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Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Russell Blake ist der Autor von zahlreichen gefeierten Thrillern. Er lebt an der Pazifikküste von Mexiko.

Liste der lieferbaren Bücher

Von Clive Cussler im Blanvalet-Taschenbuch (die Dirk-Pitt-Romane):

Eisberg, Das Alexandria-Komplott, Die Ajima-Verschwörung, Schockwelle, Höllenflut, Akte Atlantis, Im Zeichen der Wikinger, Die Troja-Mission, Cyclop, Geheimcode Makaze Der Fluch des Khan, Polarsturm, Wüstenfeuer, Unterdruck

Von Clive Cussler und Paul Kemprecos im Blanvalet-Taschenbuch
(die Kurt-Austin-Romane):

Tödliche Beute, Brennendes Wasser, Das Todeswrack, Killeralgen, Packeis, Höllenschlund, Flammendes Eis, Eiskalte Brandung

Von Clive Cussler und Graham Brown im Blanvalet-Taschenbuch
(die Kurt-Austin-Romane):

Teufelstor, Höllensturm, Codename Tartarus, Todeshandel

Von Clive Cussler und Craig Dirgo im Blanvalet-Taschenbuch
(die Juan-Cabrillo-Romane):

Der goldene Buddha, Der Todesschrein

Von Clive Cussler und Jack DuBrul im Blanvalet-Taschenbuch
(die Juan-Cabrillo-Romane):

Todesfracht, Schlangenjagd, Seuchenschiff, Kaperfahrt, Teuflischer Sog, Killerwelle, Tarnfahrt

Von Clive Cussler und Grant Blackwood im Blanvalet-Taschenbuch
(die Fargo-Romane):

Das Gold von Sparta, Das Erbe der Azteken, Das Geheimnis von Shangri La, Das fünfte Grab des Königs, Das Vermächtnis der Maya, Der Schwur der Wikinger

Von Clive Cussler (die Isaac-Bell-Romane):

Höllenjagd)

Von Clive Cussler und Justin Scott (die Isaac-Bell-Romane):

Sabotage, Blutnetz, Todesrennen, Meeresdonner, Die Gnadenlose

Clive Cussler
& Russell Blake

Der Schwur
der Wikinger

Ein Fargo-Roman

Aus dem Englischen
von Michael Kubiak

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Eye of Heaven« bei Putnam, New York.
März 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -illustration: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Jörn Rauser
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-16928-2
V003
www.blanvalet.de

PROLOG

Irgendwo in der Labradorsee

A. D. 1085

Grell leuchtende Blitze brannten sich in den trüben Nachthimmel und erhellten die ausgezehrten Gesichter der Männer an den langen Riemen aus Kiefernholz, mit denen sie das Wikingerlangschiff in seinem Kampf gegen den unbarmherzig tobenden Ozean unterstützten. Der Kapitän wiegte sich im Takt mit der schweren Dünung, während er mit besorgtem Blick verfolgte, wie die Wand sich auftürmender Brecher das Schiffsheck unter sich begrub.

Senkrecht aufragende Bastionen aus schwarzen Wassermassen drohten – vom eisigen Wind getrieben – das Schiff, so sturmerprobt es auch erscheinen mochte, jeden Moment zum Kentern zu bringen. Ungeachtet der Regenmassen, die auf sie herabprasselten, verrichteten die Männer an den Rudern ihre Arbeit. Schließlich hing ihr Überleben von diesem unermüdlichen Einsatz ab. Der Kapitän betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitgefühl und Entschlossenheit, die Stirn sorgenvoll zerfurcht, während der Wolkenbruch seine Haut peitschte und das Wasser an der dünnen weißen Narbe entlangrann, die sich von seinem linken Augenwinkel bis zu dem blonden Bart erstreckte. Als Angehöriger eines grausamen Volksstamms von Abenteurern und Plünderern war er auf dem Ozean aufgewachsen. Die ungezähmte Gewalt der Natur war ihm nichts Neues. An unzähligen Tagen hatte er die tückische Nordsee verflucht, aber selbst für ihn war dies ein Unwetter, wie es ihm nie zuvor begegnet war.

Das hölzerne Schiff musste weit vom Kurs abgekommen sein und wurde von der Dünung nach Norden getrieben. Wäre es auf seiner beabsichtigten Route geblieben, hätte einer der mächtigen Brecher ganz gewiss seinen Bug überrannt. Es wäre gekentert und hätte seine Insassen in den sicheren Tod gerissen. Das Beste, was der Kapitän unter diesen Bedingungen tun konnte, war, das Schiff mit dem Heck vor dem Wind zu halten und den Sturm abzureiten.

Ein greller Blitz zuckte durch die aufgewühlten Wolken und erhellte für einen kurzen Moment die Umgebung, ehe er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Salzwasser troff aus dem dichten Bärenfellmantel des Kapitäns, unter dem sich die Muskeln seiner kräftigen Arme wölbten, mit denen er das Ruder in Position hielt. Ein weiterer Blitz machte die Nacht zum Tage. Das Profil eines aus Holz geschnitzten, drohend aufgerichteten Drachens dicht hinter seinem Kopf, umweht von Gischtwolken, die der tobende Sturm von den Wellenkämmen riss, reflektierte den bläulich weißen Lichtschein.

In dem schmalen Laufgang zwischen den Bänken, auf denen die erschöpften Ruderer schufteten, näherte sich ein hochgewachsener Mann mit lederartiger Haut und einer ungebändigten roten Haarmähne. Trotz der heftigen Schwankungen des Schiffes schritt er sicheren Fußes über die rauen Eichenplanken.

»Thor lässt seiner Wut heute Nacht freien Lauf, nicht wahr, Vidar?«, rief der Kapitän seinem Maat durch den heulenden Wind zu.

»Kann man wohl sagen, Herr. Aber ich denke, das Schlimmste ist jetzt vorbei. Mir scheint, die Brecher sind nicht mehr so hoch wie vor ein paar Stunden.«

»Hoffentlich hast du recht. Meine Arme schmerzen, als hätte ich die ganze Nacht mit einem Bären gerungen.«

»Ich kenne das Gefühl gut. Ihr habt doch meine Frau gesehen.«

Die Mienen der beiden erfahrenen Seeleute verzogen sich kurz zu einem freudlosen Grinsen, dann trat der Maat neben den Kapitän und übernahm das Ruder.

»So viel zu dem Versuch zu schlafen. Daran ist bei diesem Albtraum nicht zu denken. Wie halten sich die Männer?«, fragte der Kapitän.

»Wie bei diesen Verhältnissen zu erwarten. Ihnen ist kalt, und sie sind müde.« Vidar verkniff sich die Bemerkung, dass sie sich fürchteten. Niemals hätten diese Krieger eingestanden, Angst zu haben.

»Sie haben genug Bier getrunken und die Gastfreundschaft der Eingeborenen ausgiebig genossen. Dies hier wird ihnen einiges zu denken geben, falls sie weich geworden sind wie ein Frauenwams.«

»Sicher, Käpt’n. Es wird ihnen eine Lehre sein …«

Eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte das Deck unter ihren Füßen. Beide Männer verfolgten das verwirrende Geschehen mit Augen, die nach einem Leben auf See und auf dem Schlachtfeld kaum noch etwas überraschen konnte.

Aus dem Augenwinkel nahm der Kapitän einen mächtigen Schatten wahr, der sich hinter ihm auftürmte, und fuhr instinktiv herum. Das Heck zerschnitt eine riesige Woge, deren Rauschen in diesem Augenblick – als die beiden Hälften des Wellenkamms brachen – das einzige Geräusch war. Nach einem kurzen Moment, den das Schiff auf dem Wellenkamm verharrt hatte, sank es auf der Rückseite des Brechers in die Tiefe. Das schwarze Monster verschwand in der Dunkelheit.

»Könnt Ihr Euch vorstellen, was geschehen wäre, hätte uns dieses Ungetüm von vorn erwischt?«, fragte Vidar mit einer Stimme, die vor Entsetzen zu einem Flüstern herabgesunken war.

»Oder mittschiffs. Dann wären wir jetzt alle nach Walhalla unterwegs.«

Ihre Blicke wanderten zum Mast, der nun zersplittert und nutzlos war. Die obere Hälfte war abgebrochen wie der Zweig eines Baums und hatte den größten Teil des Segels mit in die Tiefe gerissen – beide ein Opfer der Wucht, mit der die Sturmböe sie getroffen hatte. Dies war das Ergebnis einer teuren Fehlkalkulation. Er hätte das wollene Tuch herablassen sollen, ehe der Wind es losreißen konnte. Aber er hatte jedes Quäntchen Geschwindigkeit herausholen wollen. Seine Männer verfügten zwar über starke Arme, doch nach fast vierundzwanzig Stunden angestrengten Ruderns, auch wenn sie die Ruderbänke nur in Schichten besetzten, stießen auch sie an ihre Grenzen.

Als eines der imposantesten Langschiffe, die je vom Stapel gelaufen waren, bot die Sigrun einer Mannschaft von neunzig Männern Platz. Die Ruderpositionen, jeweils zwei für die vierzig Riemen des Schiffes, reichten für achtzig Männer. Außerdem besaß sie einen umlegbaren Segelmast von knapp zwanzig Metern Höhe. Der Rumpf hatte eine Länge von achtunddreißig Metern und maß an seiner breitesten Stelle knapp sechs Meter. Der Kiel war aus einem massiven Eichenstamm herausgehauen, während würfelförmige Steinklötze als Ballast dienten.

Bei ruhiger See schaffte die Sigrun mit aufgezogenem Segel fast vierzehn Knoten Geschwindigkeit, aber bei einem Wintersturm von dieser Gewalt, wie er in den fernsten Regionen des Nordatlantiks auftrat, war die Geschwindigkeit gar nicht von vorrangiger Bedeutung – das höhere Gewicht hatte die Manövrierfähigkeit.

Die Sigrun verfügte über einen für Wikingerschiffe typischen geklinkerten und an Bug und Heck gleichförmigen Rumpf. Jedoch war die Bordwand deutlich erhöht, um Hochseefahrten zu ermöglichen. Heck und Bug waren als identische Drachenköpfe ausgearbeitet worden. Schiffe wie die Sigrun hatten eine beeindruckende Erfolgsgeschichte und bereits die gefährlichsten Meeresregionen des Planeten befahren. Ihre Seetüchtigkeit und Geschwindigkeit waren legendär. Die Widerstandsfähigkeit selbst des stabilsten Schiffes hatte jedoch Grenzen, und der Sturm hatte der Sigrun und ihrer Mannschaft weitaus heftiger zugesetzt, als es in all den Jahren zuvor jemals der Fall gewesen war.

Stunden, die sich zu einer Ewigkeit auszudehnen schienen, verstrichen, und als sich der erste Lichtschimmer des neuen Tages durch die tiefhängende graue Wolkendecke kämpfte, beruhigte sich allmählich die See. Nun, da das Schlimmste offenbar überstanden war, gab der Kapitän Befehl, dass sich die erschöpften Ruderer ausruhen konnten – bis er eine neue Gefahr ausmachte: Eis. Fünfzig Meter voraus ragte ein Eisberg aus dem Wasser, so groß wie ein kleiner Berg. Der Kapitän wirbelte zu dem Mann herum, der das Ruder bediente, und rief ihm eine Warnung zu.

»Eis! Direkt voraus!«

Das Schiff hatte einen geringen Tiefgang, dennoch konnte die wogende See es in die Nähe der untergetauchten Masse drücken. Eine leichte Kollision würde den Holzrumpf aufreißen und das Langschiff sinken lassen, und dann würde die Mannschaft in den eisigen Fluten recht bald den Tod finden. Der Bug schwang langsam herum und gehorchte nur schwerfällig dem Ruderbefehl. Eine weitere lang gezogene Woge der stetig rollenden Dünung schob sie näher auf den Eisberg zu – viel näher, als dem Kapitän lieb war.

»Jetzt aber mit aller Kraft, Leute! Pullt, verdammt noch mal. Pullt, was ihr könnt, sonst sind wir erledigt!«

Leise wie ein Gespenst glitt das Schiff an der bedrohlichen Eismasse vorbei. Der Blick des Kapitäns wanderte über den gefrorenen Koloss, eine verlassene, öde Insel mitten im Ozean. Er schickte ein weiteres stummes Bittgebet zu den Göttern. Wenn sich das Schiff bereits im Treibeis befand, musste der Sturm es noch viel weiter nach Norden getrieben haben, als er befürchtet hatte. Und der bedeckte Himmel machte es unmöglich, mit den primitiven Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, einen neuen Kurs zu berechnen.

»Holt einen der Raben aus dem Schiffsraum«, befahl er also.

Vidar gab den Befehl an den nächsten Mannschaftsangehörigen weiter, der sich eilig entfernte. Das Unwetter hatte sich nahezu vollständig ausgetobt, und nun wurde es Zeit, eine der geheimen Waffen der seefahrterprobten Wikinger einzusetzen: Vögel.

Zwei Männer wuchteten eine Deckklappe auf und stiegen in den vorderen Schiffsraum hinab. Wenig später tauchten sie wieder auf und schleppten einen primitiven Holzkäfig, in dem sich ein großer schwarzer Schatten aufgeregt hin und her bewegte. Der größere der beiden Männer trug den Käfig zum Schiffsheck, wo der Kapitän bereits wartete, und stellte ihn aufs Deck. Nach einem letzten Blick aufs Meer ging der Kapitän in die Hocke und betrachtete den Raben.

»Nun, mein Freund, es ist so weit. Mögest du geradeaus und in die richtige Richtung fliegen. Lass mich nicht im Stich. Unser Überleben hängt von deinem Instinkt ab. Lass dich von Odin führen.«

Er richtete sich auf und gab dem Mannschaftsangehörigen ein Zeichen mit dem Kopf. »Lasst ihn frei und wünscht ihm Gottes Segen.«

Der Mannschaftsangehörige hob den Käfig bis in Brusthöhe hoch, während Vidar näher kam und die Klappe öffnete, nachdem er die Lederschnur, die sie verschloss, aufgenestelt hatte. Nun griff er hinein. Der Rabe duckte sich und wich aus, aber jede Gegenwehr war zwecklos. Vidar konnte ihn mit seinen klammen Händen leicht in die Enge treiben. Er holte den Vogel heraus und warf ihn, während er ein Gebet murmelte, in die Luft.

Der Rabe umkreiste, nach der langen Gefangenschaft taumelnd, das Schiff, gewann schließlich die Kontrolle über seine Schwingen, schlug kräftiger und vollführte nun einen Schwenk nach backbord.

»Beeil dich. Bring den Bug herum. Dem Raben hinterher.«

Ihre Blicke folgten dem schwarzen Punkt, während er in der Ferne verblasste. Anschließend richteten sie den furchteinflößenden Drachenkopf am Schiffsbug nach der Flugrichtung des Vogels aus.

»Wie viele haben wir noch, Vidar?«, erkundigte sich der Kapitän.

»Nur einen. Die anderen beiden sind zu Tode erschrocken.«

»Ich kann mir vorstellen, wie sie sich gefühlt haben müssen. Von diesem Unwetter werden wir sicher noch erzählen, wenn wir schon alt und grau sind und am Feuer zusammensitzen.«

»Das stimmt wohl. Aber wir haben es überstanden. Und jetzt wissen wir auch, wo wir Land finden können.«

»Die einzige Frage ist nur, wie weit wird es bis dorthin sein?«

»Ja. Und was erwartet uns da?«

»Höchstwahrscheinlich keine warmen Strände und willige Mädchen, nehme ich an, dem Eis und den sinkenden Temperaturen nach zu urteilen.«

»Ich glaube, du hast recht.«

Die Männer verstummten und hingen ihren eigenen Gedanken nach, der weitere Kurs war zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiss. Erst wenn sie Land fänden und die Wolkendecke aufriss, könnten sie sich nach der Sonne orientieren, um den Heimweg zu berechnen.

»Ruf die restlichen Männer an die Riemen, Vidar. Wir müssen Zeit aufholen, solange es noch hell ist. Ich will nicht noch eine Nacht auf dem Meer verbringen, umringt von Eisbergen, die nur darauf warten, uns zu versenken.«

Vidar wandte sich an die Mannschaftsangehörigen, die sich ausruhten und schliefen, wo immer sie auf dem Deck einen geeigneten Platz gefunden hatten. »Es wird Zeit, dass ihr euren Unterhalt verdient. An die Riemen, Wikinger, an die Riemen!«

Am späten Nachmittag konnten sie am Horizont, bei dem gegenwärtigen Tempo etwa einen halben Tag entfernt, schneebedeckte Berggipfel ausmachen. Der ersehnte Anblick verlieh den erschöpften Männern frische Kraft, sodass sie ihre Anstrengungen verdoppelten, nun da ihr Ziel in Reichweite gerückt war. Vidar übernahm das Ruder, der Kapitän bezog neben ihm Posten und behielt das Wasser ringsum wachsam im Auge. Je näher sie dem Festland kamen, desto dichter war das Meer mit treibenden Eisschollen bedeckt, zwischen denen gelegentlich größere Eisberge aufragten.

»Was denkst du?«, fragte der Kapitän, dessen Gesicht nach zwei Tagen äußerster Anstrengungen totenbleich war.

»Wir haben Festland vor uns, das ist sicher. Ich würde empfehlen, einen geschützten Ort zu suchen, wo wir die Nacht verbringen können. Anschließend müssen wir beraten, wie es weitergehen soll.«

»Die Männer sind am Ende ihrer Kräfte. Wir können versuchen, den Mast notdürftig zu reparieren. Wenn wir den ganzen Weg rudern müssen, dürfte die Heimreise unendlich lang und mühsam werden.«

Vidar nickte. »Das ist wohl wahr.«

»Sieh dort – ein Fjord. Wenn wir ihm landeinwärts folgen, müssten wir einen geeigneten Platz finden, um ein Lager aufzuschlagen«, sagte der Kapitän und deutete mit einem knotigen Finger auf eine Lücke in der Küstenlinie. »Mit ein wenig Glück könnte das sogar die Mündung eines Flusses sein.«

»Durchaus möglich«, sagte Vidar und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um mehr erkennen zu können.

»Falls es ein Fluss ist, bedeutet das Trinkwasser. Und vielleicht auch Tiere.«

»Beides wäre angesichts unserer schwindenden Vorräte höchst willkommen.«

»Wir sollten dem Fjord folgen, so weit er ins Festland hineinreicht«, sagte der Kapitän. »Etwas Besseres fällt mir im Augenblick nicht ein, außerdem wird es bald wieder dunkel sein.«

»Hauptsache, wir kommen aus dem Wind. Zumindest werden uns die Steilwände vor dem Schlimmsten schützen.«

»Dann nimm Kurs auf den Fjord.«

Vidar fixierte die Ruderer mit einem aufmunternden Blick. »Kommt schon, Leute. Pullt. Wir haben es fast geschafft.«

Der einzige Laut war das Knarren der Riemen, als die Männer dem Befehl gehorchten und ihre Arbeit wieder aufnahmen. Nirgendwo gab es ein Lebenszeichen, nirgendwo auch nur einen Hinweis darauf, dass sie nicht die einzigen lebenden Wesen auf der Erde waren. Nichts deutete an, dass das Schicksal sie nicht in die eisige Hölle eines weltabgeschiedenen Totenreichs verschlagen hatte.

»Langsam, Männer. Langsam …«, rief Vidar, während sie auf ihrem Weg zu den blau-weißen Steilwänden auf beiden Seiten des Fjords den Eisschollen auswichen. Er wandte sich halb zum Kapitän um, der schräg hinter ihm stand. »Könnt Ihr erkennen, was das dort hinten ist? Sieht aus wie ein enger Kanal.«

»Ja, ich sehe es. Wahrscheinlich liegt dahinter eine weitere Bucht. Was immer es sein mag, wir müssen die Fahrt fortsetzen, bis wir einen Platz für die Nacht finden. Aber sehr wahrscheinlich werden wir an dieser abweisenden Küste nichts dergleichen finden.«

Das Schiff schob sich durch die Lücke in der Uferlinie und geriet in zunehmend dichtes Treibeis. Die zerklüfteten Felswände der engen Schlucht ragten weit in den Himmel empor und sperrten die verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne aus. Während die Sigrun ihren Weg fortsetzte, wurde es stetig dunkler, aber glücklicherweise waren die schlimmsten Auswirkungen des Unwetters von der schmalen Kanaleinfahrt aufgehalten worden. Das Wasser im Fjord lag vollkommen still.

Der Kapitän deutete auf einen Punkt vor ihnen.

»Dort. Am Fuß des Gletschers. Es ist vielleicht nicht der günstigste Ort, aber es sieht so aus, als könnten wir das Schiff dort wenigstens teilweise auf Land setzen, sodass es für die Nacht sicher ist. Morgen früh werden wir dann einen Erkundungstrupp zusammenstellen und nachsehen, was uns an Land erwartet.«

Vidar warf einen prüfenden Blick auf die schmale, flache Eiszunge, die bis ins Wasser des Fjords reichte, und nickte. Er stemmte sich gegen das Ruder und schwenkte den Schiffsbug in Richtung des leicht abfallenden Uferabschnitts herum. Das schwindende Licht tastete sich über die Eisschollen, die das Wasser des Meeresarms bedeckten, und die Männer mobilisierten ihre letzten Kraftreserven, um das Langschiff an Land zu manövrieren. Ein heftiger Ruck lief durch das Schiff, als der steil gerundete Bug auf die gefrorene Kruste traf. Die Mannschaft sprang an Land, um das Schiff höher auf das eisige Ufer zu ziehen, damit es von der ansteigenden Flut nicht mitgerissen wurde und abtrieb. Ihre Kriegsäxte benutzten sie, um sich auf dem spiegelglatten Untergrund ausreichenden Halt zu verschaffen. Sie konnten das riesige Schiff fast zur Hälfte aufs Trockene ziehen – ein Beweis für die überlegene Konstruktion und die erstaunlich leichte, aber stabile Bauweise der Wikingerschiffe. Der Kapitän gab seinen Männern das Zeichen, die Bemühungen einzustellen. Sie hätten ihr Bestes getan und sollten lieber darauf achten, ihre Kräfte zu sparen und auf dem Deck ihre Lager für die Nacht aufzuschlagen.

Der Kapitän blickte zum Himmel, der sich mittlerweile wolkenfrei und mit seinem funkelnden Sternenzelt über ihnen wölbte, und flehte mit einem stummen Bittgebet zu den Göttern, sie möchten ihm dabei helfen, seine Männer wohlbehalten in Sicherheit zu bringen. Morgen würden sie sich, mit ihren Langbogen bewaffnet, auf eine Expedition begeben und – mit ein wenig Glück – Wildtiere aufstöbern und erlegen, damit sie ausreichend Nahrung hatten, während sie den gebrochenen Mast reparierten. Zwar war es nicht unmöglich, ausschließlich unter Einsatz der Ruder in ihre östlich gelegene Heimat zu gelangen, aber ein auch nur zum Teil funktionsfähiges Segel würde die Wahrscheinlichkeit, ihre unbezahlbare Fracht unbeschadet ans Ziel zu bringen, beträchtlich erhöhen.

Kurz vor dem Einschlafen dachte er ein letztes Mal an diesem Tag daran, um jeden Preis in die Heimat zurückkehren zu müssen. Das hatte er dem Anführer dieser Expedition, der in einem fernen Land gestorben war, mit einem heiligen Eid geschworen.

Der neue Tag begrüßte sie mit der Unheil verheißenden Kulisse eines grauen Himmels. Vidar drehte sich auf die andere Seite, wobei sein Mantel knisterte, als eine dünne Eisschicht, die sich auf der ledernen Außenhaut gebildet hatte, zerbröselte. Widerstrebend schlug er die Augen auf, um feststellen zu müssen, dass das gesamte Schiff weiß bestäubt war – ein Schneeschauer hatte es kurz nach Mitternacht zugedeckt. Der Kapitän, der nur wenige Schritte von ihm entfernt einen Schlafplatz gefunden hatte, rührte sich ebenfalls und erhob sich dann. Sein Blick wanderte über die schlafende Mannschaft, ehe er auf dem Wasser verharrte, das nun hart gefroren war. Bedrohliche Sturmwolken, die den Horizont ausfüllten, brüteten über dem Ozean. Für einen kurzen Moment verfolgte er, wie sich die dunkle Linie nach und nach näherte. Schließlich ging er zu Vidar hinüber, der, die Gliedmaßen steif vor Kälte, Mühe hatte, sich aufzurichten.

»Ich fürchte, das nächste Unwetter zieht schon auf. Die Männer sollen das, was von unserem Segel übrig ist, auseinanderfalten«, befahl der Kapitän. »Wir benutzen es als Schutzdach. Dieser Wolkenbank nach zu urteilen haben wir es noch nicht überstanden.«

Vidar nickte, während er blinzelnd den Himmel betrachtete. »Viel Zeit bleibt uns nicht, bis der Sturm losbricht.«

Der Kapitän wandte sich an seine Mannschaft. »Männer! Hoch mit euch! Zieht das Segel vom Mast und breitet es über das Deck, damit man sich darunter verkriechen kann! Und beeilt euch, wenn ihr nicht schon bald bis zum Hals im Schnee versinken wollt!«

Der Mannschaft, benommen vom Schlaf, kam nur schwerfällig in Gang, hatte es jedoch, als die eisige Sintflut einsetzte, geschafft, ein behelfsmäßiges Zelt aufzubauen und darunter Schutz zu suchen. Der erste Hagelschauer ergoss sich mit der Wucht eines Peitschenschlags auf das Wollgewebe. Die Männer waren für die Umsicht und schnelle Reaktion des Kapitäns dankbar, als der Sturm wie ein tollwütiger Dämon an ihrem Schiff zerrte.

Das Unwetter tobte, ohne im Mindesten nachzulassen, bis zur Mittagsstunde. Erst dann verringerte sich die Kraft der Windböen, bis als einziges Geräusch nur noch das heftige Atmen der Männer zu hören war, die dicht aneinandergedrängt – um sich gegenseitig zu wärmen – unter dem Schutzdach kauerten, während der Schneesturm einschlief.

Als der Kapitän den Rand des Segels anhob, zurückschlug und in die mittlerweile herrschende Windstille hinaustrat, war die Landschaft blendend hell – weiß, so weit sein Auge reichte, und das Schiff bis zum Rand unter Schneemassen vergraben. In Gedanken analysierte er ihre augenblickliche Lage, die von Moment zu Moment aussichtsloser erschien. Sie waren gefangen, da das Schiff in diesem Zustand nicht zu verwenden war. Es gab nur wenig, was seiner Hoffnung auf ihr Überleben Nahrung geben konnte.

Vidars Kopf schob sich neben ihm nach draußen, und dann zog die Mannschaft langsam das Segel zur Seite, wobei die Männer immer wieder innehielten, um den Anblick der arktischen Wüste in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Der Kapitän inspizierte die nähere Umgebung und straffte die Schultern.

»Nun gut. Das Schlimmste liegt hinter uns. Solange sich das Unwetter beruhigt hat, solltest du einen Erkundungstrupp zusammenstellen und diesen Ort in Augenschein nehmen. Sieh zu, dass ihr vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück seid. Ich möchte wissen, was uns jenseits unseres Lagerplatzes erwartet.«

Vidar, die Miene ausdruckslos und das Kinn entschlossen vorgereckt, wandte sich an die Männer. »Ich brauche dreißig eurer besten Schützen. Nehmt eure Bögen und Schwerter und packt ausreichend Verpflegung für den Tag ein. Wir brechen auf, sobald alle bereit sind.«

Die Mannschaftsmitglieder machten sich sofort ans Werk, angetrieben von der Aussicht, endlich das Schiff verlassen zu können. Gutmütige Diskussionen entbrannten darüber, wer der bessere Bogenschütze und daher eher geeignet war, die geforderte Aufgabe zu übernehmen. Nachdem sie sich entsprechend ausgerüstet hatten, begaben sich die Wikinger auf ihren Marsch durch den frisch gefallenen Schnee. In einer langen Reihe zottiger Gestalten bewegten sie sich langsam über den Gletscher und suchten nach einem Weg, vom Ufer des Fjords aus aufzusteigen. Schließlich stieß Vidar einen lauten Ruf aus und deutete auf eine schmale Lücke in der Eiswand, wo eine zerklüftete Felsformation aus dem Steilhang herausragte. Die Marschreihe arbeitete sich bis zu der vielversprechenden Stelle hinauf, ehe sie Mann für Mann außer Sicht geriet.

Die Abenddämmerung verdunkelte bereits den Himmel, als der Kapitän Vidars vertrauten roten Bart am Rand des Eisfeldes entdeckte. Er kam durch die Scharte, gefolgt von den Bogenschützen. Als Vidar das Ufer erreichte, gab er dem Kapitän mit einem kurzen Kopfnicken ein Zeichen, und die beiden Männer begaben sich zum Schiffsheck, wo sie sich ungestört beraten konnten.

»Wir sind weit vorgedrungen, haben jedoch nichts als Eis gefunden. Nicht einmal einen Vogel haben wir gesehen.«

»Was habt ihr von der Umgebung erkennen können?«

»In der Ferne waren auf beiden Seiten hohe Berge zu sehen. Ich vermute, unsere einzige Chance besteht darin, morgen bis dorthin zu gelangen. Wo das Gelände eisfrei ist, werden wir sicherlich auf Lebewesen stoßen. Und wenn wir Glück haben, können wir vielleicht erfolgreich auf die Jagd gehen und unsere Beute hierherschaffen.«

Der Kapitän ließ sich die Worte seines Bootsmanns durch den Kopf gehen.

»Na schön. Bilde beim ersten Licht des Tages zwei Gruppen. Jeweils vierzig Männer. Du führst die eine Gruppe, ich die andere. Wir trennen uns dann und marschieren in entgegengesetzten Richtungen über das Eis. Damit erhöht sich die Chance, dass eine der beiden Gruppen etwas Essbares findet. Die restlichen Männer bleiben beim Schiff.«

Am folgenden Tag brachen die Männer im Morgengrauen auf, eine lange Kolonne tapferer Krieger, bereit, den Kampf gegen keinen anderen Gegner als die Kälte und den Hunger aufzunehmen. Sobald sie auf dem Gletscher standen, legte der Kapitän Vidar eine Hand auf die Schulter und umarmte ihn.

»Viel Glück. Mögen eure Jagdtaschen am Ende des Tages wohlgefüllt sein«, sagte er.

»Das Gleiche wünsche ich Euch. Wenn wir erlegt haben, so viel wir tragen können, kehren wir zum Schiff zurück.«

Der Kapitän nickte und blickte Vidar tief in die Augen. Beide Männer wussten, dass ihre Zukunft ungewiss war und wahrscheinlich nichts anderes auf sie wartete als Not und Hunger. Aber sie waren Wikinger und würden sich vorankämpfen, bis niemand mehr von ihnen übrig war. Der Kapitän fasste einen fernen Berggipfel ins Auge und deutete mit ausgestreckter Hand in seine Richtung. Seine Stimme klang nun fest und entschlossen.

»Vorwärts, Männer! Uns winken Ströme von klarem, frischem Wasser und fette Elche. Lassen wir sie nicht zu lange warten!« Und nach diesen Worten machte er die ersten langen Schritte in Richtung der fernen Berge. Dabei bewegte er sich mit der Eleganz einer Raubkatze. Wie stets war er der Anführer, erfüllt von dem unerschütterlichen Selbstvertrauen, wie es denen eignete, die von Geburt an für diese Aufgabe ausersehen waren.

1

CARTAGENA, SPANIEN, GEGENWART

Die Bermudez wiegte sich träge in der leichten Dünung der azurblauen See und zerrte an ihrer Ankerkette wie ein kaum zu bändigender Jagdhund an einer kurzen Leine. Das zweiunddreißig Meter lange Expeditionsboot mit seinem stählernen Rumpf war deutlich robuster als die meisten Schiffe dieser Größe und erschien äußerlich eher wie ein kommerzieller Fischtrawler als wie ein meeresarchäologisches Forschungsschiff. Ein kleiner rot-weißer Tauchwimpel tanzte fünfunddreißig Meter hinter ihrem Heck auf den Wellen.

Platzende Luftblasen erzeugten auf der Wasseroberfläche nicht weit von der ungewöhnlich großen ausladenden, achtern gelegenen Tauchplattform einen kleinen Schaumteppich, als Remi Fargo aus der Tiefe aufstieg. Wasser rann an ihrem schwarzen Nasstauchanzug herab, während sie die teilweise untergetauchte Leiter hinaufkletterte. Sie schob sich die Tauchmaske auf die Stirn und genoss die warmen Strahlen der Sommersonne auf ihrem Gesicht. Ins Wasser zurückgleitend, schlüpfte sie aus der Weste, die den Auftrieb regulieren sollte. Sam Fargo kam über das Deck und die Stufen zur Plattform herunter, wo er für einen Moment innehielt, um sie mit einem Ausdruck des Wohlgefallens zu betrachten, ehe sich seine Miene zu einem Grinsen verzog und er sich bückte und die Hände ausstreckte, um ihr beim Abstreifen der Schwimmflossen und der restlichen Tauchausrüstung behilflich zu sein.

»Wer mag wohl diese Erscheinung außerordentlicher Lieblichkeit sein, wie sie da aus dem Meer auftaucht? Eine Meerjungfrau vielleicht? Oder eine Sirene?«, fragte er neckend.

Sie musterte ihn argwöhnisch und schlug ihm mit der flachen Hand auf die nackte Brust. »Führst du irgendwas im Schilde?«

Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, eine Schmeichelei kommt immer gut an.«

»Machen Sie nur so weiter, junger Mann. Dann haben Sie eine rosige Zukunft.«

Sam hob die Tarierweste mit einem starken, leicht sonnenverbrannten Arm hoch, wobei sich die klaren Konturen seiner Muskeln durch die Last des vierzig Pfund schweren Gurtsystems kaum veränderten. »Hast du noch etwas anderes gefunden?«

»Nein. Ich glaube, wir haben alles katalogisiert.« Erneut zerplatzten Luftblasen dicht vor der Tauchplattform, und ein weiterer Kopf schoss aus dem Wasser. »Wie ich sehe, ist Dominic auch schon angekommen.«

Der zweite Taucher zog sich auf die Plattform und legte Atemflasche und restliche Ausrüstung ab. Kurz geschnittenes schwarzes, grau meliertes Haar bedeckte den Kopf über seinem schmalen, dunkelhäutigen Gesicht. Er lächelte Sam und Remi an und zeigte mit hochgerecktem Daumen ein Okay-Zeichen.

»Ich denke, das war’s, oder?«, sagte er. Dies war eher eine Feststellung als eine Frage. Aufgrund seiner Position als Kapitän des Schiffes und Leiter des spanischen Taucherteams, das die Universität von Sevilla zur Erforschung des Schiffswracks in fünfundvierzig Metern Tiefe engagiert hatte, lag die Entscheidung bei Dominic. Aus Höflichkeit seinen beiden amerikanischen Kollegen gegenüber, international bekannten Schatzsuchern, hielt er sich zurück. Ursprünglich hatten sie das Wrack entdeckt und der Abteilung für Schifffahrtsgeschichte des spanischen Kultusministeriums gemeldet. Sams und Remis Untersuchungen hatten ergeben, dass es sich wahrscheinlich um ein Frachtschiff aus dem siebzehnten Jahrhundert handelte, das während eines Wintersturms gesunken war. Es lag, von Schlamm bedeckt, am Rand eines Felsvorsprungs, unter dem der Meeresboden steil abfiel. Das Wrack hatte sich als Schiffstyp aus der fraglichen Epoche entpuppt. Eine Gruppe von Tauchern und Meeresarchäologen war zusammengestellt worden, um unter Mitwirkung der Fargos seine historische Bedeutung zu bestimmen.

»Es sieht tatsächlich so aus, als sei unsere Arbeit hier abgeschlossen«, gab Remi zu, während sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, das im Sonnenlicht bronzefarben schimmerte, während es zu trocknen begann. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Tauchanzugs, und ihre Hand tastete automatisch nach dem kleinen goldenen Skarabäus, der an einer Lederschnur hing, die um ihren Hals geschlungen war. Es war ein neuer Glücksbringer, den ihr Dominic mit einer feierlichen Geste überreicht hatte, als sie an Bord gekommen waren. Er hatte ihnen tatsächlich Glück gebracht – trotz der großen Tauchtiefe war es ein relativ problemloses Unternehmen gewesen: eine Woche in idyllischer Umgebung, in der sie hatten tun können, was ihnen am liebsten war. Der Kapitän war reizend und die Mannschaft zuvorkommend und kompetent. Wenn ihre Abenteuer doch immer so ungezwungen verliefen, dachte sie und wandte sich an Sam. »Wo kann sich hier ein Mädchen frisch machen?«

»Deine Kabine wartet schon. Der Champagner ist eisgekühlt, die Schokolade liegt auf dem Kopfkissen«, erwiderte Sam mit einer knappen Verbeugung.

»Wie ich dich kenne, hast du den Champagner getrunken und das Betthupferl verputzt«, hänselte sie ihn.

»Ich bin ein offenes Buch für dich, nicht wahr? Was hat mich verraten?«

»Der braune Schmierfleck am Kinn.«

Das dumpfe Dröhnen von PS-starken Dieselmotoren drang über das Wasser zu ihnen. Sie wandten sich um und konnten verfolgen, wie eine große, weiße Privatjacht die Maschinen drosselte, während sie sich ihnen bis auf zweihundert Meter näherte. Remi blickte prüfend auf den Heckspiegel, aber der Name der Jacht und ihr Heimathafen wurden durch eine Batterie von Tauchflaschen verdeckt, die in einem speziellen Gestell aufgereiht waren.

»Noch ein wenig näher, und wir können uns gegenseitig in die Töpfe schauen«, sagte Sam, während sie weiter das andere Schiff beobachteten.

»Ziemlich groß, der Kahn, nicht wahr?«, meinte Remi.

»Wahrscheinlich mehr als fünfzig Meter lang.«

»Sie haben viele Flaschen an Bord. Sieht so aus, als planten sie eine regelrechte Tauchexpedition.«

Ein Mannschaftsangehöriger ging zum Bug des Luxuskreuzers, und Sekunden später war das Rasseln der langen Kette zu hören, als der Anker ins Meer rauschte. Zweieinhalb Meilen entfernt ragte die zerklüftete Küstenlinie in den Sommerhimmel. Ein wenig näher erhob sich die Isla de Las Palomas aus dem Meer, umschwärmt von ihrer Flotte aus Vergnügungsbooten und kleinen Jachten, die aus nahe gelegenen Marinas stammten und für Tagesausflügler gedacht waren. Ein schneeweißer Passagierdampfer tastete sich behutsam in den Hafen von Cartagena, eine beliebte Zwischenstation für viele Mittelmeer-Kreuzfahrten.

»Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, Dominic, dass ein Schiff so nahe bei dem Schiffswrack vor Anker geht?«, fragte Sam.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Dominic. »Zahlreiche Bootsführer ziehen es vor, hier in Sichtweite anderer Boote zu übernachten – für den Fall, dass sie irgendwelche Hilfe brauchen.«

»Trotzdem sind wir von den üblichen Routen ziemlich weit entfernt, meinen Sie nicht?«, sagte Remi.

»Vielleicht sind sie nur genauso neugierig und wollen wissen, was wir hier zu suchen haben«, meinte Sam. »Schließlich liegen wir schon eine ganze Woche hier, und der Tauchwimpel ist weithin sichtbar.«

»Das dürfte der Grund sein. Neugier liegt nun mal in der menschlichen Natur«, erklärte Dominic, offensichtlich unbesorgt.

Remi überschattete die Augen mit einer Hand, während sie beobachtete, wie noch mehr Ankerkette ausgebracht wurde. »Ich hoffe nur, dass sie das Schiffswrack nicht entdecken und sich an den Artefakten vergreifen, ehe die Regierungsvertreter hier eintreffen.«

»Deswegen würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen«, wiegelte Dominic ab. »Die meisten Taucher sind klug genug, sich nicht in ein Schiffswrack zu wagen, das so tief im Schlick vergraben liegt wie dieses. Niemand hat Interesse daran, in eine Falle zu geraten. Es käme einem Todesurteil gleich …«

»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Remi drehte das Gesicht in die spätmorgendliche Sonne und schloss die Augen. Dann schlug sie sie wieder auf und sah Sam fragend an. »Warst du nicht gerade dabei, mich mit Schokolade und Champagner zu verführen?«

»Das war eher eine versteckte Drohung.«

»Du solltest wissen, dass man mir so leicht keine Angst einjagen kann, ganz gleich ob mit versteckten oder offenen Drohungen.«

Sie begaben sich zu ihrer Kabine, nachdem sie ihre Ausrüstung verstaut hatten. Die Räumlichkeiten waren, gemessen an dem Standard, wie er auf Schiffen üblich war, großzügig bemessen. Mit Mahagoni getäfelt, das im Laufe der Jahre nachgedunkelt war, aber immer noch erlesenen Luxus verströmte. Sam setzte sich an den kleinen Einbautisch in der Nähe eines der beiden Bullaugen der Kabine, während Remi im Bad verschwand. Wenig später rauschte die Dusche, begleitet von Dampfwolken, die durch den Türspalt drangen.

»Glaubst du, das Boot ist harmlos?«, fragte Remi aus der Duschkabine.

»Ich sehe keinen Grund, das Gegenteil zu vermuten.«

»In dem Schiffswrack befindet sich immerhin einiges an wertvoller Bildhauerkunst«, rief ihm Remi in Erinnerung. Das Handelsschiff war mit seiner gesamten Besatzung gesunken und sollte Gerüchten zufolge unbezahlbare Antiquitäten von Griechenland nach England geschmuggelt haben, wo ein umfangreicher Markt für derartige Fundstücke existierte, auf dem sich Adlige und Angehörige der Oberklasse bedienten. Ihre sorgfältige Inventur des Wracks hatte den Jahrhunderte alten Verdacht bestätigt, und in den Frachträumen befanden sich bislang unbekannte und nie erwähnte griechische Altertümer im Wert von einigen Millionen – gewiss eine völlig andere Art von Schatz als der übliche Gold- und Juwelenschmuck, aber auf jeden Fall ein Schatz.

Man hatte gehofft, die bemerkenswerte Entdeckung so lange geheim zu halten, bis die Regierung eine fachgerechte Bergung der Kunstwerke aus dem Meer in die Wege leiten konnte. Es herrschte eine allgemeine Sorge, professionelle Schatzsucher könnten angelockt werden und den Fundort beschädigen, wenn sie versuchten, ihn zu plündern, obgleich die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall gering war.

»Das trifft auf jeden Fall zu«, räumte Sam ein. »Ich bin sicher, dass es das spanische Volk nicht so gerne sieht, wenn sich jemand mit seinem Eigentum aus dem Staub macht.« Sam und Remi pflegten die Praxis, alles, was sie entdeckten, der jeweiligen Landesregierung zu übergeben – eine Verfahrensweise, die zur Folge hatte, dass sie bei zahlreichen der interessantesten Unternehmungen dieser Art überall auf der Welt als aktive Teilnehmer herzlich willkommen waren. Sie beteiligten sich an diesem Spiel, weil der Akt des Entdeckens sie reizte und nicht das Geld, das sich mit derartigen Fundstücken verdienen ließ, zumal Sam dank des Verkaufs seiner Firma an ein Unternehmenskonsortium einige Jahre zuvor über ein umfangreiches und sicher angelegtes Vermögen verfügte.

»Dominic macht sich offenbar keine Sorgen. Und er kennt diese Gewässer wie seine Westentasche.« Das Rauschen der Dusche verstummte, und die Tür der Kabine schwang auf. Remi erschien, wickelte sich in ein flauschiges Badetuch und trocknete vor dem Badezimmerspiegel die Haare mit einem zweiten, während Sam die Tastatur des Laptops, der auf dem Tisch stand, bearbeitete.

»Das ist richtig.«

»Ich glaube, wir sollten dieses Boot im Auge behalten.«

»Aye, aye, Skipper.« Sams Blick wanderte vom Computerbildschirm zum Badeingang, durch den er Remi zur Hälfte sehen konnte, während sie sich die Zotteln aus ihrem kastanienbraunen Haar bürstete. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass du einfach umwerfend aussiehst?«

»Nicht annähernd oft genug. Und – wo bleiben Champagner und Schokolade?«

»Möglicherweise habe ich ein wenig zu dick aufgetragen, um dich unter Deck zu locken.«

»Es hat aber funktioniert. Ich hoffe, du hast eine angemessene Alternative in petto.«

Sam schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu.

»Dazu fällt mir tatsächlich etwas ein …«