dr. Ramey, müssten Sie womöglich nicht weiterfragen. Aber ich hoffe doch, dass Sie noch ein bisschen bleiben und mit mir plaudern.«

5

Sebastian Waters blinzelte in das gleißende Neonlicht. Er war völlig erledigt und spürte seine linke Seite nicht. Was in aller Welt …

Dann erinnerte er sich. Schüsse. Kugeln. Leute brachen zusammen. Er hatte geschrien, dass jemand von oben auf sie schoss, vom Schloss aus.

Er zuckte zusammen, als er die Krankenschwester sah. »Wer ist da?«

Die junge dunkelhaarige Schwester mit dem dünnen Pferdeschwanz lächelte. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, Mr. Waters. Ich bin die Nachtschwester. Sie sind im Krankenhaus. Erinnern Sie sich, was passiert ist?«

Und ob.

»Ja«, sagte er ernst. So viel Blut.

»Sie wurden an der Schulter getroffen. Die Kugel ging glatt durch. Keine größeren Schäden, sie hat keine Arterien verletzt. Sie haben eine böse Wunde am Bauch vom Sturz. Wurde mit fünf Stichen genäht. Sie hatten Glück.«

Glück? Wie wäre es mit Bestimmung.

»Haben sie …« Sebastian zuckte vor Schmerz zusammen. Die Stiche brannten, wenn er redete. »Haben sie ihn erwischt?«

»Die Polizei möchte mit Ihnen sprechen, sobald der Arzt sein Okay gibt, aber … ja, die Polizei hat den Schützen auf dem Schloss festgenommen. Leider war er nicht allein. Ein Komplize hat auf die Besucher bei der Fähre geschossen. Er ist noch immer auf der Flucht.«

»Unglaublich«, flüsterte Sebastian. Die Dimension des Ganzen schockierte, verblüffte ihn. Es schien unmöglich. Es erinnerte ihn an ein Computerspielturnier, bei dem er vor Jahren einmal mitgemacht hatte. Er hatte gespürt, wie das Adrenalin in diesem scheinbar endlosen Spiel durch seinen Körper geströmt war. Aber ganz plötzlich war dieser große Moment vorbei, und man konnte nur fassungslos zurückblicken und fragen, ob man gewonnen oder verloren hatte.

»Ich weiß. Total unwirklich, nicht wahr? Aber sie werden ihn finden. Das ist nur eine Frage der Zeit«, antwortete die Schwester.

»Wie viele …«, Sebastian blieb vor Schmerz wieder die Luft weg, »… Tote?«

Die Schwester runzelte die Stirn. »Möchten Sie wirklich schon darüber sprechen, Mr. Waters?«

»Ja. Ich muss es wissen.«

Die Schwester holte tief Luft und atmete aus. »Zwanzig. Sieben Verletzte, Sie eingerechnet. Manche sind noch in einem kritischen Zustand. Andere werden wieder gesund. Zumindest körperlich. Sie sind wahrscheinlich in der besten Verfassung von allen.«

Sebastian dachte an den Vormittag. Er war als Mitarbeiter des Freizeitparks gekleidet und für die Betreuung zuständig gewesen und sorgte dafür, dass die Besucher zu den Attraktionen und Fahrgeschäften fanden. Er war in einem der Gänge für die Mitarbeiter verschwunden und hatte sich vom Schloss entfernt. Als er seinen Auftrag erledigt hatte, war er wieder zurück zum Schloss, gerade rechtzeitig, als die ersten Schüsse vom Turm fielen.

Genau wie Isaac es ihm gesagt hatte.

Jenna beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den grauen Metalltisch im Verhörraum. Zeit, die Taktik zu ändern. »Okay, Isaac. Sie wollen also unbedingt über mich reden. Sie haben nach mir gefragt, weil Sie das mit meiner Mutter wissen. Sie sagten, Sie hätten einen Artikel gelesen?«

Einen Moment lang verengten sich Isaacs Augen. Er hatte nicht erwartet, dass sie so schnell nachgeben würde. Dann lächelte er selbstgefällig. »Ja, hab ein paar Interviews und so gelesen.«

Sie gab ein tiefes Brummen von sich, das man als Zustimmung deuten konnte. »Und Sie wollen wissen, ob ich meine Mutter immer in Verbindung mit Schwarz sah?«

Isaacs Blick durchbohrte sie, seine Erregung war deutlich zu spüren. Das perfekte Kopfkino.

»Ja, Dr. Ramey, das würde ich sehr gern wissen«, sagte er und sabberte fast.

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Wissen Sie, was ich denke, Isaac? Ich denke, Sie sind ein Lügner.«

»Sie gehen ziemlich nach dem Lehrbuch vor, was, Doktor?«

Jenna lächelte, obwohl das alles überhaupt nicht komisch war. Sie musste freundlich bleiben, damit er weiter mit ihr redete, sie hatte schon häufiger mit solchen Typen zu tun gehabt. Im Gespräch bleiben, der Kerl wollte etwas von ihr. Höchstwahrscheinlich wünschte er sich einen würdigen Gegner. Wenn sie diesem Anspruch nicht genügte, würde er entweder völlig dichtmachen oder nur noch kompletten Mist von sich geben, der sie nicht weiterbrachte.

»Sie lügen. Sie haben die Interviews mit mir nicht gelesen, sonst wüssten Sie, dass ich bei meiner Mutter nie die Farbe Schwarz gesehen habe. Sie haben das nur vermutet. Eine häufige Fehleinschätzung. Nein, die Information habe ich in keinem Interview gegeben.«

Isaac Keaton strich sich heftig die honigfarbenen Strähnchen aus der Stirn und blinzelte. Er grunzte. »Touché. Und in welcher Farbe sahen Sie sie dann?«

Endlich. Jetzt hatte sie die Oberhand.

»Das weiß nur ich, und dafür müssen Sie mir etwas anbieten.«

Isaac zwinkerte. »Jetzt sind Sie diejenige, die Vermutungen anstellt, Dr. Ramey. Sie vermuten, dass ich mich darauf einlasse.«

»Das werden Sie, wenn Sie wollen, dass ich weiter mitspiele«, erklärte Jenna. »Sagen Sie mir etwas über den anderen Killer.«

Isaac drehte den Kopf und musterte die erbsengrünen Wände. »Steht mir nicht ein Anruf oder so was zu?«

Das war nicht die übliche Bitte eines Psychopathen, der Spielchen spielen wollte. Wer sich nach einem mehrfachen Mord widerstandslos verhaften ließ, wollte anschließend nicht unbedingt seinen Anwalt anrufen.

»Noch ein paar Fragen.«

Typisch, er wechselte das Thema: »Menschen wie Sie wollen meistens Rache, Dr. Ramey. Sie wissen schon. Die Opfer. Was machen die, wenn sie ihre Rache nicht bekommen? Oder will man gar keine Rache, wenn die Person, die die eigene Familie verletzt hat, selbst ein Familienmitglied ist?«

»Das war es also, Isaac? Rache?«

Er schnaubte. »Natürlich nicht. Ich habe nur gesagt, dass viele Leute das wollen.«

Worauf wollte er hinaus? Er hatte doch sicher einen Grund. »Wer will Rache? Der andere Schütze?«

Wütend biss er die Zähne zusammen, doch im nächsten Moment war seine Miene wieder gelassen. »Tun Sie sich einen Gefallen, und vergessen Sie mal den anderen Schützen.«

Er will also, dass es um ihn geht. Oder zumindest soll es nicht um seinen Partner gehen.

»Okay. Wer also dann?«

Isaac legte die gefalteten Hände auf den Tisch und drehte die Daumen umeinander. »Ich habe jahrelang mit Leuten geredet, Dr. Ramey. Ich glaube, wir sind uns sogar sehr ähnlich. Sie hören den Leuten zu, ich höre den Leuten zu. Mit dem Unterschied, dass sie, wenn sie mit Ihnen reden, für Ihre professionelle Hilfe zahlen. Wenn sie mir ihre Probleme erzählen, zahlen sie nichts. Sie vertrauen mir ihre größten, dunkelsten Geheimnisse an, weil ich ihr Freund bin.«

»Okay, und was haben diese Leute mit alldem zu tun? Haben sie Sie irgendwie verärgert?«

Isaac lachte erneut auf. »Ich habe Ihre Fragen beantwortet. Was ist jetzt mit meinem Anruf?«

6

»Auf den Anruf kann er lange warten, wenn er so scharf darauf ist«, sagte Officer Nelson.

Richards nahm einen Bissen Pizza und gab Nelson mit einem Handwedeln zu verstehen, dass er verschwinden sollte. »So einfach ist das nicht«, sagte er, sah aber in Erwartung einer Erklärung zu Jenna.

Der Isaac Keaton, der jetzt im Verhörraum saß, war auf einmal ein ganz anderer als vorhin, als sie den Raum verlassen hatte. Der unruhig wippende, verwirrte Mann saß nun aufrecht, völlig reglos, mit einem leichten Lächeln um die Lippen. Er schien richtig Spaß an der Sache zu haben.

»Er will, dass wir annehmen, er würde den anderen Schützen anrufen«, sagte Jenna. »Was aller Wahrscheinlichkeit nach heißt, dass er irgendjemand anders anruft. Er hat einen Plan für diesen Anruf, darauf können Sie wetten. Sonst würde er nicht dauernd danach fragen.«

»Was für einen Plan?«, fragte Moose.

»Wer weiß? Aber ich werde versuchen, das herauszufinden. Wie weit ist das BAU-Team inzwischen?«

»Gerade gelandet, sie sollten also etwa in einer halben Stunde hier sein«, antwortete Richards.

»Gut. Keaton soll ruhig noch eine Weile schmoren. Sich fragen, was ich vorhabe. Kann ich in der Zwischenzeit irgendwo ungestört telefonieren?«

Jenna starrte auf die Fotos, die vor ihr auf dem Schreibtisch verstreut lagen, während das Telefon tutete. Zweimal. Dreimal.

Endlich ging jemand dran. »Was geht?«

»Wo ist Dad?«

Am anderen Ende der Leitung stellte Jennas jüngerer Bruder scheppernd einen Topf auf die Arbeitsplatte und rief: »Hey, hey, hey! Nein, Ayana! Wachsmalstifte sind nur zum Malen!« Es knisterte in der Leitung, dann war er wieder da. »Dad wäscht sich gerade die ekligen Überreste der Hühnerpastete von den Ärmeln. Anscheinend ist die Bezeichnung ›Trotzalter‹ nicht übertrieben.«

»Charley, ich hab dir doch gesagt, dass du sie mit den Wachsmalstiften nicht aus den Augen lassen darfst! Sie steckt sie sich sofort in den Mund …«

»Im Gegensatz zur Hühnerpastete.«

»Es sind die dicken Malstifte, stimmt’s? Sie kann daran ersticken.«

»Hey, Rain Man. Du führst dich auf wie eine Jungfrau bei einem Gefängnisaufstand. Warum so angespannt?«

Jenna riss den Blick los von dem Foto von Korbin Dale, Opfer Nummer vier. »Ich weiß, ich weiß. Sorry. Das liegt an dem neuen Fall. Ich krieg hier noch einen Lagerkoller, während wir auf die BAU warten. Ich wollte euch nur sagen, dass es bei mir noch länger dauert. Haltet ihr so lange durch?«

»Das hängt davon ab, wie viel Klebeband wir noch im Haus haben«, sagte Charley.

Charley verwendete inzwischen seinen mittleren Namen, Padgett, als Nachnamen, aber er redete immer noch wie ein echter Ramey.

»Ich kaufe sicherheitshalber noch ein paar Extrarollen auf dem Heimweg. Gib Ayana einen Kuss von mir«, sagte Jenna und legte auf, bevor Charley noch etwas erwidern konnte. Vor ihrem inneren Auge sah sie sein Gesicht vor sich, aber nicht das von heute mit einem Bandana um den Kopf und einem schütteren Kinnbart, sondern einen jüngeren Charley, sein wächsernes, bleiches Gesicht, als er sechs Jahre alt war.

Jenna schaute wieder auf die Bilder auf dem Schreibtisch, Bilder von einem anderen Fall. Vier tote Männer, von denen sie genau wusste, dass sie sie nie im Leben kennengelernt hatte. Schaffst du das, Jenna?

Die andere Hälfte von Isaac Keatons Team war immer noch auf freiem Fuß, und irgendwie musste sie Isaac Informationen über den zweiten Schützen entlocken. In den letzten Monaten hatten die »Zwillinge« die Ostküste terrorisiert und über ein Dutzend Menschen in verschiedenen Bundesstaaten getötet. Aber das waren vereinzelte kleinere Anschläge gewesen. Heute hatten die Serienmörder die Zahl der Opfer an einem Tag verdoppelt. Mit einem Schützen in Haft würden die Medien die Polizei von Orlando in der Luft zerreißen und eine Hexenjagd in Gang setzen, wenn nicht bald ein weiterer Verdächtiger verhaftet wurde. Sicher, sie würde mit der BAU zusammenarbeiten und ein Profil über den unbekannten Verdächtigen erstellen, aber das Profil wäre brauchbarer, wenn sie mehr wüsste. Und da Keaton mauerte, blieb ihr wahrscheinlich nichts anderes übrig, als die Zugbrücke zu öffnen und das Trojanische Pferd einzulassen.

Isaac hatte recht. Sie wollte Menschen retten. Zumindest versuchte sie es. Verdammt. Isaac Keaton beherrschte bereits ihr Denken.

Auch den unbekannten Verdächtigen hatte er manipuliert. Soziopathen hatten ein Gespür dafür, den einen wunden Punkt zu finden und dann den Nerv freizulegen und immer wieder daran zu rühren.

Eine gefährliche Taktik, aber wenn sie den Feind erst mal eingelassen hatte, würde sich ihr vielleicht die Chance bieten, den Spieß umzudrehen und seinen wunden Punkt zu finden.

»Schon wieder zurück, Doc?«, fragte Isaac, als Jenna hereinkam. »Nach den ersten fünf Minuten nahm ich an, Sie würden auf Verstärkung warten.«

Clever. »Haben Sie sich deshalb mit jemandem zusammengetan? Zur Verstärkung? Sie wirken auf mich nicht wie der Typ, der Verstärkung braucht.«

»Ah, Dr. Ramey, brauchen und wollen sind zwei verschiedene Paar Stiefel.«

Jenna setzte sich dem Mörder gegenüber, schlug die Beine übereinander und beugte sich zu ihm. »Also brauchten oder wollten Sie Verstärkung?«

Isaac erhob sich ein Stück von seinem Holzstuhl und ließ sich wieder fallen, gleichzeitig schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Das gefällt mir so an Ihnen, Dr. Ramey. Nur weil ich Ihre Aussage korrigiert habe, nehmen Sie nicht automatisch an, dass ich die Verstärkung wollte, anstatt sie zu benötigen.«

Sein flackernder Blick beruhigte sich wieder, anstelle der Erregung trat Selbstgefälligkeit.

Allerdings hatte sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen. Probieren wir es anders. »Sie mögen es nicht, wenn man Vermutungen anstellt, haben aber trotzdem vermutet, dass ich auf Verstärkung warte. Wir spielen also nach unterschiedlichen Regeln?«

Natürlich kannte sie bereits die Antwort. Isaac war ein Soziopath, und alle Soziopathen, sei es nun Ted Bundy, Jeffrey Dahmer oder Jennas eigene Mutter, hatten bestimmte Gemeinsamkeiten. Und zwar spielten sie immer nach ihren eigenen Regeln, es wurde also mit zweierlei Maß gemessen – bestimmte Regeln galten nur für sie, die anderen für alle anderen.

Isaac schien zu wissen, was sie dachte. Er nickte energisch, brummte zustimmend, erklärte aber in leicht spöttischem Ton: »Überzogene Selbstwahrnehmung – glaubt, dass die Regeln der anderen nicht für ihn selbst gelten. Das hab ich schon ein- oder zweimal gehört.« Er blinzelte. »Ja, das stimmt. Ich stelle Vermutungen über andere an. Normalerweise bin ich schlauer als sie.«

Daran hatte Jenna keinen Zweifel. Allerdings hatte sie das schon von vielen Psychopathen gehört, meistens sogar mehrfach. Sie überschätzten gern ihre eigene Intelligenz und machten dann Fehler. Geh darauf ein. »Und was sind meine Regeln, wenn ich fragen darf?«

Isaac legte den Kopf schief und musterte sie. Schließlich sagte er: »Beides. Wollen und brauchen.«

Die Belohnung dafür, dass sie die richtige Frage gestellt hatte. Seine Pupillen waren erweitert. Er mochte sie.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass ich auf meine nächste Frage keine Antwort erhalte?«

»Wie steht’s mit dem Anruf?«

Jenna sah auf die Uhr. Sie konnten ihm nicht ewig diesen Anruf verweigern, aber verdammt noch mal, sie würde ihn erst telefonieren lassen, wenn er ihr einen Hinweis gegeben hatte, warum er unbedingt telefonieren wollte. Hank und sein Team mussten inzwischen hier sein. »Wer ist denn Ihr Freund am Telefon, Isaac?«

»Wen haben Sie zuerst so gesehen? Mit diesem Farbending, meine ich«, entgegnete Isaac.

Jenna schob den Stuhl zurück und stand auf. Immer diese verdammten Farben. »Mal sehen, wie sich Ihr Anruf zeitlich einplanen lässt.«

7

Mit knirschenden Knien hievte sich Thadius Grogan aus dem Fernsehsessel. Er klappte das staubige Buch zu und warf es auf den Stapel mit anderen Büchern und Zeitschriften, die das Sofa in Beschlag nahmen. Dass sich bei ihm noch so etwas wie Konzentration einstellen würde, war in etwa so wahrscheinlich, wie wenn Pee-wee Herman als nachträglich auf die Liste gesetzter Kandidat die Präsidentschaftswahl gewinnen würde. Die Geschichte des armen Mädchens, das mit zehn entführt und sechs Jahre lang als Sexsklavin gehalten worden war, konnte ihn einfach nicht fesseln, obwohl es natürlich gut war, wenn er daran erinnert wurde, wie viel schlimmer es Emily hätte ergehen können. Howie Dumas würde ihm jeden Moment Neuigkeiten über Emily durchgeben.

Seit »es« passiert war, hatte er sich ohnehin nie wieder richtig auf ein Buch konzentrieren können. Zumindest auf nichts Unterhaltsames. In den letzten fünf Jahren hatte er sich nur noch mit ungelösten Mordfällen beschäftigt, hatte sich die Bilder der Verdächtigen eingeprägt, nur für den Fall, dass er einen Täter zufällig auf der Straße sah und damit jemandem helfen konnte, dem es ähnlich ging wie ihm. Und wenn es ganz schlimm kam, nahm er sich ein Buch wie dieses, vertiefte sich in die Verbrechen und dankte Gott dafür, dass Emilys Mörder sie sofort umgebracht hatte und nicht erst nach jahrelanger Folter.

Ein schwacher Trost. Em studierte Tiermedizin an der Florida Calhan University und wollte später im Zoo von Birmingham in Alabama arbeiten. Und diesen dürren kleinen Kerl mit der Afrofrisur heiraten. Verdammt, womöglich hätten sie heute ein oder zwei Kinder, und er und Narelle würden sie freitagabends hüten, damit die beiden ins Kino gehen konnten. Em war immer so gern ins Kino gegangen.

Thadius schritt unruhig auf und ab und drehte das Handy in seiner Tasche hin und her.

Stattdessen hatte der Scheißkerl ihm beide genommen. Rein theoretisch nur Emily, aber Narelle hatte es nicht verkraftet. Thadius würde dem Scheißkerl nie verzeihen.

Und auch sich selbst nicht.

»Sie riefen um Hilfe, kurz bevor Sie angeschossen wurden. Erinnern Sie sich danach noch an irgendetwas oder irgendjemanden, Mr. Waters?«

Sebastians Lider fühlten sich an wie zugeklebt, aber er zwang sich, wach zu bleiben. Die Schmerzen auf der linken Seite waren wieder aufgeflammt, als das Morphium langsam nachgelassen hatte, und bevor er es verhindern konnte, hatte die Schwester ihm eine weitere Dosis verpasst, um die Schmerzen zu lindern. Deshalb durfte ihn die Polizei streng genommen gar nicht vernehmen. Bisher waren es eher oberflächliche Fragen, sie dachten wohl, sie wüssten schon genug, und er könnte keine neuen Informationen liefern. Wenn die eine Ahnung hätten, was er in seinem benebelten Zustand alles verraten könnte. Ein Versprecher von ihm, und sie hätten die Vernehmung ihres Lebens.

»Kann mich an nichts weiter erinnern«, murmelte Sebastian. Isaac sagte immer, weniger ist mehr – obwohl das nicht stimmte.

Der Polizist steckte sein Notizbuch in die Tasche. »Das wäre erst mal alles, aber rufen Sie uns bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Wir können Ihnen natürlich nicht offiziell sagen, wie Sie sich den Medien gegenüber verhalten sollen, aber ich an Ihrer Stelle würde mich bedeckt halten.« Er hustete. »Soweit das möglich ist. Sie sind überall die Topnachricht. Also, der äh, Zwischenfall, meine ich. Die Reporter werden Ihnen auf Schritt und Tritt folgen und vor Ihrem Haus warten. Und aus naheliegenden Gründen wollen Sie sicher keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«

Der Polizist ging zur Tür, und Sebastians Kopf rollte zur Seite. Mein Gott, er musste dringend schlafen. »Sie meinen den anderen Schützen, oder?«

Zum Glück sprach er so schleppend, dass der bittere Ton eher wie Angst klang. Über ihn war in den Nachrichten so gut wie nichts zu hören.

Der Polizist wandte sich noch einmal um und sah ihm in die Augen: »Ja, leider.«

»Verstehe, keine Presse«, sagte Sebastian. Mit den verdammten Medien kannte er sich aus. Hatte er mit der Zeit gelernt.

»Gute Besserung, Mr. Waters«, sagte der Polizist.

Endlich hatte Sebastian seine Ruhe und konnte die Augen schließen.

Junge Junge. Sie rannten wie aufgescheuchte Hühner.

Isaac saß im Verhörraum und ließ das Attentat im Freizeitpark noch einmal genüsslich Revue passieren. Aber dieses Hochgefühl war nichts im Vergleich zu seinem bisherigen Gespräch mit Dr. Ramey. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Lage vor dem eigentlichen Höhepunkt so angenehm entwickeln würde. Die Frau hatte es echt drauf.

Ganz die Mutter.

Inzwischen war Sebastian sicher verhört und als unbeteiligter Zeuge eingestuft worden. Morgen um diese Zeit war er bestimmt schon auf dem Weg nach Hause. Natürlich könnte Isaac fragen, wie es Sebastian Waters ging, aber Interesse an seinen Opfern zu zeigen, wäre wohl eher kontraproduktiv. Bis jetzt hatte noch niemand Verdacht geschöpft. Und das sollte auch so bleiben.

Allerdings war die Behavioral Analysis Unit noch nicht eingetroffen. Die eigentliche Probe stand ihm also noch bevor.