Cover

Zum Buch

Als der Krieg zu Ende war, fing für die vierzehnjährige Anna der Kampf erst an. Ihre Mutter war lange tot, ihr Vater von den Russen verhaftet worden, ihre Heimat verloren. Als Flüchtling machte sie sich mit ihren kleinen Brüdern allein auf den Weg nach Westen und fand in Kosakenberg, einem Dorf in der sowjetischen Besatzungszone, Unterschlupf. Am Hof der Familie Wendler kann sie als Magd härteste körperliche Arbeit leisten. 1949 kehrt Friedrich Stein aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Kosakenberg zurück. Das Deutschland, das er verlassen hat, gibt es nicht mehr: seine Familie ist tot, sein Anwesen von Flüchtlingen besetzt, das Dorf voller Sowjet-Propaganda. Ein gebrochener Mann, zwanzig Jahre älter als Anna. Anna macht die Traurigkeit in seinen Augen vom ersten Tag an Angst. Trotzdem muss sie Friedrich heiraten. Über die Umstände wissen die drei Töchter, die aus der Ehe hervorgehen werden, lange nichts. Sie wundern sich über ihre Mutter, die so anders als andere Mütter ist. Erst zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters kommt ein Geheimnis ans Licht ...

Sabine Rennefanz erzählt Anna Steins bewegende Geschichte aus der Perspektive der Enkelgeneration. Brutalität und Gewalt gab es nach dem Krieg in vielen Familien, sie wirkt in den Kindern und Enkeln immer noch nach. Und wie in Annas Fall wurde fast immer weggesehen und geschwiegen.

Zur Autorin

Sabine Rennefanz, 1974 in Beeskow geboren, studierte Politologie in Berlin und Hamburg. Sie arbeitet seit 1993 als Journalistin, seit 2001 als Redakteurin für die Berliner Zeitung, für die sie mehrere Jahre aus London schrieb. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Deutschen Reporterpreis. Ihr erstes Buch, »Eisenkinder«, erschien 2013 und stand mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

SABINE RENNEFANZ

Die
Mutter
meiner
Mutter

Luchterhand

Folgende Erzählung beruht auf einer wahren Geschichte. Namen, Orte und Personenbeschreibungen wurden auf Wunsch der Lebenden geändert. Aus Rücksicht auf die Toten wird die Handlung so wahrheitsgetreu wie möglich wiedergegeben.


Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


© 2015 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © plainpicture/BY
Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16871-1
V005


www.luchterhand-literaturverlag.de

Für K., G., I.
und vor allem
Elfriede.

I hear the roar of a big machine
Two worlds and in between
Hot metal and methedrine
I hear empire down.

Sisters of Mercy,
Lucretia My Reflection

1

Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüstert meine Mutter. Ihre Stimme klingt anders als sonst, heiser, als habe sie geweint oder vielleicht eine Erkältung. Vielleicht liegt es auch an der Leitung. Meine Mutter klingt weit weg.

Sie wohnt in einem abgelegenen Dorf. Kosakenberg heißt das Dorf, obwohl es weder einen Berg noch Kosaken dort gab, nur eine kleine Erhebung. Meine Mutter wohnt in Kosakenberg, ich wohne in der Stadt. Die Stadt hat einen Namen, aber für meine Mutter und die anderen dreihundert Kosakenberger ist es nur die Stadt. Als könne es nur diese eine geben, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Die Stadt ist groß, schmutzig und verdirbt die Kinder.

Die Kosakenberger sind überzeugt davon, dass die Städter auf sie herabschauen, ihre Traditionen, ihre Sprache und Essgewohnheiten belächeln; deshalb können die Kosakenberger besonders abweisend zu den Städtern sein. Da kommt die Städterin, pflegt meine Mutter in spöttischem Ton zu sagen, wenn ich sie besuche.

Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, sagt sie am Telefon.

Mein Großvater.

Ich könnte viel von meinem Großvater erzählen. Als Kind habe ich ihn verehrt und bewundert. Ich war überzeugt davon, dass er kommen würde, um mich zu retten, sollte mir etwas Schlimmes zustoßen.

Mein Großvater war mittelgroß, hatte ein ovales, glattes Gesicht, eine kräftige Nase, breite Schultern, starke Arme und einen kleinen Bauch über dem Hosenbund. In dem Land meiner Kindheit standen überall Skulpturen aus Bronze herum, die kräftige, stolze Arbeiter zeigten, mit geballter Faust und stolzem Blick. Mein Großvater hätte für eine dieser Skulpturen Modell stehen können. Er gehörte zur Genossenschaft »Felsenfest«, Zweig Pflanzenproduktion. Er arbeitete mit seiner Brigade viel draußen, so dass sein Gesicht und Nacken schon im Frühsommer braungebrannt waren. Wenn er lachte, legte sich die Haut um seine Augen in viele kleine Fältchen, die ich sehen konnte, wenn er mich hochhob. Zur Erntezeit, wenn er auch an heißen Tagen zwölf, vierzehn Stunden am Tag arbeitete, sammelte sich in den Lachfältchen der Staub vom Feld.

Zu Hause trug er eine Schiebermütze, eine dunkle, abgewetzte Joppe, und seine Hände waren von der Plackerei mit Schwielen bedeckt. Ich hielt das für ein Zeichen dafür, wie stark er sein musste.

Die meisten Männer damals achteten nicht auf ihr Äußeres, und sie waren stolz darauf. Den Körper zu pflegen, auf sich zu achten, sich gut anzuziehen, das hatte etwas Ungehöriges, Schwaches, Weibisches. Wenn mein Großvater in die Stadt zum Einkaufen fuhr, machte er sich fein, mit Anzug, Krawatte und einer Weste über dem weißen Hemd. An der linken Hand trug er dann einen goldenen Ring mit einem tiefroten Stein. Der Ring war protzig, fast vulgär, kein anderer Mann im Dorf hätte so etwas getragen, aus Angst, sich lächerlich zu machen. Mein Großvater liebte seinen Ring.

Ich erinnere mich nicht genau an ihn, nur an Details, Fragmente. Sein linkes Augenlid hing ein wenig schief, was seinem Gesicht einen leicht melancholischen Ausdruck gab. Er ließ mich auf seinem Schoß reiten und pfiff dazu auf vier Fingern ein Lied. Ich habe nie gelernt, auf vier Fingern zu pfeifen. Ich erinnere mich an den Geruch seiner Hemden, er trug karierte Flanellhemden, wie man sie heute an jungen Männern aus New York wieder sieht. Sie rochen würzig, nach Holz und Nelken.

Kaum dass ich laufen konnte, nahm er mich mit zu den Pferden, die der Genossenschaft gehörten. Im Stall zeigte er mir, wie man Pferde anfasst, wie man sie füttert, wie man ihr Fell mit einer Bürste striegelt. Als ich in die Schule kam, setzte er mich auf den Rücken einer gutmütigen Stute namens Grete, und wir ritten gemeinsam zur Schule. Ich war das einzige Kind, das auf dem Pferd zur Schule kam.

Unser Haus stand am Ende einer langen Straße, in dem Teil des Dorfes, für den die Laternen nicht mehr gereicht hatten. Hinter dem Haus verwandelte sich die Straße in einen sandigen Feldweg, er führte durch ein kleines Waldstück zum Fluss, der an dieser Stelle besonders schmal war und im Sommer oft austrocknete. Es gab eine schmale Holzbrücke über den Fluss, die für Autos gesperrt war. Weil der kürzeste Weg in die Kreisstadt über die kleine Holzbrücke führte, fuhren trotzdem alle darüber. Reparaturen dauerten damals ewig, weil man auf Ersatzteile lange warten musste, aber die Planken für die kleine Holzbrücke wurden immer schnell ersetzt. Im Frühling und im Herbst blieben die Autos oft auf dem Feldweg im Schlamm stecken, dann musste jemand mit dem Traktor kommen und sie herausziehen.

Wenn man von dem Ende der Straße, an dem unser Haus stand, zum anderen Ende des Dorfes lief, kam man am Gasthaus, am Friseursalon und an der Kirche mit dem quadratischen Dachturm vorbei. In der Mitte des Dorfes stand ein mit Efeu umranktes Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, es war so schmutzig, dass man die eingravierten Namen nur schwer lesen konnte. Niemand machte es sauber. Es sollte abgerissen werden, weil es an eine böse Zeit erinnerte, an die niemand erinnert werden wollte, aber es wurde nie abgerissen.

Das Lauteste im Dorf waren die Kolonnen sowjetischer Lastwagen, die jeden Tag in einer Schnelle vorbeidonnerten, als müssten sie gefährliches Material abgeben. Russenkolonnen nannten wir sie. Oft sah man auf der Pritsche die Soldaten nebeneinanderhocken, blutjung, mit kahlen weißen Köpfen. Wenn man zu nah an der Straße stehen blieb, hing der Gestank der Autoabgase noch Stunden später in den Kleidern.

Am Ende des Dorfes gabelte sich die Straße irgendwann, die rechte Abzweigung führte zum Bahnhof, die linke führte über die Felder auf eine Straße, die abrupt an einem Schild und einem Stacheldraht endete. Achtung, verboten! Wnimanije, saproschjonnij! Hinter der Absperrung, mitten im Wald, geschützt vor den Blicken der Dorfbewohner, lag eine sowjetische Kaserne. In gewisser Weise gab es in Kosakenberg also doch Kosaken.

Wenn die Erwachsenen über die Kaserne redeten, sprachen sie von der »Muna«, das klang wie eine geheime Abkürzung. Erst später erfuhr ich, dass die »Muna«, die Abkürzung für Munitionslager, viel älter war als die sowjetische Kaserne. Im Zweiten Weltkrieg kamen die Waffen für die Ostfront von der »Muna«. Nur wenige Menschen hatten die »Muna« jemals von innen gesehen. Es gab das Gerücht, dass dort Atomwaffen gelagert wurden. Der Dritte Weltkrieg hätte also in Kosakenberg beginnen können. Das wurde aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges erzählt und war wahrscheinlich erfunden.

Die Rote Armee hatte in der »Muna« für mehrere hundert Soldaten ihre eigene Stadt errichtet, die größer war als Kosakenberg selbst, mit Geschäften, einem Krankenhaus, einer Schule, einem Friseur und einem eigenen Zugang zur Autobahn. Kontakt zu den Einheimischen war den Soldaten verboten, trotzdem kamen sie jedes Wochenende, um sich in der Kneipe zu betrinken. Manchmal trank mein Großvater mit ihnen und probierte die russischen Redewendungen aus, die aus der Kriegsgefangenschaft hängengeblieben waren. Er war 1949 zurückgekommen, als der neue Staat gegründet wurde, der keinen Namen hatte, nur drei Buchstaben. Sein zweites Leben, nannte er es.

Es gibt ein Porträt von ihm, das ihn als Soldaten zeigt. Er steht vor einer weißen Wand, er blickt direkt in die Kamera. Mich haben am meisten die Augen erschreckt, wie hart sie sind, wie dunkel und undurchschaubar.

Mein Großvater hatte grüne Augen, aber auf diesem Schwarz-Weiß-Foto sehen sie schwarz aus. Es ist nicht klar, wann das Foto aufgenommen wurde, wahrscheinlich im Wehrkreisbüro im Dezember 1941. Er hat noch dieselbe Frisur wie als Zehnjähriger, nur weniger Haare. Die Unterlippe wirkt etwas breiter als die Oberlippe, sein Mund ist geschlossen. Er trägt eine schlichte graue Feldbluse, auf der rechten Brust prangt ein Hakenkreuz.

In meiner Erinnerung hat mein Großvater viel über den Krieg und seine Gefangenschaft geredet, doch wenn ich genauer darüber nachdenke, waren es die gleichen Themen, die gleichen Wendungen, die er immer wiederholte. Am eindrücklichsten sind mir die Namen der Orte in Erinnerung, von denen er sprach: Omsk, Tomsk, Irkutsk, Nowosibirsk, Tschita. Ich mochte den Klang der Namen, sie hörten sich an wie Musik, sie hallten länger in meinem Kopf nach als die Geschichten. Es waren Namen, die sich exotisch anhörten, die in einem zehnjährigen Mädchen, das in einem kleinen halben Land festsaß, das Fernweh wecken konnten.

Über die Sowjets redete er nie schlecht. Er lobte die sowjetischen Ärzte und Schwestern, die ihm im Lazarett das Leben gerettet hätten. Er erzählte von eisigen Nächten. Im Dunkeln kamen die Wölfe und schauten durch die Fenster in die Baracke, in der mein verwundeter Großvater auf einer Pritsche lag. In seinen Geschichten kamen die Sowjetmenschen als verschrobene, aber liebenswerte Figuren vor, die den ganzen Tag Wodka tranken, abends in ihren Hütten auf den Öfen tanzten und ihr letztes Brot mit den Deutschen teilten. Es klang, als sei die Gefangenschaft die beste Zeit seines Lebens gewesen.

Ich erinnere mich, dass ich seinen Geschichten gern zugehört habe, dass sie mich an die russischen Märchen erinnerten, die im Fernsehen liefen.

Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden.

Ich sitze auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer und höre die entfernte Stimme meiner Mutter. Wie immer hatte sie zu Beginn des Telefonats erschrocken gefragt: Hab ich dich etwa geweckt?

Ich arbeite von zu Hause aus, was für meine Mutter ein feineres Wort für Arbeitslosigkeit ist. Unsere Gespräche folgen einem Ritual: Wenn das Telefon klingelt, weiß ich, dass meine Mutter dran ist, ohne auf die Nummer zu schauen, weil niemand sonst auf dem Festnetz anruft. Sie fragt, ob ich wach bin, ich sage ja. Dann folgt ein Nachrichtenblock. Sie hält es für ihre Pflicht, mich darüber zu informieren, was zu Hause passierte, auch wenn dieses Zuhause längst nicht mehr meines war.

Diesmal holt sie etwas weiter aus. Sie sei als Kind sehr neugierig gewesen, sagt sie. Im Hintergrund höre ich das Schlagen der Standuhr. Ich sehe meine Mutter vor mir, in dem etwas düsteren Wohnzimmer, das sie von den Wendlers unverändert übernommen hat, auf einem der schweren, mit Leder bezogenen Stühle am Eichentisch sitzend, daneben die Jugendstiluhr.

Einmal, sagt meine Mutter, sie sei vielleicht zehn Jahre alt gewesen, hätte sie allein im Wohnzimmer ihrer Eltern gesessen und in einer Schublade zwischen den Papieren herumgekramt, aus Langeweile vielleicht, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu finden. Fotos von ihren Eltern vielleicht oder auch ein paar Geldstücke.

Ich sage nichts, ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter über meinen Großvater reden will. Wir haben lange nicht über meinen Großvater geredet. Manchmal benutzen wir seinen Namen, wie man die Namen berühmter Könige oder Kaiser benutzt, um eine bestimmte Zeit zu markieren, wir sagen »zu Opas Zeiten« oder »als Opa noch lebte«. Als habe mit seinem Erscheinen auf der Erde eine neue Zeitrechnung, eine neue Ära begonnen. Es ist klar, dass es sich bei »Opas Zeiten« um gute Zeiten gehandelt haben muss, bessere, gerechtere. Eine Zeit des Aufstiegs, des Aufbruchs, in einem Land, das die Antwort auf zwei Weltkriege gefunden zu haben glaubte.

Ich hatte als Kind oft Albträume, ich weiß nicht, warum. Vielleicht haben alle Kinder eine solche Phase. Ich träumte, dass unser Dorf von Soldaten überfallen und geplündert würde. Im Traum tauchte eine Gruppe Soldaten aus dem Nichts auf dem Feldweg hinter unserem Haus auf, nicht in ihren grünen Pritschenwagen, sondern auf Pferden, ihre dunklen Kleider hoben sich zunächst kaum von den Tannen ab, doch dann kamen sie näher, sie steuerten unser Dorf und speziell unser Haus an. Sie trugen schwere Waffen und schwarze Uniformen, sie schrien in einer unbekannten, nach Tierlauten klingenden Sprache, und statt Augen klafften Löcher in ihren Gesichtern. Ich war allein im Haus, saß hinter den Gardinen, und sah die Reiter auf mich zukommen, ich wusste, dass ich allein war, ich wollte mich verstecken, doch ich war wie gelähmt. Eingefroren. Ich wachte auf, geweckt von einer schrillen Stimme, die meine eigene war.

Um mich zu beruhigen, stellte ich mir vor, wie mein Großvater die Reiter vom Pferd warf, einen nach dem anderen, mit seinen bloßen Fäusten. Er schien mir übermenschlich stark, unverwundbar, immun gegen alle Krankheiten. Wie ein Mann aus den amerikanischen Western. Einer gegen den Rest der Welt. Einer, vor dem die düsteren Reiter in Staub zerfielen. Ein ostdeutscher John Wayne. Wir schauten seine Filme, die am Sonntagnachmittag im Fernsehen liefen, mein Großvater war ein Mann wie er, einer, der nicht viele Worte machte, einer, der wusste, was er wollte.

Vor ein paar Jahren habe ich in Kalifornien John Waynes Grab besucht. Ich habe das auch für meinen Großvater gemacht, der zu Lebzeiten nicht nach Amerika reisen konnte. Ich erinnere mich an die Inschrift auf seinem Grabstein: »Tomorrow is the most important thing in life. Comes into us at midnight very clean. It’s perfect when it arrives and it puts itself in our hands. It hopes we’ve learned something from yesterday.« Auf Deutsch klingt es nicht ganz so gut. »Der morgige Tag ist der Wichtigste im Leben, er kommt zu uns nach Mitternacht, ganz rein. Er ist perfekt, wenn er zu uns kommt und sich in unsere Hände begibt. Er hofft, dass wir etwas vom Gestern gelernt haben.« Komischerweise erinnerte dieser Slogan in der kalifornischen Sonne an das Land meiner Kindheit, das John Wayne nicht persönlich gekannt und wahrscheinlich sogar gehasst hatte, als guter Republikaner, aber das auch geglaubt hatte, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Es war eine andere Art zu sagen, dass es keinen Schlussstrich in der Geschichte gibt.

Mein Großvater schien mir einer jener Männer zu sein, der mit sich und seiner Zeit im Einklang lebte. Ich sah ihn vor mir, wie er auf der Treppe vor dem Haus saß, eine Tasse Kaffee in der Hand, in die Sonne blinzelte, vor sich hin pfiff und glücklich war. Es schien, als konnte er den Himmel lesen, er konnte anhand der Form der Wolken das Wetter voraussagen. Vielleicht entdeckte er einen Bussard, vielleicht einen Marienkäfer. Neben seinem Haus gab es einen großen Stall, in dem die Genossenschaft ihre Pferde hielt. Auch wenn der Fortschritt der Gesellschaft unaufhaltsam war, wollte sich die Genossenschaft »Felsenfest« nicht ausschließlich auf Maschinen verlassen. Mein Großvater war für die Pferde zuständig. Es machte ihn glücklich, Zeit mit seinen Tieren zu verbringen. Er wirkte wie jemand, der alles im Griff hatte und nichts in seinem Leben bereute.

Ich war sein erstes Enkelkind, er war stolz auf mich, das spürte ich. Während der Erntezeit, wenn er den ganzen Tag Stroh drosch, saß ich am Nachmittag geduldig auf der Treppe vor dem Haus in der Sonne. Das Feld lag am Fluss hinter dem Wald, der Nachbar mit dem Traktor nahm ihn jeden Morgen mit dorthin und brachte ihn abends wieder zurück, und ich wartete darauf, dass ich sein verstaubtes Gesicht entdeckte, wenn er das letzte Stück auf das Haus zulief. Ich lief ihm entgegen, er lachte und übergab mir mit einer bedeutungsvollen Miene seine Aktentasche. In der Tasche lagen keine Akten, sondern nur eine Brotbüchse aus Aluminium und eine Thermoskanne. Er ließ mir etwas gesüßten Tee und ein Schmalzbrot übrig, das besser schmeckte als die Stullen, die meine Mutter mir schmierte, allein, weil mein Großvater es den ganzen Tag mit sich herumgetragen hatte.

Ich sah gern mit ihm fern, er guckte am liebsten Unterhaltungssendungen, nichts Politisches. Er mochte die Rosenmontagsumzüge und alles, wo Schlagersänger auftraten – Männer mit blondem geföntem Haar, die von der unsterblichen Liebe und der Unergründlichkeit des deutschen Waldes sangen.

»Du weißt doch, dass wir uns immer vor dem Dachboden gefürchtet haben«, sagt meine Mutter am Telefon, »wir haben geglaubt, dass es dort spukt.«

Wenn meine Mutter von »wir« spricht, dann meint sie ihre zwei Schwestern, meine Tanten. Meine Großeltern wohnten in einem schlichten, kleinen Haus, zwei Zimmer und eine Kammer im Erdgeschoss, ein Zimmer unter dem Dach. Es war das sonnigste im Haus, doch keine der Schwestern wollte als Kind freiwillig dort schlafen.

Meine Mutter erzählt am Telefon von einem Dokument, das sie beim Wühlen in der Schublade gefunden habe, ihre Geburtsurkunde, ein vergilbtes Papier mit den Symbolen des untergegangenen Landes, Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Sie war eines der ersten Kinder gewesen, die im damals neu gegründeten Staat geboren wurden. Die neue Generation. Alles habe gestimmt, Geburtsort, Geburtsdatum, nur eines war falsch. Sie trug darin einen falschen Namen, den Mädchennamen ihrer Mutter. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass die Entdeckung, von der mir meine Mutter erzählte, fast fünfzig Jahre zurücklag. Sie hatte ihre Geburtsurkunde gefunden, als sie zehn war, ein Kind und aus heutiger Sicht unaufgeklärt. Den Schrecken vergaß sie nie, sie habe bis dahin geglaubt, dass Frauen nur Kinder bekommen könnten, wenn sie verheiratet wären. Warum waren die Eltern nicht verheiratet, als sie geboren wurde? Es hätte eine harmlose Erklärung geben können, wir waren verliebt, es lief nicht alles perfekt, so ist das Leben, mein Kind, doch die Eltern sagten nicht, dass sie verliebt waren und dass nicht alles perfekt gelaufen war. Sie legten ein Tuch des Schweigens über die Sache mit dem Namen in der Geburtsurkunde.

»Keiner hat mir damals was erklärt«, sagt meine Mutter.

Unter den Dielen meiner Wohnung dröhnt es, wumm, wumm, wumm. Vier Uhr nachmittags, die Nachbarn sind aufgestanden.

Ich warte darauf zu erfahren, was die Geburtsurkunde meiner Mutter mit dem Großvater zu tun hat. Ich versuche mich auf ihre Stimme zu konzentrieren. Ich hatte gelernt, dass es besser ist, sie nicht zu drängen oder zu unterbrechen.

Mein Großvater starb, als ich zwölf Jahre alt war. Er bekam ein Ehrengrab auf dem Friedhof.

Friedrich Stein

1910–1989

Ich rechne nach, wie alt mein Großvater wäre. Fast einhundert Jahre. Er könnte heute noch leben, einhundert ist heute doch kein Alter mehr.

Seine Mutter Auguste war in Kosakenberg als einarmige Schneiderin bekannt. Sie wurde mit einem verkrüppelten rechten Arm geboren. Ich habe keine Ahnung, wie sie das mit dem Schneidern hinbekommen hat, aber sie muss ziemlich geschickt gewesen sein. Sie nähte für die Kleinbauern, die Tagelöhner, die sich die feineren Arbeiten der Schneiderinnen aus der Stadt nicht leisten konnten, aber auch für den Pastor, der die Schlichtheit ihrer Stickereien zu schätzen wusste.

Auguste blieb unverheiratet, sie wohnte bei ihren Eltern und hatte die dreißig schon lange überschritten, als sie ihren einzigen Sohn auf die Welt brachte. Friedrich nannte sie ihn, nach dem Kaiser, den sie verehrte. Über den Vater ihres Sohnes verlor sie kein Wort.

Als mein Großvater geboren wurde, gab es noch Ritter und Prinzessinnen. Er erzählte gern die Geschichte, dass er von einem Ritter vom benachbarten Rittergut abstamme, jener Ritter sei in seine Mutter verliebt gewesen. Er hätte sie heimlich besucht, daraus sei er, mein Großvater, entstanden. Mein Großvater flüsterte mir zu, er und damit auch seine Nachkommen seien in gewisser Weise adelig. In unseren Adern flösse blaues Blut. »Du bist eine Prinzessin«, sagte er zu mir. Ich wusste auch, dass die Flüssigkeit, die nach meinem letzten großen Fahrradsturz aus der Wunde geflossen, eher hellrot und auf jeden Fall nicht blau gewesen war.

Ich war sieben Jahre alt und traute mich nicht zu sagen, dass ich lieber Jungpionier als Prinzessin sein wollte. Mein Großvater erzählte gern Geschichten, von denen man nie genau wusste, ob sie stimmten oder erfunden waren.

Er hatte eine Frau geheiratet, die er nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion in Kosakenberg kennengelernt hatte. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und kam aus einem Dorf im Osten. Also aus Polen.

Mein Großvater stand morgens am liebsten mit der Sonne auf, seine Frau schlief lange, oft lag sie mittags noch unter der Decke, über seinen Tatendrang machte sie sich lustig, die Genossenschaft hielt sie für einen Witz: »Wie kann es sein, dass ihr von morgens bis abends schuftet – und im Laden gibt es trotzdem keine Wurst?«

Der Fleischer kam nur einmal in der Woche ins Dorf – die Waren, die er mitbrachte, reichten nie aus. Wenn das Fleischauto kam, schloss der Laden für ein, zwei Stunden. Die Verkäuferinnen waren dann damit beschäftigt, die besten Stücke für sich und ihre Stammkundinnen zurückzulegen. Die berufstätigen Frauen, auch die Arbeitskolleginnen meines Großvaters, wurden bevorzugt behandelt, sie durften sich so viel Wurst und Fleisch zurücklegen lassen, wie sie wollten. Wenn der Laden wieder öffnete, und die normale Kundschaft hineingelassen wurde, lagen nur noch Leberwurstenden in den Auslagen.

Ich habe als Kind längst nicht alles verstanden, aber ich bekam früh mit, dass zwischen meinen Großeltern etwas nicht stimmte. Mein Großvater und meine Großmutter sprachen einander nie mit ihren Namen an, sondern redeten voneinander als »der Mann« und »die Frau«. Er besuchte oft Bekannte, tanzte gern, trank Schnaps. Seine Frau hatte keine Freunde, sie verabscheute Alkohol und blieb am liebsten zu Hause. Er liebte Schlagersendungen, sie sah Nachrichten. Mein Großvater schlief im Doppelbett, seine Frau auf dem Sofa, neben sich den Hund, einen Schäferhund namens Harras.

Wenn meine Großmutter ins Bett ging, zog sie nur den Rock aus, Strümpfe und Pullover behielt sie an, auch das bunt bedruckte Kopftuch trug sie nachts. Sie machte sich absichtlich hässlich. Dabei waren ihre Haare das Schönste an ihr, kräftig, lockig und schwarz. Sie verhüllte sich, als wollte sie nicht erkannt werden. Als wollte sie unsichtbar werden. Wie ein Geist. Meinen Großvater bewunderte ich, über meine Großmutter wunderte ich mich nur.

Ich habe viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, meistens kümmerte sich mein Großvater um mich, doch manchmal ließ er mich mit seiner Frau allein. Sie wirkte oft traurig, aber ich sah sie nie weinen. Sie saß in der Küche, hörte Radio und schmierte nebenher ein Leberwurstbrot für Harras, den Hund. Manchmal saß sie nur da und starrte auf den Küchenschrank. Ich hatte mal einen Kanarienvogel, den mein Vater gekauft und mir geschenkt hatte, weil er glaubte, ich sei in einem Alter, in dem man ein Haustier haben sollte. Weil ich damals ein Buch namens Die Vögel der Welt besaß, dachte er, mich würden Vögel besonders interessieren. Er brachte mir einen Kanarienvogel mit, gelb-grün. Dieser Vogel deprimierte mich, sein hektisches Herumgehopse ging mir auf die Nerven, ich gab ihm nicht mal einen Namen, sondern nannte ihn nur Vogel und hatte den Eindruck, Vogel würde im Käfig langsam durchdrehen. Ich stellte den Käfig in mein Bücherregal, zwischen zwei Bände einer mehrbändigen Ausgabe von Grimms Märchen. Eines Tages lag der Vogel tot auf dem Boden des Käfigs. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich ihn nicht freigelassen hatte.

Der Blick meiner Großmutter erinnerte mich an diesen Kanarienvogel.

Es war ihr wichtig, dass man nichts im Haus anfasste oder bewegte. Manchmal hatte ich ein Ausmalbuch dabei oder Buntstifte, und wenn mir die Tischdecke beim Malen ein wenig verrutschte, stand sie plötzlich neben mir und zog den Stoff gerade. Es fehlte nicht viel, dass sie mit einem Lineal gekommen wäre.

Wenn ich Hunger hatte, kochte sie mir ein Ei. Meine Großmutter ernährte sich von Eiern, trockenem Brot und rohem Knoblauch, den sie selbst im Garten anbaute. Lange dachte ich, das habe mit ihrer Sparsamkeit zu tun und damit, dass im Konsum die gute Wurst schnell ausverkauft war, doch sie änderte ihre Gewohnheiten auch später nicht, als der Konsum längst in Karin’s Frischeparadies umgewandelt worden war und sie sich so viel Wurst hätte leisten können, wie sie wollte. Es musste einen anderen Grund geben.

Mein Großvater schien Angst vor ihr zu haben. Wenn er mir in der Stadt ein Eis kaufte, bat er mich, Oma davon nichts zu sagen. Am späten Nachmittag, wenn er von der Arbeit kam, war er es, der aufräumte, selbst der Frühstückstisch stand noch so da, wie er ihn verlassen hatte. Er fuhr gern in die Stadt zum Einkaufen und brachte Taschen voller Köstlichkeiten mit, Bockwurst in Gläsern, eingelegte Gurken, russisches Konfekt. Dinge, die es im Dorf nicht gab. Statt sich zu freuen, schimpfte seine Frau über die Geldverschwendung. Mein Großvater in seinem Anzug und mit seinem Siegelring an der Hand stand still daneben und schwieg.

Ich spielte manchmal ein Spiel, das im Rückblick grausam klingen mag. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn meine Großeltern sterben müssten, und fragte mich, wer zuerst sterben sollte, wer mir weniger fehlen würde.

Es war immer die Frau meines Großvaters, meine Großmutter.

Ich konzentriere mich auf die Stimme meiner Mutter, die jetzt den Namen einer Bekannten erwähnt. Hildegard Perlbach, genannt Hildchen. Ich versuche mir ein Bild von Hildchen in Erinnerung zu rufen. Ich sehe eine große, schlanke Frau mit leuchtend rotem Haar vor mir, die oft bei uns vorbeikam, nach Parfum roch und fein angezogen war. Sie war viele Jahre lang Serviererin in einem Ausflugslokal in der kleinen Stadt gewesen.

Meine Mutter klingt auf einmal anders, sehr ernst, als müsse sie eine schlechte Nachricht übermitteln, als wäre ein tragisches Unglück geschehen und als wollte sie den Zeitpunkt, zu dem ich es erfahre, so lange wie möglich herauszögern, weil danach nichts mehr so sein würde wie zuvor. Ich sage mir, dass meine Mutter einen Hang zum Melodram hat. Wie alle Frauen in unserer Familie.

Ich kam oft an das Grab meines Großvaters und erzählte ihm, was ich erlebt hatte. Es war normal für mich, mit den Toten zu sprechen. Sie waren anwesend, keine Zombies, aber Seelen, die zuhören konnten.

Später, als ich das Dorf längst verlassen hatte, wurden die Abstände größer, an denen ich ihn besuchte. Ich ging aus Kosakenberg fort, wollte die Welt sehen. Doch soweit es mich auch forttrug, ich kehrte immer wieder zu ihm zurück. Ich wechselte die Städte, die Frisuren, die Bücher, die Musik, die Männer, aber mein Großvater blieb ein Fixpunkt, ein Anker. Ich stand an seinem Grab und erzählte von meinem Leben. Er antwortete nie, aber es beruhigte mich, mit ihm zu reden. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, war untergegangen, aber mein Großvater war immer da.

Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüstert meine Mutter am Telefon. Es sei alles durch Tante Marion herausgekommen, fügt sie hinzu.

Meine Tante Marion, die jüngere Schwester meiner Mutter, hatte seit Jahren Schmerzen, Schmerzen im Rücken, in den Knien, in den Füßen. Sie ging zu vielen Ärzten, aber kein Arzt konnte ihr helfen. Schließlich gab ihr jemand die Nummer einer Frau in Thüringen, die ausgebildete Ärztin war, aber inzwischen nur noch als Medium arbeitete. Sie schlug eine Familienaufstellung vor. Ich hatte davon gelesen, diese Therapie galt als eine bizarre, auch unter Fachleuten umstrittene Maßnahme. Man stellt dabei wie im Rollenspiel die Familie nach und soll so auf ungesunde Beziehungsmuster stoßen, die auch schon lange zurückliegen können. Wenn eine junge Frau zum Beispiel an Brustkrebs erkrankt, könnte das an einem Urgroßvater liegen, der die Urgroßmutter verlassen hat.

Psychologen mögen ihre Studien betreiben, aber dieses Rollenspiel klang für mich absurd, nach Magie, Kult. Wie die moderne Variante einer Séance, bei der man um einen Tisch herumsitzt, sich an den Händen fasst, und wenn dann ein Glas wackelt, muss es der alte Onkel Emil gewesen sein, dem im Jenseits eingefallen ist, dass er noch eine wichtige Botschaft loswerden muss. Was sollte das mit meinem Großvater zu tun haben, bitte?

Obwohl ich skeptisch bin, höre ich weiter zu.

Am Ende, als meine Mutter aufgelegt hat, stehe ich auf und schließe die Gardinen, obwohl es noch hell ist. Ich fühle mich erschöpft, von einer Müdigkeit, die wehtut.

Das Medium sagte, dass die Schmerzen meiner Tante mit ihrem Vater zusammenhingen. Das Medium sagte, es hinge ein Schatten über meinem Großvater. Ein Geheimnis.

Meine Tante Marion hatte nach der Wende angefangen, lange Gewänder zu tragen, heilende Steine zu sammeln und zum Schamanen zu gehen. Ich hatte mich immer ein wenig lustig gemacht über ihre neu entdeckte Spiritualität, nun sollte ich selbst glauben, dass ein lange gehütetes Geheimnis meiner Großeltern über ein esoterisches Ritual bekannt wird? Nun würde ich mir mein Bild von meinem Großvater von einem Medium kaputt machen lassen? Was kommt als Nächstes? Gläserrücken? Voodoo? Dreiäugige Raben mit Botschaften aus der Vergangenheit?

Ich denke darüber nach, was meine Mutter gesagt hatte. Sie sprach von einem Mann, einer Frau und einer dunklen Nacht.

Ein Russe und eine Deutsche.

Nein, kein Russe. Ein Deutscher, der bei den Russen war.

Besonders ein Wort ist hängengeblieben, ich höre es in meinem Kopf, als würde es eine innere Stimme immerzu wiederholen, aber es macht keinen Sinn, es scheint nicht zu passen. Es ist ein brutales Wort, das, einmal ausgesprochen, peinliche Stille hervorruft.

Wo sind die Belege? Beweise?

Ich halte den Hörer noch in der Hand, lange nachdem meine Mutter aufgelegt hat. Ich sitze in meiner Wohnung, unter mir dröhnt immer noch die Musik, aber ich höre sie kaum. Was soll ich mit dieser Information anfangen?

Sie kommt aus einem anderen Land, aus einer anderen Zeit, sie könnte genauso gut aus einem anderen Universum kommen. Ich sollte entsetzt sein, wütend vielleicht, aber ich spüre nichts. So sehr ich auch versuche, mich zu konzentrieren, nach einer Verbindung zu suchen, da ist nichts. Ich wünschte, ich würde irgendetwas verstehen, aber ich verstehe nichts. Mir ist das Gespräch mit meiner Mutter auf einmal unangenehm. Das, was sie am Telefon beschrieben hat, war ein Verbrechen, auch wenn sie es nicht so nannte. Ein Verbrechen, für das man ins Gefängnis gesperrt wurde.

Ich stelle mir vor, wie mein Großvater aussah, aber ich bekomme kein Gesicht mehr zusammen. Mein Westernheld verschwindet, er löst sich auf. Er kommt mir ganz fremd vor. Soll ich von diesem verbrecherischen Menschen abstammen?

Ich lege den Hörer auf und schaue aus dem Fenster, meine Glieder sind schwer, ich fühle mich unfähig aufzustehen.

Ich fahre den Computer hoch, der neben mir auf dem Bett liegt, und suche nach etwas. Ich fange an durch das Netz zu wandern und nach einer Stunde weiß ich nicht mehr, wonach ich gesucht habe. Gefunden habe ich »Tarquinius und Lucretia«.

Die Prinzen des Hauses der Tarquinier saßen zusammen in der Stadt Ardea nahe Rom. Der Mond schien durch das Fenster, der Wein floss, die Männer lachten. Es ging um Frauen, und niemand sagte die Wahrheit. Bis auf Collatinus. Er rühmte seine Frau Lucretia, sie sei nicht nur die Schönste im ganzen Land, sondern auch die Tugendhafteste. Statt zu tanzen, saß sie am Spinnrad. Die Schilderung schlug die Zuhörer dermaßen in den Bann, dass sie noch am selben Abend aufbrachen, um sich diese Madonna anzusehen. Es war ein Sonnabend; während die meisten Römerinnen sich beim Tanz vergnügten, saß Lucretia, umringt von ihren Mägden, zu Hause in ihrer Kammer am Spinnrad. Die Männer blieben an der Tür stehen und betrachteten sie. Besonders ein Mann, Sextus Tarquinius, der Sohn des etruskischen Königs, konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihr Arm und Nacken schimmerten weißlich im Kerzenschein. Lucretia sah noch viel schöner aus als in seiner Fantasie.

Noch in der gleichen Nacht, als Lucretia allein war, schlich er sich zu ihr ins Schlafzimmer. Er öffnete lautlos die Tür, hielt kurz inne und starrte sie an. Sie stand am Feuer und entkleidete sich. Das rote Kerzenlicht spielte in ihrem weißen bleichen Gesicht. Forderte sie ihn nicht heraus mit ihrer Schönheit? Sextus Tarquinius schlich näher, er griff an seinen Gürtel, wo er ein Messer trug. Lucretia war eine Frau von hohem Rang, verheiratet mit einem Prinzen, angesehen im Reich. Sie war keine Magd, die man mit bloßen Händen in die Ecke drängte und danach nicht wieder ansah. Sextus Tarquinius brauchte ein Messer.

Die Klinge des Messers glänzte im Kerzenlicht. Er stand plötzlich hinter ihr, Lucretia drehte sich um und erschrak. Die Frau hatte Angst, sie sah in seinen Augen ein rotes Brennen, doch sie hielt dem Blick stand. Wenn sie sich wehre, rief er, werde er sie nicht nur töten, sondern er werde neben ihren Körper einen toten Sklaven legen, um ein Verbrechen aus Leidenschaft vorzutäuschen. Er lachte voll Wut und Hohn. Die Frau schlug ihre Hände schützend vor das Gesicht, doch das Rote war stärker als das Weiße.

Am nächsten Morgen berichtete Lucretia ihrem Mann und ihrem Bruder von der Tat. Mann und Bruder waren entsetzt, sie versicherten ihr, dass sie unschuldig sei, ihr Ruf weiterhin makellos, doch Lucretia glaubte ihnen nicht. Mit einem Dolch stieß sie sich ins eigene Herz. Vorher nahm sie ihrem Mann das Versprechen ab, ihre Ehre zu rächen.

Und die Männer um Collatinus töteten Sextus Tarquinius und den König und bauten die neue Republik.

»Tarquinius und Lucretia« heißt das Gemälde von Tizian, das die Szene im Schlafzimmer der Lucretia zeigt.

Ich betrachte das Bild lange, etwas hält mich daran fest, es erinnert mich an etwas Verdrängtes, Versunkenes. »Die Geschichte der Lucretia wurde zum Gründungsmythos der römischen Republik«, lese ich. Die römische Republik, Lucretias Tochter.

In dem Land, in dem ich aufwuchs, gab es keine Könige – und Lucretia war keine Prinzessin, sondern eine Magd.

2