© privat
JULIA LAWRINSON wuchs am Stadtrand von Perth im Westen Australiens auf. Mit fünfzehn Jahren verließ sie die Schule, promovierte aber später in Kreativem Schreiben, nachdem sie eine Vielzahl Jobs ausgeübt hatte: als Zimmermädchen, Kellnerin, Supermarktkassiererin, Raststättenbedienung und als Redenschreiberin für das australische Gesundheitsministerium. Sie lebt und arbeitet in Perth und schreibt in ihrer Freizeit Jugendbücher.
Mehr zu cbj auf Instagram @hey_reader
Julia Lawrinson
Aus dem Amerikanischen
von Silke Pöppel und Silvia Schröer
»Mit wem würdet ihr nie Sex haben wollen, selbst wenn ihr dafür hunderttausend Dollar kriegt?«, fragte Bree, während sie einen Schuss Limo in vier Wodkagläser goss. Sie lehnte die Flasche gegen das Bett und verteilte die Gläser.
»Tyson«, sagte Abby und setzte sich auf, um einen Schluck zu nehmen. Sie trank und verzog das Gesicht. »Auf gar keinen Fall.«
»Auch nicht, wenn du eine Papiertüte hättest?«, fragte Bree.
»Würde eine Papiertüte es denn besser machen?«
»Er ist nicht der hässlichste Typ der Schule«, gab Mala zu bedenken und versteckte die Wodkaflasche in Brees Tasche für den Fall, dass ihre Großmutter unangekündigt hereinkommen sollte.
»Wer ist denn noch hässlicher?«
»Jayden.«
Zoe schnaubte und warf ihr zerzaustes dunkles Haar zurück. »Jayden ist ein Gott im Vergleich zu Tyson.«
»Nur, wenn du seinen Charakter ignorierst.«
»Was ist mit Lockie?«
»Gute Frage. Wer von diesem Dreiergespann ist schlimmer?«
»Na ja, Lockie erfüllt alle Kriterien von Hässlichkeit und außerdem müffelt er«, sagte Zoe. »Darum steht er höher auf der Rangliste. Oder niedriger, wie man’s nimmt.«
»Mir ist Muff lieber als Pickel«, überlegte Mala. »Wenigstens kann man sich da die Nase zuhalten.«
»Nicht, während man sich dem Feuer der Leidenschaft hingibt«, sagte Bree und warf ihren Kopf in den Nacken. »Oh, Baby, Baby, besorg’s mir, oh, oh, ja!«
»Du bist mir vielleicht eine Jungfrau«, grummelte Mala. »Bist du dir sicher, dass du noch nie …?«
»Ich glaube, das wüsste ich«, antwortete Bree gereizt.
»Was ist mit der Penisgröße?«, sagte Zoe. »Als Bewertungsmaßstab? Sozusagen.«
»Woher willst du vom bloßen Hinsehen wissen, wie groß er ist?«, fragte Mala. »Woher weißt du, dass da nicht nur eine Socke drinsteckt?«
»Glaub mir«, lachte Zoe, »als Jayden vor Ms F. aufgestanden ist, war das Ding, das da wuchs, keine Socke.«
»Darf ich anmerken, dass ich einen übergroßen Penis beim ersten Mal eher nicht so gut fände«, sagte Mala und krümmte sich. »Tut es nicht sowieso schon weh genug?«
»Kristen hat gesagt, als sie es mit Jamie gemacht hat, hat sie nichts gespürt«, sagte Bree.
»Vielleicht war er einfach zu klein?« Abby zog die Nase kraus.
»Wie viel hatte sie denn intus?«, fragte Zoe. »Vielleicht war sie zu betrunken, um es zu fühlen.«
»Also sie hat gesagt, dass es immer so ist.« Bree betrachtete prüfend ihre perfekten weißen Zähne in Malas Spiegel. »Sie hat mir erzählt, dass es sich anfühlt, als würde man mit dem Finger übers Zahnfleisch rubbeln, nur weiter unten.«
»Er ist so groß wie ein Finger?«, fragte Mala.
»Natürlich nicht. Nur die Wirkung.«
»Oh Gott«, stöhnte Mala. »Was ist schlimmer: Sich zu fühlen, als würde es einen zerreißen, oder überhaupt nichts zu spüren?«
»Egal«, sagte Bree und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, »du wirst es nie erfahren, oder? Weil deine Eltern dich nie lang genug aus dem Haus lassen, um es herauszufinden.«
»Du solltest mich ablenken und nicht noch mehr deprimieren.« Mala ließ sich neben Zoe aufs Bett plumpsen.
Bree war für einen Moment still, dann drehte sie sich zu ihnen um. Ihr Gesicht strahlte. »Ladys«, verkündete sie, »ich hab eine Idee.«
»Alles«, sagte Mala, »was mir die Langeweile vertreibt, während ich bis November Hausarrest habe.«
»Warum starten wir nicht ein kleines Experiment?«
»Klar.« Zoe untersuchte beiläufig ihren abblätternden Nagellack. »Was für eines?«
»Erinnert ihr euch an die Rede, die wir uns diese Woche in der Schulversammlung anhören mussten?«
Abby runzelte die Stirn. »Meinst du die Wie können wir den Schaden während der Abschlussfahrten möglichst begrenzen-Rede? Die, bei der sie uns im Grunde davon abgeraten haben mitzufahren?«
»Genau. Warum wollen sie nicht, dass wir nach der Schule auf Abschlussfahrt gehen?«
»Weil wir in Vorgärten kotzen?«, grinste Zoe.
»Weil wir die Autos unserer Eltern zu Schrott fahren?«, wagte Abby sich vor.
»Weil es alte Leute immer verrückt macht, wenn sie sehen, dass die heutige Jugend Spaß hat?«, sagte Mala.
Bree schüttelte den Kopf. »Weil statistisch gesehen die meisten Mädchen ihre Unschuld auf den Abschlussfahrten verlieren.«
»Das kann nicht sein.«
»Woher wollen die das wissen?«
»Sogar mehr als nach dem Zwölfer-Schulball?«
Bree zuckte mit den Schultern. »Der Schulball der Zwölften steht doch inzwischen total unter elterlicher Aufsicht. Die Abschlussfahrten dagegen nicht.«
»Okay. Na und?«, zuckte Zoe mit den Schultern.
»Deshalb«, sagte Bree, »starten wir ein Liebesexperiment. Wie viele von uns schaffen es, vor den Abschlussfahrten ihre Jungfräulichkeit zu verlieren?«
Wieder herrschte Stille.
»Bree, du hattest schon immer total durchgeknallte Ideen«, sagte Zoe zu ihr, »aber diese hier ist die verrückteste von allen. Warum um Himmels willen sollten wir das tun?«
Bree machte eine Kunstpause.
»Weil es dann eure Entscheidung ist. Ihr habt es euch nicht schöngesoffen. Ihr tut es nicht, weil ihr in einem Anfall von betrunkener geistiger Umnachtung jemanden wie Tyson anseht und denkt: Ach, eigentlich ist er gar nicht so schlecht. Ihr werdet nicht den Rest eures Lebens im Schatten des Bedauerns verbringen, der nur dadurch noch düsterer wird, weil das Ganze auf Facebook gepostet wird, noch bevor euer Jungfernhäutchen reißt. Es wird etwas sein, das ihr wollt, wann ihr es wollt.«
Mala seufzte. »Ich werd nie die Gelegenheit haben, überhaupt mal einen Jungen zu treffen, weil ich nie aus dem Haus darf. Mich könnt ihr also abschreiben.«
»Ich bin dabei«, sagte Abby und wickelte eine dünne Haarsträhne um ihre Fingerspitze, »auch wenn ich nicht gerade einen Bewerber für die Titelrolle in der Warteschlange habe.«
»Ja, Bree«, sagte Zoe, »es sei denn, du gibst uns einen deiner Kumpels aus dem Fitnesscenter ab.«
»Ich kann ja mal nachfragen.« Bree grinste und hob anzüglich eine Augenbraue.
»Typisch, dass du ein Spiel vorschlägst, das du gewinnst«, giftete Zoe.
»Na schön«, zuckte Bree mit den Schultern. »Dann verbringen wir eben ein weiteres langweiliges Jahr als Jungfrauen.«
Es herrschte wieder Stille, während die Mädchen über ihre Optionen nachdachten.
Schließlich lenkte Zoe ein. »Also gut. Wie soll das denn überhaupt vor sich gehen?«
Bree grinste triumphierend. »Lasst uns ein paar Grundregeln festlegen. Mala, hast du Papier für uns?«
Nach einer Stunde Diskussion und mehreren Wodkas standen die Regeln für das Liebesexperiment fest:
♥ Es musste vor den Abschlussfahrten passieren. (»Dann bleiben uns nur noch achteinhalb Monate!«, jammerte Zoe.)
♥ Sie mussten alle ihre Jungfräulichkeit verlieren oder zumindest einen ernsthaften Versuch unternommen haben.
♥ Absolute Geheimhaltung. Unter keinen Umständen durften sie über die Fortschritte, die sie im Laufe des Jahres machten, oder über das Ausbleiben derselbigen, untereinander oder mit irgendjemand anderem sprechen.
♥ Sie würden die Ergebnisse tagebuchartig aufschreiben. (Bree hatte zwar keine große Lust dazu, machte aber Zugeständnisse.)
♥ Die große Offenbarung würde während der Abschlussfahrten stattfinden.
»Was, wenn wir es mit mehr als einem Jungen machen?«, grinste Zoe. »Kriegen wir dann Extrapunkte?«
»Wir wollen entjungfert und keine Nutten werden«, fauchte Bree.
»Ich hab dabei an dich gedacht«, antwortete Zoe.
Bree warf Zoe einen wütenden Blick zu. Und Mala auch.
»Wie soll ich das hinkriegen? Ich darf noch nicht mal bei uns zu Hause mit einem Jungen allein im Wohnzimmer bleiben«, stöhnte Mala.
»Dann musst du wohl erfinderischer werden, oder?«, sagte Bree.
»Stimmt, Mala, warum hast du nicht Sex mit einem Mädchen oder nimmst ein Sexspielzeug?«, schlug Abby vor. Überrascht sahen die anderen sie an. Sie wurde rot.
»Abby, hinter deiner makellosen Fassade verbirgt sich jemand echt Verdorbenes«, stellte Zoe fest.
»Ein Sexspielzeug zählt nicht«, sagte Bree. »Es muss ein echter, lebendiger Junge sein.«
»Spielverderberin«, sagte Mala. »Und ich habe mich gerade gefragt, wem von euch ich die Ehre zuteilwerden lassen soll.«
Abby unterdrückte ein Kichern.
»Aber was, wenn sich herausstellt, dass eine von uns eine Lesbe ist?«, sagte Zoe.
»Lesben haben auch Sex mit Männern«, erklärte Mala. »Schaut euch Lindsay Lohan an.«
»Hast du … Gefühle in diese Richtung, Zoe?«, fragte Abby und musterte sie bedeutungsvoll. »Du hast unsere volle Unterstützung, wenn das der Fall sein sollte, das weißt du.«
»Nein!« Zoe verdrehte die Augen. »Es war nur eine theoretische Frage.«
»Und was soll die Geheimniskrämerei?«, fragte Mala. »Ich weiß nicht, ob ich es für mich behalten kann, wenn ich es tatsächlich tue.«
»Na ja, es wäre doch unfair, wenn eine von uns es tut, es den anderen erzählt und dann alle anderen einen Rückzieher machen.«
»Aber Bree«, sagte Abby, »fändest du es nicht besser, es einfach geschehen zu lassen? Ganz natürlich, du weißt schon, damit es nicht einfach irgendein Spiel ist?«
»Es kann ja trotzdem natürlich sein, nur eben vor Ablauf des Jahres. Und was ist natürlich daran, betrunken am Strand während der Abschlussfahrt entjungfert zu werden?«
Abby sah nicht überzeugt aus.
»Was ist?«, sagte Bree. »Hast du ein Keuschheitsgelübde abgelegt?«
»Natürlich nicht«, sagte Abby. »Es ist nur … ich bin mir nicht sicher, ob sich das für mich richtig anfühlt.«
»Wir könnten uns eine Strafe ausdenken, für den Fall, dass du kneifst«, sagte Zoe. »Zum Beispiel, dass du Jayden auf der Abschlussfahrt abschleppen oder dass du Ich liebe Justin Bieber auf Facebook posten musst oder so was in der Art?«
Abby runzelte die Stirn. »Und das sollte mich dazu bringen, mich wegen so eines Experiments entjungfern zu lassen?«
»Okay«, sagte Zoe. »Ich habe eine bessere Idee. Warum belassen wir es nicht bei den Regeln, fügen aber hinzu, dass niemand gezwungen wird, gegen seinen Willen mitzumachen.«
»Was soll das bringen?«, sagte Bree. »Dann können wir es auch gleich dem Zufall überlassen.«
»Na ja, nein«, sagte Zoe. »Wir könnten es als Herausforderung statt als Spiel betrachten.«
»Wo soll da der Unterschied sein?«, fragte Bree.
»Ein Spiel ist etwas Kindisches, Hohles, etwas, das man gedankenlos tut. Einer Herausforderung dagegen muss man sozusagen entgegentreten …« – sie ignorierte das Gekicher –, »sie hat eine moralische Komponente, sie fordert einen heraus das, was einen zurückhält, zu überwinden und am Ende ein neuer, besserer Mensch zu werden.« Zoe reckte ihre Faust in die Luft. »Es geht um Freiheit – die Freiheit, eine andere zu werden!«
»Du klingst, als würdest du über eine neue politische Bewegung sprechen und nicht darüber, flachgelegt zu werden«, lachte Mala.
»Du glaubst, dass wir neue und bessere Menschen werden, weil wir Sex hatten?«, fragte Abby.
»Also echt Zoe, schau dich mal um«, sagte Bree. »Es gibt eine Menge Leute, die Sex hatten und die immer noch total verpeilt sind.«
»Okay, das stimmt. Aber so formuliert klingt es doch einfach besser, oder?«
Alle – eine nach der anderen – nickten.
»Es hat Potenzial«, stimmte Bree zu. »Wir könnten es Das Große Liebesexperiment nennen.«
»Was für ein Slogan«, sagte Zoe ironisch.
»Also«, sagte Bree. »Wer macht mit?«
»Aber man kommt auch wieder raus aus der Nummer, richtig?«, sagte Abby.
»Wenn der Teil mit dem Rein nicht funktioniert, klar«, antwortete Zoe. Es freute sie, dass Mala lächelte.
»Okay«, sagte Mala schließlich. »Ich bin dabei. Wenn nur das Jahr dadurch erträglicher wird.«
»Es kann keiner behaupten, wir wären nicht zielorientiert«, sagte Zoe. »Ich schließe mich Mala an.«
»Also gut«, sagte Abby zögernd. »Ich bin auch dabei.«
»Auf die GeeGees«, sagte Bree, zog die Wodkaflasche aus ihrer Tasche und schenkte in die erhobenen Gläser nach.
»Auf das Liebesexperiment«, sagte Zoe.
»Auf beste Freundinnen«, sagte Abby.
»Auf all das«, sagte Mala.
Die GeeGees hoben ihre Gläser und ließen sie so fest aneinanderklirren, dass Mala einen Lachanfall bekam. Dann umarmten sie sich und kicherten in glückseliger Ahnungslosigkeit darüber, was das letzte Schuljahr ihnen bringen würde: Gutes, Schlechtes und auch die ganze Bandbreite dazwischen.