Elfeinhalb Jahre zuvor
Es war in der Mitte meines zweiten Jahres auf dem College. Im ersten Jahr war ich ziemlich einsam gewesen. Die UCLA nahm mich nicht so herzlich auf, wie ich es mir bei meiner Bewerbung dort vorgestellt hatte. Es fiel mir schwer, Leute kennenzulernen. Oft fuhr ich am Wochenende nach Hause, um meine Familie zu besuchen. Na ja, eigentlich fuhr ich hin, um meine jüngere Schwester Rachel zu sehen. Meine Mom und mein kleiner Bruder Charlie interessierten mich weniger. Mit Rachel konnte ich über alles reden. Sie fehlte mir, wenn ich allein im Speisesaal aß, und das war häufiger der Fall, als ich zugeben mochte.
Mit neunzehn war ich wesentlich schüchterner, als ich es mit siebzehn gewesen war. In der Highschool war ich beliebt gewesen, ich hatte als Klassenbeste abgeschlossen und fast einen Krampf in der Hand bekommen, so viele Jahrbücher musste ich signieren. In meinem ersten Jahr auf dem College fragte meine Mutter mich immer wieder, ob ich wechseln wollte. Es sei durchaus in Ordnung, sich woanders umzusehen, betonte sie, aber ich wollte nicht. Der Unterricht gefiel mir. »Ich habe mich nur noch nicht richtig eingelebt«, sagte ich jedes Mal, wenn sie mich fragte. »Aber das wird schon noch.«
Es gelang mir, als ich einen Job in der Poststelle annahm. In den meisten Nächten arbeiteten dort außer mir nur noch ein oder zwei andere Leute, eine Konstellation, in der ich aufblühte. Bei kleinen Gruppen war ich gut. Ich glänzte, wenn ich mich nicht anstrengen musste, gehört zu werden. Und während ich ein paar Monate lang Schichten in der Poststelle schob, lernte ich eine Menge Leute kennen. Einige von ihnen mochte ich sehr. Und einige mochten mich auch. Als wir uns in jenem Jahr für die Weihnachtstage verabschiedeten, freute ich mich darauf, im Januar zurückzukehren. Ich vermisste meine Freunde.
Als der Unterricht wieder begann, führte mich der geänderte Stundenplan in ein paar neue Gebäude. Da ich den Großteil der Basiskurse bereits abgeschlossen hatte, belegte ich Kurse in Psychologie. Und durch den neuen Stundenplan lief ich auf einmal ständig demselben Typen über den Weg – im Fitness-Center, im Buchladen, in den Aufzügen von Franz Hall.
Er war groß und hatte breite Schultern. Seine Arme waren so kräftig, dass sein Bizeps gerade noch unter den Ärmel seines T-Shirts passte. Er hatte hellbraune Haare und häufig einen Bartschatten. Stets lächelte er, und stets unterhielt er sich mit jemandem. Und auch, wenn ich ihn allein sah, zeigte er das Selbstvertrauen eines Menschen, der wusste, was er wollte.
Als wir schließlich miteinander ins Gespräch kamen, stand ich in der Schlange zum Speisesaal. Ich trug dasselbe graue T-Shirt wie am Vortag, und als ich ihn ein Stück vor mir in der Schlange entdeckte, schoss mir durch den Kopf, dass ihm das womöglich auffallen könnte.
Nachdem er am Eingang seinen Ausweis durch das Gerät gezogen hatte, blieb er hinter seinen Freunden zurück und unterhielt sich mit dem Typen, der das Gerät bediente. Als ich den Kopf der Schlange erreicht hatte, unterbrach er seine Unterhaltung und sah mich an.
»Verfolgst du mich, oder was?«, fragte er lächelnd und blickte mir in die Augen.
Ich wurde sofort verlegen und war überzeugt, dass er mir das ansah.
»Tut mir leid, dummer Scherz«, meinte er. »Ich sehe dich in letzter Zeit nur überall.« Ich nahm meine Karte wieder entgegen. »Darf ich dich begleiten?«
»Ja«, antwortete ich. Ich wollte mich mit meinen Freunden aus der Poststelle treffen, konnte sie aber noch nirgends entdecken. Und er war süß. Das gefiel mir.
»Wo stellen wir uns an?«, fragte er. »In welcher Schlange?«
»Wir gehen zum Grill«, erwiderte ich. »Natürlich nur, wenn du dich mit mir zusammen anstellen willst.«
»Das ist perfekt. Ich möchte unbedingt einen Patty Melt Burger.«
»Dann auf zum Grill.«
In der Warteschlange schwiegen wir zunächst, dann bemühte er sich, die Unterhaltung erneut in Gang zu bringen.
»Ryan Lawrence Cooper«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen. Ich lachte und nahm sie. Sein Griff war fest. Ich bekam fast das Gefühl, ich würde ihn nie wieder los, wenn er das Händeschütteln nicht von sich aus beendete.
»Lauren Maureen Spencer«, erwiderte ich. Er ließ los.
Ich hatte ihn mir gewandt und selbstsicher, gelassen und charmant vorgestellt, und in gewisser Weise war er das auch. Doch als wir nun miteinander sprachen, schien er auch ein bisschen unsicher zu sein und nicht immer genau zu wissen, was er sagen sollte. Der süße Typ, der so viel selbstbewusster gewirkt hatte als ich, entpuppte sich als durch und durch menschlich. Er war einfach gut aussehend, vermutlich lustig und schien sich in seiner Haut schlichtweg wohlzufühlen, wodurch er wirkte, als verstünde er die Welt besser als wir anderen. Doch das stimmte nicht, er war genau wie ich. Und plötzlich mochte ich ihn deutlich mehr, als ich mir eingestehen wollte. Das machte mich nervös. Ich spürte Schmetterlinge im Bauch, und meine Handflächen wurden feucht.
»Na, ist schon okay. Du kannst es ruhig zugeben«, sagte ich in dem Bemühen, lustig zu sein, »eigentlich läufst du mir hinterher.«
»Ich gebe es zu«, erklärte er, widersprach sich jedoch gleich. »Nein! Natürlich nicht. Aber es ist dir auch aufgefallen, stimmt’s? Es ist, als wärst du plötzlich überall.«
»Du bist plötzlich überall«, entgegnete ich und machte einen Schritt nach vorn, da die Schlange sich vorwärtsbewegte. »Ich bin nur da, wo ich immer bin.«
»Du meinst, du bist da, wo ich immer bin.«
»Vielleicht sind wir einfach kosmisch verbunden«, scherzte ich. »Oder wir haben denselben Stundenplan. Zum ersten Mal habe ich dich auf dem Hof gesehen, glaube ich. Ich habe mir dort die Zeit zwischen der Einführung in Psychologie und dem Statistikkurs vertrieben. Du musst also ungefähr um dieselbe Zeit einen Kurs auf dem Süd-Campus haben, stimmt’s?«
»Jetzt hast du mir unbeabsichtigt zwei Dinge verraten, Lauren.« Ryan lächelte.
»Tatsächlich?«
»Ja.« Er nickte. »Weniger bedeutend ist, dass ich nun weiß, dass du im Hauptfach Psychologie studierst, und zwei Kurse kenne, an denen du teilnimmst. Als Stalker wäre ich damit auf eine Goldmine gestoßen.«
»Na gut.« Ich nickte. »Als richtiger Stalker hättest du das allerdings bereits gewusst.«
»Trotzdem, Stalker ist Stalker.«
Schließlich waren wir ganz vorn in der Schlange angelangt, doch Ryan schien mehr an mir interessiert als an seiner Bestellung. Ich wandte mich kurz ab, um meinen Essenswunsch aufzugeben. »Könnte ich bitte einen Grillkäse haben?«, sagte ich zum Koch.
»Und du?«, fragte der Koch Ryan.
»Einen Patty Melt Burger mit extra Käse«, antwortete Ryan, beugte sich vor und streifte mit seinem Ärmel versehentlich meinen Unterarm. Es fühlte sich wie ein ganz leichter Stromschlag an.
»Und die zweite Sache?«, fragte ich.
»Hm?« Ryan drehte sich zu mir um, offenbar hatte er den Faden verloren.
»Du meintest, ich hätte dir zwei Dinge verraten.«
»Ah!« Ryan lächelte und schob sein Tablett auf dem Tresen dichter an meins. »Du hast gesagt, dass du mich im Innenhof bemerkt hättest.«
»Stimmt.«
»Da habe ich dich aber nicht gesehen.«
»Okay«, erwiderte ich, nicht sicher, worauf er hinauswollte.
»Streng genommen hast du mich also zuerst bemerkt.«
Ich lächelte ihn an. »Touché.« Der Koch reichte mir den Grillkäse und Ryan seinen Burger. Wir nahmen unsere Tabletts und gingen zur Sodamaschine.
»Nun«, meinte Ryan, »da du mich verfolgst, muss ich vermutlich nur warten, bis du mich fragst, ob wir uns verabreden wollen.«
»Was?«, fragte ich halb schockiert und halb verletzt.
»Hör zu«, fuhr er fort, »ich kann sehr geduldig sein. Ich weiß, dass du erst den Mut dazu aufbringen musst. Du musst dir erst überlegen, wie du mich fragst, denn es soll natürlich möglichst locker klingen.«
»Aha«, bemerkte ich. Ich nahm mir ein Glas und schob es unter die Eismaschine. Das Gerät lärmte und produzierte dann drei lumpige Eiswürfel. Ryan schlug gegen die Maschine, woraufhin eine Unmenge Eiswürfel in mein Glas polterten. Ich bedankte mich.
»Keine Ursache. Was hältst du davon«, fragte er, »wenn ich bis morgen Abend warte? Wir treffen uns um sechs Uhr im Eingangsbereich von Hendrick Hall. Ich lade dich zu einem Burger ein und vielleicht auch noch zu einem Eis. Wir unterhalten uns. Und dann kannst du mich um eine Verabredung bitten.«
Ich lächelte ihn an.
»Das ist nur fair«, meinte er. »Du hast mich schließlich zuerst bemerkt.« Er war sehr charmant. Und das wusste er.
»Okay. Eine Frage habe ich allerdings. Dort drüben in der Schlange«, ich deutete zu dem Mann mit dem Kartenlesegerät, »worüber hast du mit ihm gesprochen?« Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Antwort kannte, und wollte sie von ihm hören.
»Mit dem Typen, der die Karten durchzieht?«, fragte Ryan lächelnd und wusste, dass ich ihn erwischt hatte.
»Ja, ich bin neugierig, worüber ihr zwei euch unterhalten habt.«
Ryan sah mir direkt in die Augen. »Ich habe gesagt: ›Tu so, als würden wir uns unterhalten. Ich muss Zeit gewinnen, bis das Mädchen in dem grauen T-Shirt hier ist.‹«
Was sich eben noch wie ein ganz leichter Stromschlag angefühlt hatte, durchfuhr mich jetzt als heftiges Brennen, entflammte mich. Ich fühlte es bis in die Fingerspitzen und die Zehen.
»Hendrick Hall, morgen um sechs«, bestätigte ich und sagte damit zu. Doch war uns beiden längst klar, dass ich es kaum erwarten konnte. Ich wünschte mir, es wäre schon so weit.
»Komm nicht zu spät!«, sagte er lächelnd im Weggehen.
Ich stellte mein Getränk aufs Tablett und ging beschwingt durch den Speisesaal. Dann setzte ich mich allein an einen Tisch, denn ich war noch nicht bereit, meinen Freunden zu begegnen. Mein Lächeln war zu breit, zu stark, zu strahlend.
Um fünf vor sechs am nächsten Abend stand ich im Eingangsbereich von Hendrick Hall.
Ich wartete ein paar Minuten und versuchte so auszusehen, als würde ich nicht sehnsüchtig auf jemanden warten.
Ich hatte ein Date. Ein echtes Date. Und zwar nicht so wie bei den Typen, die einen fragten, ob man mit ihnen und ihren Freunden am Freitagabend auf irgendeine Party gehen wolle, von der sie zufällig gehört hatten. Und auch nicht so wie mit dem Typen von der Highschool, den man schon seit der achten Klasse kannte, und der einen endlich küsste.
Ich hatte ein echtes Date.
Was sollte ich mit ihm reden? Ich kannte ihn doch kaum! Was, wenn ich Mundgeruch hatte oder etwas Dummes sagte? Was, wenn meine Wimperntusche verschmierte und ich den ganzen Abend nicht merkte, dass ich wie ein Waschbär aussah?
Panisch versuchte ich in einer Scheibe einen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen, doch da trat Ryan bereits durch die Eingangstür in die Halle.
»Wow«, sagte er, als er mich sah. Von diesem Moment an machte ich mir keine Gedanken mehr, ich könnte vielleicht nicht perfekt aussehen. Ich scherte mich weder um meine knochigen Hände noch um meine schmalen Lippen. Stattdessen dachte ich daran, wie meine dunkelbraunen Haare glänzten und wie hübsch der Grauton meiner blauen Augen war. Und an meine langen Beine, zu denen Ryans Blick glitt. Ich war froh, dass ich mich für das kurze schwarze Jersey-Kleid entschieden hatte, das sie zur Geltung brachte; darüber trug ich ein Sweatshirt mit Reißverschluss. »Du siehst toll aus«, fügte er hinzu. »Du musst mich wirklich mögen.«
Ich lachte, und er lächelte mich an. Er trug Jeans und T-Shirt, darüber ein UCLA-Fleece.
»Und du bemühst dich sehr, mir nicht zu zeigen, wie sehr du mich magst«, erwiderte ich.
Daraufhin lächelte er mich an, und es war anders als das Lächeln zuvor. Nicht so, als wollte er, dass ich seinem Charme erlag. Sondern als wäre er meinem Charme erlegen.
Es fühlte sich gut an. Richtig gut.
Während wir Burger aßen, fragten wir uns gegenseitig aus, woher wir stammten und was wir mit dem Rest unseres Lebens vorhatten. Wir sprachen über unsere Kurse und stellten fest, dass wir im Vorjahr denselben Rhetoriklehrer gehabt hatten.
»Professor Hunt!« Ryan klang ganz sehnsüchtig, als er von dem alten Mann sprach.
»Erzähl mir nicht, dass du Professor Hunt mochtest!«, erwiderte ich. Niemand mochte Professor Hunt. Der Mann war so interessant wie ein Pappkarton.
»Wie kann man den Kerl nicht mögen? Er ist nett. Er ist höflich! Das war der einzige Kurs, bei dem ich in dem Semester eine Eins hatte.«
Ironischerweise war Rhetorik der einzige Kurs, bei dem ich in dem Semester eine Zwei bekommen hatte. Aber das zu sagen war mir unangenehm.
»Es war mein schlechtester Kurs«, sagte ich stattdessen. »Rhetorik ist nicht meine Stärke. In Recherche, Aufsätzen und Multiple-Choice-Tests bin ich besser. Ich bin nicht gut mit dem Mund.«
Nachdem ich das ausgesprochen hatte, sah ich ihn an und spürte, wie meine Wangen feuerrot brannten. Es war ein absolut peinlicher Satz, wenn man ein Date mit jemandem hatte, den man kaum kannte. Ich hatte Angst, er würde einen Witz darüber machen. Doch Ryan tat so, als hätte er die Mehrdeutigkeit nicht bemerkt.
»Du kommst mir vor wie ein Mädchen, das nur Einsen hat«, meinte er. Ich war überaus erleichtert. Irgendwie hatte er es geschafft, den peinlichen Augenblick zu überspielen und zu meinen Gunsten zu wenden.
Ich errötete erneut. Diesmal aus einem anderen Grund. »Na ja, ich bin ganz gut«, gab ich zu. »Aber ich bin beeindruckt, dass du eine Eins in Rhetorik hattest. In dem Kurs ist das nicht leicht.«
Ryan zuckte die Schultern. »Ich glaube, ich kann einfach gut reden. Große Menschenmengen machen mir keine Angst. Ich könnte vor einem Raum voller Menschen sprechen und würde mich dabei kein bisschen unwohl fühlen. Was mich nervös macht, sind Vier-Augen-Gespräche.«
Ich legte den Kopf schräg, ein Zeichen, dass meine Neugierde geweckt war. »Du wirkst nicht so, als hättest du in irgendeiner Situation Probleme, etwas zu sagen, ganz egal, wie viele Menschen anwesend sind.«
Lächelnd aß er den Rest seines Burgers. »Lass dich nicht von meiner lässigen Art täuschen. Ich weiß, dass ich teuflisch gut aussehe und wahrscheinlich der charmanteste Typ bin, dem du je begegnet bist, aber es hat einen Grund, dass ich so lange gebraucht habe, dich anzusprechen.«
Dieser Typ, der so cool wirkte, mochte mich! Und ich machte ihn nervös!
Ich glaube, nichts fühlt sich so gut an wie herauszufinden, dass man die Person, die einen selbst nervös macht, ebenfalls nervös macht. Das stimmt zuversichtlich und macht selbstbewusst. Man hat das Gefühl, alles auf der Welt erreichen zu können.
Ich beugte mich über den Tisch und küsste ihn. Ich küsste ihn mitten in einem Burger-Laden, und der Ärmel von meinem Sweatshirt hing im Ketchup. Es war kein perfektes Timing, in keiner Beziehung. Ich traf seinen Mund nicht richtig, sondern küsste ein wenig daneben. Und ich hatte ihn ganz offensichtlich überrascht, denn er erstarrte einen Moment, bevor er sich entspannte und mich zurückküsste. Er schmeckte salzig.
Als ich mich von ihm löste, wurde mir schlagartig klar, was ich gerade getan hatte. Ich hatte noch nie zuvor jemanden geküsst. Stets war ich geküsst worden. Küsse hatte ich immer nur erwidert.
Er sah mich verwirrt an. »Ich dachte, das müsste ich tun«, sagte er.
Jetzt schämte ich mich fürchterlich. Das war einer dieser Momente, über den ich als Mädchen in der Teenie-Zeitschrift YM gelesen hatte. »Ich weiß«, sagte ich. »Tut mir leid. Ich bin so … Ich weiß nicht, warum ich …«
»Es tut dir leid?«, erwiderte er erschrocken. »Nein, das sollte dir wirklich nicht leidtun. Das war vielleicht der großartigste Moment meines Lebens.«
Ich blickte ihn an und musste unwillkürlich lächeln.
»Alle Mädchen sollten so küssen«, meinte er. »Alle Mädchen sollten genau so sein wie du.«
Als wir nach Hause gingen, zog er mich ständig in Hauseingänge und Nischen, um mich erneut zu küssen. Je näher wir dem Wohnheim kamen, desto ausdauernder wurden die Küsse. Bis wir vor dem Eingang zu meinem Haus standen und uns gefühlte Stunden küssten. Es war etwas kühl draußen, die Sonne war schon vor Stunden untergegangen. Ich fror an den nackten Beinen. Doch ich spürte nichts als seine Hände auf mir, seine Lippen, konnte an nichts anderes denken als daran, wie sich sein Nacken unter meinen Händen anfühlte und dass er nach frischer Wäsche und nach Moschus roch.
Als es Zeit wurde, entweder einen Schritt weiterzugehen oder sich zu verabschieden, löste ich mich von ihm, ließ meine Hand jedoch in seiner. Ich las in seinen Augen, dass er gern von mir aufs Zimmer eingeladen worden wäre. Doch ich tat es nicht. Stattdessen sagte ich: »Wollen wir uns morgen sehen?«
»Na klar.«
»Kommst du vorbei und holst mich zum Frühstück ab?«
»Na klar.«
»Gute Nacht.« Ich küsste ihn auf die Wange.
Ich zog meine Hand aus seiner und wandte mich zum Gehen. Beinahe wäre ich stehen geblieben und hätte ihn doch noch gefragt, ob er mitkommen wollte. Unsere Verabredung sollte noch nicht zu Ende sein. Ich wollte nicht aufhören, ihn zu berühren, seine Stimme zu hören, herauszufinden, was er als Nächstes sagen würde. Doch ich drehte mich nicht um. Ich ging weiter.
Ich wusste, dass es mich erwischt hatte: Ich war verknallt. Ich würde mich ihm hingeben, ihm meine Seele offenbaren, er würde mir womöglich das Herz brechen.
Es bestand also keine Eile, sagte ich mir, als ich allein in den Aufzug stieg.
Als ich in mein Zimmer kam, rief ich Rachel an. Ich musste ihr alles berichten. Wie süß er war, was er gesagt hatte, wie er mich angesehen hatte. Ich musste den Abend noch einmal mit jemandem durchleben, der verstand, wie aufregend das alles war.
Und Rachel verstand das vollkommen.
»Ich frage mich, wann du mit ihm schlafen willst«, meinte sie. »Es hört sich an, als wäre es da draußen auf dem Bürgersteig ganz schön heiß hergegangen. Vielleicht solltest du ein Datum festlegen? Dass du nicht mit ihm schläfst, ehe du nicht so und so viele Wochen oder Tage oder Monate mit ihm zusammen bist.« Sie lachte. »Oder Jahre, wenn es das ist, was du dir vorstellst.«
Ich erklärte ihr, dass ich es einfach auf mich zukommen lassen würde.
»Das ist keine gute Idee«, meinte sie. »Du brauchst einen Plan. Was, wenn du zu früh oder zu spät mit ihm schläfst?«
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ein »zu früh« oder »zu spät« überhaupt geben konnte. Was Ryan und mich anging, war ich mir so sicher, mir war, als könnte gar nichts schiefgehen. Als würden wir so gut zusammenpassen, dass wir es gar nicht vermasseln konnten, selbst wenn wir uns Mühe gaben.
Und das fand ich einerseits enorm aufregend, und auf der anderen Seite gab es mir eine große Ruhe.
Als es passierte, waren Ryan und ich in seinem Zimmer. Sein Mitbewohner war das Wochenende über nicht in der Stadt. Wir hatten einander noch nicht gesagt, dass wir uns liebten, doch es war offensichtlich.
Ich staunte, wie gut er meinen Körper verstand. Ich musste ihm nicht sagen, was ich wollte, er wusste es. Er wusste, wie er mich küssen musste, wo er seine Hände hinlegen, wo und wie er mich berühren musste.
Bis dahin hatte ich das Konzept des Miteinanderschlafens nicht ganz verstanden. Es kam mir kitschig und albern vor. Doch in dem Moment begriff ich es. Es geht nicht nur um die Bewegungen. Es geht darum, dass einem, wenn der andere einem nahe ist, das Herz übergeht. Dass sich sein Atem anfühlt wie ein warmes Feuer. Dass das Gehirn völlig abschaltet und das Herz die Führung übernimmt.
Mich interessierte nichts anderes mehr, ich wollte nur ihn fühlen, seinen Geruch, seinen Geschmack wahrnehmen. Ich wollte mehr von ihm.
Hinterher lagen wir nackt und verletzlich nebeneinander, hatten jedoch das Gefühl, weder das eine noch das andere zu sein. Er nahm meine Hand.
»Ich möchte dir etwas sagen, aber ich will nicht, dass du denkst, es wäre wegen dem, was wir gerade getan haben.«
Ich wusste, was es war. Wir beide wussten es. »Dann sag es später«, antwortete ich.
Er schien enttäuscht von meiner Antwort, und ich erklärte sie ihm.
»Wenn du es sagst, sage ich es auch.«
Er lächelte, dann schwieg er einen Moment. Ich dachte schon, er sei eingeschlafen, doch dann meinte er: »Es ist gut, oder?«
Ich wandte mich ihm zu. »Ja«, bestätigte ich. »Das ist es.«
»Nein«, korrigierte er, »was wir haben, ist perfekt. Wir könnten irgendwann heiraten.«
Ich dachte an meine Großeltern, das einzige verheiratete Paar, das ich kannte. Wie meine Großmutter meinem Großvater manchmal das Essen schnitt, wenn er sich zu schwach fühlte, es selbst zu tun.
»Irgendwann«, sagte ich. »Ja.«
Wir waren neunzehn.