Buch

Eigentlich sollte man belohnt werden, wenn man einen Psychopathen fasst und dessen Opfer rettet. Allerdings nur, wenn man dabei alle Regeln befolgt. Logan McRae, stellvertretender Detective Inspector, erhält also statt einer Beförderung eine »berufliche Entwicklungschance« in einem kleinen Küstenort nördlich von Aberdeen. Psychopathen scheint es dort nicht zu geben, dafür Drogendealer, Ladendiebe und entlaufenes Vieh. Und einige Vermisstenfälle. Da es sich bei den Verschwundenen jedoch um erwachsene Männer handelt, wird der Sache keine größere Bedeutung zugemessen. Das ändert sich, als ein totes Mädchen am Strand angespült wird. Denn Logan kommt einem Zusammenhang zwischen den vermissten Personen und diesem Mordfall auf die Spur …

Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

STUART MACBRIDE

In Blut
verbunden

Thriller

Aus dem Englischen
von Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Missing and the Dead« bei HarperCollins Publishers, London
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe
2015 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: Sally Mundy/Trevillion Images; FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
AB · Herstellung: Str.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16753-0
V003
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Gewidmet den tapferen Jungs und Mädels, denen wir es zu verdanken haben, dass die Grampian Police eine so fantastische Truppe war

Laufen.

1

Schneller. Spitze Blätter peitschen an ihren Ohren vorbei, die Skelette von Büschen und Sträuchern krallen nach ihren Fußknöcheln, als sie in den nächsten Garten taumelt, eine Atemfahne hinter sich herziehend. Das spröde, gefrorene Gras verbrennt ihre nackten Sohlen.

Er wird lauter, bricht rufend und fluchend durch die Hecken in der Dämmerung hinter ihr. Und kommt näher.

O Gott …

Sie klettert über einen hohen Holzzaun und löst dabei eine kleine Reiflawine aus. Ein scharfes Ratschen, als der Saum ihres Sommerkleids sich verhakt und ein Stück davon am Zaun hängen bleibt. Der Sandkasten schießt ihr entgegen, der Aufprall nimmt ihr die Luft weg.

Bitte …

Nicht so …

Nicht hier, in einem fremden Garten, hilflos auf dem Rücken liegend.

Über ihr verfärbt sich der Himmel von Schmutziggrau zu dunklem, schmierigem Orange. Winzige funkelnde Lichtpunkte ziehen ihre Bahn darüber – ein Flugzeug auf dem Weg nach Süden. Aus einem offenen Küchenfenster dringen Radiogeräusche. Rauchschlieren von einem lodernden Holzfeuer. Ein kleines Kind schreit, dass es noch nicht müde ist.

Auf!

Sie rappelt sich hoch und rennt weiter, der rutschige, gefrorene Rasen knirscht unter ihren Schritten. Die Schuhe hat sie schon in einem der letzten Gärten verloren. Die Strumpfhose zerrissen und voller Laufmaschen, die Füße mit den lackierten Zehennägeln dreckverschmiert. Die Atemluft versengt ihre Lunge, hüllt ihren Kopf in eine Nebelwand.

Lauf.

Sie steuert den Zaun auf der anderen Seite an, als die Hintertür aufgeht und ein Mann herauskommt, mit einer Teetasse in der Hand und offenem Mund. »He, Sie da! Was fällt Ihnen ein, hier …«

Sie bleibt nicht stehen. Senkt den Kopf ganz tief und stürzt sich in eine dichte Leylandzypressenhecke. Die spitzen Nadeln zerkratzen ihr die Wangen, ein stechender Schmerz durchzuckt ihre Wade.

LAUF!

Wenn Er sie erwischt, ist es vorbei. Er wird sie zurück in die Dunkelheit zerren. Wird sie wegsperren, fern von der Sonne und der Welt und den Menschen, die sie lieben. Wird sie quälen.

Sie bricht auf der anderen Seite hervor.

Eine Frau kauert neben einem Border-Terrier auf dem Rasen. Sie hat eine blaue Plastiktüte wie einen Handschuh übergezogen und ist im Begriff, sie über einen dampfenden braunen Haufen zu stülpen. Jetzt reißt sie die Augen auf, zieht die Brauen hoch, starrt die Gestalt an, die vor ihr steht. »Du lieber Gott, sind Sie …?«

Seine Stimme dröhnt durch die Dämmerung. »BLEIBEN SIE SOFORT STEHEN

Nicht stehen bleiben. Niemals stehen bleiben. Er darf sie nicht einholen.

Nicht jetzt.

Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat.

Das ist nicht fair.

Sie holt tief Luft und läuft weiter.

»Herrgott noch mal …« Logan zwängte sich durch eine dichte Hecke in den nächsten großen Garten und bremste taumelnd ab. Spuckte bittere Fetzen Grünzeug aus, die nach Tannenduftspray schmeckten.

Eine Frau, die gerade einen Hundehaufen auflas, blickte mit großen Augen zu ihm auf.

Er zog sein Airwave-Handy aus der Tasche und schwenkte es in Richtung der Frau. »Wo ist sie hin?«

Die Hand, die in der Plastiktüte steckte, hob sich und zeigte zitternd auf den Zaun zum Nachbargrundstück.

Na super …

»Danke.« Logan drückte die Verbindungstaste und rannte los. »Sag Biowaffen-Bob, er soll mit dem Wagen zum Hillview Drive vorfahren, es …« Er kletterte auf das Dach eines kleinen Fahrradschuppens, schlitterte mit den Schuhen über den mit Reif überzogenen Kunststoff und stieg von dort auf eine schmale Backsteinmauer. Ließ den Blick über den Flickenteppich aus Gärten schweifen – manche dunkel, andere erhellt vom Licht, das aus den Fenstern fiel. »Es ist die Kreuzung mit der Hillview Terrace.«

Die rauchige Reibeisenstimme von Detective Chief Inspector Steel tönte aus dem Telefon. »Wieso hast du die Drecksau noch nicht geschnappt?«

»Fang bloß nicht so an. Es … Uaah!« Er verlor das Gleichgewicht, ruderte eine Weile mit den Armen und erstarrte dann, über das Rosenkohlbeet zweieinhalb Meter unter ihm gebeugt.

»Ich hab dir gesagt, was passiert, wenn du das verbockst

Bla, bla, bla.

Die Gärten erstreckten sich vor und hinter ihm und zur Rechten, wo sie an die Parallelstraße grenzten. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen. »Wo zum Teufel steckst du?«

Da – sie zwängte sich gerade durch ein Dickicht aus Vogelbeeren und Eschen und steuerte die Hecke auf der anderen Seite an. Noch zwei Gärten, und sie wäre wieder auf der Straße.

Okay.

Logan drückte wieder die Taste. »Du musst jetzt …« Sein linker Schuh glitschte von der Mauerkrone. »AAAAAAAAAARGH!« Dunkelgrüne Stängel knickten unter ihm ein, kleine grüne Bomben spritzten durch die Luft, als er krachend auf dem gefrorenen Boden landete. RUMMS. »Officer down!«

»Laz? Mein Gott, was ist denn da …« Steels Stimme wurde vorübergehend leiser. »Sie da! Schicken Sie ein bewaffnetes Einsatzteam und einen Krankenwagen in die …«

»Gah …« Er rappelte sich auf und wischte sich die zerquetschten Rosenkohlröschen von seinem verdreckten Jackett. »Officer wieder auf den Beinen!«

»Willst du mich ver…«

Er steckte das Handy ein, rannte auf den Zaun zu und kletterte darüber, ohne auf das unflätige Geschimpfe von Steel zu achten, das aus seiner Tasche drang.

Mit einem Dutzend Schritten hatte er den nächsten Garten durchquert und hievte sich über eine Buchsbaumhecke auf eine weitere Backsteinmauer.

Sie kämpfte mit einem Wall aus Rosensträuchern, deren stachlige, verschlungene Äste sich in ihr blaues Sommerkleid krallten und blutige Kratzer in ihre Arme und Beine ritzten. Das blonde Haar verfing sich in den Stacheln.

»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND

»Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht …«

Logan ließ sich in den Garten fallen.

Sie riss sich los und verschwand in Richtung des letzten Hauses in der Straße. Zurück blieben ihre Haare … Nein, nicht ihre Haare – eine Perücke.

Er rannte los, setzte zum Sprung an. Fast hätte er es geschafft, doch er blieb mit einem Fuß an dem Rosenstrauch hängen, flog mit dem Kopf voran durch die Ligusterhecke auf der anderen Seite und fiel der Länge nach hin.

Sofort war er wieder auf den Beinen.

Da!

Sie war schon am Tor, doch er stürzte sich mit einem Hechtsprung auf sie, seine Schulter erwischte sie voll im Kreuz, und sie gingen beide auf dem Kiesweg zu Boden. Spitze Steine bohrten sich ihm in die Knie und in die Seite. Es roch nach Staub und Katze.

Und sie SCHRIE. Keine Worte, nur ein gellendes Gebrüll, das Gesicht hochrot, Spucke spritzend, die Augen wie Granitbrocken. Bartstoppeln schimmerten durch die dicke Make-up-Schicht auf ihren dornenzerkratzten Wangen, ihr Atem war eine säuerliche graue Wolke in der kalten Luft. Die Hände zu Fäusten geballt, prügelte sie auf Logans Brust und Arme ein.

Eine Faust schnellte auf Logans Gesicht zu, und er packte sie. »Hören Sie auf mit dem Quatsch! Ich nehme Sie fest aufgrund des …«

»ICH BRING DICH UM!« Die andere Hand schlang sich um seine Kehle und drückte zu. Fingernägel bohrten sich in seine Haut, scharf und spitz.

Jetzt wurde es ihm zu bunt. Er bog den Kopf nach hinten und ließ ihn dann wieder nach vorne schnellen. Krack – genau auf ihre Nasenwurzel.

Ein Grunzen, und sie ließ von ihm ab, während kleine Blutströpfchen seine Wange benetzten. Warm und feucht.

Er schnappte nach ihrem Handgelenk, zog daran, bis die Hand im rechten Winkel nach vorne abgeknickt war, und legte sein ganzes Gewicht auf das Gelenk.

Das Gezappel hörte augenblicklich auf, und er hörte nur noch, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen die Luft einsog. Der Adamsapfel hüpfte, als sie mit blutverschmierten Lippen zischte: »Lass mich los, du Schwein!« Das war keine Frauenstimme, sie wurde mit jedem Wort tiefer. »Ich hab nichts getan!«

Logan zog seine Handschellen heraus und schloss sie um das verdrehte Handgelenk, benutzte sie als Hebel, um den Druck auf das überdehnte Gelenk zu verstärken.

»Wo ist Stephen Bisset?«

»HILFE! VERGEWALTIGUNG

Noch ein bisschen mehr Druck. »Ich frage Sie nicht noch einmal – wo ist er?«

»Aaaaagh … Sie brechen mir das Handgelenk! … Bitte, ich weiß nicht …«

Noch einmal zugedrückt.

»Okay! Okay! Mein Gott …« Ein tiefer Atemzug durch zusammengebissene, blutbefleckte Zähne. Dann ein Grinsen. »Er stirbt. Ganz allein, im Dunkeln. Er stirbt. Und Sie können nichts tun, um das zu verhindern.«

2

Die Scheibenwischer schoben sich quietschend und ächzend über das Glas und befreiten es von dem dünnen Überzug aus winzigen weißen Flöckchen. Die Stadt hatte die Weihnachtsdekoration noch nicht abnehmen lassen: Schneemänner, Stechpalmenzweige, Glocken, Rentiere und Weihnachtsmänner leuchteten hell aus der Dunkelheit hervor.

Vor zehn Tagen war hier sicher noch die Hölle los – Hogmanay, der 31. Dezember, war wie hundert Freitagabende auf einmal –, aber jetzt waren die Straßen wie ausgestorben. Die Leute hockten wahrscheinlich alle zu Hause, bis über beide Ohren im Minus nach dem Weihnachts-Konsumrausch, und warteten sehnsüchtig auf den nächsten Zahltag.

Die Reifen des zivilen Einsatzwagens pflügten zischend durch den Schneematsch. Kein Verkehr – die einzigen anderen Fahrzeuge parkten am Straßenrand und ließen sich vom Schnee einen weißen Anstrich verpassen.

Logan drehte sich auf seinem Sitz um und warf einen bösen Blick nach hinten, während sie auf die North Deeside Road einbogen. »Letzte Chance, Graham.«

Graham Stirling saß vornübergebeugt da, die Hände jetzt vor dem Bauch gefesselt, und befühlte mit schmutzigen Fingern seine blutverkrusteten Nasenlöcher. Seine Stimme klang belegt und tonlos. »Sie haben mir die Nase gebrochen …«

Neben ihm auf dem Rücksitz schniefte Biowaffen-Bob. »Aye, und Sie haben ihm noch nicht mal dafür gedankt, oder?« Die dicke durchgehende Braue über seinen Augen verformte sich zu einem haarigen V. Er lehnte sich zu Stirling hinüber, so dicht, dass eines seiner großen, abstehenden Ohren dessen Stirn berührte. »Jetzt beantworten Sie die Frage: Wo ist Stephen Bisset?«

»Ich brauche einen Arzt.«

»Einen kräftigen Tritt in den Hintern brauchen Sie, sonst nichts.« Bob ballte eine Hand zu einer haarigen Faust. »Jetzt sagen Sie uns, wo Bisset ist, oder ich schwöre bei Gott, dass ich …«

»Detective Sergeant Marshall! Es reicht.« Logan bleckte die Zähne. »Wir prügeln nicht in Polizeifahrzeugen auf Gefangene ein.«

Bob lehnte sich zurück und ließ die Faust sinken. »Aye, da versaut man ja bloß die Polster. Rennie, such doch mal eine ruhige Ecke, wo wir anhalten können. Eine ruhige, dunkle Ecke.«

DS Rennie hielt den Wagen am Zebrastreifen an und spielte mit den Fingern ein Trommelsolo auf dem Lenkrad, während zwei elegant gekleidete Männer wankend die Straße überquerten. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und grölten einen alten Rod-Stewart-Song, ohne sich von dem heftiger werdenden Schneetreiben stören zu lassen.

Ihre Anzüge sahen wesentlich teurer aus als der von Rennie. Und ihre Frisuren auch – nicht allzu schwierig bei seinem hochgegelten Blondschopf über dem rotwangigen Gesicht und dem Hals, der in einem zwei Nummern zu weiten Hemdkragen verschwand. Wie ein kleiner Junge, der mit den Sachen seines Vaters Verkleiden spielt. Er warf einen Blick über die Schulter. »Sie wollen doch, dass das Gericht erfährt, dass Sie kooperiert haben, nicht wahr, Graham? Dass Sie uns geholfen haben? Könnte Ihnen ein paar Jährchen Knast ersparen.«

Schweigen.

Stirling zupfte ein Klümpchen geronnenes Blut von der Haut unter seiner Nase ab und schmierte es auf den zerrissenen Stoff seines Kleids.

»Der DI meint es ernst, Graham, er wird Sie nicht noch einmal fragen. Warum tun Sie sich nicht den Gefallen und sagen ihm, was er wissen muss?«

Eine Pause. Dann blickte Stirling auf. Und lächelte. »Okay.«

Bob griff nach seinem Airwave. »Wurde aber auch Zeit. Also schießen Sie los – Adresse?«

Grahams rosarote Zunge tauchte zwischen den blassen Lippen auf und leckte sie ab. »Nein. Sie und der Junge müssen aussteigen. Ich rede mit ihm« – er deutete auf Logan –, »oder wir fahren zurück zum Präsidium, und Sie besorgen mir einen Anwalt.«

»Seien Sie nicht albern, Stirling, wir werden nicht …«

»Kein Kommentar.«

Logan seufzte. »Das ist doch bescheuert, es …«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe: Kein Kommentar. Die zwei steigen aus, oder Sie besorgen mir einen Anwalt.«

Rennie verzog das Gesicht. »Chef?«

»Kein Kommentar.«

Logan rieb sich die Augen. »Aussteigen. Alle beide.«

»Chef, ich glaube nicht, dass das …«

»Ich weiß. Und jetzt raus mit euch.«

Rennie starrte Biowaffen-Bob an.

Pause.

Bob zuckte mit den Schultern. Dann kletterte er hinaus auf den menschenleeren Gehsteig.

Nach kurzem Zögern stellte Rennie den Motor ab und folgte ihm. »Ich finde immer noch, dass das keine gute Idee ist.«

Klonk. Die Tür fiel ins Schloss, und Logan blieb mit Graham Stirling im Wagen zurück.

»Reden Sie.«

»Der Wald an der Slug Road. Da geht ein Weg von der Straße ab, für das Tor braucht man einen Schlüssel. Ein … da ist so ein alter Forstarbeiter-Schuppen, ganz versteckt, wirklich total abgelegen.« Das Lächeln wurde verträumt, seine Augen auch, als ob er in einer Erinnerung schwelgte. »Wenn Sie Glück haben, ist Steve vielleicht noch am Leben.«

Logan griff nach seinem Handy. »Okay. Wir werden …«

»Ohne mich werden Sie ihn niemals finden. Die Hütte ist auf keiner Karte verzeichnet. Nicht mal auf Google Earth ist sie zu sehen.« Stirling beugte sich vor. »Sie können suchen, so viel Sie wollen – bis Sie ihn finden, wird Steve Bisset längst tot sein.«

Die Scheinwerfer des Einsatzwagens warfen lange, unregelmäßige Schatten zwischen den Bäumen. Die Nadeln funkelten im blau-weißen Licht der Stroboskop-Blitzer. Dicke Schneeflocken leuchteten auf, während sie in einem Zeitlupen-Tanz zur Erde sanken.

Auf dem holprigen, festgefrorenen Waldweg trat Logan von einem Fuß auf den anderen und ließ den Strahl seiner Taschenlampe an der Baumreihe entlanggleiten.

Abgelegen war gar kein Ausdruck.

Er wischte sich einen Tropfen von der Nasenspitze. »Na ja, was hätte ich denn tun sollen? Ihn ›Kein Kommentar‹ sagen lassen, bis Stephen Bisset tot ist?«

Der Waldweg schlängelte sich tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Grasbüschel, die ihn säumten, verschwanden allmählich unter dem Schnee, der im Schein der Taschenlampe glitzerte.

Am anderen Ende der Leitung stöhnte Steel. »Hättest du den Mistkerl nicht ein paarmal die Treppe runterfallen lassen können? Wir dürfen ja nicht …«

»Willst du vielleicht Stephens Familie erzählen, dass wir ihn haben erfrieren lassen, mutterseelenallein in einem Schuppen im Wald, nur weil es uns wichtiger war, die Vorschriften einzuhalten, als sein Leben zu retten?«

»Laz, so einfach ist das nicht, wir …«

»Denn wenn es das ist, was du willst, dann sag es mir jetzt, und wir fahren gleich zurück ins Präsidium. Du kannst Dr. Simms helfen, einen Leichensack auszusuchen. Sicher haben wir irgendwo noch ein bisschen hübsches Weihnachtspapier rumliegen, das könntest du nehmen. Pack seine Leiche als Geschenk ein und mach ein Schleifchen obendrauf.«

»Jetzt halt endlich die Klappe und …«

»Vielleicht was mit Kätzchen und Teddybären, als Trost für Bissets Kinder?«

Schweigen.

»Hallo?«

»Na schön, na schön. Aber ich will schwer hoffen, dass er noch am Leben ist. Und noch was …«

Er legte auf und stapfte auf den Wagen zu.

Biowaffen-Bob lehnte an der Motorhaube, die Arme verschränkt, die Schultern hochgezogen, einen Cowboystiefel auf die Stoßstange gestellt. Seine Nase verfärbte sich zusehends knallrot, ebenso wie die Läppchen seiner Satellitenschüssel-Ohren. Er spuckte aus und deutete mit dem Kopf auf den schlecht sitzenden Anzug hinter dem Lenkrad. »Der Knabe hat recht, das ist einfach bescheuert.«

»Tja nun, ich hab es mit der Chefin abgeklärt, also machen wir es.«

Er zog die Luft durch die Nase ein. »Was ist, wenn unsere Conchita irgendwelche Dummheiten versucht, während ihr da draußen im Wald rumlauft?«

Logan spähte an Bobs Schulter vorbei.

Stirling saß zusammengesunken auf dem Rücksitz. Das Blut war inzwischen zu einer schwarzen Maske getrocknet, die die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Blutergüsse verdunkelten schon die Haut unter beiden Augen. Das blaue Sommerkleid war nach der Verfolgungsjagd durch die Gärten völlig verdreckt und zerrissen. Er zitterte.

»Ich denke, ich riskier’s.« Logan nahm das CS-Spray aus der Jackentasche und fuhr mit dem Daumennagel die Rille zwischen der Schutzkappe und der Dose entlang. »Aber fesselt ihm die Hände hinter dem Rücken, für alle Fälle. Und ich will, dass ihr zwei euch bereithaltet, um im Notfall einzugreifen.«

Logan öffnete die Hintertür und bückte sich in den Wagen. Drinnen roch es nach Schweiß und Angst und rostigem Fleisch. »Raus.«

Zweige knackten unter seinen Schritten, als sie sich ihren Weg zwischen den graubraunen Ästen hindurch bahnten, immer dem Lichtkegel von Logans Taschenlampe nach. Eine winzige Insel der Helligkeit in einem Meer von Dunkelheit.

Irgendetwas bewegte sich da draußen. Kleine, flinke Füße und Krallen, die in die Nacht davonhuschten.

Logan schwenkte die Taschenlampe in die Richtung des Geräuschs. »Wie weit ist es noch?«

Stirling deutete mit dem Kinn nach links. »Da lang.« Die Worte wurden von einer Atemwolke begleitet, die im Lampenschein schimmerte und wabernd in der Dunkelheit verflog. Drachenatem.

Einen Abhang hinunter in eine Mulde, gesäumt von Brombeersträuchern und den braunen Überresten längst abgestorbener Farnwedel, die halb unter dem Schnee begraben waren. Und immer noch rieselte es aus dem schwarzgrauen Himmel herab.

Stirling stapfte in Rennies Schuhen dahin, abgestoßene schwarze Halbschuhe mit weißen Socken, die unter dem zerrissenen Sommerkleid und der Strumpfhose voller Laufmaschen riesengroß wirkten.

Auf der anderen Seite ging es wieder hinauf, durch die Farnwedel – sprödes Blattwerk, das sich um Logans Hosenbeine schlang und kalte, feuchte Fingerabdrücke hinterließ. »Warum er? Warum Stephen Bisset?«

»Warum?« Achselzucken. Das Metall der Handschellen blitzte im Licht der Taschenlampe auf. Mit den Händen hinter dem Rücken, die Finger lässig verschränkt, sah er aus, als machten sie einen gemütlichen Strandspaziergang. »Warum nicht?« Ein kleiner Seufzer. »Weil er da war.«

Logan sah auf seine Uhr. Fünfzehn Minuten. Fünf würde er ihm noch geben, dann wäre Schluss mit diesem Affentheater. Dann würden sie eine Hundestaffel anfordern und den Hubschrauber mit der Wärmebildkamera von Strathclyde kommen lassen. Immer vorausgesetzt, Steels Einfluss reichte aus, um die Kollegen dazu zu bringen, an einem Freitagabend im Januar so weit nach Norden zu fliegen.

Sie stolperten weiter zwischen den stummen Bäumen hindurch. Die abgefallenen Kiefernnadeln bildeten ockerfarbene Kissen zwischen den verschlungenen Wurzeln, wo das Astwerk darüber so dicht war, dass kein Schnee den Boden erreichte.

Er blieb stehen, schob seinen Ärmel zurück, um noch einmal auf die Uhr zu sehen. »Die Zeit ist um. Ich mach dieses Spielchen nicht länger mit.« Er packte die Plastikstange zwischen den Handschellen und zog daran, um Stirling zum Stehen zu bringen. »Das ist alles reine Zeitverschwendung, nicht wahr? Sie werden mir niemals zeigen, wo Stephen Bisset ist. Sie wollen, dass er stirbt, damit er nicht gegen Sie aussagen kann.«

Stirling drehte sich um. Starrte Logan an, das Gesicht von unten angeleuchtet, wie am Lagerfeuer, wenn Gruselgeschichten erzählt werden. Er neigte den Kopf nach links. »Sehen Sie das?«

Logan trat zurück, schwenkte den Strahl der Taschenlampe in einem Bogen über die Bäume, ließ ihn über den mit Nadeln übersäten Waldboden streichen, wo Schatten umherhuschten …

Zwischen den Stämmen tauchte eine windschiefe Holzhütte auf, halb verdeckt von einem Wall aus dürrem Brombeergestrüpp, in einer Lücke zwischen den Bäumen, kaum groß genug, um als Lichtung zu gelten.

Stirling senkte die Stimme zu einem scharfkantigen Flüstern. »Er ist da drin.«

Logan ging einen Schritt darauf zu. Und blieb stehen.

Er drehte sich um und leuchtete Stirling mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht. Stirling zuckte zurück und kniff die Augen zu. Logan nahm den Handschellenschlüssel aus der Tasche. »Auf die Knie.«

Die Tür des Schuppens war mit einem dicken Vorhängeschloss aus rostfreiem Stahl gesichert. An der Unterseite waren vier Ziffernrädchen, und der Bügel verband zwei schwere Metallplatten, die eine an der Tür befestigt, die andere am Rahmen. Beide so angebracht, dass die Schraubenköpfe abgedeckt waren.

Logan schwenkte die Taschenlampe zu Stirling. »Kombination?«

Stirling war immer noch auf den Knien, die Arme um den Baumstamm geschlungen, als ob er mit ihm knutschen wollte, die Hände auf der anderen Seite mit den Handschellen gefesselt, die Wange fest gegen die Borke gepresst. »Eins – sieben – null – sieben.«

Die Rädchen waren steif und schwer zu drehen, aber nach einigem Gefummel ließen sie sich bewegen. Quietschend drehten sie sich unter Logans Fingerspitzen, die in einem blauen Nitrilhandschuh steckten. Der Bügel sprang auf, er hakte das Vorhängeschloss aus und ließ es in einen Beweismittelbeutel gleiten.

Und drückte gegen die Tür.

Sie leistete fast so viel Widerstand wie die Rädchen am Vorhängeschloss, aber schließlich schwang sie knarrend auf, und ein Gestank nach ungewaschenem Körper und Blut und Pisse und Scheiße stürzte sich auf Logan, ließ ihn zurückprallen.

Einmal tief durchgeatmet.

Er trat über die Schwelle. »Stephen? Stephen Bisset? Es ist okay, Sie sind jetzt in Sicherheit. Hier ist die Polizei.«

Verdammt, hier drin war es tatsächlich noch kälter als draußen.

Der Strahl der Taschenlampe erfasste einen Haufen Stangen und Sägen und Ketten. Dann einen Stoß Holzscheite und eine alte Plane. Dann einen gusseisernen Ofen ohne Tür. Und dann einen Stapel verdreckte Decken.

»Stephen? Hallo?«

Logan streckte die Hand aus und nahm eine der Stangen von dem Haufen. Glatt und glänzend von zahllosen Händen, die sie im Lauf vieler Jahre angefasst hatten. Am anderen Ende klapperte eine Hippe; die Schrauben, die sie hielten, waren alle locker und verrostet. »Stephen? Ich bin gekommen, um Sie nach Hause zu holen.«

Er schob die Hippe unter die erstbeste Decke und hob sie an.

Du lieber Gott …

Raus ins Freie. Die kalte Luft kratzte an seinem mit Schweißperlen übersäten Gesicht. Er holte tief Luft.

Logan lehnte sich mit der Stirn an einen Baum, spürte die raue Borke auf seiner Haut. Der Duft der Kiefernnadeln war bei Weitem nicht stark genug, um den Modergestank des Schuppens zu überdecken.

Nicht kotzen.

Benimm dich wie ein Profi.

O Gott …

Tief durchatmen.

»Ich …« Seine Kehle schnürte sich zu, würgte die Worte ab. Er drückte die Stirn so fest gegen die Borke, dass es wehtat. Setzte noch einmal an. »Ich sollte Ihnen jeden Knochen im Leib brechen.«

Stirlings Stimme löste sich aus der Dunkelheit. »Er ist wunderschön, nicht wahr?«

Das Handy zitterte in Logans Händen, als er es hervorholte und Steel anrief. »Ich habe Stephen Bisset gefunden.«

Am anderen Ende war ein Juchzer zu hören. Und dann: »Laz, ich könnte dich knutschen. Ist er …?«

»Nein.« Obwohl er wahrscheinlich wünschen würde, er wäre es, falls er je wieder zu sich käme. »Ich brauche einen Krankenwagen, die Spurensicherung, einen Tatortkoordinator und jemanden, der mich daran hindert, diesen gottverdammten Graham Stirling am nächsten Baum aufzuknüpfen.«

3

Big Tony Campbell warf sein Jackett über die Lehne und ließ sich auf seinen Sessel plumpsen. Der Divisionskommandant von Aberdeen City, der Big Boss, der Große Zampano: ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und dazu passenden Händen. Sein kahler Schädel schimmerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die sich über die Dächer der Stadt ins Büro retteten. Die einzigen Haare, die ihm oberhalb des Kragens noch die Treue hielten, waren seine Augenbrauen – dicht, schwarz und buschig.

Er wies auf den Stuhl auf der anderen Seite des polierten Holzschreibtischs. »Setzen Sie sich.« Dann schwenkte er seinen Sessel herum und bückte sich tief, wobei er Logan an dem Schauspiel teilhaben ließ, wie sein Hemd aus dem Hosenbund rutschte und ein dichter schwarzer Pelz darunter zum Vorschein kam.

Logan nahm auf dem bezeichneten Stuhl Platz, unterdrückte ein Gähnen und hielt sich die Hand vor den Mund, während Big Tony Campbell wieder auftauchte, in der einen Hand eine Flasche Highland Park, in der anderen zwei Bleikristallgläser. Er stellte alles auf dem Schreibtisch ab, gab einen ordentlichen Schuss Whisky in jedes der Gläser und reichte Logan eines. »Wie ich höre, wird Stephen Bisset durchkommen.«

Logan leckte sich über die Zähne. Rau und ungeputzt. »Ja, Sir.«

»Wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie zu spät gekommen wären.« Seine Finger verharrten über dem braunen Schnellhefter, der vor seinem Computer lag. Er vermied es, ihn zu berühren, als ob der braune Pappkarton ansteckend wäre. »Kastriert, die Zähne herausgerissen, der Brustkorb aufgeschnitten und ›Implantate‹ hineingestopft, mehrfach vergewaltigt … Ganz zu schweigen von all den Knochenbrüchen.« Er verzog die Mundwinkel. »Eine unfreiwillige Geschlechtsumwandlung, vollzogen durch Jack the Ripper. Aber wie auch immer …«

Er hob sein Glas, und Logan tat es ihm gleich. Sie stießen an, bevor jeder einen kleinen Schluck nahm.

Ein warmes Gefühl bahnte sich seinen Weg bis in Logans Magen und hinterließ rauchige Fußabdrücke.

Der Divisionskommandant schwenkte seinen Sessel zum Fenster herum. Er blickte hinaus auf sein Reich, über dem sich die Dunkelheit herabsenkte, und nippte noch einmal an seinem Whisky. »Ihre Vorgesetzte sagte mir, Sie seien nicht unbedingt der richtige Mann für den Job eines stellvertretenden Detective Inspector.«

»Ach ja?« Hinterfotziges Miststück …

Oder hieß das etwa, dass eine Beförderung anstand? Wurde auch Zeit, dass das blöde stellvertretend endlich gestrichen wurde und sie ihn zu einem DI ohne Wenn und Aber machten. Und vor allem mit der damit verbundenen Gehaltserhöhung. Okay, Überstunden könnte er dann nicht mehr abrechnen, aber es hatte eben alles seine Vor- und Nachteile. Logan setzte sich gerader hin. »Wissen Sie, Sir, ich glaube, es …«

»Verstehen Sie mich nicht falsch« – der Divisionskommandant hob eine Hand –, »es ist nicht so, als ob Sie der Aufgabe nicht gewachsen wären – die Bisset-Ermittlung hat das zur Genüge bewiesen –, aber sie scheint zu glauben, dass Sie keine Freude daran haben. Die Personalführung, die Tabellenkalkulationen, die Meetings, die Budgetplanung.« Noch ein Schlückchen. »Liegt sie da richtig?«

Stillhalten.

»Nun ja, Sir, es ist … Detective Chief Inspector Steel kann manchmal …«

»Sehen Sie, Logan …« – er schwenkte wieder zurück, ein breites Lächeln im Gesicht – »es ist mir wichtig, dass meine Mitarbeiter ihr jeweiliges Potenzial voll ausschöpfen. Und es ist mein Privileg und meine Pflicht, ihnen dabei behilflich zu sein.« Er prostete Logan noch einmal zu. »Zumal, wenn ich ihnen die Mittel an die Hand geben kann, sich hervorzutun.«

O nein.

Sag’s nicht.

Nicht dieses eine Wort, das kein Polizist je hören will.

Der Whisky brodelte in Logans Magen. Sein Lächeln war wie Zitronenschalen und Asche, aber er setzte es dennoch auf. »Sir?«

Bitte nicht …

»Ich glaube, ich habe da eine Entwicklungschance, die einfach ideal für Sie wäre.«

Zu spät.

– Montag, Spätschicht –

Cromarty:
Windstärke sieben bis acht, zunehmend.
Gelegentlich starke Böen.