Das Buch
Wenn es um Spurensuche geht, gibt es niemand Besseren als Ryder Creed. Mit seinen vierbeinigen Helfern fahndet der sympathische Hundeführer nach Vermissten, Drogen und Sprengstoff. Als er auf ein verdächtiges Fischerboot gerufen wird, macht seine Hündin Grace einen unterwarteten Fund: amerikanische Kinder, die zum Schmuggel missbraucht werden sollen. Die Nachricht gelangt in die Presse und Creed ins Fadenkreuz der Verbrecher. Seine Lage verschlimmert sich noch, als er einer jungen Drogenkurierin zur Flucht verhilft – der vierzehnjährigen Amanda, die ihn an seine verschwundene Schwester erinnert. Special Agent Maggie O’Dell ist sich sicher, dass Creed und Amanda in höchster Gefahr schweben, und so muss Creed nicht nur die Hintermänner aufspüren, sondern auch sein eigenes Leben retten …
Die Autorin
Alex Kava, aufgewachsen in Nebraska, studierte Kunst und Englisch bevor sie in die Werbe- und Grafikdesignbranche einstieg. Ihr Debütroman Das Böse war auf Anhieb ein großer Erfolg, seither sind ihre Thriller regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Mit Todesflehen beginnt Alex Kava eine neue Serie um den charmanten Hundeführer Ryder Creed, der FBI-Profilerin Maggie O’Dell zur Seite steht.
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ALEX KAVA
THRILLER
Aus dem Amerikanischen
von Sabine Schilasky
Von Alex Kava sind im Diana Verlag erschienen:
Erloschen
Menschenleer
Todesflehen
Deutsche Erstausgabe 04/2016
Copyright © 2015 by S. M. Kava
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
Breaking Creed bei G. P. Putnam’s Sons,
a division of Penguin Putnam LLC, New York
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Uta Rupprecht
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv: © shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-17112-4
V001
www.diana-verlag.de
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Auch als E-Book lieferbar
Für meinen Jungen, Scout
März 1998 – Mai 2014
Ich vermisse dich sehr, Kumpel
1
Barranquilla,
Kolumbien
Amanda lief der Schweiß über den Rücken, Haarsträhnen klebten ihr an der Stirn. In dem Zimmer war es stickig und stank nach fettigem Schweinebraten. Ihr war übel, auch vom Geruch der schleimigen Suppe, die sie ihr gegeben hatten, damit ihre Kehle geschmeidiger wurde. Eine kleine Schale mit der goldgelben Brühe stand vor ihr, die Oberfläche voller Fettaugen. Die Suppe werde ihr guttun, hatte Leandro erklärt.
»Da ist eine besondere Medizin drin«, sagte er auf seine sanfte, beruhigende Art. »Die ist gut für deinen Hals und macht deine Aufgabe leichter.«
Amanda wusste, dass er recht hatte. Letzte Woche, als sie das zum ersten Mal machte, hatte sie überhaupt nicht gemerkt, was sie schluckte. Ihr Mund hatte sich so taub angefühlt wie beim Zahnarzt.
Jetzt aber starrte sie die übrigen Ballons auf dem zerkratzten Holztisch an, und ihr Magen hob sich erneut.
Beim letzten Mal hatte sie einundfünfzig Ballons geschluckt. Leandro war sehr stolz auf sie gewesen. Und jeder von ihnen war problemlos wieder herausgekommen – nun ja, problemlos insofern, als keiner gerissen war. Das Herauskommen selbst war nicht so schmerzfrei gewesen, wie Leandro es versprochen hatte.
Dieses Mal hatte sie erst sechsunddreißig Ballons hinuntergewürgt, als die Übelkeit einsetzte.
Leandro würde enttäuscht sein. Und wie konnte sie ihn enttäuschen, nachdem er ihr so viel gegeben hatte? Wo er doch so gut zu ihr war?
Sie sah ihm zu, wie er den letzten Ballon füllte. Er hatte ihr erzählt, er benutze nur die stabilsten Kondome, die es zu kaufen gab. Um ihretwillen, weil ihm wirklich etwas an ihr liege. Mit diesen Kondomen sei das Risiko, dass eines in ihrem Bauch aufriss, gleich null.
Amanda hatte ihn gefragt, was passieren würde, wenn einer der Ballons in ihr platzte. Aber da hatte Leandro nur abgewinkt, als wollte er lästige Fliegen verscheuchen. Diese Geste war Amanda mittlerweile vertraut, denn sie begleitete Leandros Lieblingsspruch: »Das willst du nicht wissen. Überlass das Leandro.«
Doch beim Anblick seiner schmalen Finger, die das Kondom über ein Glasröhrchen stülpten, fragte Amanda sich erneut, was wäre, würde einer der Ballons in ihr kaputtgehen. War das vielleicht sogar der Grund, warum ihr jetzt so schlecht war? Prompt setzte sie sich gerader hin, als könnte sie den Ballons in ihrem Magen auf diese Weise mehr Platz verschaffen.
Sie bemühte sich, nicht mehr daran zu denken. Stattdessen beobachtete sie Leandro, der sorgfältig Kokain in das Kondom löffelte. Sobald es zwei Zentimeter breit war und sich die Latexspitze ungefähr einen Zentimeter weit vorwölbte, knotete Leandro das Kondom zu, sodass der Gummiball klein und stramm blieb. Dann schnitt er den überstehenden Zipfel säuberlich ab, damit Amanda weniger zu schlucken hatte. Letzte Woche hatte er ihr versichert, auch das tue er nur, um sie zu schützen.
Sie blickte sich im Zimmer um. Weder die drei anderen, die ebenfalls Ballons schluckten, noch Leandros Partnerin, die alte Frau namens Zapata, achteten auf Leandro. Alle konzentrierten sich auf das, was sie zu tun hatten. Amanda hingegen betrachtete seine Muskeln, die sich unter dem T-Shirt wölbten. Und trotzdem hatte er so sanfte Finger! Er tat alles, um es für sie leichter zu machen, und dafür liebte sie ihn umso mehr. Er würde nie zulassen, dass ihr etwas zustieß. Und ein bisschen Bauchweh konnte sie ja wohl aushalten.
Sie leckte sich über die Lippen und stellte fest, dass sie taub waren. Doch anstatt panisch zu werden, sagte sie sich, dass es nur an der Medizin in der Suppe lag. Sie musste etwas davon auf die Lippen bekommen haben. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie musste sich beruhigen. Und sicher war ihr Magen bloß wegen des neuen Mädchens in Aufruhr. Ja, Amanda war auf einmal sicher, dass ihre Übelkeit nur mit ihr zu tun hatte.
Das Mädchen weinte, seit sie ins Zimmer gebracht worden war. Sogar während sie die Suppe aß, hatte sie ganz leise vor sich hin geflennt und nur hin und wieder beim Luftholen so ein komisches Schluchzen ausgestoßen.
Sie war ein Jahr älter als Amanda. Zapata hatte zu Leandro gesagt, das Mädchen sei fünfzehn. So benahm sie sich allerdings nicht. Wahrscheinlich tat sie nur so verzweifelt, um Leandro auf sich aufmerksam zu machen, denn plötzlich ließ er seine Arbeit stehen und ging zu ihr.
»Lucía«, sagte er sanft.
Dann legte er dem Mädchen eine Hand auf den Rücken, beinahe als wollte er es streicheln. Amanda hielt die Luft an und lauschte angestrengt auf das, was Leandro dem Mädchen zuflüsterte, als er sich zu ihm beugte. Seine Lippen berührten fast ihr Ohr. Leider verstand sie nichts, sie konnte nicht genug Spanisch. Aber Leandros Tonfall war beruhigend, als wollte er Lucía trösten und sie überzeugen, dass alles okay war. Es war derselbe Ton, in dem er auch mit Amanda redete.
Amanda nahm sich noch einen Ballon von dem Haufen und tunkte ihn in die kleine Schale, um ihn mit der öligen Brühe zu benetzen. Ihr war egal, wenn dabei ihre Finger ebenfalls fettig und ölig wurden. Dann steckte sie den Ballon schnell in den Mund, ohne den Blick von Leandro abzuwenden. Ihre Kehle war noch taub, und Amanda konnte ihn mühelos hinunterschlucken.
Sie griff nach dem nächsten und machte es wieder so, wie Leandro es ihr beigebracht hatte. Schob noch zwei weitere nach. Ihre Wut half beim Schlucken, und schon ließ die Übelkeit nach. Bevor die arme Lucía heulend zwei Ballons heruntergewürgt hatte, war Amanda schon bei einem halben Dutzend. Und sie wurde belohnt, denn Leandro sah zu ihr. Erstaunt zog er die Brauen hoch, dann verwandelte ein Lächeln sein ganzes Gesicht. Als sie schließlich zum Flughafen aufbrachen, hatte Amanda zwei Ballons mehr geschluckt als letzte Woche, während Lucía – immer noch weinend und jetzt eine Hand auf den Bauch gepresst – gerade mal fünfundzwanzig hinuntergebracht hatte.
Mit so einer erbärmlichen Vorstellung kriegst du Leandro nie rum, dachte Amanda insgeheim. Obwohl diese Lucía richtig hübsch war. Das ältere Mädchen hatte langes schwarzes Seidenhaar und eine schöne mittelbraune Haut. Amandas Haar war strähnig und von einem schmutzigen Blond, und ihr Gesicht war mit Sommersprossen übersät, die sie so gerne einfach weggeschrubbt hätte. Egal, wie viele Ballons sie auch schluckte, sie blieb eifersüchtig auf die Neue. Eifersüchtig und ängstlich, dass Leandro diese Lucía besser finden könnte, weil sie Kolumbianerin war und Amanda nur amerikanischer »weißer Dreck«. So nannte Zapata sie immer, obwohl Leandro dann jedes Mal mit der Alten schimpfte.
Zuerst hatte Amanda gedacht, Zapata wäre Leandros Mutter, aber inzwischen wusste sie, dass die Frau viel zu kalt war; sie konnte keine Mutter sein. Und dabei hatte Amanda nicht mal ein besonders rosiges Bild von Müttern. Ihre eigene hatte sie aus dem Haus geschmissen und ihr erklärt, sie solle sich nie wieder blicken lassen. Nur weil ihr Freund nicht aufhören konnte, Amanda zu begrapschen. Ihre Mutter hatte das Arschloch erwischt, als er sie gegen die Küchenzeile drückte.
Anstatt Amanda zu fragen, ob mit ihr alles okay sei, und den Scheißkerl rauszuwerfen, hatte sie ihre Tochter aus dem Haus gejagt.
Aber das war besser so. Amanda hatte da sowieso rausgemusst, und sonst hätte sie Leandro nie kennengelernt. Er wusste wenigstens, was er an ihr hatte. Er mochte sie; und nach dem heutigen Tag würde vielleicht auch Zapata begreifen, dass Amanda Respekt verdiente.
Wenigstens schrie Zapata heute Lucía an. Noch mehr Spanisch, doch Amanda musste es nicht verstehen, sie merkte auch so, dass die Alte die Geduld mit dem neuen Mädchen verlor. Franco war hereingekommen, um zu sagen, draußen stehe der Van bereit, und die anderen griffen schon nach ihren Rucksäcken.
Nur Lucía nicht. Sie weinte jetzt noch heftiger und hielt die Arme fest um ihren Bauch geschlungen. Ihr Gesicht war nicht bloß von Tränen, sondern auch von Schweiß verschmiert. Offensichtlich hatte sie Schmerzen.
Ganz langsam ging Amanda zur Tür und wartete ab, weil sie im Van neben Leandro sitzen wollte. Der aber hatte nur Augen für Lucía.
Und plötzlich kippte das Mädchen um und knallte mit dem Kopf gegen ein hölzernes Tischbein.
Amanda war fassungslos. Spielte Lucía das?
Zapata schüttelte den Kopf und sagte etwas zu Leandro, mit einer beängstigend ruhigen Stimme. Leandro hingegen raunte einige Flüche.
Amanda konnte den Blick nicht abwenden. Jeden Moment rechnete sie damit, dass sich das Mädchen bewegte. Aber Lucía rührte sich nicht einmal dann, als Leandro sie anstieß. Jetzt war nichts Sanftes mehr an ihm. Dass Lucía nicht reagierte, machte ihn wütend, und Zapata packte ihn am Arm, bevor er das Mädchen noch einmal anstoßen konnte.
»Die ist erledigt«, sagte Zapata. »Hol’s raus.«
Erst jetzt bemerkte sie Amanda, und ihre Augen wurden groß. Einen Moment lang glaubte Amanda Panik darin zu sehen, bevor Zapatas Miene wieder eiskalt und hart wurde. Sie trat auf Amanda zu und bedeutete ihr mit lebhaften Gesten, sie solle verschwinden, doch Amanda starrte unverwandt auf Lucía und auf Leandro, der über sie gebeugt war.
»Wir müssen los«, sagte Zapata ruhig und fasste Amanda am Ellbogen. »Wir dürfen unseren Flug nicht verpassen.«
Die Alte zog und zerrte Amanda am Arm, doch bevor Amanda sich umdrehte, sah sie noch, wie Leandro ein Messer aus seinem Stiefel zog. Er murmelte immer noch Flüche vor sich hin oder verfluchte Lucía – was genau, wusste Amanda nicht. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er schien nicht mal mitzubekommen, dass sie im Zimmer war, als er eilig und voller Zorn Lucías Kleidung aufschnitt, ihr fast vom Leib riss. Half er ihr? Konnte er sie retten? Vielleicht war es noch nicht zu spät.
»Was macht er da?«, fragte Amanda.
»Geht dich nichts an!«, erwiderte Zapata, bohrte ihr die Fingernägel in den Arm und zerrte sie mit sich nach draußen.
Ehe sie durch die Tür waren, wandte Amanda sich noch einmal um und sah, wie Leandro das Messer erneut ansetzte, diesmal an Lucías Bauch. Und jetzt wusste Amanda, was passierte, wenn ein Ballon in ihrem Bauch zerriss.
2
Vor Pensacola Beach, Florida,
am Golf von Mexiko
Der Helikopter der Coast Guard neigte sich zur Seite, und Ryder Creed geriet auf seinem Sitz ins Rutschen. Er umfasste Grace fester. Mit der anderen Hand klammerte er sich so sehr an den Ledergurt, der an der Innenwand verankert war, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Grace war ohnehin mit ihm vertäut: Ein Ende der Nylonleine hing an ihrer Weste, das andere war um Creeds Taille gewickelt. Doch obwohl sie noch nie mit einem Hubschrauber geflogen war, wirkte sie kein bisschen nervös.
Creed hingegen war bei diesem Ausflug gar nicht wohl. Vielmehr bereute er schon, den Auftrag angenommen zu haben. Keiner seiner Hunde war je in einem Helikopter gewesen, und der sechzehn Pfund leichte Jack-Russell-Terrier neben ihm fühlte sich gleich noch kleiner an.
Dabei nahm Grace alles völlig gelassen. Im Nu hatte sie sich an das Wummern der Rotorblätter gewöhnt und schien den Achterbahnflug schlicht als Abenteuer zu begreifen. Sie betrachtete und beschnupperte die unbekannte Umgebung, offenbar konnte sie es nicht erwarten, an die Arbeit zu gehen. Sobald sie ihre Weste anbekam, wusste die Hündin, dass sie unterwegs zu einem Job waren, und sie liebte ihre Arbeit. Das machte sie zu einem so hervorragenden Spürhund. Sie war von Natur aus neugierig, und je schwieriger das Rätsel, desto begeisterter war sie bei der Sache.
»Der ist nicht unbedingt das, was ich erwartet habe«, war das Erste, was Commander Wilson gesagt hatte, als er Grace und Creed am Hubschrauberlandeplatz in Empfang nahm.
Während Wilson ihm einen »Mustang« reichte – so nannten die Flieger ihre orangefarbenen Anzüge –, hatte er Grace angesehen, als könnte Creed aus Versehen den falschen Hund mitgebracht haben. Auch der Rest der Crew – der Kopilot Tommy Ellis, der Flugzeugmechaniker Pete Kesnick und die Rettungsschwimmerin Liz Bailey – betrachteten den Terrier, als wüssten sie nicht so recht etwas mit ihm anzufangen.
Und das, nachdem die Coast Guard ausdrücklich Grace angefordert hatte! Letzte Woche hatte sie es in die landesweiten Nachrichten gebracht, weil sie am internationalen Terminal von Hartsfield-Atlanta zwei Kilo Kokain erschnüffelt hatte. Eine Kolumbianerin war auf die pfiffige Idee gekommen, Schokoriegel mit Kokainkern zu basteln. Die hatte sie durch den Zoll geschmuggelt und war schon auf dem Weg aus dem Flughafen, als Creed von Grace aus der Reihe gezogen wurde, die sie gerade überprüften, der Frau hinterher.
Zwei Wochen zuvor hatte Grace bei einer Reisetasche mit einem Karton Erdnussbutter angeschlagen, die aus dem Frachtraum einer American-Airlines-Maschine aus Iquitos in Peru auf das Gepäckband geladen worden war. Bereits den ganzen Vormittag hatten Creed und Grace das Gepäck der ankommenden internationalen Flüge überprüft, als Grace ihn auf die rot-schwarz-karierte Reisetasche aufmerksam machte, die funkelnagelneu aussah. Und siehe da: Mitten in jedem Glas Erdnussbutter steckte ein dreifach verpackter Kokainvorrat, beinahe ein Kilo in jedem der Halbliterbehälter »Extra crunchy«-Brotaufstrich. Wie Creed erfuhr, belief sich der Straßenverkaufswert des gesamten Zwölferkartons auf annähernd eine Million Dollar.
Auf einmal waren sie berühmt. Vor zwei Tagen erst waren Creed und Grace bei Aufzeichnungen für das Frühstücksfernsehen gewesen, noch in dieser Woche sollte ihr Auftritt gesendet werden. Creeds Partnerin Hannah hatte schon telefonische Anfragen von Good Morning America und Fox and Friends für weitere Fernsehauftritte. Natürlich nahm Grace die zusätzliche Aufmerksamkeit genauso wie alles andere: als Teil ihres täglichen Abenteuers.
Creed ging weniger gelassen damit um.
Er hatte hart gearbeitet, um sein Privatleben möglichst abzuschirmen, während er seinen Such- und Spürhundeservice aufbaute. Zunächst hatte er alle Medienanfragen rundheraus abgelehnt, doch dann hatte Hannah ihn überzeugt, dass seine Schwester Brodie ihn möglicherweise auf diese Weise finden könnte.
»Rye«, hatte Hannah gesagt, als er aufstöhnte beim Anblick eines weiteren Fotos von Grace und ihm, diesmal auf dem Cover von USA Today, »was ist, wenn Brodie noch lebt? Sie sieht dich vielleicht und erkennt den Namen wieder, wenn auch nicht unbedingt das Gesicht. Die ganze Gratis-PR könnte ein Segen sein.«
So war Hannah, sie sah immer die gute Seite, den Segen, wo Creed nichts als Chaos und Lärm wahrnahm. Und aus derselben Zuversicht heraus hatte sie ihn seinerzeit gerettet. Vor sieben Jahren hatte sie erkannt, was in dem trinkenden, angriffslustigen Marine steckte, der es bei einer Kneipenprügelei gleich mit drei Kerlen aufnahm. Das war am Ende ihrer Schicht in Walter’s Canteen in Pensacola Beach gewesen.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Creed es mit einer wütenden Schwarzen zu tun bekommen, noch dazu einer, deren Zorn sich in einer ruhigen Predigt Bahn brach. Kein Drill Sergeant hatte Creed jemals derart schnell ernüchtert. Irgendwie hielt er am Ende einen Wischmopp in den Händen und wischte Scherben sowie klebrige Bierpfützen auf, statt mit eingeschlagenem Schädel oder gebrochenen Rippen in einer Seitengasse zu liegen.
Hannah hatte Creed überredet, das, was er als Hundeführer in seiner Marine-Einheit gelernt hatte, zu nutzen und eine eigene Firma zu gründen. Und seit jener Nacht war Hannah zu seiner Geschäftspartnerin, Vertrauten, Therapeutin und Familie geworden. Normalerweise hatte sie immer recht, selbst dann, wenn Creed es nicht zugeben wollte. Und vielleicht war es in diesem Fall wieder so.
Vor fünfzehn Jahren war Creeds Schwester Brodie an einer Autobahnraststätte verschwunden. Damals war sie erst elf Jahre alt gewesen; Creed war vierzehn. Brodies Leiche wurde nie gefunden. Die Ehe von Creeds Eltern war darüber zerbrochen, und Creed war zwangsläufig sehr schnell erwachsen geworden, immerzu verfolgt von jenem Herbsttag, an dem Brodie plötzlich nicht mehr in der Damentoilette war. Sie war nirgends zu finden gewesen.
Die Suche nach ihr hatte Creed angespornt, »K9 Crime Scents« ins Leben zu rufen. Die Firma war heute Millionen Dollar schwer, beschäftigte zwölf Mitarbeiter, verfügte über ein Trainingsgelände von zwanzig Hektar und eine lange Warteliste von Anfragen.
Bei jeder Leichensuche lebten Creeds Hoffnungen auf, denn selbst wenn Brodie als kleines Mädchen verschwunden war, bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie in den letzten fünfzehn Jahren irgendwo gelebt hatte. Und so kam es, dass Creed jedes Mal, wenn er mit seinen Hunden eine Leiche fand – sei es ein Kind, ein Teenager oder eine junge Frau –, insgeheim damit rechnete, es könnte Brodie sein. Und jedes Mal, wenn die Leiche als jemand anders identifiziert wurde, empfand er dieselbe Mischung aus ungemeiner Erleichterung und entsetzlicher Angst. Erleichterung, weil seine Schwester mit einer winzigen Wahrscheinlichkeit noch am Leben war, und Angst, weil sie in diesem Fall vielleicht ein schreckliches Leben hatte.
Als ihn anfangs bei der Suche nach Leichen die Verzweiflung beinahe umbrachte, bestand Hannah darauf, dass er auch Hunde für Such- und Rettungsdienste ausbildete. Danach setzte sie noch Bomben und Drogen mit auf die Liste. Und in den letzten Wochen hatte sie ihn ausschließlich Drogenaufträge abarbeiten lassen. Immer, wenn sie ihn völlig erledigt in seinem Loft vorfand oder zu viele Frauen kommen und gehen sah, wusste sie, dass er eine Pause von der Leichensuche brauchte. Sonst würden ihm der Gestank des Todes und die vergebliche Hoffnung sämtliches Leben aussaugen.
Also hatte Creed ihr erklärt, er würde das Mediengewimmel hinnehmen, solange es Grace nichts ausmachte. Und dass er noch ein paar Drogensuchen übernehmen würde. Aber dieser Helikopterflug brachte Erinnerungen zurück, mit denen Creed nicht gerechnet hatte, und jetzt wünschte er, er hätte zu Hannah und diesem Auftrag gleich Nein gesagt.
Grace leckte ihm die Hand und sah ihn an. Ein eindringlicher, starrender Blick war eigentlich ihr Zeichen, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchten. Sie war einer seiner wenigen Multitask-Hunde, Creed musste ihr lediglich eine andere Weste oder ein anderes Geschirr anlegen, schon wusste sie, was sie erschnüffeln sollte. Aber dieses Starren war anders. Hunde spürten die Gefühle ihrer Halter, und Grace wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie war ein erstaunlicher kleiner Hund. Es war schwer zu glauben, dass jemand sie einfach wie Abfall in dem Graben am Ende von Creeds Einfahrt abgelegt hatte. Andererseits war Creed auf diese Weise zu den meisten seiner Hunde gekommen.
Hannah hatte den Kopf geschüttelt, als er schon wieder einen Streuner anschleppte.
»Die Leute nutzen dein gutes Herz aus«, hatte sie zu Creed gesagt.
Was keiner verstand, nicht einmal Hannah, war, dass die Hunde, die er rettete – diese ausgesetzten Welpen, die jemand anders für wertlos hielt –, zu einigen seiner besten Spürhunde aufblühten. Sie waren loyal, und das Band zwischen Creed und den Hunden war stark. Er hatte ihnen einen Lebenssinn gegeben, eine zweite Chance. Und in gewisser Weise gaben sie ihm genau das zurück.
Aber jetzt musste er um Grace’ willen die Erinnerungen, die vom Dieselgeruch und dem Knattern der Rotorblätter wachgerufen wurden, verdrängen. Es war Grace’ erster Helikopterflug, aber das galt bei Weitem nicht für Creed. Fast sofort nach dem Einsteigen hatten die Vibrationen einen Rhythmus angestimmt, der seinen Herzschlag zu verschlucken drohte. Ohne Vorwarnung war ihm, als würde sein Brustkorb gleich explodieren. Creed streckte den Kopf zur Seite, um nach unten auf das smaragdgrüne Wasser zu sehen. Er atmete tief ein, um seine Nerven zu beruhigen, versuchte, sich daran zu erinnern, dass unter ihm der Golf von Mexiko war, nicht die erstickende Staub- und Felsenlandschaft Afghanistans.
In Momenten wie diesem überraschte ihn jedes Mal, wie sehr er jenen Ort noch fühlen konnte. Und die Schuld daran lag ganz allein bei ihm.
Sein Fehler.
Auf der Suche nach einem Fluchtweg aus seinem Leben hatte er gedacht, die Marine würde ihn weit weg bringen von seinen Problemen. Stattdessen musste er entdecken, dass es noch weit schlimmere Versionen der Hölle gab als die in ihm.
»Wir sind fast da«, dröhnte Commander Wilsons Stimme durch Creeds Helm und erschreckte ihn ein bisschen.
Creed streichelte Grace hinter den Ohren – ihr Zeichen, dass alles okay war. Schließlich legte sie ihm den Kopf aufs Bein, doch ihre Ohren waren noch immer nach vorn gerichtet, was ihm zeigen sollte, dass er ihr nichts vormachen konnte.
3
An Bord des Coast-Guard-Kutters
Scout WMEC-630
Um sie herum schäumte das Wasser, und der Wind hatte aufgefrischt. Creed war beeindruckt, wie sanft Commander Wilson auf dem Deck des Kutters gelandet war. Dessen Crew hatte das Boot, um das es ging, bereits angehalten. Es handelte sich um ein kommerzielles Fischerboot, die Blue Mist, und sie war eine echte Schönheit. Creed schätzte, dass in die Laderäume des über zwanzig Meter langen Schiffs mindestens achtzigtausend Pfund Fisch passten. Die Küstenwache hatte allerdings Grund zu der Annahme, dass sich unter dem heutigen Fang noch eine ganz andere Ladung befand.
Commander Wilson hatte Creed vorhin erklärt, dass die Coast Guard die Blue Mist schon seit ein paar Wochen beobachtete. Normalerweise war das Schiff im Golf auf Langleinenfang nach Goldmakrelen, wobei es den Laichwegen der Fische folgte. Neuerdings jedoch fuhr es immer wieder in die Karibik, bis an die kolumbianische Küste. Das war an sich nicht ungewöhnlich, nur hatte das Radar der Coast Guard gezeigt, dass das Fangschiff an mehreren großen Algenfeldern vorbeigeschippert war. Das bräunliche Sargassum trieb an der Wasseroberfläche, und die Goldmakrelen ernährten sich von den Lebewesen, die der Algenteppich anzog.
Nun stand Creed an Bord der Blue Mist und sah hinunter in den Laderaum. Er staunte, wie schön die Fische sogar aufeinandergehäuft noch waren. Ihre Seiten glitzerten golden, blau und schillernd grün, ihre Bäuche weiß und gelb. Sie waren größer, als Creed erwartet hatte, einen Meter lang und länger. Ihre Köpfe waren von unterschiedlicher Größe und Form, und Creed nahm an, dass dies mit ihrem Geschlecht zusammenhing. Die meisten hatten runde Köpfe, wobei einige an der Oberseite über dem Rumpf aufragten.
»Goldmakrelen waren früher bloß Beifang«, sagte Wilson. Erst jetzt bemerkte Creed, dass der Commander ihm gefolgt war und neben ihm stand. Ihnen gegenüber wurden zwei Coast-Guard-Offiziere von einem kräftigen Mann beschimpft. Er trug Baseballkappe, eine weite Hose und ein weißes T-Shirt, und war offenbar der Kapitän der Blue Mist.
»Die Fischer hielten sie für eine Pest, weil sie an ihren Langleinen endeten, wenn sie Thunfisch oder Schwertfisch fangen wollten«, fuhr Commander Wilson unaufgefordert fort. »Jetzt sind die Restaurants ganz verrückt nach Goldmakrelen, genau wie der europäische Markt.«
»Es könnte sein, dass ihr Laderaum schon voll war, als sie an dem Sargassum vorbeischipperten«, sagte Creed, während er alles, was er brauchte, aus seinem Rucksack holte.
»Klar, nur warum sind sie dann weiter nach Süden?«, fragte Wilson.
Zum Glück war es nicht Creeds Job, darauf eine Antwort zu finden. Er zog die Watstiefel über seine Wanderstiefel und streifte sich einen Netzbeutel mit Nylonträgern über Kopf und Schulter. Creed verstand oft nicht, warum Leute taten, was sie taten. Das war einer der Gründe, warum er lieber Hunde um sich hatte.
Wilson musste ihm keine näheren Details geben, denn Creed wusste bereits, dass sich ein neues kolumbianisches Drogenkartell zu etablieren versuchte. Der Choque Azul – »Blauer Schrecken« – war seit sechs bis acht Monaten dabei, die alten Drogenrouten durch den Golf zu reaktivieren. Seit den 1990er-Jahren waren sie nicht mehr genutzt worden, weil es seit damals einfacher war, über die mexikanische Grenze nach Texas und Arizona zu gelangen, als die Drogen durch den Golf zu bringen.
Derzeit jedoch tobte ein brutaler Krieg zwischen den mexikanischen Kartellen – den Zetas und den Sinalaos –, weshalb die Kolumbianer sich neue Transportwege suchten. Schokoriegel und Erdnussbuttergläser waren nur kleine Pakete, eher schräge Tests. Die selbst gebauten Tauchbehälter und kommerziellen Fischkutter hingegen waren für die großen Frachten gedacht. Falls die Coast Guard recht hatte, was diesen Longliner anging, könnte sich irgendwo an Bord Kokain befinden – am wahrscheinlichsten unter den Bergen von Goldmakrelen.
Creed hatte noch nie eine Suche auf einem Fangschiff gemacht, und jetzt, als er Grace’ Weste richtete, wurde ihm klar, dass es nicht einfach sein würde. Wilson merkte das offenbar.
»Wetten, Sie wünschen sich, Sie hätten einen größeren Hund mitgebracht?«, fragte er.
Grace wartete schwanzwedelnd und hechelnd auf Creeds Kommando, damit sie in die Luke springen und loslegen konnte.
»Größer heißt nicht zwangsläufig besser«, erwiderte Creed.
Dann sah er Grace an, die ihn aufmerksam musterte, und klopfte sich an die Brust. Sie sprang in seine Arme, und er steckte sie in den Netzbeutel unter seinem Ellbogen. So war Grace in sicherer Höhe, wenn Creed durch die Haufen glitschiger Fische watete. Sie brauchte lediglich zu schnüffeln, sobald er ihr gesagt hatte, wonach sie suchten. Lustigerweise lautete sein Kennwort für Drogen »Fisch«.
»Such Fisch«, sagte er dem Hund, als er spürte, wie aufgeregt das Tier im Beutel zappelte. Doch beim Abstieg in den beißenden Gestank fragte Creed sich, ob das nicht eine Überforderung für jeden Spürhund war.
Fast dreißig Minuten lang arbeiteten sie nach einem Raster. Der Kapitän brüllte nach wie vor die beiden Coast-Guard-Offiziere an, seine Dorados würden »in der Sonne verderben«. Grace’ Nase bewegte sich hin und her. Zweimal hatte sie schneller geatmet, aber noch nichts angezeigt. Nicht einmal um irgendwo erneut zu schnüffeln. Creed versuchte, den glitzernden Fisch zur Seite zu schieben, um den Lukenboden sehen zu können, doch er stand knietief in der Ladung, und dieses Bemühen war, als wollte er ein Loch in lockeren Sand graben. Die Fische glitschten sofort wieder zurück, kaum dass er sie weggeschoben hatte. Den Boden des Laderaums bekam er nicht zu sehen.
Plötzlich begann Grace heftig zu zappeln und reckte die zuckende Nase höher. Ihr Atem ging schnell, fast ohne Pausen zwischen dem Ein- und Ausatmen. Creed wurde langsamer, horchte und blickte sich um. Seine kleine Hündin war für ihn eine Art lebendiger Geigerzähler.
Plötzlich versteifte Grace sich, und Creed blieb stehen. Die Hündin starrte ihn an, was ihr Signal war, das Alarmzeichen. Doch dann tat sie etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte: Sie fing an zu winseln. Es war ein leiser, sanfter Laut, bei dem sich Creeds Nackenhaare aufstellten.
»Wir haben hier was!«, rief er den beiden von der Coast Guard oben zu.
Sie blickten zu ihm nach unten. Sogar der Kapitän der Blue Mist war verstummt.
Binnen Minuten waren vier Männer in Watstiefeln in den Laderaum herabgestiegen. Sie hatten große Schaufeln dabei, die wie Schneeschieber aussahen, die Blätter fast einen Meter im Quadrat. Damit konnten sie die Fische zur Seite schieben und verhindern, dass sie gleich wieder zurückrutschten.
Creed beobachtete Grace. Er hatte sie dicht an sich gezogen und eine Hand in dem Netzbeutel, sodass er sie kraulen konnte. Sie winselte nicht mehr, zitterte nun aber. In der heißen Sonne rann Creed Schweiß über den Rücken und die Stirn, doch Grace bibberte.
Das gefiel ihm nicht, denn so hatte er sie noch nie erlebt.
Die Männer räumten einen drei mal drei Meter großen Bereich frei und stießen darunter auf Holz. Und obwohl Grace weiter auf die Stelle starrte, hörte sie nicht auf zu zittern.
»Hier ist nichts«, sagte einer der Männer zu Creed. Dann reckte er den Hals, um nach oben zu Commander Wilson zu sehen, der an Deck geblieben war. »Wir haben nichts.«
»Da hatte Ihr Hund wohl kein Glück«, rief Wilson.
»Unter den Bodenbrettern«, sagte Creed, auch wenn er keinen Schimmer hatte, ob Grace vielleicht nur durch den extremen Fischgestank irritiert wurde. Unter den Brettern könnte auch gar nichts sein.
Die Männer sahen fragend nach oben zu Wilson, doch ehe der antworten konnte, schrie einer von ihnen: »Hier ist ein Brett lose!«
Und plötzlich zogen die anderen Stemmeisen aus einem Leinensack, der Creed zuvor gar nicht aufgefallen war.
»Vorsichtig!«, sagte der Anführer der Truppe.
Das Holz ächzte und knackte. Grace fing wieder zu winseln an, und anscheinend veranlasste das die Männer, langsamer zu machen, allerdings mit einer gewissen Dringlichkeit. Nägel lösten sich quietschend, und zwei Bretter sprangen weg. Erst jetzt bemerkte Creed, dass Grace nicht mehr winselte. Trotzdem hörte er noch ein leises Summgeräusch, beinahe wie Rufen, und das war nicht Grace. Es kam von unterhalb der Bodenbretter.
Noch mehr Holz knackte, und auf einmal sagte einer der Männer: »Ach du Scheiße. Da unten ist jemand!«
4
Es waren Kinder. Creed schätzte das älteste auf dreizehn, höchstens vierzehn Jahre. Drei Mädchen und zwei Jungen. Ein Junge sah aus, als wäre er noch nicht mal zehn. Wie verängstigte Tiere kletterten sie langsam aus dem Loch, wobei sie Hilfe brauchten. Ängstlich blinzelnd standen sie im Sonnenlicht und blickten sich um; offensichtlich fürchteten sie sich vor dem, was auf dieser beängstigenden Reise als Nächstes kam.
Die Kinder waren schmutzig: das Haar verfilzt und stumpf, die Gesichter dreckverschmiert, die nackten Füße wund gescheuert. Trotz des strengen Fischgeruchs nahm Creed auch den Gestank von Schweiß, Urin und Fäkalien wahr, der in ihrer Kleidung hing. Und bei allem Schmutz war eines unverkennbar: Das waren keine kolumbianischen Kinder, die aus Südamerika in die Vereinigten Staaten geschmuggelt werden sollten.
Im Licht waren unter all dem Schmutz hier und da blondes Haar und helle Haut zu erkennen, so blass wie die hellen Fischbäuche, die sie umgaben.
Diese Kinder sahen aus, als stammten sie aus den Vereinigten Staaten.
Creed erinnerte sich, dass Commander Wilson gesagt hatte, der Fischkutter sei an den üblichen Futterstellen der Goldmakrelen vorbeigefahren, habe schon einen kompletten Fang an Bord gehabt und trotzdem den Kurs nach Süden beibehalten, aus dem Golf von Mexiko heraus und auf die kolumbianische Küste zu. Normalerweise wurden Leute in die Vereinigten Staaten geschmuggelt, nicht hinaus. Seit wann lief das in beide Richtungen? Sollte diese Fracht vielleicht nach Südamerika gehen?
Alle an Bord waren verstummt, selbst die Männer, die den Kindern aus dem Versteck geholfen hatten. Sie waren auf der Suche nach geschmuggeltem Kokain gewesen, nicht nach menschlicher Fracht. Und schon gar nicht nach Kindern.
Der Wind hatte sich beruhigt, als stockte sogar ihm angesichts dieser Entdeckung der Atem. In der Stille hörte Creed das Plätschern der Wellen am Schiffsrumpf. Einige Möwen wagten sich näher heran, um die Fischladung zu beäugen. Doch das schwache Summen war immer noch da, ein trauriges Wimmern wie von einem ängstlichen oder verwundeten Tier. Es war dasselbe Geräusch, das Creed gehört hatte, bevor die Bodenbretter aufgestemmt wurden. Grace hatte es als Erste gehört, und sie stellte immer noch lauschend den Kopf schräg. Creed sah, dass sie die Geräuschquelle anstarrte, und folgte ihrem Blick.
Die Quelle war der kleinste Junge.
Er war sehr jung, hatte knochige Schultern und Streichholzbeine. Creed sah seine Augen, in denen Angst einem leeren Ausdruck gewichen war, wie er bei akuten Schockzuständen auftrat. Der Junge hatte die dürren Arme eng um seinen Oberkörper geschlungen und das Kinn zur Brust gesenkt. Er wirkte nicht verängstigt oder traurig. Vielmehr sah er aus, als wäre er nur noch eine leere Hülle, gar nicht mehr richtig da. Bis auf das leise Wimmern, das er von sich gab, ohne dass er den Mund öffnete oder die Lippen bewegte.
Die anderen Kinder schienen es nicht mitzubekommen. Ihre Augen waren genauso leer.
Und ihre Retter? Die Männer von der Coast Guard blickten einander an. Sie wirkten ratlos, ja, regelrecht unbehaglich. Sie waren es gewohnt, mit Kriminellen umzugehen, retteten Opfer von gekenterten Booten und versorgten die Leute, die sie aus dem Wasser holten. Die meisten waren sehr froh, sie zu sehen, wohingegen diese Kinder so scheu wirkten, als wüssten sie nicht recht, wer Freund und wer Feind war. Die Männer reagierten, indem sie auf Abstand blieben und keinerlei Anstalten machten, die Kinder anzufassen oder zu trösten, aus Furcht, sie dadurch noch mehr zu erschrecken.
Liz Bailey, die Rettungsschwimmerin der Coast Guard und einzige Frau an Bord, brach das Schweigen. Sie kam plötzlich durch die Goldmakrelenberge herbeigewatet, noch in ihrem Fluganzug. Doch anstatt vor dem grellen Orange zurückzuweichen, sahen alle Kinder sie wie verzaubert an. Creed musste zugeben, dass Liz mit ihrem kurzen, stachelig gegelten Haar und der Pilotenbrille wirklich wie eine Superheldin aussah.
»Ihr kriegt jetzt erst mal was zu trinken«, sagte sie und holte Wasserflaschen und Fitnessdrinks aus ihrer Schultertasche.
Creed stand ihr am nächsten und half, die Getränke zu verteilen. Dabei fiel ihm auf, dass die Hände der Rettungsschwimmerin zitterten.
»Ihr seid ja völlig ausgetrocknet«, sagte sie freundlich und ruhig, aber mit der Autorität einer Sommercamp-Betreuerin, die nichts von ihrem Zittern oder ihrer Unsicherheit erkennen ließ.
Die Kinder rührten sich immer noch nicht.
Bailey gab Creed die Getränke und wühlte wieder in ihrer Tasche.
»Ich habe hier auch noch Müsliriegel«, sagte sie.
Von den Kindern kam nichts. Sie rückten nur enger zusammen, und das älteste Mädchen sah Bailey an, als wüsste es, dass in deren Tasche nichts sein konnte, was das alles wiedergutmachte.
»Wir bringen euch zurück nach Hause«, sagte schließlich einer der Männer, blieb jedoch hinter seiner großen Schaufel, damit die Fische nicht zurückrutschten.
Immer noch starrten die Kinder sie stumm an. Keines von ihnen rührte sich, um etwas von Baileys Mitbringseln zu nehmen, oder reagierte auf den Versuch des Coast-Guard-Mitarbeiters, ihnen Mut zu machen.
Grace zappelte in dem Tragebeutel unter Creeds Arm. Dass Bailey Süßigkeiten hervorholte, erinnerte sie wahrscheinlich daran, dass sie gefunden hatte, was sie suchte, und noch nicht belohnt worden war. Allerdings wollte Grace kein Leckerli, wie es einige von Creeds Hunden vorzogen. Grace wollte ihren rosa Quietschelefanten, und sie wusste, dass Creed ihn bei sich hatte.
Sie stupste mit der Nase gegen seinen Ellbogen. Creed schob eine Hand in den Beutel, um sie zu beruhigen, aber das reichte Grace nicht. Sie schob ihren Kopf und die Schultern nach vorn und kratzte ihn mit ihrer Pfote.
In dem Moment bemerkte der kleine Junge sie und riss die Augen weit auf. Schlagartig hörte er auf zu wimmern, war keine leere Hülle mehr. Er zeigte auf Grace und rief: »Seht mal, ein kleiner Hund!«
Sämtliche Kinder hoben die Köpfe und folgten dem Finger des Jungen. Zum ersten Mal waren sie richtig da. Creed trat einen Schritt zurück, weil er den Kindern nicht zusätzlich Angst machen wollte, und begann, Grace sanft zurück in den Beutel zu drücken, als eines der Mädchen fragte: »Dürfen wir den streicheln?«
Ehe Creed antworten konnte, fragte der andere kleine Junge: »Wie heißt der denn?«
»Beißt der?« Die Frage kam von demselben kleinen Mädchen, das Grace eben noch streicheln wollte, und sie klang wie über Jahre von den Eltern antrainiert. Als müsste das Mädchen immer fragen, bevor es sich einem fremden Hund näherte.
»Ist das dein Hund?«
»Wie alt ist der?«
Nun lächelte Creed und hielt eine Hand in die Höhe, um dem Fragenbombardement Einhalt zu gebieten. »Ja, sie ist meine Hündin«, sagte er. »Sie heißt Grace, und ich weiß nicht genau, wie alt sie ist, weil sie schon ausgewachsen war, als ich sie fand.«
»Wo hast du sie gefunden?«
»Sie versteckte sich in einem schlammigen Graben am Ende meiner Auffahrt. Jemand hatte sie dort ausgesetzt, und sie war hungrig und durstig.«
Er betrachtete ihre Mienen und begriff, was sie dachten. Grace unterschied sich gar nicht so sehr von ihnen.
Dann sagte das älteste Mädchen: »Ich wette, sie hatte auch Angst.«
Creed nickte. »Ja, große Angst sogar, denn sie wusste ja nicht, wem sie trauen konnte. Aber jetzt ist sie nicht mehr ängstlich. Ihr könnt sie alle streicheln, wenn ihr nur nicht zu stürmisch seid.«
Er blieb stehen und wartete, bis die Kinder von allein zu ihm kamen.
Der kleinste Junge, der Grace zuerst gesehen hatte, trat zögerlich vor und streckte Grace seine schmutzige Hand hin, damit sie daran schnuppern konnte. Sofort leckte sie ihm die Finger ab, und der Junge kicherte.
»Das kitzelt!«
Plötzlich waren Creed und Grace umringt, und alle fünf Kinder wechselten sich ab, um Grace an ihren Händen schnüffeln zu lassen und sie behutsam zu streicheln. Die Hündin leckte auch an den anderen Fingern, und die Kinder lächelten und kicherten, eines lachte sogar.
Creed sah hinüber zu Bailey und den Männern von der Coast Guard. Sie hielten nach wie vor Abstand, betrachteten die Szene und waren fasziniert, wie ein Jack Russell es schaffte, die verängstigten, geschundenen Opfer wieder zu Kindern zu machen.
5
Atlanta,
Georgia
Amanda starrte auf den Fernsehbildschirm und hielt sich den Bauch. Wieder ein Luxushotel, ein umwerfendes Zimmer im fünfzehnten Stock. Wer brauchte denn einen Fernseher im Badezimmer? Das Bad war größer als Amandas Zimmer zu Hause. Es war strahlend weiß, und die Bodenfliesen fühlten sich herrlich kühl an. Eben noch hatte sie dort unten gelegen, zusammengekrümmt wie ein Embryo, die verschwitzte Wange auf den Boden gepresst. Am liebsten wäre sie für immer so liegen geblieben, aber dann bekam sie erneut Krämpfe. Diese und Zapata, die an ihr zerrte, zwangen sie nach oben und aufs Klo.
»Es wird Zeit«, flüsterte die Alte so untypisch ruhig, dass Amanda glaubte, ihre Anspannung zu fühlen, auch wenn sie sich bemühte, ihre Ungeduld zu verbergen.
»Es tut so weh«, jammerte Amanda, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen, wo im Frühstücksfernsehen ein neuer Gast vorgestellt wurde. »Letztes Mal hat es nicht so wehgetan.«
Amanda fragte nicht, wagte nicht, es laut auszusprechen, doch sie fürchtete, dass einer der Ballons in ihr geplatzt sein könnte. Was mit Lucía passiert war … was, wenn das auch mit ihr passierte? Würde Leandro ihr den Bauch aufschlitzen, noch bevor sie richtig tot war? Die ganze Zeit sah sie das Mädchen vor sich, zusammengesackt auf dem Boden. Und sie musste immer wieder an das Messer in Leandros Hand denken. Er hatte keine Sekunde gezögert. Und das viele Blut! So etwas hatte Amanda noch nie gesehen.
»Sie war ein schwaches Mädchen«, sagte Zapata unvermittelt, als könnte sie Amandas Gedanken lesen. »Du darfst nicht an sie denken. Du bist stark. Viel stärker.«
Das unerwartete Lob lenkte Amandas Aufmerksamkeit vom Fernseher auf die alte Frau. Ihre Augen waren kalt und hart wie schwarze Steine, und sofort musste Amanda an den Fliesenboden denken. Nur war an Zapatas Augen nichts Beruhigendes oder Tröstendes.
Die Alte hielt ihr ein Glas hin, als wollte sie Amanda etwas Gutes tun. Amanda hatte schon die Hälfte der kalkigen Flüssigkeit getrunken, von der sie wusste, dass sie ein Abführmittel war.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kotze, wenn ich noch mehr von dem Scheißzeug trinke.«
Wut blitzte in Zapatas Augen auf – ganz kurz, aber Furcht einflößend –, bevor die Alte ihren Fehler bemerkte und sich rasch wieder fing.
»Wo ist Leandro?«, fragte Amanda.
Das letzte Mal war er bei ihr gewesen, hatte ihr den Rücken gestreichelt und das verschwitzte Haar aus dem Gesicht gestrichen. Sanft hatte er auf sie eingeflüstert, ihr Mut gemacht und sie gelobt.
»Der hat anderes zu tun.«
Wie zum Beispiel Lucías aufgeschlitzte Leiche loszuwerden.
Auch das sprach Amanda nicht laut aus. Stattdessen biss sie sich auf die Unterlippe und presste die Arme fester auf ihren Leib, weil der Schmerz alles in ihrem Bauch zusammenschnürte.
»Er hat gesagt, dass er immer bei mir sein wird.« Sie vermied es, Zapata anzusehen. Eigentlich hatte Leandro nichts dergleichen gesagt, aber Amanda fand die kleine Lüge tröstlich. Leandro hatte viele Stunden allein mit ihr verbracht, woher sollte die Alte wissen, was er da gesagt hatte?
Zapata wandte sich zum Gehen und murmelte: »Dice muchas cosas.«
Amanda verstand sie nicht, aber so wie die Alte es sagte, war klar, dass Leandro diesmal nicht kommen würde.
Sie wollte sich wieder auf die kalten Fliesen legen und richtete den Blick erneut auf den Fernseher. Während sie nach unten glitt und sich zusammenrollte, sah sie einem gut aussehenden Mann zu, wie er mit seinem kleinen Hund mitten unter den Talkshow-Gästen Platz nahm. Unten auf dem Bildschirm stand »RYDER CREED und sein Drogenspürhund GRACE«.
Der Hund hockte sich zu Füßen des Mannes hin, lehnte sich an ihn und klopfte mit seinem Schwanz auf den Boden. Dabei schaute er zu dem Mann auf, zeigte eine Art Grinsen und wirkte eindeutig froh, bei ihm zu sein.
Amanda legte ihre Wange auf den Boden und schloss die Augen, als eine weitere Schmerzwelle durch ihren Bauch fuhr. Und sie dachte: Das ist es, was ich bin. Einer von Leandros Hunden.