Psychothriller
Deutsch von
Bernd Stratthaus
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Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »Dying for Christmas« bei Black Swan,
an imprint of Transworld Publishers.
Deutsche Erstausgabe Dezember 2015
im Blanvalet Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright der Originalausgabe © Tammy Cohen, 2014
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015
by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Susann Rehlein
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
wr · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-16301-3
V003
www.blanvalet.de
Einmal mehr für meine großartige Mutter Elizabeth Gaynor Cohen
Teil 1
1
Es kann gut sein, dass ich schon tot bin, wenn Sie das hier zu Ende gelesen haben.
Drei erwähnenswerte Dinge über mich: Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, ich habe eine Knopfphobie. Und ich sterbe. Dabei ist es jetzt keineswegs so, dass ich noch zwei Jahre zu leben hätte und hier eine Liste von Sachen aufschreibe, die ich in der kurzen mir verbleibenden Zeit noch erleben will. Nein. Ich sterbe hier und jetzt. Sie können mir gewissermaßen dabei zugucken wie in einem Snuff-Film.
Wie ich in diese Situation geraten bin? Vielleicht war ich einfach vom Geist der Weihnacht beseelt und dementsprechend milde gestimmt. Außerdem hat er mir gesagt, ich sei schön. Dass er selbst ziemlich gut aussehend war, hat sicher auch nicht geschadet. Er sah diesem Schauspieler aus Silver Linings ähnlich, dem, der immer die durchgeknallten Typen spielt. Vielleicht hätte mich das stutzig machen sollen.
Na ja, man lernt nie aus.
In meinem Fall stimmt das natürlich nicht ganz. Es könnte für mich mit dem Lernen – und allem anderen – ganz schnell vorbei sein.
Ich saß im Café eines Kaufhauses in der Oxford Street. Ich hatte schon vier Stunden Weihnachtsshopping hinter mir. Normalerweise ging ich nicht in solche Cafés – dort herrscht klaustrophobische Enge, und immer steht ein Kinderwagen im Weg rum. Oder der größte Rollstuhl, den man jemals gesehen hat. Aber draußen kam an diesem Tag ein fieser Eisregen runter, und ich war mit all diesen Tüten beladen.
Ich fand einen freien Tisch – was für ein Glück, immerhin war Heiligabend –, stellte meinen Cappuccino ab und drapierte meine Tüten um mich herum. Für die mit dem Spielzeug für meinen Neffen war nur noch auf dem Tisch Platz. Als ich sie abstellte, muhte es daraus hervor. Ich war an dem Punkt angekommen, an dem man seine gerade gekauften Weihnachtsgeschenke betrachtet und unweigerlich zu dem Schluss kommt, dass keins das richtige ist. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, besteht darin, noch mehr einzukaufen.
Ich fühlte mich also schon belästigt, als er sich meinem Tisch näherte.
»Darf ich mich setzen?«
Ich zuckte ohne aufzusehen mit den Schultern.
»Es tut mir leid, aber hier drin ist es so voll. Wahrscheinlich muss man eine Niere verkaufen, um einen freien Tisch zu ergattern.«
Das ließ mich hochschauen.
Als Erstes sah ich seine unheimlich blauen Augen. Sie standen ein bisschen zu eng beieinander, aber das war fast schon eine Erleichterung. Ohne diesen kleinen Makel hätte er so sehr wie ein Filmstar gewirkt, dass man ihn auf keinen Fall hätte ernst nehmen können. Eine lange, gerade Nase. Braunes, gewelltes Haar, das er sich aus dem Gesicht gestrichen hatte. Ein Grübchen in der Wange, ganz nahe bei seinem Mundwinkel. Ein Grübchen auch am Kinn, das ihm diese verwegene männliche Ausstrahlung verlieh.
Solche Männer gibt es in meinem Leben eigentlich nicht. Jedenfalls nicht in dreidimensionaler Form.
Ich starrte angestrengt auf meinen Cappuccino, als wollte er mir dringend etwas sagen, und wünschte mir, ich hätte ein Buch dabei. Dass dieser attraktive Mann mir gegenüber an dem kleinen Tisch saß, schnürte mir vor Aufregung den Brustkorb zusammen.
»Sie haben Ihre Weihnachtseinkäufe erledigt, wie ich sehe.«
Ach was, Sherlock. Das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen sagte ich: »Ja, ich hab es wieder bis zum letzten Moment aufgeschoben.«
Da sagte er es. »Wissen Sie eigentlich, wie wunderschön Sie sind?«
Und wie oben bereits erwähnt, reichte das aus, um mich dahinschmelzen zu lassen. Es folgte ein peinliches Schweigen. Ich nippte an meinem Cappuccino, hatte dann aber Angst, dass es einen ohrenbetäubenden Lärm verursachen würde, sollte ich tatsächlich schlucken.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so anstarre«, sagte er, und als ich kurz aufsah, bohrte sich sein Blick in meinen. »Sie erinnern mich an irgendjemanden.«
Ich konzentrierte mich ganz auf ihn, zwang mich dazu, seinem Blick standzuhalten, indem ich mir unter dem Tisch die Fingernägel in die Handfläche presste. Das lenkte mich von der Peinlichkeit der Situation ab. Und natürlich davon, dass ich dieses Gespräch nicht hätte befördern, geschweige denn seine Augenfarbe hätte bemerken sollen. Schließlich bin ich in einer Beziehung.
»Tatsächlich?«, antwortete ich dennoch. »Normalerweise erinnere ich niemanden an irgendwen. Obwohl, einmal hat mir jemand gesagt, ich sähe aus wie Daisy, die Küchenmagd aus Downton Abbey. Aber ich glaube, das sollte ein Witz sein, weil ich damals gerade eine Schürze trug.«
Wenn ich nervös bin, rede ich immer zu viel.
Aber er lächelte unbeirrt weiter, und das Grübchen in seiner Wange war eine Höhle, die ich erforschen wollte.
»Sie erinnern mich an meine Frau«, sagte er nun und rührte in dem Teeglas, das vor ihm stand. Wolkige Schlieren stiegen auf und färbten das klare Wasser allmählich grün. »Eigentlich habe ich sie seit Monaten nicht mehr gesehen, also sollte ich wahrscheinlich eher ›Exfrau‹ sagen. Sie sieht Ihnen wirklich sehr ähnlich. Als ich Sie vorhin auf der Straße sah, habe ich Sie für einen kurzen verrückten Moment für sie gehalten. Darum bin ich Ihnen gefolgt.«
»Sie sind mir gefolgt?«
Er strahlte mich an, als hätte ich ihn gerade für seine unglaubliche Gerissenheit gelobt.
»Während ich Handschuhe und Schals anprobiert habe? Und in die Spielzeugabteilung? Und …« Ich lief knallrot an, als mir siedend heiß mein ausgedehnter Ausflug in die Dessousabteilung einfiel.
»Ja«, bestätigte er meine Befürchtungen. »Das war alles so unwirklich. Und als Sie sich dann hier hingesetzt haben, dachte ich: ›Hey, das ist deine Chance!‹«
Ich nickte bedächtig, so als wäre es für mich etwas ganz Gewöhnliches, dass mir irgendwelche Typen in Kaufhäuser nachliefen.
»Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht erschreckt. Ich verspreche Ihnen, ich bin kein irrer Axtmörder.«
Falls mein Instinkt in diesem Moment so etwas wie ein sarkastisches Schnauben von sich gab, ignorierte ich das geflissentlich.
»Sieht aus, als würden Sie für eine ganze Kompanie einkaufen.« Er zeigte auf die vielen Tüten, die uns umzingelten.
»Ach, das ist nur für die Familie«, sagte ich und ließ Travis wohlweislich unerwähnt. Es ist nicht so, dass meine Familie mir besonders tolle Geschenke macht. Letztes Jahr habe ich von meinen Eltern sechs Sitzungen bei einer Psychotherapeutin bekommen. Meine Mutter hatte sich sogar die Mühe gemacht, einen richtigen Geschenkgutschein am Computer zu entwerfen: Dieser Gutschein berechtigt zur Teilnahme an sechs Sitzungen bei Sonia Rubenstein. Er steckte in einer Karte, auf der eine glitzernde Schneekugel abgebildet war, in der Kugel ein paar winzige Kinder, gefangen in einer ewigen Schneeballschlacht.
»Nicht, dass wir finden, dass mit dir etwas nicht stimmt«, sagte meine Mutter und blickte mich unsicher an, während ich den Gutschein genauer betrachtete. »Wir wollen einfach nur, dass es dir so gut wie möglich geht.«
»Und was ist, wenn es mir nicht besser gehen kann?«
Mein Vater lachte, als hätte ich einen guten Witz gemacht. »Dann steh Gott uns bei«, antwortete er.
Ich war entschlossen, den Gutschein aus Prinzip nicht einzulösen, aber natürlich hielt ich das nicht durch. Und als die sechs Sitzungen rum waren, ließ ich mir sechs weitere Termine geben. Es wurde zu einer Dauereinrichtung. Hätte ich etwa die Möglichkeit verstreichen lassen sollen, fünfundfünfzig Minuten pro Woche nur von mir zu reden? Ich bin doch nicht verrückt.
Der Fremde, der mir gegenübersaß, sagte nun wieder etwas. »Was ist mit Ihnen? Leben Sie allein, oder gibt es da jemanden …?«
Ich dachte kurz an Travis, verdrängte ihn aber gleich wieder. »Niemanden von Bedeutung.«
»Ach, kommen Sie. Sie wollen mir erzählen, dass eine so hübsche Frau wie Sie keine Verehrer hat? Irgendjemanden muss es da geben. Jemanden, für den Sie Weihnachtsgeschenke kaufen, die nicht von der Last-Minute-Resterampe im Kaufhaus stammen?«
Wieder dachte ich an Travis. In unserem ersten Jahr hatte er mir eine Flasche Sauvignon Blanc für fünf Pfund neunundneunzig geschenkt. Er hatte sie am ersten Weihnachtstag auf dem Weg zu mir in irgendeinem Laden gekauft. Sie war in die Plastiktüte eingewickelt, mit der er sie gekauft hatte. Außerdem klebte das Preisschild noch drauf. »Ich weiß ja, dass dir Weihnachten nicht so wichtig ist«, hatte er verkündet, und ich hatte den Kaschmirpullover, den ich für ihn gekauft hatte, hinter dem Sofa verschwinden lassen.
»Nein«, log ich den Fremden an, »es gibt wirklich niemanden.«
In einer meiner Tüten war unter anderem ein kleines Geschenk, das ich für meine dreizehnjährige Nichte Grace gekauft hatte, eine dieser Figuren, die sich ausdehnen, wenn man sie ins Wasser stellt. Züchte dir deinen eigenen Märchenprinzen stand auf der Verpackung. Nun, die kleine Figur hätte auch ich sein können, nur hätte auf meiner Verpackung Züchte dir dein eigenes Opfer gestanden – handgemacht, speziell für ihn, in Geschenkpapier eingewickelt und mit einer Schleife dekoriert.
Der Mann mit den wahnsinnig blauen Augen betrachtete mich über den Tisch hinweg. Dann streckte er die Hand aus. Ich bemerkte den goldenen Ehering an seinem Finger und fragte mich, warum er ihn immer noch trug.
»Schon komisch, es gibt einfach Dinge, von denen wir uns schwer trennen können«, sagte er – und ich war peinlich berührt, weil er meinen Blick offenbar bemerkt hatte. »Ich heiße übrigens Dominic.« Seine Finger schlossen sich um meine. »Dominic Lacey.«
In meinen Ohren rauschte es, es klang wie ein heftiges Atmen oder das Sirren von Insektenflügeln. Meine Finger schienen zu brennen, wo sie seine berührten.
»Jessica Gold.«
»Gold. Das ist hübsch. Es passt zu Ihnen.«
Ich hätte fragen sollen, warum. An mir ist nichts Goldenes. Ich habe eine Menge Haare, nicht schwarz, aber sehr dunkelbraun. Hier und da findet sich zwischen ihnen schon eine graue Strähne. Meine Haut ist fahl, vor allem im Winter, und wenn ich müde bin, habe ich tiefe dunkle Augenringe.
»Erzählen Sie mir etwas über die Geschenke«, sagte er. »Für wen ist der Wok?«
»Woher wissen Sie …?« Ach ja, Sie sind mir gefolgt. »Der Wok ist für meinen Bruder James – er hält sich für einen fabelhaften Koch. Ständig bereitet er komplizierte Gerichte für seine Kinder zu und ist beleidigt, wenn sie nur Käsebrote essen.«
»Wie ist es mit Ihnen, Jessica? Probieren Sie beim Essen gern etwas Neues aus?«
Ich zögerte. Sollte ich zugeben, dass ich nur langweiliges, blasses Essen zu mir nahm? Käse, Kartoffeln, Weißbrot, Frühstücksflocken, Nudeln, Butterkekse. Sollte ich ihm erzählen, wie sich Sonia Rubensteins Blick aufgehellt hatte, als sie das herausfand, und wie sie daraufhin mit ihrem dicken schwarzen Stift aufgeregt auf ihren Notizblock kritzelte? Stattdessen zuckte ich mit den Schultern und sagte: »Eher nicht.«
»Und gibt es außer James noch weitere Geschwister?«
»Er ist der Älteste. Außerdem gibt es noch Jonathan. Meinen mittleren Bruder. Meine Eltern mochten Namen mit J.« Sie hätten gern ein passendes Set gehabt – meine Eltern, meine ich. Drei aufgeweckte, unternehmungslustige und selbstbewusste Kinder, die alle Namen mit J trugen. Stattdessen bekamen sie nur zwei davon. Und eben mich. Eine Familienanomalie.
»Und ich nehme an, beide haben Kinder?« Er warf einen vielsagenden Blick auf die Tüten mit dem Spielzeug.
»Ja, James hat zwei und Jonathan eins. Das ist gut so, dadurch lastet auf mir weniger Druck.« Ungebeten drängte sich eine Erinnerung in meinen Kopf. Travis und ich starren auf einen weißen Plastikstift, auf dem sich eine blaue Linie durch ein kleines rechteckiges Fenster arbeitet. Ich dachte an die plötzliche, trügerisch aufkeimende Hoffnung, die im Moment ihres Entstehens schon wieder erstarb. Denn Travis sagte: »Ach du Scheiße!« Und dann: »Zum Glück müssen sich Abtreibungskliniken heutzutage nicht mehr in irgendwelchen dunklen Hinterhöfen verstecken.«
Manchmal, wenn ich nicht achtgebe, höre ich ein Baby weinen.
»Ich nehme an, Sie arbeiten«, sagte er, »damit Sie für all diese Dinge hier bezahlen können.«
»Ich arbeite bei einem Fernsehsender«, bestätigte ich. »Im Archiv. Ich katalogisiere Dokumente und Aufzeichnungen.« Ich bewahre tote Dinge auf. »Was ist mit Ihnen?«, fragte ich, mich plötzlich an die Grundregeln sozialer Interaktion erinnernd.
»Ich kaufe und verkaufe Restposten von Geschäftsauflösungen. Wenn eine Firma bankrottgeht, kaufe ich ihre Waren auf und habe sie in der Regel schon wieder verkauft, ehe das Lager ganz leer ist. Auf diese Weise vermeide ich eigene Lagerkosten.«
»Das hört sich interessant an«, sagte ich, obwohl es sich eher gewissenlos anhörte. Er verdiente sein Geld mit der Verzweiflung anderer Menschen.
»Ich zahle immer einen fairen Preis«, fügte er hinzu, als wären meine Gedanken in Leuchtschrift auf meiner Stirn zu lesen gewesen. »Und außerdem: Wenn ich es nicht mache, dann macht es ein anderer.«
»Lohnt es sich denn?«
»Ich verdiene nicht schlecht. Ich lasse es mir gut gehen, wie man so schön sagt.«
Ich wünschte, mir wäre es in diesem Augenblick gut gegangen. Aber ich schwitzte in dem überheizten Raum. Ich hätte mir an jenem Morgen wohl besser die Haare gewaschen, hätte mich schminken oder mir elegantere Kleidung anziehen sollen. Das Thermometer war in diesem Winter zum ersten Mal unter null Grad gefallen, und ich hatte bei der Wahl meiner Kleider etwas überreagiert. Unter meinem dicken Strickpulli trug ich ein langärmliges T-Shirt, das ich in einem kleinen Plastikbeutel von einer japanischen Modekette gekauft hatte, die Werbung mit ihren besonders wärmenden Kunstfasern machte. Meine Jeans klebte klamm an meinen Beinen. »Man starrt uns schon an«, sagte ich, als ich die Schlange der Wartenden bemerkte, die sich hinter der Kasse gebildet hatte.
»Ich würde mich gern noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten.« Seine Augen waren wie ein weiter, wolkenloser Himmel, in den man stundenlang hätte blicken können. »Warum gehen wir nicht noch auf einen Drink woandershin?«
»Es ist Heiligabend. Die Pubs werden aus allen Nähten platzen, und außerdem habe ich die ganzen Tüten.«
»Aber ich weiß noch nicht genug über Sie. Ich möchte gern mehr erfahren, zum Beispiel wie Sie zu dieser kleinen Narbe gekommen sind.« Er streckte die Hand aus und berührte mich am Handgelenk. Etwas wie ein wohliger elektrischer Schlag schoss meinen Arm empor.
Ich zuckte stumm mit den Schultern. Ich hatte Angst, dass mein pochendes Herz direkt auf die Tischplatte springen würde, wenn ich den Mund öffnete. Seine Finger umschlossen mein Handgelenk wie eine Fessel.
»Ich habe mein Auto gleich hier im Parkhaus abgestellt. Und ich wohne nicht sehr weit weg. Vielleicht möchten Sie mit zu mir kommen? Mit einem schönen Glas Wein auf Weihnachten anstoßen? Es ist eigentlich nicht meine Art, fremde Frauen zu mir einzuladen, aber mit Ihnen fühlt es sich so vertraut an, als würde ich Sie schon eine Ewigkeit kennen. Kommen Sie, geben Sie sich einen Ruck, schließlich ist Weihnachten!«
Er sah mich eindringlich an, sein Interesse umhüllte mich wie eine flauschige Jacke, von der ich die Krümel des Zweifels abklopfte, bis keiner mehr vorhanden war.
»Sie können irgendwem eine SMS schicken und mitteilen, wo Sie hingehen, wenn Sie sich damit sicherer fühlen.«
»Ach, ich glaube, das ist nicht nötig«, antwortete ich.
Das Lachen einer Frau zischte an meinem Ohr vorbei wie ein Frisbee. Ich ignorierte es. Was in aller Welt dachte ich mir nur dabei? Was konnte eine gebildete junge Frau, die sehr wohl Bescheid wusste über die Gefahren, die von charmanten Fremden ausgehen konnten – noch dazu eine junge Frau in einer festen Beziehung –, was also konnte diese Frau dazu bringen, mit einem Mann in ein Auto zu steigen, den sie gerade erst kennengelernt hatte? Falls das die Frage ist, die Ihnen gerade durch den Kopf schießt, sind Sie wahrscheinlich zu rational, zu normal oder nicht einsam genug, um mich zu verstehen.
Ich glaubte zu keinem Zeitpunkt ernsthaft, dass dies der Beginn einer wunderbaren Romanze wäre oder dass wir zusammenkommen würden. Ich wusste, dass Männer wie er sich nicht in Frauen wie mich verlieben. Ich wollte eine Erfahrung machen, wollte eine Erinnerung, die ich in Seidenpapier einschlagen und aufbewahren konnte, um sie in den kommenden Jahren dann und wann hervorzuholen, wenn ich gerade allein war.
Am folgenden Tag wollten Travis und ich zu meinen Eltern zum Weihnachtsessen fahren. Seine Eltern verbringen die Wintermonate immer in ihrem Haus in Florida, also gehen wir üblicherweise zu meinen Eltern, wenn Travis nicht arbeiten muss, was er als Assistenzarzt allerdings häufig tut. Meine Brüder wollten zum Mittagessen vorbeikommen. Sie würden ihre gut organisierten, multitaskingfähigen Frauen und ihre vielseitig begabten Kinder mitbringen, deren Wochenpläne überquollen vor lauter Ballett, Sport und außerschulischen Förderprogrammen. James und Jonathan würden mich beide unabhängig voneinander mit dem fragenden Blick mustern, den sie seit meiner Kindheit für mich reserviert hatten und der in etwa bedeutete: »Wer bist du? Und aus welchem Universum stammst du?«
»Warum ist sie immer so komisch?«, fragten die beiden meine Eltern ständig, als wir noch klein waren, so als wäre meine Seltsamkeit eine hässliche Jacke, die ich mir nur ausgesucht hatte, um mit ihrem Anblick andere zu quälen.
Deshalb, genau deshalb bin ich in diese Situation geraten.
Ich zog meinen Parka mit der pelzbesetzten Kapuze an, sammelte meine Tüten ein – er bestand darauf, die Tüte mit dem Wok für mich zu tragen – und folgte ihm aus dem Kaufhaus hinaus, wie er mir herein gefolgt war. Ich schob meine Bedenken beiseite und ignorierte die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, die mich fragte, was um alles in der Welt ich hier gerade tat. Ich fixierte seine breiten Schultern, die in einem marineblauen Wollmantel mit samtenem Revers steckten, sowie seine braunen Haare, die sich sanft über seinen Kragen lockten.
Es war der vierundzwanzigste Dezember, und ich wollte wenigstens für eine kurze Zeit jemand anderes sein, jemand mit einem ganz anderen Leben. Du bist schon vor langer Zeit gestorben, sagte ich zu mir selbst.
Komisch, dieser Gedanke erscheint mir jetzt nicht so tröstlich.
2
Sein Auto war schwarz und ziemlich niedrig. Ich kenne mich nicht so aus, aber es hatte Ledersitze und verströmte einen herben Geruch, der ein bisschen an Whisky erinnerte. Nachdem wir die Einkaufstüten verstaut und uns angeschnallt hatten, sah er mich mit einem breiten, offenen Lächeln an.
»Ich bin wirklich froh, dass Sie nicht auf Ihre Mutter gehört haben. Sie hat Ihnen doch sicher eingebläut, dass man nicht zu fremden Männern ins Auto steigt«, sagte er. »Sie sind eine sehr eigenständige Person, Jessica Gold.«
In diesem einen Moment glaubte ich ihm.
»Wo wohnen Sie denn?« Gleich nachdem ich die Frage gestellt hatte, wurde mir klar, dass ich früher danach hätte fragen sollen. Sollte man nicht genau über solche Dinge Bescheid wissen wollen? Wohin man unterwegs ist? Sonia Rubenstein hatte die Theorie, dass dies die Wurzel all meiner Probleme sein könnte (bis ich sie kennenlernte, wusste ich nicht einmal, dass ich überhaupt Probleme hatte). Sie fragte mich: »Haben Sie es nie satt, einfach nur auf Ereignisse zu reagieren, anstatt sie zu steuern?« Oder: »Glauben Sie nicht, dass Ihr Weg leichter wäre, wenn Sie wüssten, wohin er führen soll?« Suggestivfragen sind das Markenzeichen von Sonia Rubenstein.
»Es ist nicht weit«, antwortete er. »In Wapping.«
Enttäuschung machte sich in mir breit. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewusst gewesen, dass er für mich Teil eines Tagtraums war. Nun, da ich hörte, dass er in einem sanierten Arbeiterviertel wohnte – nicht etwa im exklusiven Hampstead oder in Notting Hill –, war ich seltsam desillusioniert. Meine Zweifel wuchsen.
»Keine Sorge«, sagte er, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich fahre Sie später natürlich wieder nach Hause. Wo auch immer Sie wohnen.«
»In Aberdeen«, antwortete ich.
»Ha! Sie sind lustig, Jessica Gold. Das gefällt mir. Aber ernsthaft, wo wohnen Sie?«
»In Wood Green«, gab ich zu.
Dominic zog die Brauen über seinen übertrieben blauen Augen hoch.
»Zur Miete«, fügte ich schnell hinzu. »Es ist nur eine Zwischenstation.« Diese »Zwischenstation« war nun schon seit zwei Jahren mein Zuhause, und es bestand keine realistische Chance, dass sich das bald ändern würde. Aber das verschwieg ich ihm natürlich. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte ich. »Später bin ich noch mit ein paar Leuten auf einen Drink verabredet.« Mit ein paar Leuten. Andere hätten sie vielleicht »Freunde« genannt, obwohl sie genau genommen nur Freunde von Travis waren.
In meinem Kopf hörte ich einen Schrei. Oder eher eine Geräuschexplosion, nicht einfach nur eine einzelne Stimme. Im Stillen verfluchte ich mich für meine Unaufmerksamkeit, denn so kommen sie immer rein, wenn ich nicht aufpasse. Sie kriechen unter meiner Schutzmauer durch in meinen Kopf und machen mich verrückt, bis es mir irgendwann gelingt, sie wieder zu ignorieren.
Jeder hat seine Geheimnisse, nicht wahr?
»Haben Sie morgen schon etwas vor?«, fragte ich ihn und versuchte so, die Stimmen wieder loszuwerden. »Was machen Sie denn normalerweise an Weihnachten?«
»Ach, früher nur den typischen Familienkram.«
Zu diesem Zeitpunkt durchquerten wir die City, und die Straßen waren voll von Büroangestellten in Anzügen oder Kostümen auf ihrem Weg nach Hause. In den oberen Stockwerken der Gebäude waren viele Fenster bereits dunkel.
»Und heute?«
»Heute mache ich, was ich will. Das ist sehr befreiend.«
»Kann ich mir vorstellen. Unsinn, streichen Sie das. Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen.«
»Ich kann es Ihnen nur wärmstens empfehlen. Sie sollten es auch mal ausprobieren.«
Während dieses gesamten Gesprächs fragte ich mich, ob sich die Vibrationen meines Herzschlags, der gegen meinen Brustkorb pochte, auf meinen Sitz übertrugen und von dort zu seinem Sitz weiterwanderten.
Nachdem wir das Zentrum hinter uns gelassen hatten, sah ich immer weniger Menschen, bis die Bürgersteige fast völlig verwaist waren. Die schäbige Weihnachtsbeleuchtung, die man quer über die Straßen gespannt hatte, schwankte im kalten Wind hin und her und erleuchtete halbherzig den Asphalt. Viele der Geschäfte hatten bereits zu, die Metallgitter vor den Türen weigerten sich hartnäckig, weihnachtlich zu wirken. Wir hielten an einer roten Ampel. Vor einem Supermarkt war ein künstlicher Weihnachtsbaum an eine der Metallstreben des Vordachs gekettet. Irgendwer hatte die Styroporverpackung eines Burgers und eine Bierdose zwischen die Plastikäste gesteckt.
»Manche Menschen sind einfach nur Abschaum«, sagte Dominic.
Ich fühlte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Wissen Sie«, sagte ich und zog demonstrativ mein Handy aus der Handtasche, »ich schicke doch besser eine SMS. Nur für den Fall, dass man mich irgendwo im Wald verscharrt wiederfindet.« Damals lachte ich noch. Ein dummes, aufgesetztes Kichern.
Jetzt lacht niemand mehr.
Ich tippte eine Nachricht in mein Handy. Fahre nach Wapping mit einem Mann, den ich beim Einkaufen getroffen habe. Er heißt Dominic Lacey.
Dann drückte ich auf Löschen statt auf Senden.
Wem hätte ich das auch schicken sollen? Meinen Eltern? Meinen Brüdern? Travis? Nein, er sollte einfach nur denken, dass sich jemand Sorgen machen würde, wenn ich nicht nach Hause käme. Ich wollte, dass er dachte, dass ich irgendwem etwas bedeutete.
»Sehr vernünftig, Jessica Gold.« Dominic lächelte mich an. Mir war klar, dass er genau wusste, was ich gerade getan hatte. Zu diesem Zeitpunkt passierten wir den schlechteren Teil von Wapping. Neubauten mit blinden Fenstern in grellgelben Ziegelfassaden. Das Einzige, was hier an Weihnachten erinnerte, war das gelegentliche Blinken einer Christbaumbeleuchtung. Die Themse war noch nicht in Sichtweite, aber ich konnte schon spüren, wie sie schwarz und still zwischen den Gebäuden zu unserer Rechten dahinfloss. Ich hörte die Stimmen der Ertrunkenen durch die schmalen Gassen zu mir heraufdringen. Mir war unwohl, und eine Gänsehaut überzog meinen Körper.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Dominic. Als er sich mir zuwandte, fiel die Straßenbeleuchtung scharf auf sein Gesicht, sodass es wie zweigeteilt wirkte.
Schließlich fuhren wir durch eine Straße, die von ehemaligen Lagerhallen gesäumt war. Als man sie in den 1980ern in Wohnhäuser umgewandelt hatte, waren sie der letzte Schrei gewesen, aber nun wirkten sie mit den von Stahlstreben durchzogenen dunklen Steinmauern nur noch bedrückend. Am Ende der Straße lenkte Dominic den Wagen plötzlich scharf nach rechts und drückte gleichzeitig einen Knopf, der sich hinter der Sonnenblende befand. Ein Tor öffnete sich, und das Auto fuhr über eine steile Einfahrt in eine Tiefgarage. An ihrem hinteren Ende quetschte er sich in eine schmale Parklücke zwischen zwei Säulen.
Sein Auto war das einzige hier.
»Die meisten Eigentümer nutzen die Wohnungen nur unter der Woche«, erklärte er mir. »An Wochenenden und Feiertagen ist es hier wie ausgestorben.« Wir stiegen aus, und bei mir schrillten alle Alarmglocken, als Dominic meine Tüten einsammelte. »Man muss ja nichts riskieren«, sagte er und nahm die Tüte mit dem Wok heraus. »Die Garage ist zwar abgeschlossen, aber man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Während wir auf den Fahrstuhl warteten, stand ich stocksteif und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube da. Jetzt, wo es zu spät war, fragte ich mich, was genau ich mir eigentlich vorgestellt hatte. Was, hatte ich geglaubt, würde hier geschehen? Da erinnerte ich mich an das wohlig brennende Gefühl auf meiner Haut, wo seine Finger mich berührt hatten.
»Wir fahren nach ganz oben«, sagte er, als der Aufzug ankam, und drückte den Knopf zum sechsten Stockwerk.
Die Fahrt schien ewig zu dauern, wahrscheinlich deshalb, weil ich die ganze Zeit über die Luft anhielt.
Plötzlich berührte er mit der Hand mein Gesicht und streichelte mir zärtlich über die Wange. »Entspann dich«, sagte er. »Kein Grund, so panisch dreinzuschauen.« Er fuhr mir mit dem Daumen über den Nasenrücken, und ich fragte mich, ob er die kleinen Härchen bemerkte, die dort wuchsen. Ich wünschte mir, er würde mich küssen, und zur selben Zeit dachte ich, ich würde sterben, wenn er es täte.
Als der Lift anhielt und Dominic sich von mir entfernte, konnte ich noch immer die Berührung seiner Hand auf meinem Gesicht spüren.
3
Ich teile mir mit Travis eine Wohnung in Wood Green. Wenn Sie London nicht kennen, stellen Sie sich darunter wahrscheinlich ein Viertel im Grünen oder zumindest mit reichem Baumbestand vor. Das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Das Zentrum von Wood Green bildet ein gigantisches, klobiges Einkaufszentrum. An jeder Ecke gibt es dort wenigstens eine Filiale einer Fastfood-Kette. Wenn es stimmt, dass man ist, was man isst, dann besteht die Bevölkerung von Wood Green aus riesigen gebratenen Hähnchenflügeln auf zwei Beinen.
Unsere Wohnung befindet sich im obersten Stockwerk eines viktorianischen Reihenhauses, das sich in den Schatten des Wood-Green-Einkaufsparadieses duckt. Direkte Sonneneinstrahlung gibt es nur zwischen elf Uhr dreißig und drei Uhr nachmittags. Und selbst dann muss man sich in einem bestimmten Teil des Wohnzimmers in der Nähe des Fernsehers aufhalten, um ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen. Im Erdgeschoss wohnt eine polnische Familie, deren Mitglieder sich zu jeder Tages- und Nachtzeit anbrüllen und den ganzen Tag über Fleisch kochen, sodass das ganze Haus danach riecht. Das Gartenhaus teilen sich drei Rumänen, die in Schichten abwechselnd auf den zwei vorhandenen Matratzen schlafen, die ich dort ohne Bettgestell auf dem Boden habe liegen sehen, als die Tür einmal offen stand. Angesichts dieser Umstände ist es nicht verwunderlich, dass Travis und ich uns derzeit eher in der Warteschleife als in einer Beziehung befinden.
Daran dachte ich, als Dominic die einzige Tür im sechsten Stock öffnete. Es war eine große, massive Metalltür mit quietschenden Angeln, und sie führte in einen Raum, der einmal eine Lagerhalle gewesen sein mochte, nun aber das geräumigste Loft war, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Wenn ich mich in diesem Moment umschaue, sehe ich einen fußballstadiongroßen Raum mit Dielenboden und Wänden aus rohem Mauerwerk, die von dicken blau bemalten Stahlträgern durchzogen sind. Die der Tür gegenüberliegende Seite ist von großen Panoramafenstern durchbrochen, von denen zwei auf einen schmalen, lang gestreckten Balkon im Industrielook führen. Die Metallstreben des Balkons sind rot. Aber als ich sie das erste Mal sah, wirkten sie im Zwielicht der winterlichen Abenddämmerung grau. Direkt hinter den Fenstern lag die Themse wie ein schwarzer Abgrund. Von der Eingangstür aus konnte ich die Gebäude auf der anderen Seite des Flusses und die Spitze des Shard sehen, die sich in den dunklen Himmel bohrte. Damals fragte ich mich, ob Travis und ich glücklicher miteinander wären, wenn wir an einem solchen Ort leben würden.
»Wow«, sagte ich, denn ich hatte den Eindruck, irgendetwas sagen zu müssen.
»Ganz nett, nicht wahr?«, erwiderte Dominic und sah sich um. »Ich habe hier alles umbauen lassen, als ich vor ein paar Jahren eingezogen bin. Ich habe den Putz von den Wänden schlagen und den Rest der Wohnung entkernen lassen.«
»Es ist sehr hübsch.« Aber das war es gar nicht. Die schiere Ausdehnung des Raumes wirkte einschüchternd. Es gab ein paar wie aufgepfropft wirkende Inseln aus Möbelstücken – ein L-förmiges Sofa, das bei den Fenstern an der linken Wand stand, ein länglicher Esstisch aus Zink, der in der Mitte des Raumes völlig verloren wirkte, eine frei stehende Küche zu meiner Rechten, deren hochglänzende Fronten das Licht einer Reihe von Scheinwerfern reflektierten, die an einem dicken Kabel unter der Decke hingen. Wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass ein Teil der Küchenschränke an einer niedrigen Wand stand. Dahinter gab es eine Art Flur, von dem – so vermutete ich – die Schlafzimmer abgehen mussten.
»Schau dich ruhig um«, forderte Dominic mich auf und stellte die Einkaufstüten neben der Tür ab. Er nahm meine Hand und führte mich über die Furcht einflößende Weite aus Dielenbrettern.
»Dafür müssen eine Menge Bäume gefällt worden sein«, sagte ich, um mich davon abzulenken, wie sich seine Hand um meine anfühlte.
Er sah nach unten und lächelte. »Stimmt, aber das Opfer war es wert. Ich habe den Boden verlegen lassen, als ich eingezogen bin, mit Fußbodenheizung übrigens. Darunter ist nur nackter Beton. Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt das gewesen ist.« Als wir die lange Strecke über den Holzfußboden zurückgelegt hatten, fiel mein Blick auf das einzige heimelige Detail in dieser ganzen Industrielandschaft: einen Weihnachtsbaum, der wenigstens drei Meter hoch war und unter dem ein Berg geschmackvoll eingewickelter Geschenke lag. Dominic ließ meine Hand los, um eine der breiten Glastüren zu öffnen, die auf den Metallbalkon hinausführten. Sofort blies mir ein eisiger Wind vom Fluss her ins Gesicht, der meine Nase, meine Wangen, ja sogar meine Augäpfel wie mit Nadelstichen traktierte. Ich keuchte, aber nicht nur wegen der Kälte, auch wegen der unglaublichen Aussicht.
»Kaum vorstellbar, dass dieses gesamte Gebäude vor hundert Jahren dazu benutzt wurde, um Tee oder Tabak zu lagern und zu verladen«, sagte Dominic. »Sie haben das Zeug einfach von hier aus auf Kähne geworfen, und los ging’s.«
Auf dem bewegten Wasser wild schaukelnd, fuhr ein Ausflugsschiff vorbei. Kein Mensch war an Deck, aber im Inneren hielten Touristen in knallbunten Skijacken ihre iPhones gegen die Fenster, um die Reise zu dokumentieren. Was würden sie sehen, wenn sie die Filmchen später abspielten? Ein Pärchen auf einem Balkon, winzig klein vor dem riesigen Gebäude im Hintergrund. Würden sie glauben, wir wären verheiratet? Mann und Frau?
»Gleich da unten ist das Execution Dock«, erklärte Dominic und zeigte auf einen Punkt hinter der Brücke, wo der Fluss einen Knick nach links machte. »Dort haben sie früher Piraten aufgehängt. An Hinrichtungstagen muss es auf dem Fluss nur so von Booten gewimmelt haben. Vollgestopft mit Menschen, die sich den Hals verrenkten, um einen Blick auf das Spektakel zu erhaschen.«
»Oh«, sagte ich und nahm plötzlich die Stimmen wahr, die sich über dem Pfeifen des Windes Gehör verschaffen wollten.
»Um das Schauspiel noch unterhaltsamer zu machen, benutzte man ein kurzes Seil, das die Verurteilten nicht sofort tötete, sondern dafür sorgte, dass sie langsam erstickten. Wenn ihre Arme und Beine zuckten, sah das aus, als würden sie tanzen. Nach ihrem Tod wurden sie dann mit Teer übergossen. Ihre Körper stellte man zur Abschreckung in Eisenkäfigen am Ufer aus. Einer der Hingerichteten, Captain Kidd, hing dort über zwanzig Jahre lang in seinem Käfig. Kannst du dir das vorstellen? Die Nachbarin aus dem ersten Stock behauptet steif und fest, dass er genau hier unterhalb des Gebäudes gehangen haben muss. Sie schwört, dass sie ihn in stillen Nächten schreien hören kann. Aber jetzt lass uns wieder reingehen. Du siehst schon ganz durchgefroren aus.«
Als wir wieder in die Wohnung traten, blieben die Schreie draußen im Wind hängen. »Möchtest du etwas trinken?«, fragte er, nachdem er mir Mantel und Handtasche abgenommen hatte. »Ich habe eine Flasche Champagner im Kühlschrank, wenn du das magst.«
Er ging in die Küche hinüber, und ich nahm auf dem riesigen grafitgrauen Ecksofa Platz. Sofort sank ich in die weichen, flauschigen Kissen ein. Ich beobachtete, wie Dominic sich in der Küche hin und her bewegte, mein Körper reagierte auf ihn. Meine Gedanken rasten, und das Blut rauschte in meinen Ohren so laut wie der Themsewind. Ich lehnte mich zurück und versuchte, mich auf das Gemälde zu konzentrieren, das dem Sofa direkt gegenüber an der unverputzten Ziegelwand hing. Das Bild war wenigstens drei Meter hoch und zweieinhalb Meter breit. Es war ganz in Orange-, Rosa- und Gelbtönen gehalten und hatte eine pastose Struktur. Es sah aus, als hätte sich jemand auf die Leinwand übergeben. Das Bild stellte Kopf und Torso einer nackten Frau dar, die mit dem Körper eines Pumas oder einer anderen Raubkatze verschmolz. Der Rücken der Frau war ins Hohlkreuz gedrückt, sodass ihre Brüste sich sehr weit nach vorne wölbten. Der Künstler hatte jedes Äderchen und jede kleine Erhebung auf den beeindruckenden Warzenhöfen festgehalten. Das volle, honigblonde Haar der Frau floss über ihren Rücken bis hin zum Schwanz der Raubkatze. Auch ihr Gesicht trug katzenhafte Züge. Das strahlende Grün der Augen war von einem gelben Ring umgeben, sie hatte einen stechenden, verstörenden Blick.
»Hässlich, nicht wahr?« Dominic reichte mir ein Glas Champagner und ließ sich neben mich auf das Sofa fallen.
»Na ja … es ist … sehr groß!«
Er lachte, und ich nahm plötzlich überdeutlich die Wärme seines Körpers wahr, der sich nur wenige Zentimeter von mir entfernt befand.
»Es ist abscheulich. Aber ich brauchte etwas, das groß genug war, um den Platz auszufüllen. Außerdem ist es von jemandem, den ich kenne.«
»Sie meinen den Künstler?«
»Nein, der Künstler bin ich selbst, und ich habe nie behauptet, ich wäre Picasso. Ich meine das Modell.«
»Oh.« Wieder blickte ich in diese grünen Katzenaugen, und in mir erzitterte etwas, es war wie das Schlagen von Schmetterlingsflügeln. »Eine Freundin?«
»Meine Frau.«
Ich erstarrte, die Hand mit dem Champagnerglas, an dem ich gerade genippt hatte, stoppte mitten in der Luft. »Das ist seltsam. Sie haben doch gesagt, ich würde Sie an Ihre Frau erinnern?«
Er sah mich an, und das Grübchen in seiner Wange klaffte wie eine Schlucht, in die man stürzen konnte, ohne jemals wiedergefunden zu werden.
»Habe ich das?«, fragte er.
4
Es war teurer Champagner, aber wir hätten genauso gut auch Lösungsmittel trinken können. Es waren natürlich viele Gründe denkbar, warum ich ihn an seine Frau erinnerte. Er hatte ja nicht gesagt, dass es sich um eine physische Ähnlichkeit handelte. Vielleicht war es eher ein allgemeiner Eindruck, eine Art Aura, die wir teilten.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, presste ich mühsam hervor. »Ich bin ja noch mit Freunden auf einen Drink verabredet. Und Sie müssen sich auch nicht die Mühe machen, mich zu fahren.«
»Sei nicht albern, Jessica Gold«, sagte er und strich mir so sanft über die Wange, dass ich meinte, jede einzelne Hautlinie seiner Fingerspitzen zu spüren. »Du bist doch gerade erst gekommen.«
Ich sah wieder zu dem Gemälde. »Wo ist sie jetzt?«
»Natalie? Oh, die ist weg und bumst gerade irgendeinen hirnlosen Wichser, nehme ich an.« Er sagte das leichthin, aber seine Finger erstarrten auf meinem Gesicht. »Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen.«
Selbst zu diesem Zeitpunkt und obwohl die Alarmsirenen in meinem Kopf schrillten und mein Herz im Rhythmus einer einzigen Frage schlug – »Wo ist meine Handtasche? Wo ist meine Handtasche?« –, dachte ich immer noch darüber nach, wie es wohl wäre, ihn zu küssen.
»Meinen Sie, dass Sie mit Grenzen zu kämpfen haben?«, hatte mich Sonia Rubenstein einmal gefragt. »Könnte man sagen, dass Sie es schwierig finden, die Grenze zwischen angemessenem und unangemessenem Verhalten zu ziehen?«
Sonia war stets ganz in Schwarz gekleidet, aber sie schlang sich dazu schreiend bunte Seidentücher um den Hals. Ich stellte mir gern vor, wie sie an der Schlafzimmerkommode in der Wohnung über ihrer Praxis in Hampstead eine Schublade öffnete und daraus ein Halstuch hervorzog, als handelte es sich um eine Blüte bei einem teuren Floristen.
»Ich muss jetzt wirklich gehen«, bekräftigte ich, stellte das Champagnerglas unnötig hart auf der dicken Glasplatte des Couchtischs ab und stand auf. »Sagen Sie mir einfach, was Sie mit meiner Handtasche angestellt haben.«
Dominic Lacey rührte sich nicht vom Fleck. Er lümmelte auf dem Sofa und sah amüsiert zu mir hoch. »Komm schon, setz dich wieder. Wir haben doch gerade erst mit dem Plaudern angefangen.«
»Stimmt, aber ich bin schon zu spät. Ich hätte eigentlich gar nicht mitkommen dürfen.«
»Warum hast du es dann getan?«
Sein Arm lag nun ausgestreckt auf der Rückenlehne des Sofas, seine Finger trommelten einen langsamen Rhythmus. Ich konzentrierte mich auf das Auf und Ab seines Eherings. Ich fürchtete mich zu sehr vor dem, was ich in seinem Blick erkennen könnte – oder vielmehr davor, was er in meinem sehen würde.
»Das war wohl eine dieser verrückten Weihnachtslaunen«, erklärte ich. »Ich habe nicht richtig darüber nachgedacht. Sie werden versuchen, mich zu erreichen. Ich müsste dringend mal meine Nachrichten checken.«
»Ach ja, falls sie auf die SMS geantwortet haben, die du ihnen geschickt hast.«
In dem Moment sah ich ihn an, nur ganz flüchtig. Es reichte, um das Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Es reichte, um zu erkennen, dass er wusste, dass niemand mich vermisste.
»Ich hole es mir einfach selbst.« Ich machte mich auf, den unermesslichen Ozean aus Holzdielen zu überqueren. »Sie haben meine Tasche irgendwo dahinten hingelegt, oder?«
Obwohl er nicht vom Sofa aufstand, fühlte ich, wie sein Blick mir folgte. Als ich in der Küche ankam, mit der halbhohen Wand, hinter der sich Gott weiß was verbarg, zögerte ich. Ich ging um die Trennwand herum und gelangte in einen dunklen quadratischen Flur, von dem drei Türen abgingen. Keine stand offen.
Hinter zweien würden sich Schlafzimmer befinden, vermutete ich, hinter der dritten war dann wahrscheinlich das Bad. Und doch gibt es in fremden Wohnungen immer die Angst, dass man hinter einer verschlossenen Tür auf etwas vollkommen Unerwartetes stößt – eine Sauna, einen Darkroom oder einen klimatisierten Raum, in dem aufgespießte Schmetterlinge aufbewahrt werden. Eine meiner Schulfreundinnen hatte mir einmal das »Sexverlies« ihrer Eltern gezeigt. Es befand sich in einer fensterlosen Kammer, die an ihr Schlafzimmer grenzte. Ich erinnere mich noch genau an den Sitz der Schaukel, der mit Kunstpelz bezogen war. Ich hatte mich gefragt, wie sie ihn wohl reinigten. Ob sie ihn reinigten. Man kann nie wissen, welche geheimen Räume einen bei anderen Leuten erwarten, daher zitterte meine Hand auf der ersten Türklinke, und mein Atem ging schnell und keuchend.
Es handelte sich tatsächlich um ein Bad. Sehr kompakt, wenn man es mit der offenen Weite des Wohnbereichs verglich, aber immer noch groß genug für eine frei stehende Badewanne mit Löwenfüßen. Die hintere Wand war vollkommen verspiegelt. Mein Spiegelbild – kreidebleich und mit irrem Blick – erschreckte mich.
»Du bist wirklich sehr schön.« Ohne Vorwarnung war er hinter mir aufgetaucht, und sein Blick im Spiegel schien mich zum Widerspruch aufzufordern. »Ich fühle mich wirklich vertraut mit dir, obwohl wir uns doch gerade erst kennengelernt haben. Fühlst du das nicht auch? Als würden wir uns schon seit Jahren kennen und nicht erst seit ein paar Stunden?«
Ich nickte nur, weil ich nicht sicher war, ob ich überhaupt ein Wort herausbringen würde.
Er streckte eine Hand aus und zog mich zu sich heran. Ich betrachtete uns im Spiegel. Als er seine Lippen auf meine presste, schloss ich automatisch die Augen. Es fühlte sich so anders an als Travis’ zerstreute Küsschen. Ganz plötzlich löste er die Lippen von meinen und fuhr völlig unerwartet mit der Zunge über mein geschlossenes Augenlid wie mit der nassen Spitze eines Schwamms.
Er musste meine Anspannung gespürt haben, denn er sagte: »Keine Angst, Jessica. Ich habe nicht vor, die Situation auszunutzen. Sex ist nicht so mein Ding.«
Das veranlasste mich, die Augen zu öffnen.
»Ich verliere nicht gern die Kontrolle.« Er lächelte, als hätte er mir gerade eine liebenswerte Schrulle gestanden, etwa dass er Angst vor Spinnen hätte oder nur marineblaue Kleidung trüge. »Keine Sorge«, wiederholte er. »Ich komme anders auf meine Kosten.«
Ich fühlte, wie die feinen Äderchen in meinem Gesicht alle auf einmal zu explodieren schienen. Ich musste nicht in den Spiegel schauen, um zu wissen, dass meine Wangen feuerrot anliefen. »Du liebe Güte«, rief ich und benutzte diesen Ausdruck damit zum ersten Mal in meinem Leben. »Wie muss ich mir das vorstellen? Stricken Sie? Oder bauen Sie aus Streichhölzern maßstabgetreue Modelle berühmter Bauwerke?«
»Sehr lustig, Jessica Gold.«
Als er meinen Namen sagte, klang das nicht mehr wie eine Liebkosung.
»Wie auch immer«, sagte ich und warf einen Blick auf meine nicht vorhandene Armbanduhr. »Meine Handtasche? Ich muss jetzt wirklich los.«
»Komm schon, Schätzchen«, sagte er sehr leise. »Wir wissen beide, dass das nicht passieren wird.«
Da war es also. Das, was hinter der perfekten Fassade unserer Begegnung gelauert hatte. Das, was ich nicht hatte sehen wollen. Das, wovor meine Mutter mich immer gewarnt hatte.
Und ich ganz allein war schuld daran.
5
Als ich vierzehn Jahre alt war, verschwand ein Mädchen von meiner Schule. Sie wurde zwei Tage lang vermisst, und es gab viel Aufhebens um diese Angelegenheit. Die Mädchen standen in den Korridoren beisammen und schluchzten, die Jungs murmelten finster irgendwas von Bürgerwehren. Die Eltern des verschwundenen Mädchens waren mit rot geweinten Augen im Fernsehen zu sehen und redeten davon, wie sehr sie ihre Tochter liebten, wie beliebt sie bei ihren Klassenkameraden war und dass ihr Lächeln einen Raum erhellen konnte. Auch nachdem man das Mädchen schließlich in der Wohnung eines sechsundzwanzigjährigen Busfahrers fand, den sie ihren Verlobten nannte, blieb eine gewisse glamouröse Aura an ihr haften.
Monatelang hatte ich davon geträumt, dass mir etwas Ähnliches passierte. Natürlich wollte ich nicht entführt oder misshandelt werden, aber ich hätte es genossen, wenn die Leute sich um mich gesorgt und nette Dinge über mich gesagt hätten. Ich stellte mir vor, wie meine beiden Brüder im Fernsehen über mich sprachen, die ganze Welt mit bebenden Schultern wissen ließen, wie sehr sie mich vermissten. Ich stellte mir vor, dass sie sich schreckliche Vorwürfe machten, weil sie mich jahrelang so schlecht behandelt hatten. Dass alle plötzlich merkten, was für einen Schatz sie verloren hatten.
Nun widerfuhr es mir tatsächlich.
Und mir wurde klar, was für ein dummes Ding ich mit vierzehn Jahren gewesen war.
Dominic und ich saßen wieder auf dem grauen Sofa, dem schrecklichen Gemälde gegenüber. Ich sah Natalies Gesicht nun in einem ganz anderen Licht, suchte in ihren grünen Augen nach Hinweisen. Fürchtete sie sich? Wollte sie mir etwas mitteilen? Wie war sie entkommen? Ich versuchte, sie vor meinem geistigen Auge heraufzubeschwören, sie zu einem Halteseil zu flechten, das ich um meine Gedanken winden konnte. Aber sie blieb zu vage. Entwischte mir durch die Lücken meiner Vorstellung.
Dominic hatte sich auf die zweite Sitzfläche des L-förmigen Sofas gesetzt. Die Eindringlichkeit seines Blicks war kaum zu ertragen. Er musterte mich, als wollte er eine Inventur meiner Person durchführen.
Als ich mit meinen Sitzungen bei Sonia Rubenstein begann, litt ich unter Panikattacken. Einmal hatte man mich auf einer Bahre aus der U-Bahn-Station am Leicester Square hinaustragen müssen, weil sich etwas wie ein Drahtkorsett um meinen Brustkorb gelegt und mir die Luft abgeschnürt hatte. Sonia Rubenstein bemühte sich, mir Techniken beizubringen, mit denen ich meine Gedanken beruhigen konnte, wenn sie außer Kontrolle zu geraten drohten. Zum Beispiel sollte ich mir eine Hand auf den Bauch, die andere auf die Brust legen und in den Bauch ein- und ausatmen, während mein Brustkorb ganz unbewegt blieb. Oder ich sollte immer und immer wieder zu mir selbst sagen: »Mein Herz hört auf zu rasen. Ich werde nicht sterben.« »Sie sind die Herrin Ihrer Ängste«, erklärte sie mir, »nicht umgekehrt.«
Ich zwang mich, in meinen Bauch zu atmen, und wiederholte im Geiste immer wieder: »Du wirst nicht sterben.« Aber nur ein einziger Mensch hörte mir zu. Und sie glaubte mir nicht.