Buch
Als Clare Abbott, eine berühmte Bestsellerautorin, tot in ihrem Hotelzimmer aufgefunden wird, glaubt die Polizei zunächst an ein natürliches Herzversagen. Wäre da nicht ihre Lektorin Rory Statham, hätte man den Fall schnell abgeschlossen. Rory aber ist davon überzeugt, dass der Tod ihrer Autorin und Freundin eine andere Ursache hat. Nur wer sollte hinter solch einem perfiden Plan stecken? Da ihren Vermutungen niemand glauben will, sieht sie nur einen Ausweg: Sie kontaktiert Barbara Havers, deren Visitenkarte ihr zufällig bei einer Lesung in die Hände gefallen ist. Und Barbara horcht gleich auf, als sie von dem Fall erfährt. Dringend muss sie beweisen, dass sie ein guter Detective ist, denn nach ihrem letzten Alleingang beobachtet ihre Chefin Isabelle Ardery jeden ihrer Schritte. Der Fall der verstorbenen Autorin stellt sich allerdings schon bald als äußerst schwierig heraus. War es tatsächlich Mord, wie Rory glaubt, oder ist diese Annahme nur ihrer Trauer zuzuschreiben? Doch dann wird die Lektorin mit Verdacht auf Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Barbara ist sich sicher: Das war kein Zufall. Jemand betreibt ein hinterhältiges Spiel, und sie wird herausfinden, wer – auch wenn sie dafür ihre Karriere endgültig in Gefahr bringt …
Weitere Informationen zu Elizabeth George sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Elizabeth George
Bedenke, was du tust
Ein Inspector-Lynley-Roman
Ins Deutsche übertragen
von Charlotte Breuer,
Norbert Möllemann und Marion Matheis
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»A Banquet of Consequences« bei Viking,
a Penguin Random House Company, New York.
Copyright © 2015 by Susan Elizabeth George
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: plainpicture/NaturePL
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16589-5
V004
www.goldmann-verlag.de
In liebevoller Erinnerung an Jesse Vallera.
Jeder Moment in seiner Gegenwart
war ein ausgesprochenes Privileg.
»… die Vergangenheit ist so schwer zu verändern.
Sie begleitet uns wie eine Anstandsdame
und steht zwischen uns und der
Neuheit der Gegenwart – der neuen Chance.«
Jeanette Winterson
Warum glücklich statt einfach nur normal?
»Früher oder später werden wir uns alle
an eine mit Konsequenzen gedeckte Tafel setzen.«
Nancy Horan
Under the Wide and Starry Sky
Drei Jahre und drei Monate zuvor
8. Dezember
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SPITALFIELDS
LONDON
Da es nur ein Wochenendtrip nach Marrakesch war, würden ein Koffer und eine kleine Reisetasche ausreichen, dachte Lily Foster. Was würden sie schon groß brauchen? In London war es seit Mitte November eiskalt, grau und nass, aber in Nordafrika würde es ganz anders sein. Die meiste Zeit würden sie sich sowieso am Swimmingpool in der Sonne aalen. Oder sie würden auf ihrem Zimmer bleiben und sich lieben, und dafür brauchten sie dann auch keine Kleider.
Das Packen dauerte nicht einmal zehn Minuten. Sandalen, Sommerhosen, ein T-Shirt für William. Sandalen, ein hautenges Kleid und ein Halstuch für sie selbst. Badehose, Bikini, Sonnenmilch und Kosmetika, das war’s. Dann begann das Warten, das – nach einem Blick auf die Wanduhr über dem Herd – eigentlich keine halbe Stunde dauern dürfte. Aber es wurden mehr als zwei Stunden daraus, in deren Verlauf sie ihm mehrere SMS schrieb, auf die sie keine Antwort erhielt. Als sie seine Nummer wählte, meldete sich nur seine angenehme Stimme: »Will hier. Hinterlasst mir eine Nachricht, ich rufe zurück«, worauf sie antwortete: »Wo steckst du, William? Ich dachte, du hättest nur kurz in Shoreditch zu tun. Warum bist du immer noch dort, noch dazu bei dem Mistwetter? Ruf mich an, sobald du das abhörst, okay?«
Lily trat ans Fenster. Draußen regnete es in Strömen, am Himmel ballten sich düstere Wolken. Selbst bei schönem Wetter war diese Wohnsiedlung ziemlich trostlos: eine Handvoll heruntergekommener Backsteingebäude, deren Bewohner lieber über die braunen Rasenflächen stapften als über die unebenen Wege mit aufgeplatztem Asphalt. Bei solch einem Wetter wirkte das Ganze wie eine Todesfalle, wie ein Ort, an dem jede Hoffnung verloren ging. Sie beide gehörten nicht hierher, das stand fest. Diese Umgebung tat ihr nicht gut und William noch weniger. Aber etwas Besseres konnten sie sich vorerst nicht leisten, und deswegen würden sie hierbleiben, bis Lily ihr Geschäft ausweiten konnte und Williams Unternehmen Fuß gefasst hatte.
Das war der schwierige Teil: Williams Unternehmen. Er legte sich ständig mit seinen Kunden an, und die hatten keine Lust, sich mit jemandem zu streiten, den sie für seine Arbeit bezahlten.
»Du musst auf die Wünsche der Leute eingehen«, sagte sie ihm immer wieder.
»Die Leute«, konterte er dann, »sollen mich in Ruhe lassen. Außerdem kann ich mich nicht konzentrieren, wenn sie mir die Ohren volljammern. Warum kapieren die das nicht? Schließlich sag ich es ihnen von vornherein.«
Genau, dachte Lily. Dass er den Leuten ins Gesicht sagte, was er dachte, war Teil des Problems. Er musste das sein lassen.
Lily blickte stirnrunzelnd auf die Straße hinunter. Kein Mensch war da unten zu sehen, erst recht kein William mit hochgeschlagenem Kragen, der aus dem Wagen stieg und zum Fahrstuhlturm ihres Hauses rannte. In dem Wohnblock schräg gegenüber entdeckte sie auf einem der Balkone eine Frau, die in einem leuchtend gelben, im Wind flatternden Sari Wäsche abnahm. Anderswo hingen schlaffe Wäschestücke auf den Leinen, waren Spielsachen, ein paar kümmerliche Pflanzen und die üblichen Satellitenschüsseln hilflos dem scheußlichen Wetter ausgesetzt.
Durch das Fenster hörte Lily den endlosen Lärm der Großstadt: das Reifenquietschen auf nassem Asphalt, als ein Auto zu schnell um die Ecke bog, das metallische Dröhnen von einer Baustelle, wo irgendwo wieder ein Wohnblock hochgezogen wurde, das Lalülala eines Notarztwagens auf dem Weg zum Krankenhaus und irgendwo im Gebäude das viel zu laute Wummern von Bässen, die irgendjemandes musikalische Vorliebe untermalten.
Sie schrieb William die nächste SMS. Als nach zwei Minuten immer noch keine Antwort kam, rief sie ihn noch einmal an. Sie sagte: »William, du musst doch meine SMS kriegen! Gott, nein … du hast doch nicht etwa schon wieder dein Handy auf stumm gestellt? Du weißt genau, dass ich das nicht ausstehen kann! Es ist wichtig! Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber … ach, verflixt und zugenäht. Hör zu. Ich habe für unseren ersten Jahrestag eine Überraschung geplant. Okay, du sagst jetzt bestimmt, nach zehn Monaten kann man keinen Jahrestag haben, aber du weißt schon, was ich meine, also stell dich nicht so an. Jedenfalls müssen wir wegen dieser Überraschung zu einer bestimmten Uhrzeit irgendwo sein, also wenn du nur deswegen nicht antwortest, weil du mich aus irgendeinem Grund ärgern willst, dann hör auf damit und ruf mich zurück.«
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie schaute zu, wie der Minutenzeiger vorrückte, und redete sich ein, dass sie noch genug Zeit hatten, um pünktlich in Stansted zu sein. William brauchte nur nach Hause zu kommen, beide Reisepässe steckten bereits in ihrer Handtasche, die Tickets waren ausgedruckt. Alles, was man für eine Reise ins Ausland bedenken musste, auch wenn es nur ein Wochenendausflug war, hatte sie organisiert.
Sie hätte es ihm sagen sollen, bevor er am Morgen zur Arbeit gefahren war, überlegte sie. Aber er war frustriert darüber gewesen, wie der Auftrag in Shoreditch lief, und sie hatte ihn nicht aus seinen Gedanken reißen wollen. Manchmal war es ganz schön anstrengend, die Leute von einem fantastischen Entwurf zu überzeugen, der genau zum Grundstück passte. Ständig mischten sie sich ein, obwohl sie einen Experten angeheuert hatten, was man mit Sicherheit von William Goldacre behaupten konnte. Er war Experte, Visionär, Künstler und Handwerker. Ließ man ihm freie Hand, verwandelte er jeden von Unkraut überwucherten Garten in ein Paradies.
Als sie seinen alten Fiesta endlich aus der Heneage Street um die Ecke biegen sah, waren vier Stunden vergangen, und Marrakesch konnte sie in den Wind schreiben. Das Geld war zum Teufel, sie saßen fest, und Lily brauchte einen Schuldigen.
Wo war er gewesen? Was hatte er getrieben? Wieso war er nicht an sein verdammtes Handy gegangen? Wenn er nur einen ihrer ersten Anrufe entgegengenommen hätte – was hätte es dich gekostet, William? –, hätte sie ihm von ihren Plänen erzählen und ihn bitten können, sie am Flughafen zu treffen. In diesem Augenblick könnten sie glücklich und zufrieden nebeneinander in diesem verdammten Flugzeug sitzen, das sie in die warme Sonne und zu einem vergnüglichen Wochenende bringen würde.
Lily steigerte sich in ihre Wut hinein, als sie ihn aus dem Auto steigen sah. Sie legte sich ihre Worte zurecht. Rücksichtslos und gedankenlos standen ganz oben auf der Liste. Doch dann sah sie sein Gesicht im Licht einer Straßenlaterne. Sie sah seine hängenden Schultern und seinen schweren Gang, als er näher kam. Er hatte den Kunden in Shoreditch verloren. Das war der zweite Kunde, den er innerhalb von nur drei Monaten verlor, wieder ein Projekt, das in Verbitterung, Wut und Vorwürfen enden würde. Zumindest auf Williams Seite. Der Kunde würde die Rückzahlung eines saftigen Vorschusses verlangen, obwohl das meiste von dem Geld bereits für Material ausgegeben worden war.
Lily beobachtete, wie William von Lichtinsel zu Lichtinsel ging und dann aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie trug die Reisetasche ins Schlafzimmer und schob sie unters Bett. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hörte sie Williams Schlüssel im Schloss. Bis die Tür aufging, saß sie auf dem abgewetzten Sofa, in der Hand ihr Smartphone, und rief ihre Mails ab. »Gute Reise!«, schrieb ihre Mutter, was nicht gerade dazu beitrug, dass ihre Laune sich besserte.
William sah sie sofort, als er durch die Tür kam – was unvermeidlich war in der kleinen Wohnung –, und wandte sich ab. Als er sich zu ihr umdrehte, fiel sein Blick auf ihr Handy. »Sorry.«
Sie sagte: »Ich habe dir mehrere SMS geschrieben und dich mehrmals angerufen, William.«
»Ich weiß.«
»Warum hast du nicht geantwortet?«
»Ich hab mein Handy kaputt gemacht.«
Er hatte einen Rucksack dabei. Wie um ihr zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, öffnete er ihn und leerte den Inhalt auf den Boden aus. Sein Handy fiel heraus, und er gab es ihr. Es war ruiniert.
»Bist du mit dem Auto darübergefahren, oder was?«, fragte sie.
»Ich habe es mit einem Spaten zertrümmert.«
»Aber …«
»Du hast die ganze Zeit … Ich weiß nicht, Lily. Ich konnte dir nicht antworten, aber du hast einfach nicht aufgehört … Das dauernde Klingeln und Summen, während da alles drunter und drüber ging. Ich hatte das Gefühl, als würde mir gleich der Schädel explodieren, und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als das Handy mit dem Spaten zu zertrümmern, damit das endlich aufhörte.«
»Was ist denn eigentlich los?«
William ließ den Inhalt seines Rucksacks auf dem Boden liegen und warf sich in einen Sessel. Jetzt konnte sie sein Gesicht deutlich sehen. Er blinzelte auf die ihm eigene Art, wie er es immer tat, wenn eine unangenehme Situation sich zuspitzte.
»Es ist zwecklos«, sagte er.
»Was?«
»Ich. Das hier. Alles. Ich bin ein Versager. Es hat alles keinen Zweck. Ende, aus.«
»Du hast den Kunden in Shoreditch also verloren?«
»Was glaubst du denn wohl? Ich verliere doch alles. Meine Autoschlüssel, meinen Laptop, meinen Rucksack, meine Kunden. Und dich auch, Lily, du brauchst es gar nicht abzustreiten. Ich bin dabei, dich zu verlieren. Und genau das – seien wir ehrlich – wolltest du mir doch sagen, oder? Du hast mich angerufen und mir SMS geschrieben, weil du unbedingt wolltest, dass ich dich zurückrufe, damit du genau das tun konntest, was alle mit mir machen. Weil du Schluss machen willst, stimmt’s?«
Er hörte gar nicht mehr auf zu blinzeln. Er musste sich beruhigen. Aus Erfahrung wusste Lily, dass es kaum noch etwas gab, das ihn beruhigen konnte, wenn er sich noch weiter in diesen Zustand hineinsteigerte, deshalb sagte sie: »Ich wollte eigentlich mit dir nach Marrakesch fliegen. Ich hatte ein Supersonderangebot gefunden für einen Wochenendtrip, mit Hotel, Swimmingpool und allem Drum und Dran. Ich wollte dich damit überraschen, und ich hätte es dir schon heute Morgen sagen sollen – wenigstens, dass ich eine Überraschung geplant hatte –, aber das hätte bedeutet … Ach, ich weiß nicht.« Entmutigt fügte sie hinzu: »Ich dachte, es würde uns Spaß machen.«
»Für so was haben wir kein Geld.«
»Meine Mutter hat es mir geliehen.«
»Dann wissen deine Eltern also jetzt, wie schlecht es uns geht, ja? Was ich für ein Versager bin. Was hast du ihnen erzählt?«
»Ich hab nur mit meiner Mutter gesprochen. Aber ich hab ihr nichts Konkretes erzählt. Und sie hat auch nicht gefragt. So ist sie nicht, William. Sie mischt sich nicht ein.« Nicht wie deine Mutter, dachte sie, behielt es jedoch für sich.
Aber er hatte es trotzdem kapiert, denn er bekam diesen säuerlichen Gesichtsausdruck so wie jedes Mal, wenn es um seine Mutter ging. Er sprang jedoch nicht darauf an, sondern sagte stattdessen: »Ich hätte von Anfang an merken müssen, dass diese Leute Idioten sind, aber ich habe es nicht geschnallt. Wieso kriege ich nie mit, wie die Leute drauf sind? Sie sagen, sie wollen was Besonderes, und ich kann ihnen was Besonderes bieten, und es würde ihnen bestimmt gefallen, wenn sie mich nur machen ließen. Aber nein, sie verlangen Zeichnungen und Entwürfe und Abnahmen und tägliche Abrechnungen. So kann ich nicht arbeiten.«
Er stand auf. Trat an das Fenster, an dem sie die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte, aber was sie ihm gern gesagt hätte, war: Wenn er nicht unter der Federführung von jemand anderem arbeiten konnte, wenn er nur allein arbeiten konnte, dann würde er lernen müssen, auf Menschen zuzugehen, denn wenn er das nicht lernte, würde er immer und immer wieder Fehlschläge erleben. Sie hätte ihm gern gesagt, dass es ein Unding war, wie er mit den Leuten umsprang, dass er nicht von ihnen erwarten konnte, dass sie ihm ihren Garten oder auch nur einen Teil ihres Gartens einfach überließen, damit er sich dort nach Herzenslust austoben konnte. Und wenn es ihnen nicht gefällt, was du dir ausgedacht hast?, hätte sie ihn gern gefragt. Aber sie hatte das alles schon oft genug gesagt und gefragt, und es endete jedes Mal so wie jetzt.
»Es liegt an London«, sagte er abrupt zur Fensterscheibe.
»Was ist mit London?«
»Das hier. Alles. Es liegt an London. Die Leute hier … sind anders. Sie verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht. Ich muss hier weg. Es ist der einzige Ausweg, ich werde mich auf keinen Fall von dir aushalten lassen.«
Er fuhr zu ihr herum. Seine Miene war dieselbe, die er aufsetzte, wenn seine Kunden ihm Fragen stellten, die er für überflüssig hielt. Sie drückte aus, dass er nicht mit sich reden ließ. Als Nächstes, dachte sie, würde er ihr seinen Entschluss mitteilen.
Und das tat er. »Dorset.«
»Dorset?«
»Ich muss nach Hause.«
»Das hier ist dein Zuhause.«
»Du weißt, was ich meine. Ich habe den ganzen Tag gegrübelt, und das ist die Lösung. Ich gehe nach Dorset zurück. Ich fange noch mal ganz von vorne an.«
SPITALFIELDS
LONDON
Sie bugsierte ihn aus dem Haus, Regen hin oder her. Sie schlug das Pride of Spitalfields vor. Das Pub lag ganz in der Nähe, es war vielleicht ein bisschen schickimicki mit seinem cremeweißen Außenanstrich und den dunkelblauen Markisen, von denen der Regen tropfte, aber dort bekam man immer noch einen guten Cider, und meistens waren noch ein oder zwei Tische in der Ecke frei. Er sträubte sich. »Das kann ich mir nicht leisten, Lily, und ich lasse nicht zu, dass du bezahlst.«
Sie erklärte ihm, es sei Geld von ihrer Mutter, das für Marokko vorgesehen gewesen war, und was spielte es überhaupt für eine Rolle, wer bezahlte, wo sie doch im selben Boot saßen.
»Das … das gehört sich einfach nicht«, entgegnete er. Seine Wortwahl ließ vermuten, dass seine Mutter hinter jeder Entscheidung stand, die er getroffen hatte, seit er sich mit seinen Kunden überworfen hatte, angefangen bei der Zertrümmerung seines Handys bis hin zu dem Entschluss, nach Dorset zurückzukehren.
Ohne innezuhalten und sich zur Geduld zu ermahnen, fuhr sie ihn an: »Du hast es ihr erzählt, stimmt’s? Und zwar bevor du mit mir darüber gesprochen hast. Warum hast du das getan?«
»Das hat nichts mit meiner Mutter zu tun«, sagte er.
»O doch! Alles hat immer mit deiner Mutter zu tun!«, gab sie zurück.
Sie betrat das Pride of Spitalfields. Sie war so wütend, dass es ihr fast egal war, ob er mitkam. Doch er folgte ihr, und sie setzten sich an den einzigen freien Tisch, direkt neben der Damentoilette, aus der ihnen jedes Mal grelles Neonlicht ins Gesicht fiel, wenn die Tür aufging. Irgendwo lief Musik. Sie kam anscheinend aus einem iPod oder einem iPhone mit einer Radio-App, denn es war eine Mischung aus Country & Western-Oldies, hauptsächlich Johnny Cash und hin und wieder auch was von Willie Nelson, Patsy Cline, Garth Brooks, Randa Travis und den Judds.
Lily sagte: »Du hast mir immer noch keine Antwort gegeben, William.«
Er schaute sich im Pub um, ehe er sie ansah. »Das stimmt nicht. Ich habe dir gesagt, dass …«
»Du hast versucht, mich abzulenken, mehr nicht. Also noch mal: Du hast mit deiner Mutter gesprochen. Du hast ihr erzählt, was passiert ist, bevor du es mir gesagt hast.«
»Ich habe gesagt, das hat nichts mit meiner Mutter zu tun.«
»Lass mich raten. Sie hat gemeint, du sollst nach Dorset zurückkommen. Sie hat dir gesagt, dass du da noch mal ganz von vorne anfangen kannst. Sie hat dir ihre Unterstützung angeboten und nicht nur ihre, sondern auch die deines Stiefvaters. Wann wirst du dich endlich von den beiden lösen?«
»Ich habe nicht vor, wieder zu meiner Mutter zu ziehen. Zumindest nicht auf Dauer. Nur, bis ich mir etwas aufgebaut habe. Es ist das Beste.«
»Gott, ich kann direkt ihre Stimme aus dir hören«, schäumte Lily.
»Ich hab an Sherborne gedacht«, sagte er. »Oder Yeovil. Wahrscheinlich eher Yeovil, das ist erschwinglicher, wobei Sherborne geschäftlich interessanter wäre. Da wohnen Leute mit Geld. Sogar Mum sagt …«
»Mich interessiert nicht, was ›Mum‹ sagt.«
»Es liegt an London, Lily. In London Geld zu verdienen ist schwer, egal, womit.«
»Ich habe auch ein Geschäft hier. Und es läuft gut.«
»Tattoos, ja. Dafür ist London super. Aber in meiner Branche … In dem Metier, in dem ich wirklich gut bin … Hier in London lassen die Leute sich nicht so auf mich ein, wie ich das brauche. Du hast es selbst gesagt: London ist perfekt, wenn man anonym bleiben will, aber wenn man mehr will, kann man es vergessen. Genau das hast du selbst gesagt. Ich hab hier keine Chance. Nur dir zuliebe hab ich es hier so lange ausgehalten.«
Sie schaute zum Tresen hinüber. Sie dachte daran, wie hip Spitalfields neuerdings geworden war, während die scheußlichen Stahl- und Glas-Türme des Londoner Zentrums immer näher rückten. Selbst hier – gar nicht weit entfernt von Whitechapel, wo Jack the Ripper in den engen Gassen sein Unwesen getrieben hatte – flirteten junge Frauen in schicken, knapp sitzenden Kostümen mit jungen Männern in Anzügen und tranken Weißwein. Weißwein! Im East End! All das bewies einmal mehr, dass nichts blieb, wie es war, dass der Fortschritt unaufhaltsam war und dass »Fortschritte machen« sich nicht nur auf die Gesellschaft und die Wirtschaft und die Wissenschaft und alles andere bezog, sondern auch auf Menschen. Lily fand das schrecklich – allein die Vorstellung von permanenter Veränderung, an die man sich gewöhnen musste. Aber sie wusste auch, wann es zwecklos war, dagegen anzukämpfen.
Sie sagte: »Ich nehme an, das war’s dann wohl.«
»Was?«
»Das mit uns. Was sonst?«
Er langte über den Tisch und nahm ihre Hand. Seine Handfläche, die sich über ihre geballte Faust legte, fühlte sich feucht an. Er sagte: »Du kannst doch mit nach Dorset kommen. Du kannst da ein Tattoo-Studio aufmachen. Ich hab schon mit …«
»Mit deiner Mutter gesprochen. Alles klar. Und sie hat dir versichert, dass in Dorset ein großer Bedarf an Tattoos herrscht.«
»Na ja … also, das müsste sich zeigen. Aber du verstehst sie falsch, Lil. Sie wünscht sich ebenso sehr wie ich, dass du mitkommst.«
14. Dezember
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SPITALFIELDS
LONDON
Will hatte nicht damit gerechnet, dass Lily als Erste aus der Wohnung ausziehen würde. Er hatte sich mehr oder weniger darauf verlassen, dass sie noch bleiben würde – eine Konstante in seinem Leben –, bis er seine Sachen gepackt hatte und den Umzug in die Wege leitete. Aber zwei Tage später war sie gegangen, und so blieben ihm vier Tage, in denen er allein zurechtkommen musste, vier Tage, bis seine Mutter und sein Stiefvater mit dem Bäckereilieferwagen kamen, um alles nach Dorset zu transportieren, was nicht in seinen Fiesta passte.
Vier Tage allein, das bedeutete, dass er dazu verdammt war, vier Tage lang mit seinem Kopf allein zu sein. In seinem Kopf waren Stimmen zu hören. Sie sagten ihm Dinge, die er bereits wusste: Er konnte die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit Lily aufgeben; er hatte einmal mehr bewiesen, was für ein Versager er war; er war seit dem Tag, an dem er das Licht der Welt erblickt hatte, ein verdammter Spinner, du brauchst nur in den Spiegel zu sehen, Will, dann weißt du Bescheid. Und genau das tat er. Er ging ins Bad und schaute in den Spiegel und sah alles, was er an sich verabscheute. Seine lächerliche Größe. Was bist du, ein Zwerg? Das deformierte rechte Ohr. Dein Vater ist Schönheitschirurg und war nicht bereit, dich zu operieren? Dichte Brauen, die sich über seinen Augen wölbten. Ist unter deinen Vorfahren ein Gorilla, du Affengesicht? Ein Schmollmund wie bei einer Puppe.
Du bist so hässlich wie die Nacht, mein Junge. Sie konnte dich nicht ansehen. Wer kann das schon? Du hast sie von der Leine gelassen, und sie ist natürlich abgehauen. Kann man es ihr verdenken? Wie lange wird sie wohl brauchen, bis sie für einen anderen die Beine breitmacht? Für einen, der weiß, was er tut. Keine Ausreden, keine Pillen, kein Gerammel, kein tut mir leid, aber du machst mich ganz heiß. Jetzt hat sie einen, der es ihr richtig gut besorgt, was du – seien wir ehrlich – nie gebracht hast.
Er rief seine Großmutter an. Um sich von dem abzulenken, was sich in seinem Kopf abspielte. Aber als er ihr erzählte, dass er nach Dorset zurückgehen würde, sagte sie mit ihrer rauen kolumbianischen Raucherstimme: »Sei nicht verrückt, Guillermo. Verrückte Idee. Du machst einen Fehler. Rede mit Carlos, sí? Er wird dir dasselbe sagen.«
Aber es hatte keinen Zweck, mit Charlie zu reden. Wills Bruder führte ein Traumleben, in jeder Hinsicht das krasse Gegenteil zu Wills Mickerexistenz.
»Dorset?«, würde er sagen. »Scheiße, Will, was willst du in Dorset? Wie kannst du ausgerechnet sie als Lösung betrachten, wo sie seit fünfundzwanzig Jahren dein Problem ist?«
Charlie würde nicht glauben, was seine Großmutter und Lily auch nicht glaubten, nämlich, dass es nur eine Übergangslösung war. Denn Caroline Goldacre wollte ihren Sohn ebenso wenig für immer und ewig bei sich aufnehmen, wie er für immer und ewig bei ihr wohnen wollte. Sie selbst hatte gesagt: »Du kannst nur für kurze Zeit hier unterkommen, Will, das verstehst du doch?«, und sie hatte sich auf nichts eingelassen, ehe er ihr nicht ebendies versprochen hatte: ein paar Wochen, um sich einzuleben und einen neuen Kundenkreis aufzubauen. Sherborne, dachte er. Er würde sich in Sherborne umsehen müssen.
Sie hatte ihm erklärt, er müsse in London warten, bis sie und sein Stiefvater sich loseisen konnten. Da die Bäckerei sonntags geschlossen war, würden sie am Sonntag nach London rauffahren. Das sei doch kein Problem, oder? Überhaupt nicht, hatte er geantwortet. Aber dann war Lily fortgegangen.
Kurz darauf hatten die Stimmen in seinem Kopf sich gemeldet und wollten nicht mehr verstummen. Nach vierundzwanzig Stunden rief er seine Mutter an und fragte, ob er nicht schon vor Sonntag nach Dorset kommen könne. Er würde einen Teil seiner Sachen in seinem Fiesta transportieren, und am Sonntag könnten sie dann alle zusammen noch einmal nach London fahren, um den Rest abzuholen.
»Was soll der Unsinn?«, erwiderte seine Mutter liebevoll. »Bis Sonntag wirst du es doch wohl aushalten können, oder?« Dann fragte sie vorsichtig: »Will, du nimmst doch regelmäßig deine Medikamente, nicht wahr?«
Er bejahte ihre Frage. Er erzählte ihr nicht, dass Lily gegangen war. Er wollte nicht, dass sie das eine mit dem anderen in Verbindung brachte: Lily und seine Medikamente. Es hatte keinen Zweck.
Die vier Tage zogen sich hin wie eine Ewigkeit. Nichts konnte ihn davon ablenken, darüber nachzugrübeln, wer er war. Nach zwei Tagen begann er, in der Wohnung auf und ab zu gehen und sich gegen die Stirn zu schlagen. Am Sonntag stellte er sich ans Fenster und verbrachte die zähen Stunden des Wartens wie ein ausgesetzter Hund.
Und so sah er, wie der Lieferwagen in die Straße einbog. Er sah, wie seine Mutter ausstieg und wie immer seinen Stiefvater in die Parklücke einwies. Sie wedelte mit den Armen und trat ans Fahrerfenster, um ihm etwas zu sagen. Dann fuchtelte sie wieder mit den Armen, bis der arme Alastair es geschafft hatte, den Wagen zu parken, ohne ein anderes Fahrzeug zu rammen.
Will spürte, wie das Böse in ihm aufstieg, während er das alles beobachtete. Er versuchte, es zu unterdrücken. Aber er begann unwillkürlich zu blinzeln, und aus den Tiefen seines Inneren, über das er keine Kontrolle hatte, sprudelten die Worte hervor. »Hier kommt die schwanzlutschende Sturmtruppe.« Er schlug sich eine Hand vor den Mund, und seine Lider flatterten. »Ficker Ficker Ficker Drecksau Regen Eis.« Er wich vom Fenster zurück und versuchte, die Stimmen zu ersticken. Aber sie drangen heraus wie der faulige Gestank aus einem defekten Abwasserrohr. »Hure Schlampe Hurensohn Loddel.«
Es klingelte. Er stolperte zur Tür und drückte auf den Knopf, der den Aufzug freigab. Er schlug sich heftig, spürte jedoch keinen Schmerz. »Ficken poppen blasen wichsen alles Schweine.«
Er riss die Wohnungstür auf und zog sich dann ans hintere Ende des Zimmers zurück. Er hob die Hand und biss sich fest ins Handgelenk.
Er hörte ihre Stimmen näher kommen, die seiner Mutter klang weich, Alastairs rau. Er hörte seine Mutter sagen: »Es wird schon alles gut gehen.« Und dann kamen sie in seine Wohnung.
Sie ergriff als Erste das Wort. »Du solltest lieber nicht den Aufzug freigeben, ohne dich vorher zu erkundigen, wer geklingelt hat, Will«, sagte sie. »Das könnte doch sonst wer sein, gerade hier in der Gegend …« Ihre Worte drangen in die Stille ein, während sie ihn anschaute.
Er blinzelte heftig. Er hielt sich den Bauch, um zurückzuhalten, was herausdrang wie eine nur für sie bestimmte Geißel. »Heiße Fotze kalte Fotze Hundefutter Dreck.«
Sie sagte nur: »Ach herrje.« Mit schnellen Schritten durchquerte sie das Zimmer. Sie nahm ihn in die Arme. Er klammerte sich an sie, aber die Worte sprudelten weiter aus ihm hervor, also löste er sich von ihr und drehte sich um. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand, aber es wollte nicht aufhören.
Er hörte seine Mutter sagen: »Das ist nur ein Anfall, mein Liebling. Es sind nur Wörter. Das ist nichts Schlimmes. Du solltest versuchen …«
Er lachte hysterisch. »Schlampe Schwanz Irrenhaus.«
»Keine schlechte Idee«, hörte er Alastair murmeln.
»Überlass das mir, Alastair«, sagte seine Mutter in scharfem Ton. »Vielleicht könntest du ja schon mal damit anfangen, seine Sachen einzusammeln und ins Auto runterzutragen.«
»Wo ist denn sein ganzer Krempel?«, fragte Alastair. »Hast du denn nicht gepackt, Will? Hast du vergessen, dass deine Mutter und ich heute kommen würden?«
»Offensichtlich war er nicht dazu in der Lage … Du musst wohl … Nein. Nein, wir packen jetzt nur die nötigsten Sachen zum Anziehen in einen Koffer, den Rest kann Lily später nachschicken. Ich werde ihr einen Zettel schreiben. Warum ist sie eigentlich nicht hier? Wo ist Lily, Will?«
»Lily Fotze Schwanz ficken der Troubadour singt.«
Die Wörter kamen jetzt lauter heraus. Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Er spürte die Hand seiner Mutter an seinem Arm. Sie versuchte, ihn in die Mitte des Zimmers zu ziehen, aber er riss sich los und lief in die Küche, denn dort gab es Messer, damit konnte er sich die Zunge herausschneiden oder sich irgendeinen starken Schmerz zufügen, denn jetzt konnten nur noch intensive Schmerzen den Strom der Wörter stoppen.
»Lass das, William!«, rief seine Mutter. Er hörte, wie sie hinter ihm hergelaufen kam. Er spürte, wie ihre Arme sich um ihn legten. »Bitte.«
»Caro«, sagte Alastair aus dem Wohnzimmer. »Vielleicht will der Junge gar nicht mitkommen.«
»Er muss«, antwortete sie. »Sieh dir doch an, in welchem Zustand er ist. Will, hör mir zu. Soll ich einen Krankenwagen rufen? Möchtest du ins Krankenhaus? Oder woandershin? Ich glaube nicht, dass du das möchtest, also reiß dich bitte zusammen.«
»Ich könnte Lily auf ihrem Handy anrufen«, schlug Alastair vor, »und sie bitten herzukommen. Ist ihr Laden nicht ganz hier in der Nähe? Arbeitet sie heute?«
»Unsinn, heute ist Sonntag. Sieh dich doch mal um. Sie ist weg. Und Lily ist das Problem, nicht die Lösung. Du brauchst dir ihn doch nur anzuhören.«
»Aber die Wörter bedeuten doch nicht …«
»Sie bedeuten, was sie bedeuten.«
Will riss sich von seiner Mutter los und presste sich die Hände an den Schädel. »Gabeln Messer und Löffel und ihr zwei am Ficken wie die Ziegen damit ich ficken ficken ficken kann denn so hat sie’s gern wie Jesus und Maria es gemacht haben was soll er sonst gemacht haben bis er dreiunddreißig war.«
»Heiliger Strohsack«, entfuhr es Alastair.
»Es reicht, William.« Caroline drehte ihn zu sich, und er blinzelte wie verrückt und konnte sie kaum noch sehen. Sie sagte: »Hör sofort damit auf. Wenn du dich nicht in den Griff kriegst, rufe ich den Notarzt, und dann bringen sie dich Gott weiß wohin, und das willst du doch bestimmt nicht. Wo sind deine Medikamente? Hast du sie eingepackt? Antworte mir, Will.«
»Und als er vom Kreuz gestiegen ist, hat die verfickte Kuh den Balg fallen lassen.«
Caroline sagte: »Es hat keinen Zweck. Alastair, würdest du bitte unten warten?«
»Es gefällt mir nicht, dich mit ihm allein zu lassen, Liebes.«
»Ist schon in Ordnung. Du weißt, dass ich im Notfall mit ihm zurechtkomme. Er wird mir nichts tun. Er muss sich einfach nur beruhigen.«
»Wenn du meinst …«
»Ja.«
»Also gut. Ruf mich auf dem Handy an. Ich warte unten.« Alastair ging und zog die Tür hinter sich zu.
»So, Schluss jetzt!«, sagte Caroline mit Nachdruck. »Ich hab gesagt, du sollst aufhören. Hast du mich verstanden, Will? Du benimmst dich wie ein Zweijähriger, und das reicht mir jetzt. Wie hast du es geschafft, in so einen Zustand zu geraten, wo du doch ganz genau weißt, was du dagegen tun kannst. Himmelherrgott, kann man dich nicht mal fünf Minuten allein lassen?«
»Fotze voll Kotze.«
Sie schüttelte ihn so heftig, dass seine Zähne klapperten. Sie stieß ihn in Richtung Wohnzimmer. »Geh mir aus den Augen!«, fauchte sie. »Krieg dich gefälligst in den Griff, und zwar ein bisschen plötzlich. Du weißt genau, was du zu tun hast, also tu’s. Und lass dir das nicht zweimal sagen!«
SPITALFIELDS
LONDON
Alastair verließ das Haus und ging zum Lieferwagen. Die Begegnung mit Will hatte ihn erschüttert. In einem so schlimmen Zustand hatte er ihn noch nie erlebt.
Als Will nach London gezogen war, hatte er sich sehr viel davon versprochen. Er hatte eine Freundin gefunden – sie war ein bisschen schräg, hatte jede Menge Piercings und ziemlich schrille Tattoos, aber was spielte das schon für eine Rolle? –, und er hatte sich selbstständig gemacht, anfangs sogar mit passablem Erfolg. Außerdem hatte er Kontakt zu seiner Großmutter aufgenommen. Und dass er den Rat seiner Mutter, sich von seinem Vater und dessen blutjunger Freundin fernzuhalten, in den Wind geschlagen hatte, war eigentlich auch nicht so tragisch gewesen. Er stand endlich auf eigenen Füßen, und gelegentliche Irritationen würden ihn nicht zu Fall bringen. Das hatte Alastair zumindest geglaubt.
»Freu dich, dass er endlich flügge wird, Caro«, hatte er ihr geraten. »Du kannst ihn nicht ewig verhätscheln.«
Caroline war natürlich ganz und gar nicht der Meinung, dass sie Will verhätschelte. Sie tat eben, was sich für eine Mutter gehörte, und ihren Söhnen eine gute Mutter zu sein war das Allerwichtigste in ihrem Leben, das hatte sie von dem Moment an deutlich gemacht, als Alastair – sehr zu seinem eigenen Kummer – sich eingestehen musste, dass er sich über beide Ohren in eine verheiratete Frau verliebt hatte.
Eine ganze Weile hatte er sich glücklich geschätzt, sie zu haben. Als er sie bei der Weihnachtsaufführung im Theater gesehen hatte, wo sie tugendhaft Apfelsinensaft getrunken und lächelnd die Familien im Sonntagsstaat beobachtet hatte, wollte er sie unbedingt kennenlernen. Er war mit fünf seiner Neffen und Nichten dort gewesen, und sie hatte dasselbe behauptet: Zwei ihrer Neffen liefen hier irgendwo herum und stellten zweifellos irgendwelchen Unsinn an. Dass es sich bei den beiden Neffen in Wirklichkeit um ihre Söhne handelte, hatte sie ihm erst viel später eröffnet.
»Ich wusste nicht, was du denken würdest«, hatte sie zu ihrer Entschuldigung gesagt.
Gemeint hatte sie, dass sie nicht hatte wissen können, was er davon halten würde, dass sie verheiratet war. Unglücklich verheiratet. Mit einem Mann, der so desinteressiert an Sex war, dass er höchstens zweimal im Jahr mit ihr schlief.
Er habe überhaupt nichts gedacht, hatte er ihr geantwortet. Nur dass sie schlank war und schön und gesegnet mit herrlichem dunklem Haar und prächtigen Brüsten und großen dunklen Augen und vollen Lippen und dass ihr Anblick ihm jedes Mal den Atem raubte. Und diese Atemlosigkeit war zum Teil der Tatsache geschuldet, dass sie sich tatsächlich auf ein Gespräch mit ihm einließ, einem Mann, der sich im Vergleich zu dieser Märchenprinzessin fühlte wie eine hässliche Kröte, klein und unscheinbar und mit schütterem Haar, ein Mann mit Brille, weit entfernt von dem, was er sich erträumt hatte zu sein: Mitglied des SAS, eine Tötungsmaschine, ein hochdekorierter Soldat. Das Schicksal hatte verhindert, dass er diese Laufbahn einschlug: Ein schlecht geschienter Beinbruch in seiner Kindheit hatte ihn zum Hinkebein mit orthopädischem Schuh gemacht und jede Hoffnung auf eine Karriere bei der Armee zerstört, die ihn zu dem Mann gemacht hätte, zu dem er sich zweifellos berufen fühlte.
An dem Abend bei der Weihnachtsaufführung hatten sie sich lange unterhalten – über die bevorstehenden Feiertage, wie wichtig es war, an Weihnachten mit der Familie zusammen zu sein, über seine Eltern in Schottland, ihre Mutter in London, sie hatten einander erzählt, was sie an den Feiertagen vorhatten und wen sie besuchen würden. Caroline hatte sehr wenig von sich preisgegeben, er dagegen sehr viel. Als die Glocke das Ende der Pause verkündete, hatte er ihr seine Visitenkarte zugesteckt und schüchtern gesagt, falls sie sich irgendwann mal mit ihm auf einen Kaffee oder einen Drink treffen wolle oder falls sie Lust habe, seinen Laden kennenzulernen …
»Was für einen Laden?«, hatte sie gefragt.
»Ich widme Dinge um und verkaufe sie.«
»Was bedeutet das?«
»Kommen Sie und sehen Sie selbst.«
Er hatte kaum damit gerechnet, dass ihrer Begegnung noch etwas folgen würde, aber nicht einmal zwei Wochen später stand sie in seinem Laden in der Whitecross Street. Dort verkaufte er, was er aus Dingen herstellte, die er auf Schrottplätzen, bei Entrümpelungsaktionen, in Trödelläden und auf Flohmärkten erstand. Aus riesigen Maschinen wurden Tische, aus Poloschlägern Lampen. Metallene rostige Gartenstühle wurden mit einer dicken Schutzschicht aus Farbe und Lack überzogen, alte Dachbalken wurden zu Sitzmöbeln umfunktioniert, und auf diese Weise wurde dem Trödel anderer Leute neues Leben eingehaucht.
Sie war ganz entzückt gewesen, denn er war richtig gut in seinem Handwerk, das musste sie schon sagen. Voller Staunen hatte sie ihn gefragt, woher er all die Ideen nehme. Ihre Bewunderung ging ihm herunter wie Butter. Es waren gerade Kunden im Laden, und die wollte er so schnell wie möglich loswerden, um Caro seine ganze Aufmerksamkeit widmen zu können. Er stotterte und errötete und bemühte sich, vor ihr zu verbergen, was sein Gesichtsausdruck deutlich verriet: rasende Begierde, die nicht erfüllt werden konnte.
Sie war geblieben, bis er den Laden zugemacht hatte. Sie waren in ein Pub gegangen. Sie hatten drei Stunden lang über dies und das geredet, aber alles, was er von dem Abend in Erinnerung behalten hatte, war sein hämmerndes Herz und seine Geilheit, die ihm beinahe körperliche Schmerzen bereitete.
Als sie an ihrem Auto standen, hatte sie ihm gesagt, wie sympathisch sie ihn fand und wie sie es genoss, dass er ihr interessiert zuhörte, und wie aufgehoben sie sich bei ihm fühlte. »Was ziemlich seltsam ist, da ich Sie ja kaum kenne«, hatte sie hinzugefügt. »Aber ich fühle mich einfach sehr wohl in Ihrer Gegenwart …«
Er hatte sie geküsst, ohne zu überlegen. Ob es nun animalische Lust oder sonst was war, er musste sie einfach in seinen Armen spüren. Zu seiner Überraschung erwiderte sie den Kuss, drückte sich an ihn und protestierte auch nicht, als seine Hände von ihren Hüften zu ihren prächtigen Brüsten wanderten.
Er begehrte sie so sehr, dass er das Gefühl hatte, gleich ohnmächtig zu werden. Nur weil sie sich in der Öffentlichkeit befanden, gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er ließ sie los, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, betrachtete dieses wunderbare Geschöpf und überlegte, wie er sich entschuldigen konnte, wie er sich erklären sollte, wie es mit ihr weitergehen könnte, denn nichts wünschte er sich so sehr.
Sie war es, die als Erste ihre Sprache wiederfand. »Das hätte ich nicht tun dürfen …«
»Nein, es war meine Schuld. Ich habe getrunken, und du sahst einfach so umwerfend aus, wie du da vor mir gestanden hast und …«
»Äh, ich bin übrigens verheiratet«, sagte sie. »Die Jungs, die ich im Theater bei mir hatte … Das waren meine Söhne. Und ich … Was ist nur los mit mir, dass ich dich unbedingt wiedersehen wollte, obwohl ich … das nicht darf. Und ich wollte, dass du mich jetzt küsst. Ich kann es dir nicht erklären, es ist einfach so, dass du so anders bist als … O Gott, ich muss los. Ich muss jetzt wirklich gehen.«
Sie hatte Mühe, die Autotür aufzuschließen, weil ihre Hände so sehr zitterten. Er nahm ihr die Schlüssel ab und öffnete die Tür für sie. Sie drehte sich zu ihm um, sagte: »Gott, ich wünschte …« Und dann war sie weg.
Er war gar nicht dazu gekommen, ihr zu sagen, dass es ihm schnurzegal war, ob sie ihn wegen ihrer Söhne angelogen hatte oder ob sie ihm ihren Ehemann verschwiegen hatte, es wäre ihm sogar egal gewesen, wenn sie drei Beine und zwei Köpfe gehabt hätte. Er hatte nur mit ihr zusammen sein wollen. Er hatte sie geliebt, noch ehe er die Namen ihrer Söhne gekannt hatte.
Und jetzt, siebzehn Jahre später, liebte er sie immer noch. Er schaute an dem Gebäude hoch, zu den Fenstern, hinter denen Will seinen Anfall hatte, und er verschrieb sich ihr von Neuem, trotz aller Schwierigkeiten, die sie hin und wieder hatten. Und auch ihren Söhnen verschrieb er sich von Neuem.
Wegen Will hatten sie schließlich London verlassen und waren nach Dorset gezogen, hatten alles verkauft und in ein Unternehmen investiert, von dem Alastair damals nicht die geringste Ahnung hatte. Backen, hatte er damals gedacht, das ist eine Frauendomäne, so war es jedenfalls früher in seiner Familie gewesen. Aber es hatte sich um eine richtige Bäckerei gehandelt, einen gut gehenden Betrieb mit einem Wohnhaus dazu, wo Caroline und die Jungs bleiben konnten. Also hatte er die Bäckerei gekauft, hatte den ehemaligen Besitzer angestellt, um von ihm alles über Mehl und Hefe und Salz und Zucker und alles andere zu lernen, was man brauchte, um Brot, Brötchen, Hörnchen, Kuchen und Torten zu backen. Inzwischen besaß er sieben Geschäfte im County. Das Leben eines Bäckers mit seinen unmöglichen Arbeitszeiten war zwar anstrengend, aber er hatte seine Familie damit ernähren können.
Caroline hatte immer alle Hände voll zu tun gehabt mit den Jungen, vor allem mit Will. Alastair konnte nur beten, dass sie da oben in der Wohnung, wo Will in einem so schlimmen Zustand war, wie er ihn noch nie bei ihm erlebt hatte, ein Wunder würde vollbringen können. Wenn ihr das nicht gelang, würden sie einen Arzt rufen oder ihn womöglich in ein Krankenhaus bringen müssen. Keine der beiden Möglichkeiten jedoch versprach, zu einer friedlichen Lösung zu führen.
Sein Handy klingelte. Er nahm es von der Konsole zwischen den Sitzen des Lieferwagens. »Geht es ihm besser, mein Liebling?«
Aber es war nicht Caroline, sondern eine andere Frauenstimme, die sagte: »Alastair, was ist los? Ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl, dass es dir nicht gut geht.«
Er schaute noch einmal an dem Gebäude hoch, zu den Fenstern, hinter denen Wills Wohnzimmer sich befand. Er spürte ein verräterisches Pochen in der Brust, das er schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
»Ich bin in London«, sagte er. »Aber ich bin froh, dass du anrufst.«
Zwei Jahre und elf Monate vorher