© Stuart Daly
DER AUTOR
Stuart Daly hat bereits erfolgreich Jugendbücher veröffentlicht. Mit der Reihe »Animal Guardians« erscheint nun eine spannungsgeladene Fantasyserie für Kinder. Stuart Daly lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Sydney, wo er, wenn er gerade mal nicht schreibt, als Geschichtslehrer an einer privaten Highschool tätig ist.
Stuart Daly
Animal Guardians
Die Hüter von Andalon
Aus dem Englischen
von Michael Koseler
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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Deutsche Erstausgabe
Erstmals als cbj Taschenbuch Januar 2016
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2014 by Stuart Daly
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Brotherhood of Thieves – The Wardens« bei Random House Australia Pty Ltd.
Übersetzung: Michael Koseler
Lektorat: Bernd Stratthaus
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung einer Illustration von Melanie Miklitza, Inkcraft
cl · Herstellung: ReD
Satz: Buchwerkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-17027-1
www.cbj-verlag.de
Für meine Brüder
Gavin und Warren
KAPITEL EINS
Eine zufällige Begegnung
Caspan rannte um sein Leben.
Als der laute Warnruf ertönte, geriet der ganze Markt in Aufruhr. Der junge Straßenräuber flitzte zwischen den Wagen und Ständen hindurch, um von dem Mann wegzukommen, dessen Geldbeutel er gerade gestohlen hatte. Caspan war sich sicher, gesehen zu haben, dass Angehörige der Stadtwache aus allen Richtungen herbeiliefen, doch er war fest entschlossen, sich nicht fangen zu lassen. Diebstahl wurde in Floran mit dem Tod bestraft. Er wollte seinen Kopf aber lieber noch ein Weilchen behalten.
Erst als er die Menge hinter sich gelassen und eine ruhige Seitengasse erreicht hatte, blieb der Dieb stehen, um festzustellen, ob er verfolgt wurde. In diesem Moment nahm er aus den Augenwinkeln etwas Rotes wahr. Gerade noch rechtzeitig drehte er sich zur Seite und erblickte einen Stadtwächter mit scharlachrotem Umhang, der auf dem Balkon eines Gildehauses stand und mit der Armbrust auf ihn zielte. Caspan duckte sich instinktiv, sodass der tödliche Bolzen knapp über seinen Kopf hinwegzischte. Dann setzte er seine Flucht fort – nur um in einen Wächter zu rennen, dessen Abzeichen in Form eines Adlers ihn als Hauptmann der Stadtwache auswies. Kaum trafen sich ihre Blicke, da streckte der Mann auch schon die Hand aus, um Caspan zu packen. Doch der Dieb war schneller und rammte dem Wächter das Knie in den Schritt. Während der Hauptmann zu Boden ging, sprintete Caspan zum Ende der Gasse, wo er über die Fassade eines Gebäudes auf dessen Dach kletterte.
Caspan verfluchte seine Fahrlässigkeit. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, dem er vertraute, und das war er selbst. Er war als Straßenjunge in den verwinkelten Gassen von Floran aufgewachsen und hatte nur aufgrund seiner Gerissenheit und seiner Fingerfertigkeit überlebt. Jetzt – mit fünfzehn – war er einer der gewieftesten Diebe der Stadt. Er konnte so leise schleichen wie eine Katze, und seine schlanken Finger schafften es, jeden Geldbeutel loszubinden, jedes Schloss mit einem Stück Draht zu knacken. Wenn er gewollt hätte, hätte er die funkelnden Sterne vom Nachthimmel stehlen können. Seine Geschicklichkeit war so groß, dass ihm alles gelang. Zumindest hatte Caspan das immer angenommen … bis heute.
Er hatte es für ein Kinderspiel gehalten, den älteren Mann zu bestehlen, dessen ganze Aufmerksamkeit den mit Zobel gefütterten Umhängen galt, die an einem der Stände feilgeboten wurden. Vor seinen beiden Begleitern hingegen, die Kapuzen trugen, musste man sich sicher in Acht nehmen, denn sie sahen aus wie Leibwächter. Deshalb hatte Caspan gewartet, bis sie zu einem der anderen Stände hinübergeschlendert waren. Erst dann war er in Aktion getreten. Doch es war der ältere Mann gewesen, der Caspan auf frischer Tat ertappt und ihn beim Handgelenk gepackt hatte, als er versuchte, die Lederschnur loszubinden, mit der der Geldbeutel am Gürtel befestigt war. Caspan war total verblüfft. Es war das erste Mal, dass man ihn erwischte. Eine Frau, die an einem der gegenüberliegenden Stände ihre Waren verkaufte, hatte aufgeschrien, um den Mann zu warnen. Daraufhin war Caspan dem Mann mit dem Hacken seines nackten Fußes kräftig auf die Zehen getreten, hatte sich losgerissen, den Geldbeutel geschnappt und war davongerannt.
Jetzt flüchtete der Dieb über die Dächer. Das machte er immer so, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Er kannte die Dächer von Floran besser als jeder andere und war in der Lage, von einer Seite der Stadt zur anderen zu gelangen, indem er den Wegen folgte, die er sich eingeprägt hatte. Geschickt kletterte er über gefährliche Dachschrägen, balancierte schmale Simse entlang, vor denen selbst eine Bergziege zurückgeschreckt wäre, sprang über Abgründe, die zwischen den Gebäuden klafften. Ein falscher Schritt hätte den sicheren Tod bedeutet, aber Caspan war viel zu sehr mit Adrenalin vollgepumpt, um sich darüber Gedanken zu machen. Er fühlte sich zwischen den Kirchtürmen und Schornsteinen zu Hause, kam sich vor wie der Herrscher über die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete. Von hier oben beobachtete er immer das Treiben der Leute unten und suchte sich in aller Ruhe seine Opfer aus. Hier fühlte er sich sicher.
Caspan arbeitete allein, es war eine Regel, von der er nie abwich. Einbrecher und Diebe hatten kein Ehrgefühl, am allerwenigsten die Halsabschneider und Verbrecher, die der Diebesgilde von Floran angehörten, der Schwarzen Hand, in die er mit acht Jahren aufgenommen worden war. Die anderen Straßenräuber würden ihm, während er schlief, eher ein Stilett gegen die Kehle drücken und seinen Geldbeutel stehlen, als in den Gassen nach ihrem nächsten Opfer Ausschau zu halten. Das Leben in Floran hatte Caspan zu einer wertvollen Erkenntnis verholfen: Er war in eine mörderische Welt geboren worden, in der nur der einsame Wolf überlebte.
Nachdem er die Dächer der Stadt überquert hatte, bekam Caspan den Schock seines Lebens: Zwei Personen waren ihm dicht auf den Fersen. An ihren Umhängen erkannte er, dass es sich um die Begleiter seines Opfers handelte.
Er raste weiter und versuchte, unter Aufbietung sämtlicher Tricks, die ihm zur Verfügung standen, seine Verfolger abzuschütteln. Doch sie waren wie Bluthunde und trieben ihn schließlich kurz vor der Schwanenbrücke in die Enge. Diese von Verkaufsständen gesäumte Brücke überspannte den Fluss Lord, den Hauptwasserweg, der mitten durch Floran verlief. Caspan spielte mit dem Gedanken, hinab in den Fluss zu springen, doch das würde er aufgrund der beträchtlichen Höhe wohl nicht überleben.
»Du hast etwas, das unserem Freund gehört«, sagte die kleinere der beiden fremden Gestalten.
Caspan drehte sich blitzartig um und runzelte die Stirn. Ihm war nicht klar gewesen, dass einer seiner Verfolger eine Frau war. Er versuchte ihr Gesicht zu erkennen, das jedoch halb von der Kapuze verborgen wurde.
Er richtete sich trotzig auf. »Das ist mein Territorium. Ich nehme mir, was ich brauche – wann ich es brauche.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht.« Ihre Stimme klang ruhig, fast lässig.
Der zweite Fremde baute sich rechts von Caspan auf. Seine Hand ruhte auf dem Heft des Langschwerts, das an seiner linken Seite hing. Rechts trug er ein Breitschwert mit Korbgriff, um dessen Parierstange ein rotes Band gewickelt war.
Ein Zweihandkämpfer, dachte Caspan. Na toll. Das hat mir gerade noch gefehlt. Mit dem Stilett, das in seinem Gürtel steckte, würde er gegen die beiden Klingen nichts ausrichten können. Er drehte sich um und blickte zum Fluss hinunter.
Die Frau streckte ihm die offenen Handflächen entgegen, um ihm zu demonstrieren, dass sie nichts Böses im Schilde führte. »Davon würde ich dir abraten.«
Mit hämmerndem Herzen starrte Caspan auf das schmutzige Wasser, das unter ihm dahinströmte. »Mir bleibt nichts anderes übrig. Lebend werden Sie mich nicht bekommen.«
»Nun übertreib mal nicht«, entgegnete die Frau.
»Wenn ich mich ergebe, bringen Sie mich ins Stadtgefängnis. Die Strafe für Diebstahl ist Enthauptung. Das werde ich nicht zulassen.« Caspan machte sich bereit zu springen.
»Ich auch nicht.«
Caspan zögerte und blickte zu der Frau zurück. »Wie meinen Sie das?«
»Ich habe nicht die Absicht, dich der Stadtwache auszuliefern.«
»Was? Dann wollen Sie mich also auf der Stelle töten? Das ist auch nicht besser.«
»Keineswegs.« Unter der Kapuze der Fremden wurde ein Lächeln sichtbar, das nichts Bösartiges an sich hatte. »Ich möchte nur, dass du zurückgibst, was du meinem Freund gestohlen hast.«
»Und dann lassen Sie mich gehen?«
Die Frau nickte. »Mehr oder weniger.«
»Das ist keine klare Antwort. Ich möchte ein Ja hören, und Sie müssen schwören, dass Sie Ihr Wort halten.«
Sie legte die rechte Hand aufs Herz. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich dir nichts Böses antun werde. Bist du jetzt zufrieden?«
Caspan wies mit dem Kinn auf ihren Gefährten. »Was ist mit ihm?«
Der Mann gähnte und setzte sich im Schneidersitz hin. Anscheinend interessierte ihn der Ausblick vom Dach mehr als das, was vor seinen Augen passierte.
»Er ist stumm, deshalb werde ich für ihn sprechen. Er würde nie mit seinem Schwert auf einen Jungen losgehen.« Die Frau neigte leicht den Kopf. »Es sei denn, du zwingst ihn dazu.« Als Caspan ein Stück vom Rand des Dachs zurückwich, lächelte sie wieder. »Ich muss sagen, ein Geschick wie deins habe ich lange nicht gesehen. Das ließe sich weit besser nutzen, als es für kleine Diebstähle zu verschwenden.«
»Wie meinen Sie das?« Dass man ihm ein Kompliment machte, hatte Caspan am allerwenigsten erwartet.
»Nicht nur, dass du einem aus unserem Orden den Geldbeutel gestohlen hast, was vermutlich noch nicht einmal ich geschafft hätte. Du bist auch wie ein Affe über die Dächer geklettert, hast Mauern erklommen und bist mühelos von Gebäude zu Gebäude gesprungen. Du hast großes Talent. Mit der richtigen Ausbildung könntest du zum Meisterdieb werden.«
»Trotzdem bin ich Ihnen nicht entkommen.«
Die Frau zuckte die Achseln. »Das schaffen die wenigsten.«
Caspan kniff die Augen zusammen. »Wer sind Sie?«
Die Frau zeigte auf ihren Gefährten. »Das ist Thom und ich heiße Raven.« Sie schlug die Kapuze zurück.
Caspan war überwältigt von Ravens Schönheit. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Ihr Haar war so schwarz wie die Sünde und wallte ihr über den Rücken. Ihr Gesicht war makellos, als wäre es aus Porzellan geformt.
Raven nahm einen Wasserschlauch von ihrem Gürtel, trank einen großen Schluck und reichte ihrem Gefährten den Schlauch weiter. Dann wandte sie sich Caspan zu. »Wir gehören einem geheimen militärischen Orden an.«
Caspan schluckte nervös. Wenn er das gewusst hätte, hätte er sich nie in die Nähe dieser Leute gewagt. Er schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, dass er noch am Leben war, und warf ihr den gestohlenen Geldbeutel zu, den sie unter ihren Gürtel schob.
»Welche Einheit?«, fragte Caspan.
Raven sah Thom an und schien sich lautlos mit ihm zu verständigen, bevor sie ihren Blick wieder auf Caspan ruhen ließ. »Wir nennen uns die Bruderschaft.«
»Davon habe ich noch nie etwas gehört.« Caspan hätte zu gern gewusst, warum Raven plötzlich die Stimme gesenkt hatte. Es war ja nicht so, dass sie hier oben von jemandem belauscht werden konnten.
»Das haben die wenigsten«, erwiderte Raven. »Die Bruderschaft ist eine Geheimorganisation, die unabhängig vom Heer des Königs arbeitet. Wir sind ein Orden professioneller Schatzsucher.«
Caspan zog eine Augenbraue hoch »Und was heißt das? Dass ihr die Begräbnisstätten der Dray plündert?«
Raven nickte. »Das … und manches andere.«
Caspan kratzte sich am Hals, wo ihn ein Floh gebissen hatte. Er sah Raven unverwandt an. »Wer etwas aus den Hügelgräbern der Dray stiehlt, wird mit dem Tod bestraft.«
Im letzten Jahr hatten sechs Mitglieder der Schwarzen Hand auf den Feldern nördlich von Briston, der Hauptstadt des Reichs, verschiedene Grabhügel ausgeraubt. Man hatte sie jedoch erwischt und gehängt. Das war das erste – und letzte – Mal gewesen, dass die Diebesgilde außerhalb von Floran operiert hatte.
Die Dray waren eine uralte Rasse, die schon vor langer Zeit die Vier Königreiche verlassen hatte. Niemand wusste, wo sie abgeblieben oder warum sie verschwunden waren, doch überall im Königreich Andalon fanden sich noch Zeugnisse dieser einst so bedeutenden Kultur.
Raven hob den Finger. »Das gilt nur für gewöhnliche Diebe. Doch wir sind alles andere als das.« Sie machte eine Pause und musterte Caspans Gesichtsausdruck. »Die Bruderschaft hat für ihre Aktivitäten die offizielle Erlaubnis des Königs.«
Caspans Augen blitzten interessiert auf. Von einer Diebesgemeinschaft, die der König billigte, hatte er noch nie gehört. »Wonach genau sollt ihr denn für den König suchen?«
»Das ist ein Geheimnis.« Raven lächelte rätselhaft. »Aber wenn du dich uns anschließt, könntest du es herausfinden. Deine Geschicklichkeit als Dieb würde dich zu einer wertvollen Bereicherung für unseren Orden machen.«
Misstrauen regte sich in Caspan und schrillte wie eine Alarmglocke. »Warum wollen Sie das für mich tun?«
Trotz all seiner Vorsicht reizte ihn ihr Angebot. Auf den Straßen von Floran wäre er nicht mehr sicher, denn jetzt wusste ein Hauptmann der Stadtwache, wie er aussah. Caspan stand auf der schwarzen Liste und musste fortan jede Minute mit seiner Verhaftung rechnen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Kopf auf dem Block des Henkers liegen würde.
»Du hast, wie ich schon gesagt habe, großes Talent. Wir sind immer auf der Suche nach begabten Dieben.«
Caspan warf einen Blick auf Thom. Dann sah er wieder Raven an. »Aber ich habe keine militärische Ausbildung. Die Kadettenschulen nehmen keine Straßenjungen auf.«
Das Gesetz schrieb vor, dass jeder Jugendliche, sobald er fünfzehn wurde, ein Jahr lang eine der Kadettenschulen des Königreichs besuchen musste. Dort brachte man ihnen bei, wie man ein Schwert führte, mit dem Bogen schoss, Waffen und Rüstung pflegte und wie man ein Pferd aufzäumte und ritt. Andalon befand sich seit über drei Jahrzehnten im Krieg mit den Roon, einer wilden Rasse von Riesen, die im Norden lebten, in den Eiswüsten der Wildnis. Darum hatte König Rhys dieses Gesetz erlassen, mit dem er sicherstellte, dass seinem Reich nie die Soldaten ausgingen.
Straßenjungen wurden von den Kadettenschulen jedoch nicht aufgenommen. Der Gestank der Gosse, der ihnen anhaftete, schloss sie vom Militärdienst aus. Für Caspan und all die anderen, unzähligen Straßenjungen, die in den Kloaken des Reichs ums Überleben kämpften, sah das Leben nicht sonderlich rosig aus.
Raven bedeutete Caspan mit einer Geste, sich hinzusetzen. Obwohl er gehorchte, war er sich immer noch nicht sicher, wohin diese zufällige Begegnung führen würde. Thom hielt ihm den Wasserschlauch hin, doch Caspan lehnte ab. Der Mann zuckte mit den Achseln, warf Raven den Wasserschlauch zu und gähnte wieder.
»Die Bruderschaft wird in Kürze neue Rekruten aufnehmen«, erklärte Raven. »Die meisten werden von den Kadettenschulen kommen, aber wir akzeptieren auch Kandidaten, die ein Empfehlungsschreiben von einem Mitglied der Bruderschaft vorweisen können.« Sie musterte Caspan einen Moment lang. »Ich glaube, du würdest einen geeigneten Kandidaten abgeben.«
Caspan schnaubte verächtlich. »Aber ich bin doch nur ein kleiner Gauner! Euer Orden würde mich eher verhaften, als mich aufzunehmen.«
Raven sah ihn ernst an. »Wer ist denn geeigneter als ein Straßenräuber, sich einer Gruppe von professionellen Dieben anzuschließen? Glaub mir, ich würde dich nicht empfehlen, wenn ich nicht der Ansicht wäre, dass du alle erforderlichen Voraussetzungen mitbringst. Außerdem sind gute Taten Balsam für die Seele.«
Sie plauderten noch eine Weile. Caspan war sich sicher, dass Raven dieses Gespräch nutzte, um seinen Charakter zu beurteilen. Sie fragte ihn nach seinem bisherigen Leben und wollte wissen, was er für Ziele habe. Zum Schluss war Caspan davon überzeugt, dass sie Mitleid mit ihm empfand. Er hatte keine Familie mehr, und sein einziges Ziel im Leben bestand schlicht und ergreifend darin, den Tag zu überstehen. Schließlich teilte Raven ihm mit, dass sie ihm, wenn er es wolle, ein Empfehlungsschreiben ausstellen werde. Caspan nahm das Angebot bereitwillig an.
»Du musst am letzten Tag dieses Monats in Briston sein«, fuhr Raven fort. »Am Abend wird ein Meister der Bruderschaft eine Gruppe potenzieller Rekruten in Empfang nehmen. Gib ihm den Brief.«
Caspan zog eine Augenbraue hoch. »Was meinen Sie mit potenziell?«
Raven machte eine wegwerfende Geste. »Es wird eine kleine Prüfung geben, die man bestehen muss, bevor man zur Ausbildung zugelassen wird.« Als sie Caspans misstrauischen Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte sie ihn beruhigend an. »Ich würde dir keine Hoffnungen machen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du das Zeug zum Rekruten hast.«
Caspan nickte und ließ den Blick über die ihm so vertrauten Dächer schweifen. »Ich bin noch nie in Briston gewesen. Woher soll ich wissen, wo ich den Meister finde?«
Raven zuckte die Achseln. »Ich werde dir einen Stadtplan zeichnen.« Sie musterte ihn eine Weile. »Es ist ja nicht so, als hättest du viel zu verlieren.«
Caspan folgte ihrem Blick, der auf seine zerlumpte Kleidung gerichtet war. Sie hatte recht. Bei dieser Unternehmung konnte er nur unendlich viel gewinnen. »Und was ist, wenn ich die Prüfung nicht bestehe?«
Raven lächelte ironisch. »Sieh einfach zu, dass du sie bestehst.«
Kurz darauf trennten die drei sich. Nachdem er das Empfehlungsschreiben und den Stadtplan unter seinen Gürtel gesteckt hatte, holte Caspan seine wenigen Habseligkeiten und verließ Floran noch am selben Abend. Während er unter dem sternenklaren Himmel dahinzog, war er von dem Glauben beseelt, dass ihm nun die ganze Welt offenstand.
Das Glück war ihm nur selten hold gewesen. Als Caspan acht Jahre alt war, waren seine Eltern an der Pest gestorben. Da er keine Verwandten hatte, die sich um ihn kümmerten, und ein hinterhältiger Kaufmann behauptete, Caspans Vater schulde ihm Geld, und sich deshalb das Haus seiner Eltern unter den Nagel riss, war Caspan gezwungen, auf der Straße zu leben. Die Schwarze Hand hatte ihm Essen und Unterkunft geboten – vorausgesetzt, er schaffte genügend Diebesgut heran. Es war ein hartes und gefährliches Leben, und er sehnte sich danach, es eines Tages besser zu haben.
Caspan hatte immer geglaubt, dass ihm sein Geschick als Dieb einmal so viel einbringen würde, dass er dieses Leben hinter sich lassen könnte. Doch selbst in seinen kühnsten Träumen wagte er nicht zu hoffen, dass er die Chance bekam, bei einer Eliteeinheit von Schatzsuchern ausgebildet zu werden.
Von einem Hügel aus blickte Caspan auf Floran zurück und forschte in seinem Herzen, ob er es bedauerte, dass er seine Geburtsstadt vielleicht zum letzten Mal sah. Floran war die einzige Stadt, die er je kennengelernt hatte. Sein ganzes bisheriges Leben hatte sich hier abgespielt. Doch alles, was er empfand, war Hoffnung.
Zum ersten Mal seit vielen Monaten lächelte Caspan.
KAPITEL ZWEI
Die Prüfung
Es war ein kalter grauer Abend.
In einem Hof der Hauptstadt hatten sich ungefähr fünfzig prächtig gekleidete Jugendliche versammelt. Sie trugen glänzend polierte Stiefel und mit Pelz gefütterte Umhänge, auf denen das Emblem ihrer jeweiligen Kadettenschule prangte. Als Caspan sich durch die Menge drängte, drehten einige der Anwesenden argwöhnisch den Kopf in seine Richtung. Ein Mädchen lächelte ihn strahlend an, was er mit einem höflichen Nicken erwiderte, denn er war dankbar, dass wenigstens eine Person ihm das Gefühl gab, willkommen zu sein. Die meisten anderen hingegen musterten ihn von oben bis unten, rümpften die Nase und murmelten etwas Abfälliges.
Caspan ignorierte die Sticheleien. All das kannte er, schließlich hatte er auf den Straßen von Floran gelebt. Außerdem würde er sich durch ihre höhnischen Bemerkungen nicht davon abbringen lassen, sich der Bruderschaft anzuschließen. Er hatte einen langen Weg zurückgelegt, und es kam gar nicht infrage, dass er jetzt einen Rückzieher machte.
Er zog sich den Kragen seines Umhangs fest um den Hals, teils um sich vor der kalten Luft zu schützen, vor allem aber weil ihm bewusst war, wie sehr sein schäbiges Wams, seine nackten Füße und seine ausgefransten, bis zu den Knien reichenden Hosen ihn von den anderen abhoben. Er hätte die wenigen Münzen, die er besaß, für neue Kleidung ausgeben können, doch was er trug, war seinem Diebeshandwerk angemessen. Das Einzige, was er wirklich gebraucht hatte, war ein Umhang gewesen, damit er in den kalten Wintermonaten nicht fror. Mit dem Rest seines Geldes hatte er allerlei praktische Dinge gekauft: ein neues Stilett, das in einer Lederscheide steckte und an der Unterseite seines linken Arms befestigt war, eine Laterne sowie Zunder und Feuerstein. Trotzdem hätte er nichts dagegen gehabt, einen der Kadettenumhänge zu besitzen, den er im Schutze der Nacht mühelos aus der hiesigen Kadettenschule hätte stehlen können. Dann hätte er sich immerhin weniger stark von den anderen hier abgehoben.
Nachdem Caspan tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, ging er zu einem Mann, der sich den Anwesenden vorhin als Meister Scott vorgestellt hatte. Er stand in der Mitte des Hofs auf einer Kiste. Caspan hatte gewartet, bis Scott die Anwesenheitsliste verlesen und die Namen abgehakt hatte. Erst dann übergab er ihm sein Empfehlungsschreiben.
Scott warf einen misstrauischen Blick auf das Schriftstück, bevor er es las. Anschließend sah er Caspan an, der daraufhin noch verlegener wurde und sich eine Strähne seines fettigen Haars aus dem Gesicht wischte.
»Hmm, Raven meint also, du würdest alle erforderlichen Eigenschaften mitbringen«, sagte Scott. »Nun, ich gebe was auf ihr Wort. Dann stell dich mal zu den anderen.«
Caspan nickte dankbar und leistete der Aufforderung Folge.
»Also dann hört mal zu, Leute! Es ist höchste Zeit, dass wir anfangen«, rief Scott.
Alle verstummten und scharten sich um ihn. Caspan blieb in der hintersten Reihe stehen.
»Ihr alle seid von euren Lehrern hierhergeschickt worden, weil sie glauben, dass ihr das Zeug dazu habt, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden.«
Mehrere der Jugendlichen nahmen stolz Haltung an, andere klopften sich gegenseitig auf den Rücken.
»Sie glauben, ihr wärt die Besten der Besten, aber ich an eurer Stelle würde mir keine allzu große Hoffnungen machen, weil wir nämlich nur fünf von euch aufnehmen.«
Ein aufgebrachtes Raunen ging durch die Menge.
»Das ist nicht fair«, rief jemand.
»Wie werden die fünf denn ausgesucht?«, wollte jemand anderes wissen.
Der Meister hob die Hand und sah die Kadetten streng an, was weitere Kommentare unterband. »Haltet den Mund, sonst wird hier überhaupt niemand ausgesucht!« Als endlich Ruhe eingekehrt war, zog er ein versiegeltes Pergament aus dem Beutel, der ihm über der Schulter hing, und hielt es in die Höhe. »Ihr müsst eine Prüfung ablegen. Jeder von euch erhält einen versiegelten Brief, der Hinweise enthält, die euch zu einem zweiten Pergament führen werden. Insgesamt gibt es drei Briefe mit Hinweisen, denen ihr folgen müsst. Der letzte Hinweis wird euch zu einem der Meister der Bruderschaft bringen, der sich irgendwo in dieser Stadt versteckt hat. Die ersten fünf, die ihn finden und ihm alle drei Briefe übergeben, werden als Rekruten in den Orden aufgenommen.«
»Und was geschieht mit den anderen?«, fragte ein Mädchen.
»Die werden mit eingezogenem Schwanz in ihre Kadettenschule zurückkehren«, erklärte ein Junge mit schulterlangen schwarzen Haaren in arrogantem Ton.
Scott stemmte die Hände in die Hüften und warf einen ungehaltenen Blick auf die Menge. »Das reicht jetzt! Bildet eine Schlange und stellt euch vor mir auf. Ich werde jedem von euch einen Brief geben, aber …«, er hob warnend den Finger, »… wagt es ja nicht, ihn zu öffnen, bevor alle einen haben. Und lasst euch bloß keine faulen Tricks einfallen. Jeder Zielort wird von einem Mitglied der Bruderschaft überwacht. Wer beim Betrügen erwischt wird, fliegt in hohem Bogen aus dem Wettbewerb raus. Also los jetzt, stellt euch auf. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
Aufgeregt schwatzend folgten alle der Anweisung. Caspan stellte sich ans Ende der Schlange und wartete geduldig darauf, seinen Brief zu erhalten. Da er zum ersten Mal in Briston war, befürchtete er, dass diejenigen, die die hiesige Kadettenschule besucht hatten, ihm gegenüber im Vorteil sein würden. Er hatte sieben von ihnen ausgemacht, und zwar anhand des Emblems auf ihren Umhängen, das einen Adler darstellte, der ein Diadem in den Krallen hielt und der gleichzeitig das Wappen der Hauptstadt war. Zweifellos würde es diesen Kadetten wesentlich leichter fallen, sich in den ihnen vertrauten Straßen zurechtzufinden, doch Caspan hoffte, dass sein Instinkt seinen Mangel an Lokalkenntnissen aufwiegen könnte.
Nachdem Scott die Briefe verteilt hatte, kehrte er in die Mitte des Hofs zurück. »Denkt daran, dass die ersten fünf, die dem Meister der Bruderschaft alle drei Briefe vorweisen, in den Orden aufgenommen werden.« Er machte eine Pause, während ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. »Viel Glück. Jetzt dürft ihr den ersten Brief aufmachen.«
Alle öffneten das Siegel ihres Briefs. Mit aufgeregt hämmerndem Herzen las Caspan den Inhalt – Wo die Wüstensonne nach den Sternen greift – und kratzte sich verwirrt am Kopf. Er hatte keine Ahnung, worauf sich das bezog.
»Damit ist die Königliche Nadel gemeint!«, rief einer der Jungen links von Caspan – sehr zum Ärger seiner Kameraden. Einer von ihnen boxte ihn gegen die Schulter und bezeichnete ihn als Schwachkopf.
Der Hinweis wurde begierig von den anderen aufgenommen und verbreitete sich rasch im ganzen Hof. Dann rannten alle wie eine in Aufruhr geratene Rinderherde auf die einzige Gasse zu, die vom Hof abging. Auch Caspan drängte sich vorwärts, um diese Gasse zu erreichen, musste jedoch bald feststellen, dass er nicht mehr vorankam. Über die Köpfe seiner Vordermänner hinweg nahm er andere Kadetten wahr, die es geschafft hatten, dem Gedränge zu entkommen, und in die Dämmerung davonsprinteten. Genau dort wollte er auch sein – ganz vorn, an der Spitze der Gruppe, statt hier festzustecken.
In dem Moment entdeckte er eine Galerie, die an dem Gebäude rechts von ihm verlief und bis zum Ende der Gasse reichte. Er schubste ein paar Kadetten zur Seite und steuerte direkt auf das Haus zu. Dort sprang er auf ein Fensterbrett, griff nach einer der Geländerstangen und zog sich nach oben. Nachdem er sich gewandt über die Balustrade geschwungen hatte, rannte er die Galerie entlang.
Ein dumpfer Knall und Schritte hinter ihm verrieten Caspan, dass jemand seinem Beispiel gefolgt war. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der schwarzhaarige Junge von vorhin nur wenige Meter hinter ihm war. Caspan konzentrierte sich wieder auf die Straße unten und wartete, bis in der dahinströmenden Menge eine Lücke entstand. Dann sprang er von der Galerie, rollte sich instinktiv ab, um den Aufprall zu mildern, rappelte sich behände hoch und raste die Straße hinunter, den Leuten vor ihm dicht auf den Fersen.
An der ersten Kreuzung wandten sich einige der Kadetten nach links und rannten einen steilen Hügel hoch, während andere nach rechts abbogen. Da Caspan wusste, dass er die Königliche Nadel nur dann finden würde, wenn er den Kadetten folgte, bog er ebenfalls nach rechts ab, weil er flaches Terrain vorzog. Erneut hörte er hinter sich Schritte, doch noch bevor er den Kopf drehen konnte, flitzte der schwarzhaarige Kadett an ihm vorbei. Das Tempo des Jungen überraschte Caspan, obwohl auch er selbst schnell laufen konnte. Er biss die Zähne zusammen und spannte all seine Kräfte an, schaffte es jedoch nicht, den anderen Jungen zu überholen. Es gelang ihm lediglich, dicht hinter ihm zu bleiben und ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Nach einer Weile gelangten sie in einen Park, wo sich bereits eine kleine Gruppe keuchend atmender Kadetten um einen hoch aufragenden Obelisken versammelt hatte. Sie griffen in einen Kasten am Fuß der Säule, holten einen versiegelten Umschlag heraus und rissen ihn auf.
Der zweite Hinweis!
Caspan, der den schwarzhaarigen Jungen inmitten der anderen aus den Augen verloren hatte, nahm sich ebenfalls einen Umschlag. Dann trat er beiseite, holte mehrmals tief Luft und brach das Siegel auf.
Bestürzt stellte er fest, dass der zweite Hinweis in der Alten Sprache, der Sprache der Dray, abgefasst war. Das würde er nie und nimmer lesen können. Deshalb wandte er eine Taktik an, auf die er oft zurückgriff, wenn er sich ein Opfer aussuchte, das er bestehlen wollte: Er beobachtete die Menge aufs Genaueste und hielt nach jemandem Ausschau, an dessen Fersen er sich heften konnte.
Inzwischen hatten weitere Kadetten den Monolith erreicht. Einige rannten sofort weiter, sobald sie ihren Brief an sich genommen hatten, was Caspan erstaunte. Es war doch nicht möglich, dass sie den Text auf dem Pergament bereits übersetzt hatten. Andere Kadetten bildeten kleine Gruppen, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten verschwörerisch miteinander. Ein paar saßen schweigend da und studierten das Pergament.
Es dauerte nicht lange, bis Caspan bemerkte, wie ein Mädchen das Pergament, das sie in Händen hielt, sinken ließ. Nachdem sie einen verstohlenen Blick auf die anderen geworfen hatte, schlich sie sich unauffällig davon. Caspan folgte ihr, indem er instinktiv die Regeln seines Diebeshandwerks anwandte: In seinen Umhang gehüllt, hielt er sich dabei stets im Schatten. Am Rande des Parks blieb das Mädchen stehen und blickte zurück, um festzustellen, ob ihr jemand nachkam. Caspan hatte sich schnell hinter einem Baum versteckt. Sie lächelte triumphierend, küsste ihren Brief und rannte eine Straße hinunter.
Caspan nickte zufrieden und setzte ihr nach. Er war überzeugt, dass sie ihn zum zweiten Zielort führen würde. Fast eine halbe Stunde lang folgte er ihr, überquerte Marktplätze, deren Verkaufsstände bereits geschlossen waren, und die Brücken der Kanäle, die die Stadt wie schwarze Adern durchzogen. Ab und zu hielt das Mädchen inne und warf einen Blick über die Schulter, doch Caspan blieb in sicherer Entfernung und schlich stets an Gebäuden entlang, sodass er sich schnell in einen Hauseingang ducken konnte.
Als das Mädchen endlich in der Mitte eines Platzes haltmachte, hatte der Himmel eine dunkelviolette Färbung angenommen. Sie starrte zu der Statue hoch, die vor ihr aufragte. Es war das Standbild eines Kriegers in voller Rüstung, der sein Schwert triumphierend in die Höhe reckte. Zusammen mit dem Podest, auf dem es stand, war das Denkmal fast fünfzehn Meter hoch. Alarmiert stellte Caspan fest, dass vor ihm schon drei andere Kadetten das Ziel erreicht hatten und gerade versuchten, die Vorderseite der Statue zu erklimmen.
Das Mädchen fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Oh nein! Wie soll ich denn da hinkommen?«, hörte Caspan sie murmeln.
Als er ihrem Blick folgte, bemerkte er einen großen Lederbeutel, der am Hals der Statue hing. Vor lauter Aufregung lief ein Prickeln über Caspans ganzen Körper. Der Beutel musste den letzten Hinweis enthalten.
Et trat aus seinem Versteck und gesellte sich zu dem Mädchen. Erst jetzt erkannte er, dass sie diejenige war, die ihn vorhin im Hof angelächelt hatte.
»So trifft man sich wieder«, sagte er leichthin.
Sie war den Tränen nahe. »Eigentlich kann ich gleich aufgeben. Da komme ich nie rauf.«
Doch Caspan ließ den Mut nicht sinken. Da er wusste, dass es unmöglich wäre, an der Vorderseite der Statue emporzusteigen, weil ihm die drei Kadetten den Weg verstellten, ging er zu ihrer Rückseite. Während er den breiten Rücken des steinernen Kriegers betrachtete, legte er sich im Geiste zurecht, wie er zu dem Beutel gelangen konnte. Dann nahm er seinen Umhang ab, warf ihn auf den Boden und rieb seine Finger mit Kreidepulver ein, das er in einem Beutel am Gürtel bei sich trug. Anschließend machte Caspan sich an den Aufstieg. Da die Statue aus einem einzigen Granitblock gehauen war, bot sie reichlich Halt für Hände und Füße, sodass es nicht lange dauerte, bis Caspan auf den Schultern des Kriegers saß. Er spähte zu den frustrierten Kadetten hinunter, die die Statue erst zur Hälfte bezwungen hatten, griff in den Beutel, nahm zwei versiegelte Briefe heraus und steckte sie unter seinen Gürtel.
Als Caspan wieder unten angelangt war, hob er seinen Umhang auf, nahm das Mädchen bei der Hand und zog sie von der Statue fort. Er deutete auf die Briefe, die er geholt hatte. »Wie wär’s, wenn wir uns verbünden?«, flüsterte er. »Ich verstehe die Alte Sprache nicht und du kannst nicht klettern.«
Das Mädchen kniff die Augen zusammen. »Bist du mir hierher gefolgt?«
Caspan bemerkte, dass das Adleremblem der Bristoner Kadettenschule auf ihrem Umhang prangte. »Wenn ich das nicht gemacht hätte, hatte ich die zweite Aufgabe nie gelöst.« Er streckte ihr freundschaftlich die Hand entgegen. »Ich heiße Caspan.«
Das Mädchen zögerte kurz, dann schlug sie ein. »Ich bin Sara.«
»Also, Sara, wie wär’s mit einer Partnerschaft? Wenn wir uns gegenseitig helfen, sind wir vielleicht die Ersten, die die Prüfung bestehen.«
Normalerweise arbeitete Caspan allein, und es überraschte ihn, wie schnell er bereit war, den Grundsatz aufzugeben, der sein Leben als Dieb sieben Jahre lang bestimmt hatte. Doch die ersten beiden Hinweise waren ihm eine Warnung gewesen. Was, wenn der letzte Hinweis es erforderlich machte, einen bestimmten Platz in der Stadt ausfindig zu machen, oder ebenfalls in einer archaischen Sprache abgefasst war, die er nicht verstand? Dann hätte er keine Chance mehr. Er brauchte jemanden mit Ortskenntnissen und jemanden, der die Alte Sprache verstand. Auf Sara schien beides zuzutreffen. Und so, wie es aussah, brauchte auch sie ihn, weil er so gut klettern konnte. Zusammen würden sie ein großartiges Team ergeben. Außerdem war er Sara etwas schuldig, weil sie ihm zum zweiten Zielort geführt hatte, und wollte sich gern bei ihr erkenntlich zeigen.
»Es ist ja nicht so, als würden wir heiraten«, fügte er hinzu.
Sara nickte lächelnd. »Abgemacht.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Briefe. »Wie lautet denn nun der nächste Hinweis?«
Caspan schnallte seinen Umhang am Hals zu und warf einen verstohlenen Blick in Richtung Statue. Einer der Kadetten hatte nun fast den Beutel erreicht und am Fuß des Standbilds hatten sich zwei weitere Kadetten eingefunden. Einer von ihnen starrte zu Caspan und Sara hinüber und versuchte zu hören, was sie sagten.
»Nicht hier«, entschied Caspan und führte Sara in eine dunkle Gasse.
Er hakte die Laterne von seinem Gürtel los, stellte sie auf die Erde und zündete sie an. Auf dem Kopfsteinpflaster kniend, öffneten sie ihre Briefe, um sie im flackernden Licht zu lesen. Die Briefe enthielten den gleichen Text, in dem ein Springbrunnen beschrieben wurde, der sich in einem Stadtteil namens Königshof befand.
Caspan faltete seinen Brief zusammen, schob ihn unter seinen Gürtel und stand auf. »Das scheint mir ziemlich eindeutig zu sein. Wir brauchen nur den Springbrunnen zu finden. Ich hoffe, du weißt, wo er ist.«
Sara studierte nach wie vor den Brief. »Das ist zu einfach«, erklärte sie und blickte zu Caspan hoch. »Wir haben irgendwas übersehen.«
Caspan kniete sich neben sie. Er verstand nicht, was hieran unklar sein sollte. »Was denn?«
Sara schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber jeder, der lesen kann, wäre in der Lage, diesem Hinweis zu folgen.« Sie hielt den Brief näher ans Licht und untersuchte ihn sorgfältig. »So simpel kann es nicht sein.« Da sie nichts entdeckt hatte, drückte sie den Brief gegen die Laterne. Plötzlich sog sie scharf den Atem ein. »Sieh mal!«
Am unteren Rand der Seite tauchte eine Reihe kaum erkennbarer Zahlen auf. Davor befand sich ein Pfeil, der nach links zeigte.
Caspans Puls beschleunigte sich. »Das ist ein Code!«
»Mit Zitronensaft geschrieben.« Sara wartete, bis die Hitze der Laterne die Zahlen deutlich sichtbar gemacht hatte. Dann legte sie das Pergament wieder auf die Erde und leckte sich aufgeregt über die Lippen. »Vielleicht entsprechen die Zahlen bestimmten Wörtern im Text.«
Caspan beugte sich näher heran. »Oder vielleicht Buchstaben.«
Doch sosehr sie es auch versuchten, es gelang ihnen nicht, den Code zu knacken. Caspan seufzte frustriert. »Das ist schwieriger, als es aussieht.« Er blickte zum Platz zurück und stellte alarmiert fest, dass drei der Kadetten sich ihre Briefe geholt hatten und um die Laterne am Fuß der Statue versammelt waren. Vier andere Kadetten erklommen gerade den steinernen Krieger, unten standen drei weitere und warteten ungeduldig darauf, dass sie an der Reihe waren.
Sara kicherte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf.
Caspan drehte sich zu ihr. »Was ist?«
»Ich kann einfach nicht glauben, wie blind ich gewesen bin.« Sie tippte mit dem Finger auf den Pfeil am unteren Rand der Seite. »Die Zahlen beziehen sich tatsächlich auf Wörter im Text, aber man muss ihn von hinten lesen. Darauf weist dieser Pfeil hin.«
»Und wie lautet der Hinweis?«
»Warte mal einen Moment.« Sara studierte den Text von Neuem und suchte die einzelnen Wörter heraus. Dann sah sie Caspan verwirrt an. »Es ist ein Rätsel: Wo der Anfang ist, ist auch das Ende, und das Ende ist der Anfang.«
Wieder und wieder flüsterte Caspan den Satz vor sich hin. Sara stieß ihn an und zeigte zum Platz hinüber. Gerade waren vier weitere Kadetten am Fuß der Statue eingetroffen, und ein Mädchen raste in die Dunkelheit davon, nachdem sie ihren Brief gelesen hatte.
Die Zeit wurde immer knapper.
Caspan schloss die Augen, um sich gegen die Außenwelt abzuschotten und sich ganz auf das Rätsel zu konzentrieren. Trotzdem bekam er etwas von dem Hin und Her an der Statue mit, und das Bewusstsein, wie sehr sie unter Zeitdruck standen, brachte ihm schließlich die Erleuchtung.
Er öffnete die Augen und sprang auf. »Ich hab’s!«
»Was?«, flüsterte Sara.
»Komm mit«, sagte Caspan und warf einen letzten Blick in Richtung Platz. »Bring uns dorthin zurück, wo wir den ersten Brief bekommen haben.«
»Warum?«
»Vertrau mir einfach. Und bring uns auf dem kürzesten Weg dorthin.«
Sara schien protestieren zu wollen, doch dann seufzte sie resigniert. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte sie, um Caspan dann durch die große Stadt zu führen.
Als sie in den Hof zurückkehrten, war es stockfinster. Sie hatten die gesamte Strecke im Laufschritt zurückgelegt, sodass sie jetzt schwer atmeten und ihre Stirn trotz der Kälte mit Schweiß bedeckt war. Caspan winkte Sara weiter, bis sie die Kiste erreichten, auf der vorhin Meister Scott gestanden hatte.
Sara kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. »Ich verstehe nicht, was das soll.«
»Hier hat unsere Prüfung begonnen – hier war der Anfang –, und hier endet sie auch«, erklärte Caspan. »Das ist der Ort, wo unser früheres Leben endet und unser neues Leben als Mitglied der Bruderschaft anfängt.«
Sara nickte und spähte im Hof umher. »Aber es ist niemand hier.«
»Noch nicht.« Caspan stellte sich auf die Kiste, holte seine drei Briefe hervor und hielt sie in die Höhe. Mit einer Geste forderte er Sara auf, seinem Beispiel zu folgen. In diesem Moment bewegte sich etwas am Rande des Hofs und eine in einen Umhang gehüllte Gestalt schälte sich aus dem Dunkel.
»Gratuliere«, rief Meister Scott und kam zu ihnen herüber, um ihnen beiden die Hand zu schütteln. »Ihr seid der Zweite und die Dritte, die es geschafft haben. Willkommen in der Bruderschaft!«
Sara quietschte vor Freunde und fiel Caspan um den Hals. So stolz war er in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen. Als er in das Dunkel spähte, wo der Meister sich versteckt hatte, bemerkte Caspan noch eine Gestalt und richtete den Schein seiner Laterne auf sie, um herauszufinden, wer es als Erster geschafft hatte.
An der Wand lehnte der schwarzhaarige Junge. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste breit.