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Alan Bradley

Roman

Aus dem Englischen
von Gerald Jung
und Katharina Orgaß

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel As Chimney Sweepers Come to Dust bei Delacorte Press, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York

1. Auflage

© 2015 by Alan Bradley

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Penhaligon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft

Das Zitat von Charles Dickens auf S. 62 stammt aus: Nicholas Nickleby, nach älteren Ausgaben bearbeitet und revidiert von Leo Feld und Erwin Krauß. Frankfurt a. M. – Leipzig, Insel 1991

Das Zitat von Charles Dickens auf S. 101 stammt aus: Schwere Zeiten, übersetzt von Ulrike Jung-Grell. Stuttgart, Reclam 2011

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16998-5
V003

www.penhaligon.de

Für Shirley, in Liebe und Dankbarkeit

Fürchte nicht mehr Sonnenglut,

Noch des Winters grimmen Hohn!

Jetzt dein irdisch Treiben ruht,

Heim gehst, nahmst den Tageslohn:

Goldne Burschen und Mägdlein werden

Wie die Essenkehrer zu Erden.

WILLIAM SHAKESPEARE

Cymbelin (vierter Aufzug, zweite Szene)

Prolog

Wenn wir beide uns auch nur ansatzweise ähnlich sind, dann schwärmen Sie ebenso wie ich für Fäulnis und Zersetzung. Es ist doch immer wieder ein erhebender Gedanke, dass Verfall und Verwesung die entscheidenden Kräfte sind, die die Welt in Gang halten.

Stürzt beispielsweise im Wald eine uralte Eiche um, machen sich praktisch im selben Augenblick unsichtbare Räuberhorden über sie her. Diese hoch spezialisierten Bakterienscharen bestürmen ihr Opfer so strategisch wie ein Barbarenheer eine feindliche Festung. Die erste Angriffswelle dient dazu, die verschiedenen Eiweiße des geschwächten Holzes zu Ammoniak zu zersetzen, mit dem wiederum die zweite Angriffswelle leicht fertig wird, indem sie das übel riechende Ammoniak in Nitrit umwandelt. Anschließend verwandeln die Invasoren durch Oxidation das Nitrit zu Nitrat, das wiederum das Erdreich düngt, auf dem sodann neue Eichenschösslinge wachsen können.

Durch das Wunder der Chemie zerlegen mikroskopisch kleine Lebensformen einen Koloss in seine wesentlichen Bestandteile. Wälder entstehen und sterben, kommen und gehen, wie eine sich wirbelnd drehende Münze, die man in die Luft geschnippt hat: Kopf … Zahl … Leben … Tod … Leben … Tod … und immer so weiter, vom Anbeginn der Schöpfung bis ans Ende aller Zeiten.

Einfach fabelhaft, wenn Sie mich fragen.

Übergibt man einen menschlichen Leichnam der Erde, durchläuft er den gleichen grundlegenden 1-2-3-Prozess: Fleisch – Ammoniak – Nitrat.

Wird eine Leiche jedoch in eine schmutzige Fahne eingewickelt und in einen Kaminschacht gestopft, wo Hitze und Rauch sie über Jahrzehnte hinweg mumifizieren … dann ist das natürlich etwas ganz anderes.

1

VERBANNT!«, kreischte der Wind, der mir ins Gesicht peitschte.

»Verbannt!«, tosten die entfesselten Wellen, die mich mit eiskalten Güssen überschütteten.

»Verbannt!«, heulte alles um mich herum. »Verbannt!«

Unsere Sprache kennt wohl kein trostloseres Wort. Allein der Klang – wie schmiedeeiserne Tore, die krachend hinter einem ins Schloss fallen, wie stählerne Riegel, die donnernd zugeschoben werden – lässt einem unweigerlich die Haare zu Berge stehen, oder?

»Verbannt!«

Ich schrie das Wort in den Sturm hinaus, und der Sturm spie es mir wieder ins Gesicht.

»Verbannt!«

Ich stand am schwankenden Bug der R.M.S. Scythia und sperrte den Mund weit auf, weil ich hoffte, die salzige Gischt könnte den schlechten Geschmack auf meiner Zunge abwaschen – den Geschmack meines bisherigen Lebens.

Irgendwo hinter dem östlichen Horizont, Tausende Meilen entfernt, lagen das Dorf Bishop’s Lacey und nicht weit davon Buckshaw, mein einstiges Zuhause. Dort führten mein Vater, Colonel Haviland de Luce, und meine beiden Schwestern Ophelia und Daphne aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben fröhlich weiter, als hätte es mich nie gegeben.

Sie hatten mich längst vergessen. Dessen war ich ganz sicher.

Lediglich die treuen Bediensteten der Familie, Dogger und Mrs. Mullet, würden bei meiner Abreise eine verstohlene Träne vergossen haben, doch auch sie würden sich schon bald nur noch nebelhaft an Flavia erinnern.

Hier draußen auf dem Atlantik hob sich der Bug der Scythia höher … und höher … und noch höher aus den Wogen, stieg Übelkeit erregend himmelwärts, um dann mit schaurig hohlem Dröhnen in die Tiefe zu stürzen und zu beiden Seiten von Bug und Heck gewaltige weiße Gischtschwingen auszubreiten. Es war, als ritte man ohne Sattel auf einem riesigen Engel aus Stahl, der gerade Brustschwimmen übte.

Obwohl es erst Anfang September war, toste und tobte das Meer ringsum in wildem Aufruhr. Wir waren in die Ausläufer eines Tropensturms geraten und wurden schon seit über zwei Tagen wie ein Flaschenkorken hin- und hergeworfen.

Allem Anschein nach hatten sich alle außer dem Kapitän und mir in ihre Kabinen verkrochen, sodass man, wenn man auf dem Weg zum Abendessen durch die Gänge taumelte, nur das metallische Ächzen des gemarterten Schiffsrumpfes hörte und hinter den geschlossenen Türen links und rechts die Würgelaute, mit denen sich unzählige Mägen entleerten. Bei fast neunhundert Passagieren an Bord war das eine ernüchternde Geräuschkulisse.

Ich selbst bin offenbar mit einer natürlichen Immunität gegen Seekrankheit gesegnet, was ich vermutlich meinen zur See fahrenden Ahnen wie zum Beispiel Thaddeus de Luce zu verdanken habe, der, wie es heißt, als blutjunger Bursche bei der Schlacht von Trafalgar dem sterbenden Admiral Nelson Zitronenwasser gebracht und ihm die feuchtkalte Hand gehalten hatte.

Tatsächlich lauteten Nelsons letzte Worte nicht, wie so oft zitiert, »Küss mich, Hardy« und waren an Thomas Hardy, den Kapitän der Victory, gerichtet, vielmehr wandte er sich mit der flehentlich geflüsterten Aufforderung »Trinken, trinken … fächeln, fächeln … massieren, massieren« an den verdutzten jungen Thaddeus, der beim Anblick seines tödlich verwundeten Helden tapfer mit den Tränen kämpfte und sein Möglichstes tat, den Kreislauf des großen Mannes in Gang zu halten.

Der Wind riss an meinen Haaren und zerrte an meinem dünnen Herbstmantel. Ich sog die salzige Luft so tief in die Lunge, wie ich mich traute. Die Gischt lief mir in Sturzbächen übers Gesicht.

Da packte mich jemand unsanft am Arm.

»Bist du verrückt geworden? Was hast du hier draußen zu suchen?«

Ich fuhr erschrocken herum und versuchte mich loszureißen.

Es war Ryerson Rainsmith – wer sonst?

»Was zum Teufel hast du hier draußen zu suchen?«, wiederholte er barsch. Er gehörte zu jenen Leuten, die glaubten, dass sie überzeugender wirkten, wenn sie jede Frage zweimal stellten.

Darauf reagierte man am besten, indem man ihnen einfach nicht antwortete.

»Ich habe dich überall gesucht. Dorsey ist außer sich vor Sorge.«

»Soll das heißen, dass ich jetzt zwei Dorseys ertragen muss?«, hätte ich am liebsten gefragt, beherrschte mich aber.

Wenn eine Frau mit Vornamen »Dorsey« heißt, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn der eigene Ehemann sie zärtlich »Dödelchen« nennt – zumindest, wenn er sich unbeobachtet glaubt.

»Wir hatten schon Angst, du wärst über Bord gefallen. Komm sofort mit unter Deck und zieh dir in deiner Kabine trockene Sachen an. Du siehst ja aus wie eine ertrunkene Ratte.«

Das ging jetzt aber eindeutig zu weit!

Ryerson Rainsmith, dachte ich voller Ingrimm, deine Tage – ja, deine Stunden – sind gezählt!

Ich würde den jungen, gut aussehenden Schiffsarzt aufsuchen, dessen Bekanntschaft ich gestern beim Abendessen gemacht hatte, und ihn unter dem Vorwand, ich hätte eine Magenverstimmung, um ein Fläschchen Natriumhydrogencarbonat, also Natron, bitten. Eine tüchtige Dosis von dem Zeug in Rainsmiths unvermeidlicher Champagnerflasche würde ihre Wirkung nicht verfehlen.

Auf vollen Magen eingenommen – worauf man sich bei Ryerson Rainsmith stets verlassen konnte! – war Natron in Kombination mit schäumendem Alkohol potenziell tödlich. Zuerst setzten Kopfschmerzen ein, die von Minute zu Minute schlimmer wurden, dann verwirrte sich der Geist und der Betreffende bekam heftige Magenschmerzen. Es folgten Muskelschwäche und kaffeesatzähnlicher Durchfall sowie Zittern und Krämpfe – die klassischen Symptome einer Alkalose. Ich würde darauf bestehen, mit Ryerson an Deck zu gehen, und behaupten, etwas Bewegung im Freien werde ihm guttun. In Wahrheit würden die körperliche Anstrengung und das hastige Einatmen der kalten, belebenden Luft den Prozess noch beschleunigen, als würde man Petroleum ins Feuer kippen.

Wenn es mir gelang, den pH-Wert seines arteriellen Blutes auf 7,65 hochzutreiben, standen seine Überlebenschancen ungefähr so gut wie die eines Schneemanns in der Hölle. Er würde einen qualvollen Tod sterben.

»Ich komme«, sagte ich mürrisch und folgte ihm im Tempo einer schläfrigen Schnecke über das krängende Vorderdeck.

Kaum zu glauben, ging es mir dabei durch den Kopf, dass man mich allen Ernstes diesem abstoßenden Vertreter des Menschengeschlechts anvertraut hatte. Allerdings konnte ich mich nur allzu gut daran erinnern, wie es dazu gekommen war.

Alles hatte mit jener schrecklichen Geschichte um meine Mutter angefangen. Nachdem sie zehn Jahre lang im tibetischen Himalajagebirge verschollen gewesen war, war Harriet unter so schmerzlichen Begleitumständen nach Buckshaw zurückgekehrt, dass mir mein Hirn immer noch untersagte, länger als ein paar Sekunden am Stück daran zu denken. Eine Sekunde zu viel, und mein innerer Zensor schnitt den Erinnerungsfaden so energisch durch, wie Atropos, die gefürchtete älteste Schwester der drei griechischen Schicksalsgöttinnen, den Lebensfaden jener Menschen durchtrennt haben soll, deren Zeit abgelaufen war.

Das Ende vom Lied war, dass ich auf Miss Bodycotes Höhere Mädchenschule in Kanada geschickt werden sollte, die auch Harriet einst besucht hatte. Dort sollte ich auf eine in unserer Familie seit Generationen überlieferte Aufgabe vorbereitet werden, über die man mich immer noch weitestgehend im Dunkeln ließ.

»Du wirst ganz einfach lernen, in deine Rolle hineinzuwachsen«, hatte Tante Felicity gesagt. »Im Lauf der Zeit begreifst du dann schon, dass die Pflicht die beste und klügste Lehrmeisterin ist.«

Mir war zwar nicht ganz klar, was sie damit meinte, aber da meine Tante bei diesem mysteriösen Was-auch-immer ziemlich weit oben mitmischte, verbot sich jede Diskussion.

»Es ist so ähnlich wie mit der ›Firma‹, oder?«, hatte ich gefragt. Diesen Spitznamen hatte sich das englische Königshaus selbst gegeben.

»So ähnlich«, hatte Tante Felicity erwidert, »aber mit einem entscheidenden Unterschied: Ein Mitglied des Königshauses kann abdanken. Unsereiner nicht.«

Meiner Tante hatte ich es auch zu verdanken, dass ich wie ein Bündel alter Lumpen verpackt und auf ein Schiff nach Kanada verfrachtet wurde.

Natürlich waren Einwände dagegen laut geworden, dass ich allein reiste, vor allem von Seiten des Vikars und seiner Frau. Daraufhin hatte man zunächst erwogen, dass Feely und ihr Verlobter Dieter Schrantz mich bei meiner Atlantiküberquerung begleiten sollten. Dieser Einfall wurde jedoch gleich wieder fallen gelassen, und zwar nicht nur aus Gründen des Anstands, sondern vor allem deshalb, weil Feely als Organistin in St. Tankred unabkömmlich war.

Daraufhin hatte sich Cynthia Richardson, die Frau des Vikars, höchstpersönlich als meine Begleiterin ins Spiel gebracht. Unsere Beziehung hatte so einige Höhen und Tiefen erlebt, doch in letzter Zeit waren wir gute Freundinnen geworden – eine mir noch immer schleierhafte und höchst unerwartete Wendung meines Lebens. In Abwesenheit ihres Gatten sprudelte Cynthia vor Ausgelassenheit förmlich über und wurde unversehens wieder zu einem jungen Mädchen. Der Vikar wäre entsetzt gewesen, hätte er gewusst, wie viel Tee wir schon unter hysterischem Gelächter auf den Schieferfußboden der Pfarrhausküche geprustet hatten.

Leider war auch Cynthia schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Rennen gewesen. Bishop’s Lacey konnte genauso wenig auf sie verzichten wie auf Feely. Ohne Cynthia hätte es kein Gemeindeblatt gegeben, keine Hausbesuche, keine Pfadfinderinnentreffen, keine gestärkten Talare und Chorhemden, keine warmen Mahlzeiten für den Vikar – eine nicht enden wollende Liste.

Ich wusste, dass sie enttäuscht war. Sie hatte es mir selbst gesagt.

»Ich hätte mir Kanada furchtbar gern einmal angesehen«, hatte sie mir gestanden. »Mein Vater war als junger Mann Flößer auf dem Ottawa. Statt Gutenachtgeschichten hat er mir immer Schauermärchen vom Loup-Garou erzählt, dem Werwolf der kanadischen Wälder … und davon, wie er Ole Bull und Big Jacques Laroque beim Baumstammrollen über die Rapides des Alumettes nass gemacht hat, und zwar beide am selben Vormittag. Ich habe immer davon geträumt, mir eines Tages selbst ein Paar genagelte Flößerstiefel zu schnüren und es auch mal zu versuchen«, hatte sie wehmütig hinzugesetzt. »Aber dazu werde ich jetzt wohl keine Gelegenheit mehr haben.«

Ich hätte heulen können, wie ich sie so am Küchentisch des Pfarrhauses sitzen sah, den tränenfeuchten Blick in die Vergangenheit gerichtet.

»Es ist bestimmt nicht weniger tollkühn, die Damen der Gemeinde für den Blumenschmuck auf dem Altar einzuteilen«, hatte ich spaßhaft gesagt und gehofft, sie damit aufmuntern zu können, aber ich glaube, sie hörte gar nicht hin.

Am selben Nachmittag hatte Tante Felicity verkündet, das Problem sei nunmehr gelöst. Sie hatte erfahren, dass sich der Vorsitzende des Beirates von Miss Bodycotes Schule, der den Sommer in England verbracht hatte, im September wieder nach Kanada einschiffen würde.

Er war für einen kurzen Jagdurlaub zu Gast bei unserem Nachbarn Lord Crowsborough gewesen und hatte versichert, es mache ihm überhaupt nichts aus, vor seiner Abreise bei uns vorbeizukommen und mich mitzunehmen – als wäre ich eine leere Milchflasche.

Nie werde ich den Tag vergessen, an dem er in seinem geliehenen Bentley auf Buckshaw eintraf, mit anderthalb Stunden Verspätung übrigens. Er war aus dem Wagen gesprungen und auf die andere Seite gerannt, um Dorsey, der Königin von Saba, die Tür aufzuhalten. Sie hatte sich aus dem Fahrzeug entfaltet wie ein Storch aus der Eierschale, bis sie funkelnd in der Septembersonne stand, als wäre sie eben erst aus einer Hypnosetrance erwacht. Sie war in ein türkisfarbenes Seidengewand gehüllt, hatte ein farblich passendes Tuch um den Kopf gewunden und entschieden zu viel blaustichigen Lippenstift aufgetragen. Muss ich noch weiter ausholen?

»Oh, Ryerson«, hatte sie beim Anblick unseres ehrwürdigen Stammsitzes gesäuselt, »es ist genauso reizend – so malerisch heruntergekommen –, wie du es mir beschrieben hast.«

Ryerson Rainsmith, der einen Sommeranzug in der Farbe kalten Kaffees mit geronnener Milch trug, hatte die Daumen in seine gelbe Weste gesteckt, mit den übrigen Fingern auf seinen feisten Wanst getrommelt und sich selbstzufrieden umgeschaut. Ich musste unwillkürlich an ein wohlgenährtes Rebhuhn denken.

Vater, der zur Vordertür gekommen war, um ihn zu begrüßen, trat nun auf den kiesbestreuten Vorplatz hinaus und schüttelte ihm die Hand.

»Colonel de Luce, nehme ich an«, sagte Rainsmith, als hätte er soeben eins der großen Welträtsel gelöst. »Darf ich Ihnen meine Frau Dorsey vorstellen? Komm her und schüttele dem Colonel die Hand, Schatz. So eine Gelegenheit hat man nicht alle Tage.«

Nach einer kleinen Pause setzte er ein humorloses »Ha-ha-ha« hinzu und krähte dann: »Und das hier muss unsere kleine Flavia sein!«

Der Mann war so gut wie tot.

»Mr. Rainsmith«, sagte er und hielt mir die schweißfeuchte Hand unter die Nase.

Dogger hatte mich vor jedem Mann gewarnt, der sich selbst als »Mister« vorstellte. »Mister« sei ein Ehrentitel, hatte er gemeint, eine Anrede, mit der einem andere Menschen ihren Respekt bezeugten, aber niemals, absolut niemals sprach man selbst in dieser Form von sich.

Ich übersah die ausgestreckte Hand geflissentlich.

»Wie geht’s, wie steht’s?«, sagte ich stattdessen.

Vater zuckte zusammen. Ich wusste genau, was in ihm vorging.

Mein Vater stammte noch aus einer Epoche, in der Höflichkeit für einen Gentleman das höchste Gut war und man sich unter keinen Umständen die Blöße gab, die Haltung zu verlieren und sich anmerken zu lassen, dass man gekränkt war. In den Jahren, die er in einem japanischen Kriegsgefangenenlager verbracht hatte, hatte er die Fähigkeit, jede Beleidigung reglos wie ein steinernes Standbild über sich ergehen zu lassen, geradezu zur Kunstform erhoben.

»Treten Sie bitte ein«, sagte er nun und wies auf die offene Tür. Am liebsten hätte ich ihn vors Schienbein getreten … und gleichzeitig wollte ich ihn umarmen. Der Stolz auf die eigenen Eltern nimmt manchmal seltsame Formen an.

»Was für eine entzückende Eingangshalle!«, rief Dorsey Rainsmith aus. Ihr Tonfall war beißend wie alter Käse, und ihre Worte hallten misstönend von der dunklen Deckenvertäfelung wider. »In unserem Empfangszimmer zu Hause in Toronto haben wir den gleichen Ärger mit abblätterndem Lack, nicht wahr, Ryerson? Smithers, unser Hausmeister, meint, die Ursache sei entweder übergroße Hitze oder übergroße Kälte.«

»Oder das Alter«, warf ich ein.

Vater sah mich scharf an, sagte aber nichts. Ich wusste auch so, was er meinte.

Im Salon ließen sich die Rainsmiths unaufgefordert in den bequemsten Sesseln nieder, während Vater und ich auf den Vorderkanten der verbliebenen Stühle hockten.

Nach einer perfekt bemessenen kleinen Pause erschien Dogger und servierte Tee. Die Rainsmiths waren sichtlich beeindruckt.

»Danke schön, Dogger«, sagte ich. »Und richte bitte auch Mrs. Mullet unseren Dank aus.«

Es war ein Spiel zwischen Dogger und mir. Ein Spiel, dessen Regeln so verzwickt waren, dass niemand, der nicht zur Familie gehörte, es jemals durchschauen würde.

»Keine Ursache, Miss Flavia«, gab Dogger zurück. »Wir sind Ihnen mit dem größten Vergnügen zu Diensten.«

»Ja, vielen Dank, Dogger«, sagte daraufhin auch Ryerson Rainsmith. Er war mit der Situation heillos überfordert, strampelte aber tapfer, um sich über Wasser zu halten.

»Und schönen Dank auch an Mrs. Mullet«, schloss seine Frau sich ihm an.

Dogger schenkte den beiden ein dreiprozentiges Lächeln und löste sich auf seine unnachahmliche Art in Luft auf.

Nach einer Weile gesellten sich Daffy und Feely zu uns. Sie taten so, als seien sie untröstlich bei der Vorstellung, mich zu verlieren, und plauderten aufreizend höflich mit den Rainsmiths, bis sie sich schließlich wieder hinter ihr Buch beziehungsweise ihren Spiegel zurückzogen.

Aber es hat keinen Sinn, jetzt noch in der Asche jenes unseligen Nachmittags herumzustochern.

Man kam überein, dass die Rainsmiths auf der Reise nach Kanada meine Aufpasser sein und mich wohlbehalten auf der Schwelle von Miss Bodycotes Höherer Mädchenschule absetzen sollten.

»Aufpasser?«, meinte Daffy, als die beiden gegangen waren. »Fremdenführer meinst du wohl! Flavia auf Weltreise – nicht zu fassen! Hoffentlich weißt du das auch zu würdigen, du elender Glückspilz. Ich würde alles dafür geben, in deinen Turnschuhen zu stecken.«

Ich griff mir einen herumliegenden Tennisschläger und warf ihn nach ihr, traf aber leider nicht.

Trotzdem fehlte mir Daffy, als ich jetzt im Schlepptau von Ryerson Rainsmith über das abschüssige Deck trottete. Immerhin war sie mein eigen Fleisch und Blut, und man konnte sich ihr widersetzen, ohne dass man dauerhaften Schaden anrichtete. Im Gegensatz dazu würde Ryerson Rainsmith diesen Augenblick wohl sein Lebtag nicht vergessen. Wahrscheinlich würde er noch seinen grässlichen Enkeln davon erzählen, wenn er selbst schon als verschrumpelter Mummelgreis im Rollstuhl saß.

»Und da war sie … endlich hatte ich sie gefunden«, würde er mit zittriger, brüchiger Stimme verkünden. »Sie stand ganz vorn im Bug des Schiffes, und die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen.«

Im Gegensatz dazu sprach er jetzt kein Wort, bis wir wieder unter Deck waren und wie ungelenke Aufziehpuppen durch die schwankenden Gänge zur Luxuskabine der Rainsmiths torkelten. Anscheinend hatte er schon wieder vergessen, dass er mir aufgetragen hatte, mich sofort umzuziehen. Oder aber er lieferte mich absichtlich triefnass bei seiner Gattin ab.

»Ich geb dir einen guten Rat«, flüsterte er verschwörerisch, als wären wir mit einem Mal alte Freunde. »Reize sie nicht.«

Er klopfte, dann öffnete er die Tür und bedeutete mir, als Erste hineinzugehen.

So wie Dorsey Rainsmith mich ansah, hätte ich eine Kobra sein können, die ihr jemand unter die Nase hielt.

»Was hast du denn gemacht?«, fragte sie. »Jetzt schau dich bloß mal an!«

Mädchen meines Alters müssen sich diese Aufforderung ziemlich oft anhören, ohne dass sich jemand klarmacht, wie schwer sie eigentlich umzusetzen ist.

Ich schielte an mir herunter, aber falls sie es überhaupt mitbekam, war die Anspielung zu hoch für sie.

»Wo hast du denn gesteckt?«, wollte sie wissen.

»An Deck.«

»Wozu?«

»Frische Luft.«

»Du hättest über Bord gehen können. Hast du daran gar nicht gedacht?«

»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Mir hätte natürlich auch ein abstürzender Albatros auf die Birne fallen und mich erschlagen können, aber das sagte ich nicht.

Was hatte die Frau bloß an sich, dass sie mir so entsetzlich auf die Nerven ging? Eigentlich bin ich ein sehr toleranter Mensch, aber Dorsey Rainsmith brachte in mir das genaue Gegenteil zum Vorschein.

Ich glaube, es lag daran, dass sie ihren Ehemann auf weniger als ein Komma reduziert hatte.

Es gibt ein Wort, das meine Schwester Daffy benutzt, wenn sie besonders vernichtend über jemanden urteilt: »servil«. Dieses Wort hätte eigens erfunden sein können, um das Verhalten zu beschreiben, das Ryerson Rainsmith gegenüber seiner Gattin an den Tag legte. Er schleimte und katzbuckelte, dass einem übel werden konnte.

Ich drehte mich nach ihm um. Er stand immer noch in der Kabinentür, als fürchtete er sich vor seiner Frau und traute sich nicht einzutreten. Er hatte mich ihr abgeliefert, wie eine Katze ihrem Frauchen einen toten Vogel zu Füßen legt. Jetzt wartete er darauf, dass sie ihm das Köpfchen tätschelte – oder ihm ein Schüsselchen Rahm vorsetzte.

Sie tat weder das eine noch das andere.

»Was machen wir bloß mit dir?«, seufzte sie, als lastete das Gewicht des gesamten britischen Weltreichs auf ihren Schultern.

Ich tat, was von mir erwartet wurde. Ich zuckte die Achseln.

»Dr. Rainsmith ist tief enttäuscht von dir«, fuhr sie fort, als wäre er überhaupt nicht anwesend. »Und Dr. Rainsmith kann nicht zulassen, dass man ihn so enttäuscht.«

Dr. Rainsmith? Er hatte sich mir doch als »Mr.« vorgestellt! Als Beiratsvorsitzender von Miss Bodycotes Schule konnte er natürlich Doktor der Pädagogik sein, vielleicht auch Doktor der Theologie. Jedenfalls hatte ich nicht vor, ihn mit irgendeinem albernen Titel anzureden.

»Geh in deine Kabine und zieh dich um. Und bleib dort, bis dich jemand holen kommt.«

Geh auf dein Zimmer. Die klassische Reaktion eines Erwachsenen, der mit seinem Latein am Ende ist.

Schachmatt! Halleluja! Spiel, Satz und Sieg!

Ich hatte gewonnen.

Am nächsten Morgen stand ich am Bug, genauer gesagt vorne an der Steuerbordreling, schwenkte meinen Hut im Wind und sang, um mich aufzumuntern, lauthals: »Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen«, als ich aus dem Augenwinkel Ryerson Rainsmith entdeckte. Kaum hatte er mich erblickt, bog er jäh ab und verzog sich nach achtern.

Was unser Verhältnis für den Rest der Reise ziemlich treffend ausdrückte.

Als wir ein paar Tage darauf in den Hafen von Halifax einliefen, wies Dorsey mich an, mir die Nase zu putzen. Das war meine erste Begegnung mit der Neuen Welt.

In Quebec City gingen wir an Land. Ein kanadischer Zollbeamter in schwarzer Uniform fragte mich nach dem Zweck meines Aufenthalts.

»Strafkolonie«, erwiderte ich knapp. Er zog die Augenbrauen hoch, sah die Rainsmiths mitfühlend und kopfschüttelnd an und knallte einen Stempel in meinen Pass.

Erst in diesem Augenblick wurde mir so richtig bewusst, wie weit weg von zu Hause ich war. Allein in einem fremden Land.

Unerklärlicherweise brach ich in Tränen aus.

»Na, na«, machte Ryerson Rainsmith, sah dabei aber nicht mich an, sondern den Zollbeamten.

»Das kleine englische Mädchen hat wohl Heimweh«, sagte der Beamte, ging vor mir in die Hocke und trocknete mir mit einem riesigen weißen Taschentuch die Augen.

Für diese Feststellung musste er kein großartiger Detektiv sein, denn er hatte bereits in unsere Pässe geschaut und wusste, dass ich nicht das Kind der beiden war. Was führte er also dann im Schilde? Gehörte diese Inspektion aus nächster Nähe zu seiner routinemäßigen Suche nach Schmuggelware?

Ganz kurz liebäugelte ich mit dem Gedanken, eine Ohnmacht vorzutäuschen und anschließend lautstark nach einem belebenden Schluck aus einer der sechs Flaschen Gordon’s Gin zu verlangen, die – neben anderen zu verzollenden Waren – im doppelten Boden des Rainsmithschen Überseekoffers versteckt waren.

Fragen Sie mich jetzt nicht, woher ich das wusste. Es gibt in meinem Leben ein paar Dinge, auf die ich immer noch nicht stolz bin.

»Kopf hoch!«, sagte der Beamte, hob mit dem gekrümmten Zeigefinger mein Kinn an und schaute mir in die Augen. Schmunzelnd sagte er zu den Rainsmiths: »Ich hab auch so eine zu Hause.«

Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihm das nicht ganz, rang mir aber ein mattes Lächeln ab.

Trotzdem … was für eine dämliche Bemerkung! Und wenn er zu Hause hundert Töchter hatte, die in hundert seidene Taschentücher schluchzten, was ging mich das an, bitte schön?

Eine der Sachen, die mir am Erwachsenwerden Angst machen, ist der Umstand, dass einem die Sentimentalität früher oder später die einfachste Logik vernebelt. Unechte Gefühle verkleben einem das Hirn wie Honig, den man in die komplizierte Mechanik eines kostbaren Uhrwerks gießt.

Ich habe dieses Phänomen bei den Erwachsenen meiner Umgebung immer wieder beobachtet. Wenn alles andere nichts mehr half, konnten sie sich immer noch mit einem tüchtigen Tränenausbruch aus der Klemme helfen. Das war nicht nur reiner Instinkt, nein, es war mehr als das. Es hat mit den ölhaltigen chemischen Stoffen zu tun, die ein weinender Mensch absondert. Irgendwelche hochempfindlichen Sensoren in der Nase reagieren auf den veränderten Hormon- und Eiweißspiegel des von seinen Gefühlen überwältigten Menschen – vor allem des weiblichen.

Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, eine kleine Abhandlung über dieses spannende Thema zu verfassen – Tränen im Reagenzglas –, war aber nicht mehr dazu gekommen, weil man mich mir nichts, dir nichts aus dem Stammsitz meiner Ahnen hinausgeworfen hatte. Allein bei der Vorstellung, dass ich mich vom prachtvollen Chemielabor meines verstorbenen Onkels Tarquin mit seinen unzähligen glänzenden Glasbehältern, dem herrlichen alten Leitz-Mikroskop, den Reihen von Fläschchen mit Chemikalien und großartigen Giften hatte trennen müssen, kamen mir erneut die Tränen – sodass alles wieder von vorn losging.

In jenem stillen Raum, in den das Tageslicht durch hohe Fenster hereinfiel, und mit der Hilfe von Onkel Tars Notizbüchern und seiner Fachbibliothek hatte ich mich selbst zur Chemikerin ausgebildet und mich damit ein für alle Mal vom Rest der Menschheit abgesondert.

Dass ich zu Anfang meiner Studien noch ein Kind gewesen war, spielte keine Rolle. Inzwischen war ich zwölf und hatte ein bemerkenswertes Geschick in der Kunst erworben, mit den »Krümeln des Universums« zu jonglieren, wie Onkel Tar es einmal genannt hatte.

»Tut mir leid«, schniefte ich. »Es ist einfach über mich gekommen. Entschuldigung.«

Der Bann war gebrochen. Der Augenblick war vorüber, und wir waren wieder in die schnöde kalte Welt zurückgekehrt.

Der Zollbeamte stand auf und vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass niemand seinen Anflug von Schwäche mitbekommen hatte.

»Der Nächste bitte!«, rief er und kritzelte sein Kreidezeichen auf unser Gepäck.

Während sich Ryerson Rainsmith am Bahnschalter nach Fahrkarten anstellte, nahm ich ein Streckennetz und einen Fahrplan aus einem Ständer. Die Entfernung zwischen Quebec City und Toronto betrug fünfhundert Meilen, stellte ich fest. Über die Hälfte der Strecke von Land’s End nach John o’Groats.

Wir würden neun Stunden unterwegs sein und erst spätabends, gegen elf Uhr, in Toronto eintreffen.

Dorsey Rainsmith hatte sich hinter einem Taschenbuch aus dem Zeitungskiosk verschanzt. Die Rache ist mein, lautete der Titel des Romans, der von einem gewissen Mickey Spillane verfasst war. Sie versuchte, die Schwarte in der gefalteten Montreal Gazette zu verstecken, aber ich hatte schon einen Blick auf das Umschlagbild erhascht. Ein Mann mit Trenchcoat und breitkrempigem Hut hielt eine anscheinend leblose Blonde in den Armen. Ihr weißes Seidenkleid war bis zum Rachenzäpfchen hochgeschoben.

Der Titel war ein Bibelzitat. Es war mir selbst des Öfteren in den Sinn gekommen, wenn ich mal wieder Pläne geschmiedet hatte, meinen Schwestern eine Lektion zu erteilen. Quer über dem Umschlag prangte Werbung für weitere Bücher des Autors mit Titeln wie: Ich, der Richter und Meine Kanone sitzt locker.

Die Titel übten auf mich eine seltsam befriedigende Wirkung aus, warum, wusste ich selbst nicht recht.

»Einsteigen bitte!«, rief der Schaffner.

Ich lernte schnell. Zu Hause in England hatten nur Busse und Straßenbahnen Schaffner, in der Bahn fuhr ein Zugbegleiter mit. Hier in Kanada hieß auch Letzterer »Schaffner«, und in den Waggons, die hier »Wagen« hießen, gab es keine abgetrennten Abteile, die nur nach außen zum Bahnsteig hin zu öffnen waren, sondern die Sitze waren zu beiden Seiten eines Mittelganges aufgereiht.

Ich kam mir vor, als wäre ich eingeschlafen und als Alice im Wunderland wieder aufgewacht. Alles war überlebensgroß, und alle fuhren auf der falschen Straßenseite.

Kein Wunder, dass es »Neue Welt« hieß.

Endlich setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung, und die Reise ging weiter. Ich musste den Rainsmiths gegenübersitzen, als hockte ich im Old Bailey auf der Anklagebank vor zwei griesgrämigen alten Richtern.

Nach fünfzig Meilen himmlischer Ruhe beschloss Ryerson Rainsmith, etwas für meine Bildung zu tun. Er entfaltete ebenfalls eine Eisenbahnkarte und las jedes Mal, bevor wir in einen Bahnhof einfuhren, den Namen der betreffenden Stadt vor. »Val-Alain, Villeroy … Parisville … St. Wenceslas …«

Ich gähnte verstohlen.

Er machte unbeirrt weiter, die ganze Strecke von St. Léonard de Nicolet über St. Perpétue, St. Cyrille, St. Germain, St. Eugene, St. Edward, St. Rosalie, St. Hyacinthe, St. Madeleine, St. Hilaire, St. Hubert und St. Lambert, bis ich hätte schreien können. Eine Zeit lang tat ich so, als wäre ich eingeschlafen, aber das half auch nichts. Er beugte sich vor, packte mich am Arm und schüttelte mich wie ein Terrier ein Kaninchen.

»Erdkunde kann richtig Spaß machen, Flavia«, sagte er. »Lass dich doch mal darauf ein!«

Dorsey nahm kaum die Nase aus ihrem Reißer. Sie blickte nur ein einziges Mal auf und fragte: »Was bedeutet eigentlich ›sich entleiben‹, Ryerson?«

Er wurde leichenblass, und sein Gesicht sah aus, als führte sein Hirn einen Ringkampf mit seinen Mandeln auf. Er zog ein Taschentuch aus der Weste und wischte sich übers Gesicht, dann sagte er nur: »Nicht vor dem Kind.«

Dorsey widmete sich wieder ihrer Lektüre, als hätte sie gar nicht hingehört.

Ich hätte ihr erklären können, dass »sich entleiben« dasselbe bedeutete wie »Selbstmord begehen«, aber ich hatte keine Lust.

Ryerson griff eilig wieder nach seinem Streckennetz und las die Namen der Bahnhöfe vor, durch die wir im Lauf des Tages noch durchfahren würden, nur dass er diesmal die zurückzulegenden Meilen sowie die Ankunfts- und Abfahrtszeiten aus dem Fahrplan anfügte.

Als wir endlich im Hauptbahnhof von Montreal ankamen, hatte sich mein Hirn komplett in Wackelpudding verwandelt.

Zum Glück mussten wir nicht nur in einen anderen Zug umsteigen, sondern dieser fuhr auch von einem anderen Bahnhof ab, und mein selbst ernannter Erdkundelehrer hatte die folgenden vier Stunden damit zu tun, Taxifahrern in herablassendem Ton Anweisungen zu erteilen sowie Schalterbeamte und Kofferträger zu beschimpfen, sodass sich meine Ohren ein bisschen erholen konnten.

Doch nur allzu bald fuhren wir weiter.

»Auf nach Westen!«, hätte ich am liebsten gejohlt.

Ich konnte die Ankunft in Toronto kaum erwarten – nicht nur deshalb, weil ich dann am Ziel war, sondern vor allem, weil ich dort endlich diesen Kerl loswurde, den ich inzwischen heimlich »Lord Labertasche« getauft hatte.

Wir glitten gemütlich – von Ryerson mal abgesehen – am Ufer des breiten Sankt-Lorenz-Stromes entlang, der mit so vielen Inseln übersät war wie der Himmel mit Sternen. Auf manchen dieser Eilande standen einsame Häuser in beneidenswerter Abgeschiedenheit.

Ich beschloss, beim nächsten Halt aus dem Zug zu springen. Ich würde zu einer jener Inseln hinüberschwimmen und dort als eine moderne Ausgabe von Robinson Crusoe leben. Kanada war eine riesige Wildnis. Niemand würde mich jemals finden.

»Sieh mal da drüben, Flavia!« Ryerson zeigte auf eine Burg mit grauen Mauern, vielleicht aus Kalkstein. »Das ist die Arrestanstalt von Kingston.«

»Wo du eines Tages enden wirst, wenn du nicht lernst, dich zu benehmen.« Dorsey hatte abermals von ihrem blutrünstigen Kriminalroman aufgeschaut.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was eine Arrestanstalt war, aber das Wort klang mir ganz nach einer treffenden Umschreibung meiner derzeitigen Lage, und ein paar kostbare Augenblicke lang stellte ich mir vor, wie ich hinter den hohen Mauern jener unwirtlichen Festung Schutz vor den Rainsmiths fand.

Die Stunden schlurften mit schweren, in Ketten gelegten Füßen dahin.

Vor den Zugfenstern rauschte Kanada vorüber wie auf einem sich drehenden Plattenteller. Das Land schien aus erstaunlich viel Wasser zu bestehen.

Dann wurde es dunkel, und alles, was ich noch sah, war das Spiegelbild der Rainsmiths in der Fensterscheibe. Dorsey war eingeschlafen. Ihr Hals war so verrenkt, als hinge sie an einem Strick, und ihr Mund stand auf eine so abstoßende Weise offen, dass mir der Anblick außerordentlich gut gefiel.

Ich stellte mir vor, sie sei die Mörderin Edith Thompson, deren ungewöhnlich gewaltsame Hinrichtung den amtlichen Henker John Ellis in den Selbstmord getrieben hatte.

Jetzt bildete sich ein Speichelfaden in ihrem Mundwinkel. Der Tropfen am Ende schwang im Takt mit dem Stampfen des Zuges hin und her wie eine akrobatische Spinne. Ich überlegte noch, ob das den Eindruck einer Gehängten eher verstärkte oder verdarb, als Ryerson mich am Arm fasste.

Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen.

»Wir sind gleich da«, verkündete er im Flüsterton, um seine schlummernde Gattin nicht zu stören.

Er war genauso wenig darauf erpicht, sie zu wecken, wie ich.

Ich wandte mich wieder ab und betrachtete die erleuchteten Fenster, die nun draußen vorbeiglitten. Fenster, hinter denen unzählige Mütter in unzähligen Küchen Essen kochten, unzählige Väter in unzähligen bequemen Sesseln Zeitung lasen, unzählige Kinder an unzähligen Tischen schrieben oder malten, dazu hier und dort, wie eine Kerze in der Einöde, das einsame bläuliche Geflacker eines kleinen Fernsehbildschirms.

Es war alles so unerträglich traurig.

Konnte es wirklich noch schlimmer kommen?