AVA
Die Glocke zum Unterrichtsende erklingt, und Chaos bricht aus – so schlimm wie am letzten Tag des Schuljahrs, wenn nicht schlimmer. Heute sind die Kinder aufgeputscht von Zucker – heiße Schokolade, Plätzchen, andere Leckereien – und von der Vorfreude auf Santa Claus und Geschenke, Geschenke, Geschenke! Außerdem müssen Mäntel zugeknöpft und Mützen, Schals und Handschuhe im Auge behalten werden. Ava hebt zwischen Aula und Eingangstür zwei einzelne Fäustlinge auf und legt sie auf den Tisch vor dem Hauptsekretariat. Fundgut, um das man sich »im nächsten Jahr« kümmern wird.
Ava ist heiser, und die Finger tun ihr weh. Sie hat mehr als genug von »Jingle Bells«. Es ist zweifellos das uninteressanteste Weihnachtslied, das je geschrieben wurde. Warum lieben es bloß alle so? Sie fühlt sich wie Sisyphos mit seinem Felsblock; sie wird das Lied noch mindestens einmal spielen müssen, auf der alljährlichen Heiligabendfeier in der Pension. Der kann sie nicht entrinnen.
Trotzdem hat der Nachmittag etwas Magisches. Der Himmel glänzt silbern, in der Luft schimmern Nebelschleier. Es ist kühl, aber wahrscheinlich zu warm für Schnee. Ava steht am Fahnenmast und winkt ihren Schülern zu, die ihr Winken durch die beschlagenen Fenster des Schulbusses hindurch ungestüm erwidern.
Fröhliche Weihnachten, Miss Quinn, fröhliche Weihnachten, fröhliche WEIHNACHTEN!
Wie sehr sie sich wünscht, wieder acht zu sein! Oder nein, nicht acht, sondern fünf. Auf dem Weihnachtsfest vor der Trennung ihrer Eltern war sie fünf Jahre alt.
Ava sieht Claire Frye in einem langen roten Mantel und mit passender roter Mütze, die ihr schief auf den dunklen Locken sitzt, in die Arme ihres Vaters laufen. Gavin Frye, der aussieht wie Ritter Blaubart, hebt Claire hoch und schwingt sie herum, sodass ihre Mütze durch die Luft auf den feuchten Asphalt segelt. Gavin hebt die Mütze auf und zieht aus seiner Manteltasche eine Tüte aus Wachspapier, die, wie Ava erkennt, aus dem Nantucket Bake Shop stammt. Claire entdeckt darin zwei kunstvoll kandierte Kekse – einen Santa Claus, ein Rentier. Sie wählt den Santa Claus und beißt ihm prompt ein Ohr ab. Gavin knabbert an Rudolphs Geweih und bietet seiner Tochter den Arm wie ein Kavalier aus dem 19. Jahrhundert.
Ava würgt es in der Kehle. Claires Mutter wurde im September von einem Auto angefahren und ist auf dem Weg ins Krankenhaus im Rettungswagen gestorben. Dies wird Claires und Gavins erstes Weihnachten ohne sie sein. Wenn sie in Feiertagsstimmung kommen können, sollte das doch wohl auch Ava gelingen. Und wenn sie »Jingle Bells« noch hundertmal spielen muss – zu Ehren von Claire Frye wird sie das gern tun.
Ava checkt ihr Handy erst, als sie sicher angeschnallt und mit laufendem Motor und voll aufgedrehter Heizung in ihrem roten Jeep Wrangler sitzt. Es ist ein sinnloses Ritual; sie will auf eine Kollision mit der Realität vorbereitet sein, falls ihr Telefon ihr nicht sagt, was sie hören möchte. Was es dank ihrer verrückten Familie und ihres Freundes, der sie mit seiner Zurückhaltung schier wahnsinnig macht, nur selten tut.
Tief durchatmen. Sie drückt auf den verdammten Knopf.
Eine SMS von ihrer Mutter, die dazu neigt, Textnachrichten wie handschriftliche Briefe zu verfassen, inklusive makelloser Zeichensetzung: Hallo Süße! Ich bin im Auto, unterwegs ins Studio. Ich vermisse dich. Dein Pappengel ist der einzige Weihnachtsschmuck in meiner Wohnung. Morgen geht es nach Maui; ich wohne im Four Seasons. Ich schicke dir ein Ticket, falls du dem Winterzauber entfliehen möchtest …? Daddy klang, als ob sogar ER in Versuchung wäre. (Mitzi muss ihm diesmal einen besonders hässlichen Pullover gekauft haben – ha, ha, ha,!) Ich liebe dich, Schatz! Xoxo, Mom.
Ava schließt die Augen und sieht das Vierzimmer-Apartment ihrer Mutter im einunddreißigsten Stock eines Luxusgebäudes am Central Park West vor sich – prachtvoll und seelenlos. Ava zweifelt nicht daran, dass es stimmt, was ihre Mutter sagt; Margaret Quinn ist viel zu beschäftigt, um sich um Weihnachtsschmuck zu kümmern. Sie hat nur den Pappengel, den Ava in der zweiten Klasse der Sonntagsschule der Holy Trinity Episcopal Church in der East 88th Street gebastelt hat – damals, als ihre Eltern noch richtige Eltern waren und auf Dinge wie religiöse Erziehung Wert legten. Damals, als sie in dem fröhlichen Durcheinander des Brownstones zwischen York und East End Avenue lebten. Margaret hat den Engel all die Jahre über mit für sie untypischer Sentimentalität aufbewahrt. Sicher hängt er an einer Angelschnur in einem der deckenhohen Fenster mit Blick auf den Park, oder er liegt in einer Sechstausend-Dollar-Glasschale auf dem Zehntausend-Dollar-Couchtisch, der aus einem einzigen Stück Teakholz aus einem südostasiatischen Urwald gefertigt wurde.
Ava liebt ihre Mutter und sehnt sich auch jetzt, mit neunundzwanzig, nach ihr. Sie kann Margaret an jedem Wochentag abends um sechs Uhr auf Kanal 3 sehen, aber das ist kaum dasselbe, wie sie bei sich zu haben; eigentlich verstärkt es ihre Sehnsucht sogar noch, deshalb meidet sie die Abendnachrichten.
Eine SMS von Mitzi: Es tut mir sehr leid.
Was tut ihr leid?, fragt sich Ava, löscht die Nachricht jedoch. Sie wird in den Weihnachtsferien noch genug von Mitzi hören.
Eine SMS von ihrem Bruder Kevin: Komm auf dem Heimweg in der Bar vorbei.
Verlockend.
Eine SMS von ihrem Bruder Patrick: Ist was dazwischengekommen, Jen und die Kinder unterwegs nach Westen. Bleibe über Weihnachten in der Stadt.
Was? Ava liest den Text noch einmal, weil sie denkt, sie hat sich geirrt. Es ist ihr egal, ob sie Patrick sieht oder nicht. Als Erstgeborener neigt er dazu, herrschsüchtig, fast schon despotisch zu sein, und er ist ungeheuer materialistisch – ihn scheint nur noch Geld, Geld, Geld zu interessieren –, aber Ava kann nicht glauben, dass ihre Neffen nicht kommen. Was ist Weihnachten ohne Kinder? Am liebsten würde sie Patrick anrufen, doch sie weiß, dass er nicht abnimmt, solange die Börse noch geöffnet hat.
Nummer 5: ein verpasster Anruf von ihrem Vater (keine Nachricht). Seltsam, denn er weiß, dass sie vor drei Uhr nicht erreichbar ist, und falls er will, dass sie Eier oder Zucker oder Lebensmittelfarbe oder Bananen für die Pension mitbringt, sollte er ihr das besser persönlich mitteilen, sonst wird sie ihm einfach sagen, dass sie, um Kevin zu besuchen, in der Bar vorbeigeschaut und seinen Anruf nicht erhalten hat.
Zum Schluss scrollt sie hinunter zu dem Namen, auf den sie gehofft hat. Nathaniel Oscar, in ihrem Handy unter seinen Initialen geführt, NO. Es gibt drei SMS von NO, und Ava wird das Herz schwer. Drei SMS bedeuten nichts Gutes.
6 a: Beschlossen, doch nach Hause zu fahren, nehme den Flug um 13:30, dann Mietwagen.
6 b: Hyannis. Gehe ins Panera und esse Hähnch mexikan mit xtra Mayo.
6 c: Nicht böse sein, Mom hat mir schlechtes Gewissen gemacht. Bin nächste Wo zurück, ruf dich an. Xxx
»AaRraaa!«, fängt Ava an zu schreien, doch ihre Stimme ist vom Weihnachtsliedersingen so strapaziert, dass sie kaum einen Ton herausbringt. Sie sieht ihre Lieblingsfünftklässler, Hockey-Schlittschuhe über den Schultern, auf die Eishalle zulaufen. Sie hupt ihnen zu, und sie sehen sie und winken. Fröhliche Weihnachten, Miss Quinn, fröhliche WEIHNACHTEN! Liam stürzt sich auf Joel, und Darian reißt Jarrett die Mütze vom Kopf. Keiner von ihnen kann eine Melodie halten, aber sie reden ständig davon, dass sie eine Rockband gründen wollen.
(Ava vergöttert sie und hofft, dass sie zu rücksichtsvollen Freunden und aufmerksamen Ehemännern heranwachsen.)
Nathaniel ist wahrscheinlich inzwischen schon halbwegs in Greenwich. Dieses Szenario ist in mancher Hinsicht unbefriedigend. Ava wird Weihnachten nicht mit Nathaniel zusammen sein; er wird ihr ganz sicher keinen Antrag machen, wie sie es sich erhofft und jeden Abend erbeten hat (sie betet zum Heiligen Judas Thaddäus, dem Fürsprecher in schwierigen Situationen), und er wird ihr keine Zuflucht vor dem Irrenhaus Winter Street Inn bieten. Er wird nicht mitsingen, wenn sie zum millionsten Mal »Jingle Bells« spielt, oder mittrinken, wenn sie die Becher mit Mitzis grässlichem Glühapfelwein herumreicht (so nelkenlastig, dass er nahezu ungenießbar ist). Nein, stattdessen wird er sich in dem riesigen Steinhaus befinden, wo er aufgewachsen ist, in Greenwich, Connecticut, bei seinen Eltern, seinen zwei Schwestern und deren Kindern, nur eine halbe Meile entfernt von Kirsten Cabot, seiner Freundin zu Highschoolzeiten, die seit kurzem geschieden und über die Feiertage bei ihrer Familie ist.
Letzteres weiß Ava nur, weil sie vor ein paar Tagen, während Nathaniel unter der Dusche war, zufällig über seine offene Facebook-Seite gestolpert ist.
Die Nachricht von Kirsten lautete: Bitte komm nach Hause, ich brauche jemanden, bei dem ich mich ausheulen kann. Bei einem Bier auf dem Rücksitz vom Wagen deines Dads, wie früher?
Als Ava das las, hatte Nathaniel noch nicht geantwortet, aber jetzt weiß sie, welche Entscheidung er getroffen hat.
Ava will Nathaniel Oscar nicht lieben; sie will ihn nicht heiraten und ihm in rascher Abfolge fünf oder zehn Kinder gebären wollen, doch anscheinend kommt sie nicht gegen ihre Gefühle an.
Eigentlich hält sie sich für eine ziemlich normale, selbstbewusste junge Frau. Der Musikunterricht an der Nantucket Elementary School verschafft ihr große Befriedigung. Sie liebt ihre Schüler und ihr Klassenzimmer – das Klavier, das an jedem Ersten des Monats gestimmt wird, den alten Plattenspieler, auf dem sie ihren Schützlingen Frank Sinatra und die Beatles vorspielt. Im Zeitalter von iTunes, findet Ava, muss jemand den Kindern musikalische Bildung angedeihen lassen, ihnen die Klassiker nahebringen. Als sie ihnen einmal ein Vinyl-Exemplar von Revolver zeigte, entliehen aus der Sammlung ihres Vaters, wusste kein einziges Kind, was das war.
»Es ist eine Schallplatte«, sagte Ava.
Und sie hatten noch immer keine Ahnung!
Ava gefällt auch das Leben in der Pension, die sich nicht sehr von ihrem College-Wohnheim unterscheidet, sehr gut. Sie ist gesellig und liebt es, wenn viele Gäste da sind. Es gibt dauernd neue Gesprächspartner, immer jemanden, der Ava bittet, Klavier zu spielen, sodass er oder sie mitsingen kann. Ava wohnt sogar gern mit ihrer Familie zusammen – mit ihrem Bruder Kevin, ihrem Bruder Bart und Kelley und Mitzi.
Bart ist jetzt natürlich nicht da, sondern in Afghanistan, was Ava quält.
Sie überprüft noch einmal ihr Telefon und fragt sich, warum Bart nach wie vor nichts von sich hören lässt. Sie hat ihm vor vier Tagen gesimst. Als er nach Deutschland abreiste, versprach er, er würde immer so schnell wie möglich antworten, und daran hat er sich auch gehalten – bis Freitag jedenfalls, als er seinen Einsatz antrat. Ava checkt ihre E-Mails: nichts. Na ja, er ist jetzt im Krieg, also ist er beschäftigt – wenn man das denn so nennen kann –, und vielleicht gibt es in Afghanistan kein Mobilfunknetz?
Trotzdem schickt sie noch eine SMS: Ich vermisse dich, Brüderchen. Bitte schick mir ein Lebenszeichen.
Und diese Nachricht kommt zurück: Unzustellbar.
Ava würde am liebsten wieder losschreien. Kein Mensch in ihrem Leben verhält sich so, wie er sollte!
Sie liest noch einmal Nathaniels SMS. Hähnch mexikan mit xtra Mayo bestellen sie beide jedes Mal, wenn sie in einem Panera sind. Ava hat Nathaniel mit dem mexikanischen Hähnchen bekannt gemacht; es ist ihr Sandwich, ihre Restaurantkette, ihre Tradition. Sie weiß, dass sie in Nathaniel verliebt ist, weil sie so gern normale, alltägliche Situationen mit ihm erlebt. Sie geht gern mit ihm in dem abgeranzten Einkaufszentrum von Hyannis im Panera essen; sie steht gern mit ihm im Postamt in der Schlange. Sie liebt es, sich auf seinem braunen Kordsofa in seine Arme zu schmiegen, während sie sich Weihnachtsfilme anschauen. Die Glücksritter ist ihr Favorit. In den letzten drei Wochen hat er beim Abnehmen des Telefons mindestens zehn Mal »Sieht gut aus, Billy Ray!« gesagt.
Und sie hat erwidert: »Fühlt sich gut an, Louis!«
Er ist nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Freund.
Aber jetzt sind es nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und er ist weg. »Iiiiiiarrg!«, schreit Ava.
Es klopft an ihr Fenster, und sie zuckt zusammen. Sie wischt die von ihrem Atem beschlagene Scheibe ab, und da steht Scott Skyler, der Konrektor, nur mit Hemd und Krawatte – ohne Wintermantel. Sie kurbelt das Fenster herunter.
»Hi, Scott«, sagt sie.
»Alles okay bei dir?«
»Ja«, sagt sie. »Nein, eigentlich nicht. Nathaniel ist nach Hause gefahren.«
»Au weia«, sagt Scott. Er dient Ava seit zwanzig Monaten als Vertrauter, was nicht besonders fair ist, denn Scott hegt ein Faible für Ava, das sich umso mehr zu verstärken scheint, je öfter sie über Nathaniel redet.
»Kommst du mit in die Bar?«, fragt sie. Ein Bier und ein Schnaps mit Scott und ihrem Bruder – zwei Schnäpse vielleicht, denn abgesehen von ihrem Problem mit Nathaniel vermisst sie Bart und ihre Mutter, und es werden keine anbetungswürdigen Neffen da sein und sich über die Geschenke freuen, für die sie Hunderte ausgegeben hat – erscheinen ihr als das Einzige auf der Welt, was ihre Stimmung verbessern könnte.
»Ich kann nicht«, sagt er. »Ich teile heute Abend im Pflegeheim Essen aus. Frikadellen. Du kannst gern mitmachen.«
Ava lässt eine einzelne Träne über ihr Gesicht rinnen. Sogar Scott ist beschäftigt. Er ist ein unermüdlicher Wohltäter, etwas, das Ava an ihm liebt. Sie versucht sich vorzustellen, wie einer ihrer drei Brüder im Our Island Home Frikadellen serviert – vergeblich.
»Aber morgen Abend kommst du vorbei, oder?«, fragt sie.
»Das lasse ich mir doch nicht entgehen«, sagt Scott und streckt die Hand aus, um die Träne aufzufangen – eine zärtliche Geste, die bei Ava nur noch heftigeres Weinen auslöst.
Sie wischt sich mit den Händen übers Gesicht und sagt: »Scheiß drauf. Ich betrink mich jetzt.«
»Okay«, sagt Scott. »Vielleicht treffen wir uns später.« Er eilt zurück in die Schule, und Ava wird klar, dass er nur herausgekommen ist, um nach ihr zu sehen. Was für ein lieber, netter Mann und guter Freund. Aber nicht ihr Typ. Womit sie meint: nicht Nathaniel. Sie ist geliefert. Geliefert!
Sie wird in die Bar gehen.
Dann quäkt ihr Handy, und sie denkt: Nathaniel!
Schön wär’s. Es ist ihr Vater.
»Was ist?«, bellt Ava ins Telefon. Sie liebt ihren Vater, doch er hat das Pech, ständig verfügbar und, da sie immer noch in der Pension wohnt, immer anwesend zu sein, und muss daher auch ihre trüberen Stimmungen ertragen.
Einen Moment lang sagt Kelley nichts, und Ava fragt sich, ob er sie für ihre Grobheit tadeln wird oder anruft, um ihr mitzuteilen, dass Patrick abgesagt hat, oder dass – Gott bewahre – Bart etwas zugestoßen ist.
»Daddy?«, hakt sie nach.
»Mitzi hat mich verlassen«, sagt Kelley. »Sie ist ausgezogen.«