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John Niven

Aus dem Englischen von Stephan Glietsch

Wilhelm Heyne Verlag

München

Susan Frobisher und Julie Wickham sind gerade sechzig Jahre alt geworden. Sie leben in einem kleinen Dorf im südenglischen Dorset und sind schon seit der Schulzeit miteinander befreundet. Nach außen hin hat es den Anschein, als ob Helen alles hat – sie lebt in einem schönen Haus, ist (treu) verheiratet mit dem netten (aber langweiligen) Buchhalter Barry. Zeit ihres Lebens war sie Hausfrau, ihre Freizeit verbringt sie in der örtlichen Laien-Theatergruppe. Mit Julie hat es das Leben nicht so gut gemeint. Sie hat zwar die Welt bereist und führte ein unbekümmertes Leben. Aber heute, nach einigen gescheiterten Ehen und geplatzten Firmenträumen, lebt sie in einer Sozialwohnung und arbeitet als Aushilfe in einem Pflegeheim.

Susans Welt wird aus den Angeln gehoben, als Barry tot aufgefunden wird. In einer geheimen Wohnung, von der Helen nicht wusste, dass sie ihnen gehört. Wobei es sich weniger um eine Wohnung, als vielmehr um ein Pornoparadies handelt: Barry hat ein surreales Doppelleben geführt und dabei Unsummen an Schulden gemacht. Schulden, die auf ihrer beider Namen laufen. Bevor das Haus gepfändet wird, kommt den beiden Freundinnen eine radikale Idee: Mithilfe eines hochbetagten Gangsters (eine ehemalige Liebschaft von Julie) beschließen sie eine Bank auszurauben. Das Team wird komplettiert von ihrer Freundin Jill, die ebenfalls große Geldsorgen hat, und der adrenalinverrückten 87-jährigen Rollstuhlfahrerin Ethel. Gemeinsam schreiten die alten Damen zur Tat.

Old School ist eine schräge Satire über die Themen Freundschaft, das Altern und die englische Mittelschicht: Als hätte Quentin Tarantino bei Thelma und Louise Regie geführt.

John Niven arbeitete mehrere Jahre als A&R-Manager einer Plattenfirma, bevor er sich dem Schreiben widmete. Nach seinem ersten Buch, der halbfiktionalen Novelle Music from Big Pink , gelang ihm mit Kill Your Friends ein Welterfolg, der 2015 verfilmt wurde. Mit den Romanen Coma, Gott bewahre und Straight White Male konnte er diesen Erfolg wiederholen. Neben Romanen schreibt John Niven Drehbücher. Er lebt in der Gegend von London.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

SUNSHINE CRUISE COMPANY

bei William Heinemann, Random House, London

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Copyright © 2015 by John Niven

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Covergestaltung: Nele Schütz Design

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN: 978-3-641-15847-7
V002

www.heyne-hardcore.de

Für Sheila Sheerin

EINS

So viel Blut, dachte Susan Frobisher. So viel Blut.

Sie stand vor der Küchenzeile, von oben bis unten mit Blut besudelt. Blutspritzer überzogen die Arbeitsfläche, ihre Schürze und ihr Gesicht. Die große Schüssel vor ihr war voll davon. Der Horrorfilm-Aspekt der Szene wurde vom strahlenden Weiß der Küche noch verstärkt. Sie hatten sie erst letztes Jahr neu einbauen lassen. Klassischer Landhausstil. Mit allem, was dazugehört: ausziehbare Kühlschubfächer auf Kniehöhe, ein Abfallzerkleinerer, einer dieser flexiblen Wasserhähne mit Spiralfederschlauch, wie man sie aus Kochsendungen kennt, und sogar ein eingebauter Weinhumidor. Nicht dass Barry und sie noch sonderlich viel tranken, aber es sah einfach schick aus. All die reifbeschlagenen Flaschen, aufgereiht wie Bomben im Abwurfschacht. Die Küche war von Emperor Kitchens auf der Havering Road. Barry hatte einen sehr guten Preis bei ihnen ausgehandelt, wie er es immer tat. Er liebte es zu handeln.

Susan betrachtete sich in der spiegelnden Rauchglastür des Weinkühlers und war – von den Blutspritzern mal abgesehen – zufrieden mit dem, was sie sah. Obwohl sie auf die sechzig zuging, hatte sie noch immer einen jugendlich frischen Teint, wache Augen und eine straffe Figur. Ihr Haar war schon seit fast zehn Jahren grau. Trotzdem hing ihr Julie ständig damit in den Ohren, es färben zu lassen, wenngleich die Tage, in denen Julie dieses »Vergnügen« gehabt hätte, lange vorüber waren …

Durch die doppelt verglasten Fenster ging ihr Blick in den Garten, wo der Tau in der Morgensonne verdunstete. Zumindest in der Hälfte, die so früh im Mai schon in der Sonne lag. Endlich hatte der Frühling es bis nach Dorset geschafft. Susan steckte den kleinen Finger in die Schüssel mit Blut und schleckte ihn ab. Mmmh. Was die Konsistenz anging, war sie sich noch nicht sicher. Denn die musste auf den Punkt genau stimmen.

War das der Fall, sagte ihr großer Held Tom Savini, der Meister der Spezialeffekte, »lassen sich Trugbilder erzeugen, die so realitätsnah sind, dass sie dem Zuschauer vorgaukeln, er habe Dinge gesehen, die er gar nicht gesehen hat«. Horrorfilme waren Susans kleine Schwäche. Barry hielt überhaupt nichts davon, eigentlich von Filmen ganz allgemein. »Nichts als Blödsinn«, spottete er. »Alles an den Haaren herbeigezogen!« Er stand auf Dokumentationen. Bevorzugt Kriegsdokumentationen. Susan hatte alles von Savini gesehen – Freitag der 13., Brennende Rache, Zombie. Wenn Barry lange arbeiten musste, machte sie es sich bei einer Tasse Tee mit einer DVD gemütlich.

Wie aufs Stichwort trat Barry Frobisher in die Küche. An seiner Krawatte nestelnd, musterte er das blutige Gemetzel. »Was zum Teufel …«

»Die Konsistenz stimmt noch nicht ganz«, erklärte Susan. »Zu dünn.«

»Sieh dir diese Sauerei an!«

»Das kann leider nicht warten. Ich muss noch zum Einkaufen, heute Nachmittag zu Julies Geburtstagsessen und heute Abend zur Generalprobe.«

»Herrje! Kannst du dieses Blutzeug nicht einfach kaufen?«

»Dafür haben wir kein Budget, Schatz.«

Die halb geknotete Krawatte noch immer lose um den Hals hängend, ging Barry zur Kaffeekanne und nahm sich unterwegs eine Tasse vom Frühstückstisch, den sie stets am Vorabend deckten, bevor sie zu Bett gingen. »Ich weiß nicht, was du daran findest, Susan. Ich weiß es wirklich nicht.«

Er nahm eine Scheibe kalten Toast aus dem Ständer und beschmierte sie dick mit Butter. Frühstücksflocken wären die bessere Wahl, dachte Susan. Barrys Taille schob sich allmählich über den Hosenbund. Als sie zuletzt bei Marks & Spencer waren, um was zum Anziehen zu finden, musste sie ihm eine Hose mit Bundweite 56 kaufen. Sie wollte erst gar nicht wissen, wie sich dieses Essverhalten auf seine Arterien auswirkte. Neuerdings hörte Susan ihn morgens vor Anstrengung leise stöhnen, wenn er sich aus seinem Bett hievte. Aus seinem Bett. Vor ein paar Jahren war es schließlich so weit gewesen: Sie hatten sich für Einzelbetten entschieden, seines an der einen, ihres an der anderen Wand des Schlafzimmers. Sie bevorzugten ohnehin unterschiedliche Matratzen. Der gesunde Schlaf ging vor. Er habe nun einmal Rückenprobleme, hatte Barry argumentiert, und es sei ja auch nicht so, als wären sie frisch verheiratet. Womit er auf einen Aspekt des Ehelebens abhob, der inzwischen nur noch äußerst selten zum Tragen kam. Wann eigentlich zuletzt? Susan konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Um die Weihnachtsfeiertage herum? Vielleicht sogar davor?

»Es macht mir Spaß«, beantwortete Susan seine Frage.

Barry schnaubte verächtlich: die Wroxham Players – Susans kreative Spielwiese.

Seine Frau war keine Schauspielerin. Nicht dass sonst jemand in der Truppe diese Bezeichnung verdient hätte. Angefangen hatte es damit, dass sie in der Garderobe aushalf, inzwischen war sie seit drei Jahren für die Kostüme und Requisiten verantwortlich. Barry erinnerte sich mit Grausen, dass sie bei den ersten Vorstellungen sogar auf seine Anwesenheit bestanden hatte: Ein Haufen Rentner und blauäugiger Teenager stolperten über ihre Texte und in den Kulissen umher. Dennoch, schaden konnte es wohl kaum, nahm er an. Immerhin war sie beschäftigt und kam nicht auf dumme Gedanken. Er goss sich Kaffee ein, während Susan im Hintergrund der Kunstblutmixtur mehr Maissirup beifügte. »Was steht dieses Jahr auf dem Programm?«, fragte Barry über die Schulter hinweg.

»König Lear

Er überlegte einen Moment. »Ist das von … Shakespeare?«

»Ja«, sagte Susan. Nicht gerade eine Leseratte, ihr Barry. Aber ein guter Ernährer. Ein Wirtschaftsprüfer. Ein beeideter Wirtschaftsprüfer, hörte sich Susan gelegentlich voller Stolz sagen.

»Worum geht’s denn da, in dem Stück?«, fragte er und schlürfte seinen Kaffee.

»Oh, um die Entwürdigung durch das Alter, könnte man sagen«, erwiderte Susan, starrte in die Mixtur und fragte sich, ob die Menge wohl reichen würde. Sie befürchtete, dass sich Frank, der Regisseur, bei der Szene, in der dem Grafen von Gloucester die Augen ausgestochen werden, einen Tick zu sehr von Peckinpah inspirieren lassen könnte. Sie war sich nicht sicher, ob sich das mit dem Feingefühl des hiesigen Publikums vertragen würde.

»Klingt ja spaßig«, sagte Barry, schlug die Daily Mail auf und hörte schon nur noch mit halbem Ohr zu. Sieh sich das einer an – diese verdammten Osteuropäer. Die machen sich wirklich überall breit.

Das Alter.

Sie würden dieses Jahr beide sechzig werden. Und ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag feiern. Was war das für einer?, überlegte Susan. Jade? Topas oder so was? War ihre Silberhochzeit wirklich schon zehn Jahre her? Was für eine schöne kleine Feier Tom und Clare für sie im Saal der alten Wassermühle geschmissen hatten. Leider bekamen sie Tom und Clare viel zu selten zu Gesicht. Inzwischen Anfang dreißig, hatten ihr Sohn und seine Frau beruflich einfach viel zu viel um die Ohren. Dennoch fand Susan es irgendwie nicht normal, dass sie seit über zehn Jahren ein Paar waren und ihr immer noch keinen Enkel geschenkt hatten. Aber heutzutage lief das offenbar so. Sie selbst war fast dreißig gewesen, als sie Tom bekommen hatte. Damals, 1983. Als »späte Mutter« hatte sie besondere Fürsorge genossen. Wer heutzutage mit dreißig Kinder bekam, galt als jung. Wie alt war Clare jetzt? Zweiunddreißig? Dreiunddreißig? Egal … so wie Susan das sah, war es an der Zeit, dass die beiden endlich zu Potte kamen.

Sie rührte die Wasser-Maissirup-Ketchup-Mischung ein letztes Mal durch, war endlich zufrieden mit der Konsistenz und suchte in der Schublade unter der Spüle nach wiederverschließbaren Gefrierbeuteln.

Wie frage ich ihn wohl am besten?, überlegte sie.

Sie wusste, dass sie sich mit ihrer Bitte auf vermintes Terrain begeben würde. Julie und Barry waren sich noch nie sonderlich grün gewesen. Julie, so vermutete sie, hielt Barry für langweilig. Barry, das wusste sie genau, hielt Julie für total verrückt. Einen schlechten Einfluss. Julie war immer schon wilder gewesen als Susan, früher sogar sehr viel wilder, aber verrückt war sie nicht. Sie hatte ein verdammt aufregendes Leben geführt. Vielleicht sollte Susan an Barrys Überlegenheitsgefühl appellieren. »Ach, Schatz?«

»Mmm?« Achthundert Pfund die Woche an Sozialleistungen? Diese faulen Schmarotzer.

»Könntest du mir diesen Monat vielleicht dreihundert zusätzlich überweisen?«

»Was? Wofür denn?«

»Na ja, ich habe ein bisschen mehr als geplant für Julies Geburtstagsgeschenk ausgegeben.«

»Ach, verdammt, Susan …«

»Es ist ihr sechzigster, Barry! Und sie hat es in den letzten Jahren weiß Gott nicht einfach gehabt. Erst verliert sie ihr Geschäft, weil dieser Arsch sich mit all ihrem Geld aus dem Staub macht. Und jetzt diese Wohnung, in der sie lebt. Ihr grauenhafter Job. Ich wollte ihr was Nettes besorgen.«

»Nun, du kennst ja meine Meinung.«

»Ich weiß, aber …«

»Sie hat doch bisher alles in den Sand gesetzt. Diese blöde Hamburger-Bude genauso wie ihre sogenannte ›Boutique‹. Diese Frau könnte nicht mal ein Besäufnis in einer Brauerei organisieren.«

»Sie hatte Pech.«

»Du musst lernen, dein Geld zusammenzuhalten, Susan.«

»Das mach ich doch!«

»Jeden Monat brauchst du ein paar Hundert für dies, ein paar Hundert für das.« Er stand auf. Stellte die Kaffeetasse in die Spüle und band seine Krawatte. Mit einem sauberen Windsorknoten.

»Bitte, Barry. Sei doch nicht so.«

»Ich überweis dir das Geld, in Ordnung? Aber das war’s dann für diesen Monat.« Du wirst heute noch jemandem was überweisen, Barry Boy, und zwar ein bisschen mehr als das, von deinem Zweitkonto in Holland …

»Danke, Schatz.«

»Keine Ahnung, warum du mich immer wieder rumkriegst.«

Sie hatten das Finanzielle immer schon so gehandhabt. Barry kümmerte sich um alles.

Mitte der Siebziger, in jenem winzigen Zeitfenster zwischen dem Abschluss ihres Kunststudiums und der Hochzeit mit Barry, hatte Susan mal kurz gearbeitet, in einer Kunstgalerie in Poole. Wann hatte sie in der Galerie aufgehört? Es musste 1977 gewesen sein. Ja, genau. Nachdem sie jahrelang herumgereist war, tauchte Julie völlig unerwartet dort auf, das Haar raspelkurz rasiert und reihenweise Sicherheitsnadeln am Revers. Die Galeriebesitzerin hätte fast einen Anfall bekommen. Barry auch, als sie am Abend auf ihn trafen. Später waren sie dennoch gemeinsam in Susans und Barrys Wohnung gegangen, wo Julie sich über sie beide lustig machte, weil sie Fleetwood Mac auf Barrys Tonbandgerät hörten. Das war damals der neueste Stand der Technik. Was ist aus dem Ding eigentlich geworden? All dieses Zeug, das man über die Jahre besitzt, wohin verschwindet es?

Susan nahm von Geld nur dann Notiz, wenn das »Taschengeld« auf ihrem Konto zur Neige ging. Barry dagegen liebte Geld. Er liebte es, damit zu hantieren. Dies und das zu tun. Ihre Finanzen zu »restrukturieren«. Ständig war er auf der Pirsch nach einem besseren Kreditkarten-Deal, einem besseren Zinssatz für ihr Erspartes.

»Ich bin dann mal weg«, verkündete er, legte die Hände auf den Küchentisch und stemmte sich mit einem unwilligen Grunzen in die Höhe.

»Alles klar, Schatz. Im Kühlschrank steht Auflauf fürs Abendessen. Erbsen kannst du dir selbst machen, oder?«

»Muss ich wohl. Könnte eh sein, dass ich lange arbeiten muss …« Er wollte ihr einen Kuss auf die Wange geben, ließ es ob der Blutspritzer aber lieber bleiben. Stattdessen warf er ihr über den Küchentresen hinweg einen Handkuss zu, und Susan spitzte zur Antwort die Lippen.

»Viel Glück, Susan«, sagte sie zu sich selbst, als er zur Haustür ging.

»Was?«, fragte Barry und drehte sich noch einmal um.

»Viel Glück bei der Generalprobe heute Abend, liebe Susan.«

»Oh, na klar. Natürlich. Viel Glück.«

Na, danke schön, dachte Susan, als er die Tür hinter sich schloss.

Barry wiederum dachte: Was für eine alberne Zeitverschwendung.

ZWEI

Während Susan sich mit dem Mischungsverhältnis des Bluts herumschlug, hatte ihre älteste Freundin mit ganz anderen Körperflüssigkeiten zu kämpfen. Einen Kampf, der Julie Wickham in der Überzeugung bestärkte, dass Urin sich wie Schneeflocken oder Fingerabdrücke dadurch auszeichnete, unverwechselbar zu sein.

Man nehme zum Beispiel Mrs. Meecham am Ende des Flurs. Ihrer war extrem beißend. Scharf. Der vom alten Mr. Bledlow hier, dem guten Alf, nicht im Geringsten. Eher mild, beinahe geruchlos. Warum? Beide aßen mehr oder weniger dasselbe. Die gleichen drei Mahlzeiten, die das Heim pro Tag an die Bewohner austeilte – angeliefert in superbilligen, eingeschweißten Gastro-Großpackungen und dann gekocht, gebacken oder frittiert. Vielleicht hing es mit den Nieren zusammen, damit, wie sehr sie bereits in Mitleidenschaft gezogen waren. Mr. Bledlow, mit seinen fast neunzig Jahren, saß still drüben in der Ecke, in einem sauberen Pyjama, in den ihm die Schwester hineingeholfen hatte, während Julie mit ihrem Mopp die Pfütze unter und neben dem abgezogenen Bett aufwischte. Alle Achtung, da war ja ordentlich was rausgekommen. Julie tauchte den Mopp in die Suppe aus Wasser und Bleiche, wrang ihn aus, indem sie ihn in das Sieb des Blecheimers drückte, und wischte dann weiter. Ihr Gesicht spiegelte sich im glänzenden Linoleum des Fußbodens. Im richtigen Licht war es immer noch hübsch, und für ihr Alter hatte sie sehr wenig Grau im schwarzen Haar. Wie beinahe jeden Tag, den sie in den vergangenen drei Monaten hier verbracht hatte, kam ihr diese Zeile aus dem Patti-Smith-Song »Piss Factory« in den Kopf: »Forty hours thirty-six dollars a week – but it’s a paycheck, Jack.«

Wie alt war sie gewesen, als sie den Song zum ersten Mal gehört hatte? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Sie hatte oben in London gewohnt, in diesem winzigen Zimmer in Finsbury Park. Ganz praktisch gelegen, wenn man häufig ins Rainbow ging. Sie war mit Terry zusammen gewesen, der damals im Roxy an der Tür arbeitete. Später jobbte er dann im Vortex.

O ja – ein Gehaltsscheck, Jack. Sie hatte über die Jahre schon alles Mögliche getan, um an Geld zu kommen. Sie hatte gestohlen. Sie hatte … ach, was tat das noch zur Sache. Aber wenn ihr damals jemand erzählt hätte, dass sie an ihrem sechzigsten Geburtstag im Altersheim Seniorenpisse aufwischen würde …

Ein leises Röcheln riss sie aus ihren Gedanken: Mr. Bledlow hielt schluchzend den Kopf in den Händen, seine Schultern bebten. Sie lehnte den Mopp gegen das Bett, ging hinüber und beugte sich über den mit Vinyl bezogenen Lehnstuhl. »Na, na, was ist denn hier los?«

»Es tut mir leid«, sagte der Alte, die Hände noch immer vors Gesicht geschlagen. »Es tut mir so leid.«

»Schon gut, Alf, kein Grund zu weinen. Nur ein kleiner Unfall.«

»Es gehört sich nicht, dass Sie das machen müssen.«

»Seien Sie nicht albern. Das ist mein Job.« Sie legte ihm den Arm um die Schulter. Sein Haar war wie Puder, spröde und weiß. Es wirkte, als würde es davonfliegen und sich in der fahlen, antiseptischen Luft wie Löwenzahnsamen verteilen, wenn man hineinblies. »Schhhh, ist ja gut. Alles in Ordnung.« Sie tröstete den armen Kerl, wartete, bis er sich beruhigte, und blickte sich im Zimmer um. Betrachtete die gerahmten Fotografien von Kindern und Enkeln, die alle Jubeljahre mal zu Besuch kamen. Den Krug mit dünnem Orangensaft aus Konzentrat. Die Tabakdose, in der er sein loses Kleingeld verwahrte. Den trostlosen Ausblick auf die düstere, viktorianische Ziegelmauer. Julie war fast dankbar dafür, keine Kinder zu haben. Da war niemand, der sie nicht besuchen würde, wenn es so weit wäre. Niemand, der ihren Geburtstag vergessen könnte. Niemand, der sich Weihnachten dazu verpflichtet fühlen würde, das gerade noch vertretbare Minimum seiner Zeit an ihrer Seite abzusitzen. Niemand, der … nein. Schluss damit! Es war besser, nicht weiter daran zu denken. Sie hatte in jüngster Zeit schon viel zu viel darüber gebrütet, nachts, in ihrer Wohnung, zum Klang der Musik, in der Hand ein Glas mit billigem Wodka.

Sie spürte, wie sich seine Atmung normalisierte, während das Schluchzen nachließ. »So ist’s besser«, sagte Julie.

Mit feuchten Augen hob er den Blick – Augen, die neun Jahrzehnte hatten kommen und gehen sehen – und erklärte mit schlichter, unmissverständlicher Klarheit: »Ich mag es hier nicht.«

Julie spürte einen Kloß im Hals, als sie direkt ins Kraftfeld seines Kummers starrte: die letzten Tage in einem heruntergekommenen, vom billigsten Anbieter betriebenen Dreckstall zu verbringen, umgeben von lauter Fremden. Sie wollte ihm antworten: »Keiner mag es hier, Alf. Keiner von uns.« Aber sie schluckte ihre Tränen und ihre Angst hinunter, um ihm die einzige Antwort zu geben, die sie ihm geben konnte: »Kopf hoch, mein Lieber. Jeden Augenblick kommt Ihr Tee.«

Auf die englische Art: mit zwei Stückchen Zucker, die den Blick in den Abgrund versüßten, bevor die Milch ihn verschleierte.

Mr. Bledlow rang sich ein Lächeln ab, da hörte Julie hinter sich ein elektrisches Surren, dann das Knallen der Tür, die aufgestoßen wurde, und die gegrölte Begrüßung: »HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM GEBURTSTAG, DU RATTENSCHARFE BRAUT

Sie blickte über ihre Schulter. »Dir auch einen guten Morgen, Ethel.«

Ethel Merriman, siebenundachtzig, saß strahlend in ihrem elektrischen Rollstuhl. Ihren »Greifer« – einen Teleskoparm mit einer mechanischen Greifzange am Ende, der ihr Zugriff auf Dinge außerhalb ihrer Reichweite bot – hatte sie hinter ihrem Rücken verstaut, so wie früher ein Kutscher seine Muskete. Obwohl sie inzwischen hundertzwanzig Kilo auf die Waage brachte, umrahmte ihr Haar – ein wirrer Schopf von unnatürlich grellem Rotblond – ein Gesicht, das irgendwie immer noch attraktiv war. Ein Gesicht, das jetzt gerade jenen Ausdruck zur Schau trug, der so etwas wie ihr Markenzeichen war und sich wohl am besten als ein angriffslustiges Grinsen beschreiben ließ. Julie registrierte, dass Ethel Lippenstift auf ihren Zähnen hatte. Vorn an ihrem Rollstuhl verkündete ein Aufkleber: »Kein Schwanz ist so hart wie das Leben!« Auf der Rückseite verkündete ein anderer: »Ich bremse für niemand!« Ethels Blick wanderte von Mr. Bledlow zum Eimer, dem Mopp und den zu einem Ball zusammengeknüllten Laken. »Oh, verstehe«, sagte sie. »Ins Bett geschissen, was?«

»Ethel!«, zischte Julie sie an.

»He, kein Ding. Wie mein Oskar zu sagen pflegte: Wenn du dich nicht eingeschissen hast, warst du auch nicht richtig betrunken. Hier, Alf.« Ethel griff unter ihren Sitz und warf dem alten Herrn eine Tüte Malzbonbons in den Schoß. »Bedien dich. Hab ich der alten Ziege Allenby in 4C geklaut.«

»Ethel!«, rief Julie erneut.

»Du, Geburtstagskind, hältst die Klappe und kommst mit – Zigarettenpause.« Ethel lupfte das Oberteil ihres Freizeitanzugs – ihre heutige Wahl war auf ein spektakuläres taubenblaues Veloursmodell gefallen –, um einen Zinnflachmann zu enthüllen, der in ihrem Hosenbund steckte. »Ich geb einen aus.«

»Heiliger Bimbam …«, seufzte Julie. In diesem Augenblick betraten zwei Schwestern das Zimmer mit frischer Bettwäsche für Mr. Bledlow. Die beiden ignorierten Ethel geflissentlich, als sie sich an ihr vorbeischoben. Offenbar hatten sie bereits einschlägige Erfahrungen mit ihr gemacht. Jeder hier hatte so seine Erfahrungen mit Ethel.

»Guten Morgen, Schwester Leck und Schwester Else«, begrüßte Ethel sie fröhlich, ohne eine Antwort zu erhalten.

»Na gut, fünf Minuten«, sagte Julie. »Kommst du klar, Alf?«

Mr. Bledlow nickte, während er dankbar ein Malzbonbon zerbiss.

DREI

»Sechzig. Du alte Schachtel. Du verwelkte Schabracke

Sie ließen sich vor der Notausgangstür die Sonne ins Gesicht scheinen. »Ich weiß, Ethel. Wie konnte das bloß passieren?« Julie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und schielte dabei mit einem Auge zur Tür.

Stöhnend hievte sich Ethel aus ihrem Rollstuhl, tippelte ein paar Schritte vorwärts und drückte die Feuertür zur Sicherheit ganz zu. Julie wusste, dass Ethels Immobilität, genau wie ihre Schwerhörigkeit, graduellen Schwankungen unterlag, die eher selektiver Natur waren. Ethel konnte sehr wohl aus dem Rollstuhl aufstehen und ein paar Schritte gehen, falls ihr das angebracht erschien. Etwa wenn ein anderer Bewohner fahrlässig genug war, eine verlockende Tüte Bonbons außerhalb der Reichweite ihres Greifers in Sicherheit zu wähnen.

»Ach, sei still«, sagte Ethel und griff mit einer Hand nach der Zigarette, während sie mit der anderen den Flachmann hielt, der in der Morgensonne glitzerte. »Ich verarsch dich doch nur. Sechzig ist gar nichts. Scheiße, als ich in deinem Alter war, war ich der Chef im Ring. Ich hatte sie alle, das sag ich dir. Schwänze bis zum Abwinken …« Sie nahm einen großen Schluck aus dem Flachmann – was immer der auch enthielt – und gab einen langen, zufriedenen Seufzer von sich, bevor sie den Satz zu Ende brachte: »… und Mösen auch.« Julie lachte, als Ethel ihr den Flachmann anbot. Sie schüttelte den Kopf. »Sei nicht so eine Memme«, sagte Ethel und streckte ihr den Schnaps hartnäckig entgegen.

»Es ist erst kurz nach neun, Ethel.«

»Hab ich dich nach der Uhrzeit gefragt? Hab ich dich etwa nach der Scheiß-Uhrzeit gefragt?«

»Ich bin nachher mit Susan zum Essen verabredet.«

»Pfff. Ihr lasst es ja bestimmt richtig krachen.«

»Jetzt hör schon auf, Ethel. Susan ist in Ordnung, wenn man sie erst mal näher kennt.«

»Langweilig«, säuselte Ethel.

»Und dann ist da ja auch noch die Party nach der Generalprobe heute Abend. Bist du immer noch an Bord?«

»Ein paar Stunden hier raus? Dafür ertrage ich sogar die Wroxham Players. Aber um aufs Thema zurückzukommen …« Ethel warf einen vielsagenden Blick auf den Flachmann, als würde dieser die Lösung zu sämtlichen Rätseln der Welt enthalten. »Du scheinst mich missverstanden zu haben. Ich habe weder nach der Uhrzeit gefragt, noch habe ich mich nach deinen blöden Plänen für die nächsten vierundzwanzig Stunden erkundigt. Ich habe dich bloß darum gebeten, mit mir ein Schlückchen auf deinen Geburtstag zu trinken

»O Gott«, stöhnte Julie, griff nach dem verflixten Ding, schielte erneut in Richtung der Feuertür und nahm einen raschen Schluck. Sie spürte, wie der großzügig bemessene Gin ihre Eingeweide versengte und eine Hitzewelle sie durchfuhr wie ein Hausbrand auf der Suche nach Sauerstoff. »Scheiiiiiße.«

Ethel lachte. »Martini. Nach meiner eigenen Rezeptur. Na ja, zumindest behaupte ich das immer. Eigentlich hat sie mir ein Air-Force-Pilot verraten. Damals, gleich nach dem Krieg. Wie hieß der Lümmel doch gleich? Cecil? Cedric? Celly? Der erste Buchstabe war so scharf wie er. Er war in Duxford stationiert und hat Mosquitos geflogen. Nicht viel in der Rübe, aber seine Maschine stand immer parat, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ja, Ethel. Ich weiß, was du meinst. So subtil war das nun auch wieder nicht.«

»Der Gin muss beinahe gefroren sein, dickflüssig, das war seine Grundregel. Und dann wird die Wermutflasche kurz daran gerieben.«

Sie gab Julie die Zigarette zurück, und beide Frauen blickten über die Dächer des Heims: Kaminaufsätze, Pfützen auf Teerpappe, Fernsehantennen, vermodernde Ziegelsteinmauern. So trist die Aussicht auch war, die warme Morgensonne versprach einen herrlichen Tag. Ethel sah Julie beim Rauchen zu. Die Wangen der Jüngeren waren vom Gin leicht gerötet und ihr melancholischer Blick in die Ferne gerichtet.

»Also gut, raus damit«, sagte Ethel.

»Was?«

»Spar dir dein was, ich bin doch nicht blöd.«

»Ach, es ist bloß … sechzig, Ethel. Ich bin nicht gerade da, wo ich mich mit sechzig gesehen hätte.«

»Und wo hättest du dich gesehen?«

»Keine Ahnung. Irgendwo, wo es schöner ist als hier. Nicht in einer kleinen Mietwohnung. Nicht beim Aufwischen der Pisse anderer Leute.«

»Du glaubst also, du hast Probleme? Komm, gib mir noch einen letzten Zug. Sieh mich an: ein Bühnen- und Leinwandstar, der seine Cocktails heimlich im abgeschlossenen Badezimmer mixen muss und schlafenden Rentnern die Malzbonbons klaut.«

»Warst du wirklich mal berühmt, Ethel?«

»Vom Picadilly Circus bis zur Amalfiküste, Schätzchen – wenn der Laden eine Bar und eine Bühne hatte, hab ich vermutlich einmal dort gesungen und getanzt.«

Dass sich jemand an der Notausgangstür zu schaffen machte, registrierten die beiden erst ein oder zwei Sekunden, bevor sich diese ächzend öffnete. Aber die Zeit reichte Ethel völlig aus, um mit einer Hand die schwelende Kippe im weiten Bogen über den Mauerabsatz zu werfen, während sie mit der anderen den Flachmann zurück in den Hosenbund steckte – wie ein Revolverheld, der seinen rauchenden Colt ins Holster schiebt, nachdem er jemanden abgeknallt hat. Vor ihnen erschien die bullige Gestalt von Miss Kendal. Sie war Mitte dreißig, ihre Haare hingen in fettigen Strähnen in ihr rotes Gesicht. In ein etwas zu knapp sitzendes Businesskostüm gezwängt, trug sie ihr omnipräsentes Klemmbrett mit sich herum. Der Blick, mit dem sie Ethel musterte, war der einer Frau, die sich jeden Abend allein ihr Fertiggericht aufwärmt und zweimal im Jahr freudlos masturbiert.

»Was läuft hier draußen?«, fragte Kendal, misstrauisch wie immer.

»Die Papieeerrrre bitte!«, schnarrte Ethel mit starkem deutschen Akzent. Kendal ignorierte sie.

»Ich habe Ethel nur etwas frische Luft schnappen lassen, Miss Kendal.«

Kendal hob die Nase schnüffelnd in die nikotingeschwängerte Luft und kniff die Augen zusammen.

»Miss Wickham, ich nehme an, da Sie beabsichtigen, heute früher zu gehen, haben Sie sicher noch so einiges zu erledigen …«

»Jawohl, Miss Kendal.«

»Gut. Dann mal los.«

Die Tür schlug hinter ihr zu. Sofort hatte Ethel beide Hände zum Victory-Zeichen erhoben und die Zunge rausgestreckt.

»Ach, Ethel, werd endlich erwachsen«, sagte Julie.

VIER

Susan saß allein an einem Tisch im La Taverna, dem besten Italiener in Wroxham, und nippte an ihrem Mineralwasser. Zum wiederholten Mal blickte sie auf ihre Uhr. Julie war ungewöhnlich spät dran.

Susan Frobisher und Julie Wickham – Menschen mit solchen Namen, dachte Susan manchmal, durfte es eigentlich nur in Seifenopern über Mittelengland geben.

Beim Anblick der in Geschenkpapier verpackten Schachtel neben ihr verspürte Susan den warmen Kitzel der Vorfreude von jemandem, der weiß, dass er das perfekte Präsent besorgt hat. Sie hatte Barry heute Morgen angeschwindelt: Es war sehr viel teurer gewesen, als er gutgeheißen hätte.

Susan war selbstkritisch genug, sich zu fragen, ob bei der Wahl des Geschenks für Julie nicht auch persönliche Eitelkeiten im Spiel waren. War es Stolz? Hochmut? Überheblichkeit? Sieh her, ich kann mir das leisten! Womöglich sogar Bosheit? Denn es hatte einmal eine Zeit gegeben, und das war gar nicht mal so lange her, da schien Julies Leben um so viel glanzvoller als das ihre zu sein. Julie war in ihren Zwanzigern und Dreißigern viel auf Achse gewesen. Sie hatte in London, Europa, Amerika, sogar in Australien gelebt. Erst Ende der Achtziger kehrte sie endgültig nach Hause zurück. Dort eröffnete sie ihren Friseursalon, später dann die Boutique und schließlich noch eine zweite Boutique drüben in Axminster. Fuhr ihren schicken Mercedes SLK in der Stadt spazieren. Und dann waren da noch ihre Lover: einige aus London, manche unglaublich glamourös, mal älter, mal jünger als sie. Julie scherte sich nicht darum, was die Leute darüber dachten.

Schlussendlich machte dann Thomas das Rennen, ein charmanter Hallodri, zehn Jahre jünger als sie. Und damals, auf dem Gipfel ihres Höhenflugs, schien es, als hätte Julie alles erreicht, was man sich erträumen kann: ihr eigenes Geschäft, einen attraktiven Liebhaber, einen schicken Flitzer. Susan dagegen war noch immer mit ihrem Barry verheiratet, den sie noch aus der Schule kannte, und vertrödelte die Zeit mit ihren Rosen, Brotbacken und ihrer Laienspieltruppe.

Doch dann hagelte es Tiefschläge: das Steuerproblem, der Umsatzeinbruch, zu guter Letzt verschwand der schöne Thomas eines Nachts mit dem Firmenscheckbuch, um nie wieder gesehen zu werden. Und Julies heile Welt zerbrach.

Es wäre unfair zu behaupten, dass Susan ob Julies jähem Absturz so etwas wie Genugtuung empfunden hatte, weil dieser ihr erlaubte, sich in ihrer beider Beziehung zum Alpha-Weibchen aufzuschwingen. Schrecklich unfair. Sie mochte Julie heiß und innig. Doch lebenslange Freundschaften sind etwas Merkwürdiges: Nicht selten bilden sie die Messlatte, die wir an uns selbst anlegen. Im Verlauf ihrer Freundschaft hatte es Untiefen, Strömungen und gefährliche Strudel gegeben, von denen man sich besser fernhielt. Aber letztlich zählte nur, dass sie es bis hierher geschafft hatten. Dieses Jahr wurden sie beide sechzig. Und es sah ganz so aus, als läge Susan auf der Ziellinie mit einer Nasenspitze vorn.

Als ihre Messlatte schließlich durch die Tür des Restaurants stürmte und ihr ein lautloses »Tschuldigung!« entgegenhauchte, erhob sich Susan mit einem breiten Grinsen, um Julie zu begrüßen.

»Herzlichen Glückwunsch, Sweetie!«

Die beiden Frauen umarmten sich, und Julie hoffte, dass der sprichwörtlich letzte Spritzer Chanel aus dem Flakon, den Susan ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, den hartnäckigen Geruch von Ammoniak und Bleiche übertünchte.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich hab einfach nichts zum Parken gefunden. Wo steht denn dein Wagen?«

»Auf dem kleinen Parkplatz gegenüber von Debenhams?«

»Ah ja.« Gut. Gegenüber von Debenhams. Also links vom Restaurant. Das war es, was sie wissen musste.

Susan winkte die Kellnerin herbei, die – wie besprochen – mit einer Flasche Moët Chandon in einem Eiskübel erschien, den sie mit einem Tusch auf dem Tisch abstellte.

»Du meine Güte, Champagner! Susan!«

»Der geht auf meine Kappe.«

»Das muss er auch, meine Liebe.«

»Allerdings darf ich nicht mehr als zwei Gläser trinken. Sonst bin ich gleich sturzbetrunken. Deine Zusage für die Party heute Abend steht doch noch, oder?«

»Na klar. Ethel kommt auch mit.«

»O Gott. Ich hoffe, sie benimmt sich.«

»Du kennst doch Ethel.«

Und ob sie Ethel kannte.

Julie hatte sie letztes Jahr zu Susans Weihnachts-Cocktailparty mitgebracht. Sie hatte sechs Snowballs getrunken, sich eine Zigarette in der Küche angesteckt und dann im unteren Bad einem der Jungs vom Cateringservice eindeutige Angebote gemacht, bevor sie die Musik ausstellte, um einen zugegeben recht gekonnt vorgetragenen Rugby-Song namens »Barnacle Bill the Sailor« zu schmettern, der so anzüglich war, dass Susan dachte, Jill Worth würde augenblicklich in Ohnmacht fallen. Susan war ein Stein vom Herzen gefallen, als Julie die Alte schließlich in den Wintergarten rollte, wo diese bald darauf in tiefen Schlaf fiel.

Nachdem die Kellnerin die Champagnerflasche geöffnet und Julie am Tisch Platz genommen hatte, wo sie umständlich mit Serviette, Besteck und Speisekarte herumnestelte, beschloss Susan, dass sie nicht länger warten konnte, ganz sicher nicht bis nach dem Essen. »Ach, was soll’s! Hier, für dich. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Sie stellte die Schachtel auf den Tisch.

»Oha!«, sagte Julie.

»Aufmachen-aufmachen-aufma…«

»Ist ja gut! Moment …«

Julie zupfte an der Schleife herum. Inzwischen hatte die Kellnerin den Champagner eingegossen. »Ich gebe den Damen ein paar Minuten, um sich mit der Speisekarte vertraut zu machen. Und übrigens: Alles Gute zum Geburtstag!«

»Danke sehr«, erwiderte Julie.

»Jetzt mach schon«, quiekte Susan und klatschte in die Hände. Julie riss das Geschenkpapier auseinander. Sofort erkannte sie die ehrfurchtgebietenden Worte auf dem Hochglanzkarton: CHRISTIAN LOUBOUTIN.

»Oh, Susan.«

Susan quiekte erneut auf.

Vorsichtig, wie ein Archäologe, der einen Sarkophag öffnet, nahm Julie den Deckel von der Schuhschachtel. Und da lagen sie: in klassischem Schwarz, vorne offen, die legendären roten Sohlen schienen aus sich heraus zu leuchten.

»Ach du Scheiße«, entfuhr es Julie.

»Ich weiß, es ist ein wenig übertrieben. Aber immerhin ist es dein Sechzigster, und sie waren im Angebot, und du bist die einzige mir bekannte Frau deines Alters, die noch immer die Beine hat, sie zu tragen, und …«

Susan unterbrach ihr Geplapper. Denn als sie über den Tisch blickte, erkannte sie, dass Julie Tränen in die Augen stiegen. Und irgendwie sahen diese Tränen nicht nach den erhofften Tränen der Dankbarkeit aus. Ganz und gar nicht. Dabei war Julie weiß Gott keine Heulsuse. »Julie, ist alles …«

»Nein. Bitte. Gib mir eine Minute. Ich will nicht, dass mein Mascara verläuft.« Julie fächelte sich mit einer Hand Luft zu. Sie atmete schnell und flach, den Blick zur Decke gerichtet. Als wollte sie vermeiden, die Tränen zu sehen, in denen ihre Augen schwammen.

Susan schaute sich nervös im Restaurant um. Das lief überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Einen Augenblick später sah es so aus, als hätte sich Julie wieder unter Kontrolle. Sie nahm einen großen Schluck Champagner und betrachtete traurig die Schuhe.

»Was ist denn los? Ich war mir sicher, du würdest sie lieben.«

»Und ob ich sie liebe, Susan. Sie sind hinreißend. Nur … wann soll ich sie denn tragen? Jetzt. In meinem Alter. Beim Putzen im Altenheim?«

»Nicht doch, Liebes. Das ist doch nicht für immer. Du hast halt noch keinen besseren Job gefunden.«

»Oder wenn ich dem Bus nachrenne? Wenn ich freitagabends in dieser deprimierenden Wohnung sitze?« Julie schluckte. Diese Schuhe standen für unaussprechlichen Glamour. Unendliche Verheißungen. Alles Dinge, die Julie gerade ferner schienen denn je.

»Dem Bus?«, fragte Susan.

Julie seufzte. »Du solltest es nicht wissen. Deshalb habe ich gefragt, wo du geparkt hast. Ich wollte nachher einfach so tun, als müsste ich in die andere Richtung. Ich war nicht zu spät, weil ich keinen Parkplatz gefunden habe. Ich war zu spät, weil der dämliche Bus Verspätung hatte. Meine Karre hat vor drei Wochen den Geist aufgegeben. Irgendein beschissener Verteiler oder so was ist im Arsch. Die Reparatur soll fünfhundert Pfund kosten.« Ziemlich genau das, was diese Schuhe kosten, schoss es Susan siedend heiß durch den Kopf, während sie versuchte, sich Julie im Bus vorzustellen. Es fiel ihr schwer, dafür war der SLK einfach noch zu präsent. »Die könnten ebenso gut eine Million von mir verlangen.«

»Julie.« Susan beugte sich über den Tisch und ergriff die Hand ihrer Freundin. »Ich habe dir schon mal gesagt: Wenn ich dir was leihen …«

»Nein.« Julie schüttelte den Kopf. »So weit wird es nicht kommen.«

»Aber du brauchst dein Auto.«

»Ich konnte mir den Unterhalt ohnehin kaum noch leisten. Hast du gesehen, was Benzin inzwischen kostet?«

»Ja, natürlich.« Susan hätte ihr den Preis für einen Liter Benzin selbst dann nicht nennen können, wenn man ihr eine Pistole an den Kopf hielt. Sie zahlte einfach mit Karte. Barry regelte das alles. Einen Moment lang saßen sie schweigend da, die Schuhe und der Champagner unangetastet zwischen ihnen auf dem Tisch. Die Kellnerin kam und zückte ihren Block. Susan lächelte sie bedauernd an und schüttelte den Kopf, woraufhin das Mädchen sich zurückzog. »Na«, sagte Susan, »das ist ja eine großartige Geburtstagsüberraschung geworden. Super gemacht, Susan.«

»Tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld. Das alles ist wirklich ganz wundervoll von dir, nur bin ich halt … sechzig. Ich meine, in dem Alter braucht man sich nichts mehr vorzumachen, oder? Das ist keine vorübergehende Krise, die ich gerade durchmache. So sieht’s jetzt einfach mal aus. Das ist es, was ich im Leben erreicht habe, Susan. Ich lebe allein in einer kleinen Mietwohnung und arbeite im Altenheim.«

»Du bist einfach etwas niedergeschlagen. Geburtstage können einem an die Nieren gehen.«

»Weißt du, ich …«

Julie blickte durchs Fenster in Richtung Stadtzentrum, wo sie beide als Teenager um die Häuser gezogen waren. Damals, als ihr ganzes Leben noch vor ihnen lag, ein einziges großes Versprechen von Spaß und unendlichen Möglichkeiten. Julie schien alles zu sehen, was zwischen damals und heute geschehen war. Gleich einer grotesken Parade marschierten all die Irrungen, Wirrungen, schlechten Entscheidungen und Strohfeuer ihres Lebens vor ihr auf. »Letztens habe ich die Gasrechnung fürs erste Quartal bekommen. Zweihundertfünfzig Pfund. Für eine winzige Zweizimmerwohnung. Ich bin … wir sind alt, Susan. Ich kann mich noch erinnern, wie der verdammte Harold Wilson zum Premierminister gewählt wurde. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Leben jemals so hart gewesen ist. Es ist einfach so verdammt hart

»Weißt du, was wir jetzt machen?«, sagte Susan. »Wir essen etwas, trinken diesen Champagner, und dann tauschen wir diese albernen Schuhe um. Von dem Geld bezahlen wir die Reparatur deines Autos und deine Gasrechnung.«

Julie lächelte zum ersten Mal seit einer ganzen Weile und sagte: »Kein schlechtes Wort über diese Schuhe, Susan.«

FÜNF

Obwohl sie es kaum erwarten konnte, nahm sich Jill Worth die Zeit zu überprüfen, ob die Handbremse richtig angezogen war, bevor sie ausstieg. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte hievte sie das große Glas aus dem Kofferraum ihres alternden Polo. Es war eines dieser Gläser, in denen man früher in Süßwarenläden Bonbons aufbewahrt hatte. In den Metalldeckel war ein Schlitz geschnitten worden und das Glas beinahe bis zum Rand mit Geld gefüllt: hauptsächlich Silber- und Kupfermünzen, aber auch die eine oder andere zusammengeknüllte Fünf-Pfund-Note. »Fast sechshundert Pfund, schätze ich, Mrs. Worth«, hatte der Barmann im Black Swan zu ihr gesagt und stolz auf den Deckel geklopft. So viel, und das allein in der Zeit seit Weihnachten. Das waren nicht einmal fünf Monate!

Sie schritt vorsichtig den kurzen Pfad hinauf, hielt das Glas dabei schräg wie ein Neugeborenes, und klingelte an der Haustür. Sie wartete einen Moment und klingelte dann noch einmal. Nichts. »Linda?«, rief sie durch die Tür. Gedämpfte Geräusche von oberhalb der Treppe. Dann rief eine Stimme: »Komm rein, Mum.« Jill öffnete die Tür und spazierte mit ihrer Beute im Arm breit grinsend in den Flur. Als sie ihre Tochter mit dem Rücken gegen die Wand zusammengesackt mitten auf der Treppe sitzen sah, fiel ihr Grinsen in sich zusammen. Linda sah schrecklich aus – schwarz umrandete Panda-Augen, der Mascara über die Wangen geschmiert, ein dünner Schweißfilm auf der Stirn. »Schätzchen«, sagte Jill, »was ist …?«

»Oh, Mum, wir hatten eine höllische Nacht.«

Jill setzte ihr Sammelglas ab und stieg die Treppe hinauf, um sich neben ihre Tochter zu setzen. »Was ist passiert?«

»Pssst. Er schläft jetzt. Ich habe ihn gerade hingelegt.«

»Komm mit«, sagte Jill, legte einen Arm um Linda und half ihr auf. »Wir gehen in die Küche, und ich mache uns einen Tee.«

Während Jill Tassen, Teebeutel und Milch zusammensuchte und der Kessel langsam zu rumpeln begann, saß Linda an dem kleinen Tisch und erzählte. »Er hat nicht gegessen, wir mussten ihn wieder an den Tropf hängen. Er wollte seine neuen Medikamente nicht nehmen. Ihm tat der Hals weh, er spuckte sie immer wieder aus. Es war so schlimm, dass Ken und ich ihn schließlich niederdrücken mussten, bis er plötzlich nicht mehr atmen konnte. Er … er bekam einfach keine Luft mehr. Es war einfach schrecklich. Verdammt, ich kann das nicht mehr. Oh, entschuldige.« Ihre Mutter konnte Flüche nicht ausstehen.

»Schon in Ordnung, Schatz. Du bist aufgebracht.«

»Dann kam er einfach nicht mehr zur Ruhe. Wir mussten die halbe Nacht immer wieder aufstehen. Ich möchte nicht wissen, wie es Ken heute bei der Arbeit geht.«

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, ihm seine Medizin zu geben? Vielleicht als Tabletten? Könnt ihr sie nicht unters Essen mischen?«

»Leider nicht. Es ist eine Suspension. Hat wohl mit der Wirkung in der Lunge zu tun.«

Jill brachte den Tee an den Tisch und setzte sich. Ihre arme Tochter. Linda war fünfunddreißig und sah aus wie fünfzig. Die letzten drei Jahre seit Jamies Diagnose hatten ihr heftig zugesetzt. Jill dagegen hielt sich ziemlich gut für ihre siebenundsechzig. Erledigte immer noch alles mit dem eigenen Auto. »Der Tag, an dem du Auto fährst, ist der Tag, an dem sie mich in einer Kiste hier raustragen«, hatte ihr Derek immer gesagt. Am Ende sollte er recht behalten: Jill hatte mit den Fahrstunden angefangen, kaum dass er unter der Erde lag. Das war jetzt zwölf Jahre her.

»Was ist das, Mum?«, fragte Linda und deutete auf das Glas, das vor der Haustür stand.

»Eine der Sammelbüchsen, aus dem Black Swan auf der High Street. Sie schätzen, es sind fast sechshundert Pfund! Seit Weihnachten! Was sagst du dazu?«

»Ich bin ja so dankbar«, sagte Linda. Dann brach sie in Tränen aus.

»Schhhh, ist ja gut, Schätzchen.« Jill nahm ihre Tochter in den Arm. »Stückchen für Stückchen. Wir schaffen das schon.«

»Ich glaube nicht, dass wir das jemals schaffen.«

»Natürlich tun wir das. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«

»Wenn du ihn letzte Nacht gesehen hättest … er … er …«, Lindas Worte wurden immer wieder vom Schluchzen erstickt, während sie ihr Gesicht in Jills Nacken vergrub. »Er sah aus, als würde er ertrinken, Mum. Diese Panik in seinen Augen. Er war zu Tode verängstigt.«

»Ach, Schätzchen.«

»All das Gerede von ›Rom wurde nicht an einem Tag erbaut‹ und ›Wir schaffen das schon‹. Chicago, die ganze Sache, manchmal denke ich, es wäre besser, wenn er einfach … wenn er …«

Jill nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände und sah ihr in die Augen. »Genug jetzt, verstanden? Das reicht. Ich höre mir das nicht länger an. Und du hörst auf, so zu reden. Gott hat einen Plan für diesen Jungen, und er wird leben.« Linda brach weinend in den Armen ihrer Mutter zusammen. »Ist ja gut, Schätzchen. Ist ja schon gut«, sagte Jill. »Du bist völlig erschöpft. Kein Wunder, dass du nicht klar denken kannst. Wir kriegen das hin.«

»Oh, Mum …«

Jill hielt Linda fest, bis die Tränen erschöpft waren und das Schluchzen nachließ. Nach einer Weile sagte sie: »Ich werde mich ein bisschen zu ihm setzen. Du legst dich inzwischen aufs Sofa und machst ein schönes Nickerchen. Danach fühlst du dich gleich besser. Ich kann über Nacht bleiben, wenn du magst.«

»Hast du nicht heute deine Generalprobe?«

»Ich bin mir sicher, die kommen auch ohne mich klar.«

»Nein, Mum, bitte geh hin. Ken kommt um fünf zurück. Ein kurzes Nickerchen reicht mir völlig …«

»Also gut. Dann mal ab auf die Couch mit dir. Ich komm dann später runter und mache uns was zu essen.«

Nachdem sie ihre Tochter zugedeckt hatte, stieg Jill auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und öffnete leise die Tür zum Zimmer ihres Enkels. Die Vorhänge waren zugezogen und verliehen dem Raum die typische Dämmeratmosphäre einer Krankenstation. Jill setzte sich in den Lehnstuhl neben dem Bett und betrachtete den schlafenden Jamie. Es war unglaublich. Wenn man ihn so sah, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass ihm etwas fehlte. Abgesehen von der Kanüle in seiner rechten Hand, die zu einem Glukosebeutel an einem Ständer führte, wies nichts darauf hin, wie krank er war. Ein wenig blass, ja, aber ansonsten ein wunderhübscher, völlig normaler Fünfjähriger. Nichts verriet, dass er – wie einer der Ärzte es formuliert hatte – die »Lungen eines siebzigjährigen Bergarbeiters« besaß.

Das De-Havilland-Syndrom – eine äußerst seltene Erkrankung – zersetzte sein Lungengewebe, und zwar rasend schnell. Atmen war ein ständiger Kampf. Essen und Trinken bereiteten Probleme. In vielerlei Hinsicht war es für Ken und Linda, als würden sie nun seit fünf Jahren ein Neugeborenes versorgen. Weltweit gab es nur ein einziges Team von Spezialisten, das erfolgreich eine Operation durchzuführen vermochte, mit der sich der Krankheitsprozess stoppen und sogar rückgängig machen ließ. Am St. Michael’s in Chicago.

Jill löste den Blick von ihrem Enkel und betrachtete die Wand oberhalb des Betts. Dort hing ein Poster. Ein Poster, das Jill mitgestaltet hatte. Es zeigte ein Thermometer. Unter dem Thermometer standen die Worte »JAMIES OPERATION«, darüber die benötigte Summe: sechzigtausend Pfund. Die Skala des Thermometers hatte eine rote Markierung knapp unter dreißigtausend Pfund. So weit zu kommen, knapp die Hälfte des benötigten Geldes aufzutreiben, hatte jeden Cent von Jills, Lindas und Kens Ersparnissen, Spenden von Freunden und Familie sowie drei aufopferungsvolle Jahre gekostet, in denen sie Bittbriefe geschrieben und Spendendosen in Pubs und Läden aufgestellt hatten.

Jamie hustete und bewegte sich leicht im Schlaf.

Jill strich dem Jungen eine Strähne seines feinen blonden Haars aus der Stirn. Er murmelte und drehte sich auf die Seite. Sie hielt seine Hand, lehnte sich in den Sessel zurück und starrte wieder auf das selbst gemachte Thermometer an der Wand, immer noch so weit von der magischen Zahl entfernt, dass Jill bei seinem Anblick nichts als Zorn und Hoffnungslosigkeit verspürte. Zum ersten Mal ließ Jill jenen Gedanken zu, den sie sich bisher verboten hatte:

War es in drei weiteren Jahren womöglich zu spät?