Buch
Vor langer Zeit vertrauten die Götter dem großen Krieger Daemron drei Talismane an, um die Welt der Sterblichen gegen die Mächte des Chaos zu schützen. Doch als Daemron sich auf die Seite des Bösen schlug, wurden ihm die Talismane entrissen. Um sie zurückzubekommen, schuf er vier Kinder: die Brut des Feuers. Mit ihrer Hilfe will er die von den Göttern geschaffene Barriere zwischen der Niederwelt und dem Reich der Menschen einreißen und die Macht übernehmen.
Doch die vier Geschwister widersetzen sich seinem Willen und flüchten sich in die Ostlande. Dort finden sie Zuflucht, doch ein mächtiger Clanführer verfolgt seine eigenen Pläne und will sich die Brut des Feuers zunutze machen. Scythe, Vaaler, Keegan und Cassandra läuft die Zeit davon. Sie müssen Daemrons Schwert finden, bevor das Reich der Menschen völlig vom Krieg zerstört wird …
Autor
Drew Karpyshyn ist der New-York-Times-Bestsellerautor des Star-Wars-Universums und fraglos auch der erfolgreichste. Vor allem durch seine Darth-Bane-Romane schuf er sich eine große Fangemeinde. Er arbeitet zudem als Videospiel-Entwickler. Nachdem er den Großteil seines Lebens in Kanada verbracht hat, hatte er irgendwann genug von den langen kalten Wintern dort und zog nach Süden. Drew Karpyshyn lebt heute mit seiner Frau in Texas.
Außerdem von Drew Karpyshyn bei Blanvalet lieferbar:
Star Wars™ Darth Bane 1. Schöpfer der Dunkelheit
Star Wars™ Darth Bane 2. Die Regel der Zwei
Star Wars™ Darth Bane 3. Dynastie des Bösen
Die Brut des Feuers
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Drew Karpyshyn
Die dunkle Flamme
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Thon
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»The Scorched Earth« bei Del Rey / Random House, Inc., New York.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung April 2016 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 8, 81673 München
Copyright © 2014 by Drew Karpyshyn
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung und -illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft
JB · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-17380-7
V001
www.blanvalet.de
Für meine Mutter Vivian.
Stärke manifestiert sich in vielen Formen,
und dein Mut ist eine Inspiration.
Prolog
Er blickt von den Zinnen seiner Burg auf die kleinen gedrungenen Gebäude der Stadt hinab. Die verlassenen Straßen sind eng und gewunden, gesäumt von einstöckigen Hütten aus braunem Lehm und grauem Stein. Winzig im Vergleich zu der prachtvollen Burg, schmiegen sie sich an deren hohe Mauern, kümmerlich und hässlich. Bis hin zum öden Horizont gibt es keine anderen Bauwerke.
Nach siebenhundert Jahren des Exils hat sich die Zahl seiner Anhänger verzehnfacht, die Stadt jedoch ist nicht in gleichem Maße gewachsen. Das Land ihrer Verbannung ist eine Niederwelt, die leere Hülle einer Welt. Die meisten seiner Untertanen leben jetzt in den unterirdischen Höhlen und Labyrinthen, die die Landschaft wie Pockennarben überziehen.
Keine Tierherden ziehen über die grauen Steppen, keine Vogelschwärme sieht man am Himmel. Seine Anhänger ernähren sich von einem kaum genießbaren Schlamm, der sich um einige wenige unterirdische Becken mit stinkendem, abgestandenem Wasser konzentriert. Bei den häufigen Stürmen wird der graue Himmel unvermittelt schwarz, und ein sintflutartiger Wolkenbruch setzt ein. Aber der Regen ist ebenso tödlich und verseucht wie alles andere in diesem gottverlassenen Land.
Keiner seiner Untertanen erinnert sich an die glorreichen Wunder der Welt, die sie verlassen haben. Im Unterschied zu ihrem Gottkönig trennen sie zahllose Generationen von den Sterblichen, die ihm ursprünglich gefolgt sind. Sie sind die Nachfahren vieler Geschlechter von Nachfahren. Aber Geschichten wurden weitergegeben, Erzählungen von Flüssen und Ozeanen, von Hügeln, Feldern und Wäldern, in denen es von Leben nur so wimmelte. Aber für seine Untertanen sind diese Geschichten kaum mehr als Mythen und Legenden; die Schönheit dessen, was sie verloren haben, ist verblasst in all den Jahrhunderten im Exil.
Ebenso wie Daemrons eigene Macht. Nachdem er jahrhundertelang in dieser selbst geschaffenen Unterwelt gefangen war, ist der göttliche Funke des Chaos, der ihn nährte, allmählich erloschen. Nur noch ein schwaches Flackern seines einstigen Glanzes ist ihm geblieben.
Selbst ein Unsterblicher kann sterben.
Aber noch ist er nicht tot. Und sobald das Vermächtnis zerfällt und er seine Artefakte wieder in Händen hält – falls er sie zurückerobern kann –, wird er neugeboren sein. Die Macht der Alten Götter lodert immer noch stark in diesen Artefakten. Er kann sie spüren in dem fernen Land, das er einst beherrscht hat. Zuerst wurde die Krone wiederentdeckt, ein Leuchtfeuer, das ihn über die Brennende See hinweg rief und so den Zauber leitete, der Orath und seine anderen Knechte in die Welt der Sterblichen schickte.
Der Ring wurde ebenfalls gefunden. Erst vor wenigen Tagen spürte er, wie seine Wut entfesselt wurde, ein Sturm aus schrecklicher Magie, der dunkle Wolken über Daemrons Königreich schickte und einen ätzenden Regen auf das Land herniedergehen ließ.
Seine Untertanen fühlten es ebenfalls. Sie wissen jetzt, dass die Zeit ihrer möglichen Rückkehr näher kommt. Und er weiß auch, dass einige von ihnen sich fragen, ob ihr Gottkönig noch lange genug leben wird, um daran teilhaben zu können.
Möglicherweise irrten sie sich nicht einmal. Irgendwann wird die Zeit knapp werden, und noch sind viele Fragen unbeantwortet. Warum und wie wurde der Ring erweckt? Geschah es durch eines der Kinder des Feuers? Haben die Samen des Rituals, das er vor so vielen Jahren vollzog, endlich Früchte getragen? Oder war es das Werk von Orath und seinen Knechten?
Er hat von ihnen nichts mehr gehört, seit er sie in die Welt der Sterblichen geschickt hat. Die Mühe dieses Rituals hat fast den gesamten Rest seiner Macht verzehrt. Allein der Versuch, über die Brennende See hinweg noch einmal mit Orath zu kommunizieren, könnte ihn jetzt überfordern. Er muss geduldig sein, sich Zeit lassen, seine Kräfte schonen.
Langsam dreht er sich von den Zinnen weg, und sein schlangenartiger Schwanz zischt leise durch die Luft, als er seine gewaltigen, fledermausartigen Schwingen spreizt und die Schultern rollt. Was aus ihm geworden ist, frustriert ihn.
Einst war er furchtlos. Beherrscher der Welt der Sterblichen. Kühn. Mutig. Sogar tollkühn. Er wagte es, die Alten Götter selbst herauszufordern … Nur um dann ins Exil verbannt zu werden, als er wie ein Feigling vor der letzten Schlacht flüchtete.
Er hat überlebt, sie dagegen nicht. Und jetzt ist er der Letzte seiner Art, der einzig wirkliche Unsterbliche, der noch übrig ist. Sein Leben ist zu kostbar, um es für ein närrisches Unterfangen aufs Spiel zu setzen.
Langsam geht er zu der schweren hölzernen Tür, die in das Innere seiner Burg führt. Seine gespaltenen Hufe kratzen über die blanken Steine. Er streckt eine klauenförmige Hand aus, hält jedoch inne, bevor er die Pforte öffnet.
Jemand lauert auf der anderen Seite.
Er wittert den schwachen Funken des Chaos, der in allem Lebenden glimmt. Wie die Artefakte, spricht auch dieser Funke zu ihm. Daemron konzentriert sich, fokussiert seine Aufmerksamkeit auf den Raum hinter der geschlossenen Tür. Es sind drei seiner Untertanen, aber er erkennt keinen von ihnen.
Eindringlinge. Meuchelmörder.
Wut flammt in ihm hoch, als er von der Tür zurücktritt und seine Hände zum Himmel hebt. Dann legt er seinen gehörnten Schädel in den Nacken und flüstert Worte der Dunklen Macht. Eine Sekunde später reißt er die Arme herunter und setzt den Bann frei. Die Tür explodiert nach innen.
Die Wucht schickt einen tödlichen Schauer scharfer Holzsplitter in das Treppenhaus hinter der Tür. Sie zerfetzen und durchbohren den Meuchelmörder, der am dichtesten an der Tür steht. Sein Leben endet, noch bevor er auch nur einen Schrei ausstoßen kann.
Die beiden anderen zögern nur eine Sekunde, bis sie mit gezückten Waffen angreifen. Sie sind mit Kurzschwertern bewaffnet, in die uralte Symbole eingeätzt sind. Relikte, die einst in der Welt der Sterblichen geschmiedet und im Exil von Generation an Generation weitergegeben wurden. Die Magie dieser Waffen besitzt genug Macht, um ihn zu verwunden oder sogar zu töten. Die beiden, die sie schwingen, sind jedoch längst nicht so gefährlich für ihn.
Sie ähneln mehr Hunden als Menschen: Wölfe mit fingerartigen Klauen, die ihre Waffen umklammert halten. Bruder und Schwester, vereint in dem Verlangen, den Despoten zu töten, der sie beherrscht. Tapfer genug, um sich gegen einen Gott aufzulehnen. Kühn genug, um zu sterben.
Knurrend und zähnefletschend greifen sie mit rücksichtsloser Verzweiflung an: wilde Schemen aus Fell, Reißzähnen und magischen Kurzschwertern. Aber er ist ihr Gott, und sie sind ein Nichts vor ihm.
Er stellt sich ihrem Angriff. Mit einer Klaue schlägt er die Klingen der Schwester beiseite und packt mit der anderen ihre Kehle. Der Bruder wird von der mit scharfen Dornen besetzten Spitze von Daemrons Schweif aufgespießt. Sie durchbohrt sein Herz.
Er stürzt zu Boden, während das Blut aus der klaffenden Wunde in seiner Brust sprudelt. Die Schwester windet sich in Daemrons Griff und schlägt schwach mit ihrer Waffe auf seinen Arm ein, während er seine Finger langsam um ihre Kehle schließt.
Er ignoriert die Schnitte und Wunden an seinem Arm und trägt sie zum Rand der Zinnen. Ihr Gewicht hält er mühelos mit einer Hand. Am Rand der Bastion schlägt er ein paarmal mit seinen Schwingen, und aufgrund der zusätzlichen Last seiner Möchtegern-Mörderin gelingt es ihm nur, sich ein kleines Stück in die Luft zu erheben. Aber das genügt.
Mit einer kurzen Handbewegung schleudert er die Schwester in die Tiefe hinab. Ihr Schrei klingt wie ein Heulen, als sie hinabstürzt, bis sie schließlich mit einem schwachen Klatschen auf dem Boden aufschlägt.
Daemrons Arm blutet aus etlichen tiefen Wunden, aber keine davon ist so ernst, dass sie ihm Sorge bereiten würde. So kehrt er zu ihrem Bruder zurück, der immer noch atmet, und blickt einen Moment schweigend in die Augen des Sterbenden. Dort sieht er blankes Entsetzen, als die Kreatur endlich vollkommen begreift, was sie getan hat.
Die Rebellen haben es gewagt, ihn anzugreifen. Sie haben versucht, einen Gott zu töten, und sind gescheitert. Und damit haben sie nicht nur ihr eigenes Leben verwirkt. Ihre Verbündeten, ihre Freunde, ihre Familien – sie alle werden für das leiden, was hier soeben geschah.
Als Daemron schließlich davon überzeugt ist, dass der Meuchelmörder die schreckliche Vergeltung begreift, die all jene treffen wird, die ihm lieb sind, hebt er seinen massiven Huf und zerschmettert seinen Schädel.
1
Ferlhame lag in Trümmern. Hunderte, vielleicht Tausende Danaan waren tot; vom Feuer verbrannt oder von den herabfallenden Trümmern der gewaltigen hölzernen Wohntürme zerschmettert, die einst die Straßen gesäumt hatten. Aber es gab nur ein einziges Todesopfer, das Orath interessierte.
Er war allein nach Ferlhame gegangen und hatte Gort und Draco befohlen, in den Wäldern vor der Stadt zu warten. In der Dunkelheit konnte Orath als Danaan durchgehen, und außerdem waren die Frauen und Männer, die voller Panik durch die Straßen rannten, viel zu schockiert, um die fledermausartigen Gesichtszüge im Schatten seiner Kapuze wahrzunehmen. Seine Gefährten dagegen waren alles andere als unauffällig.
Der Körper des Drachen war durch die Gewalt des Rings förmlich in winzige Fetzen gerissen worden. Blutige Fleischbrocken lagen zwischen den Leichen der Danaan und den Trümmern; im Umkreis von hundert Metern rings um die Stelle, wo der Drache auf den Boden geprallt war, war alles von einer warmen schwarzen Säure überzogen.
Die Überreste dieser Kreatur der ChaosBrut zitterten immer noch vor Magie. Orath spürte es, als er durch die dunklen Straßen schritt. Die Magie war noch da, ebenso die beißenden Rauchwolken, die die Luft verpesteten. Obwohl der Drache tot und zerfetzt war, konnte Orath ermessen, wie herrlich er einmal gewesen sein musste.
Doch was sagte das über den Sterblichen, der ihn besiegt hatte? Orath hatte angenommen, dass er die Artefakte einfach gewaltsam an sich bringen könnte, sobald er und seine Knechte ihren Aufenthaltsort aufgespürt hätten. Aber jetzt, nach der blutigen Auseinandersetzung um Ferlhame, war er gezwungen, seinen Plan zu ändern.
Ihr Sieg über den Pontiff und die anderen Inquisitoren im Monasterium hatte ihm ein trügerisches Gefühl von Überlegenheit vermittelt. Doch zu diesem Zeitpunkt war noch reichlich Chaos in ihrem Blut gewesen und hatte ihnen Stärke verliehen. In den Wochen, die auf dieses Gemetzel folgten, hatte Orath gespürt, wie seine Macht schwand.
Hier, auf der anderen Seite des Vermächtnisses, war es viel schwieriger, das Chaos freizusetzen. Die Barriere, die seinen Herrn im Exil festhielt, vereitelte auch seine Bemühungen, Kraft aus den magischen Feuern der Brennenden See zu ziehen. Je länger er und die anderen Knechte hierblieben, desto schwächer würden sie werden.
Kein Wunder, dass der Pontiff und seine Anhänger so schwach und hilflos waren, angesichts der vielen Jahrhunderte fernab von der Macht des Chaos.
Doch nicht alle Sterblichen waren schwach und hilflos, rief er sich ins Gedächtnis. Eine Handvoll war vom Bann Daemrons gezeichnet: die Brut des Feuers. Berührt vom Chaos, konnten sie die wahre Macht der Artefakte freisetzen. Eine Macht, die groß genug war, um selbst einen Drachen zu vernichten. Oder einen Knecht.
Hat Raven diese Lektion mit ihrem Leben bezahlt? Ist sie deshalb nicht mit der Krone zurückgekehrt? Ist unsere Zahl noch mehr geschrumpft?
Wäre er noch im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen, hätte er einen Bann wirken können, um mit ihr Kontakt aufzunehmen, selbst über die gesamte Spanne der Welt der Sterblichen hinweg. Und es war auch jetzt vielleicht noch möglich. Nur war Orath nicht bereit, den Versuch zu wagen. Jede Anrufung, jeder Bann, den er wirkte, nahm ihm etwas von seiner Kraft. Er musste seine Energie bewahren; er musste die letzten Reste des Chaos in seinem Blut so lange wie möglich hüten.
Ist den anderen das klar? Haben sie das allmähliche Versiegen ihrer Kräfte gespürt?
Doch selbst wenn nicht, bestand keine Notwendigkeit, sie zu warnen. Noch nicht. Nicht, solange sie noch nützlich sein konnten.
Nach Ravens Verschwinden hatte er die kriechenden Zwillinge der Krone hinterhergeschickt. Einzeln konnten sie zwar mit Ravens Macht nicht mithalten, aber zu zweit waren sie ihr überlegen. Und was ihnen an Intelligenz mangelte, glichen sie mit ihren wilden Instinkten und ihrer unerschütterlichen Loyalität aus.
Doch wenn Raven nun von dem Sterblichen vernichtet worden war, der die Krone bei sich hatte? Würde es in dem Fall den kriechenden Zwillingen besser ergehen? Und, wichtiger noch, würde er selbst bestehen können?
Er mochte noch stark genug sein, den Ring mit Gewalt zu erbeuten, aber Daemron hatte ihn nicht nur wegen seiner Stärke zum Anführer jener Knechte bestimmt, die er in die Welt der Sterblichen geschickt hatte. Orath war bedachtsam und listig. Obwohl er wahrnahm, dass der Ring ständig nach Osten zog, hatte er nicht die Absicht, ihm überstürzt zu folgen und ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie dieser Drache.
Er bog in eine Gasse ein und sah einen Mann in Uniform, der einem halben Dutzend anderer Soldaten Befehle zubrüllte, während sie durch das Gemetzel irrten.
Diese Sterblichen sind durchaus nützlich, dachte er und hüllte sich mit einem Funken Chaos in eine Aura von Macht und Autorität.
»Du da!«, rief er. »Ich muss mit deinem Herrscher sprechen!«
»Ich bitte Euch, Eure Entscheidung zu überdenken, meine Königin.« Andars Stimme war nur ein leises Flüstern, als fürchtete er, die Kreatur, die in ihrem privaten Ratszimmer wartete, könnte sie irgendwie belauschen.
»Wenn Ihr nicht wollt, dass ich mich mit diesem Orath treffe, warum habt Ihr mir dann von seinem Ersuchen berichtet?« Rianna sah ihren Hohen Zauberer nicht an, als sie neben ihm zielstrebig durch die Hallen des Palastes schritt. »Und warum habt Ihr ihn überhaupt hereingelassen?«
»Ich hatte Angst, ihn unbeaufsichtigt durch die Straßen streifen zu lassen«, gab der Hohe Zauberer zu. »Und außerdem habt Ihr das Recht zu erfahren, was in Eurem Königreich vorgeht«, ergänzte er.
»Vor allem habe ich auch das Recht zu entscheiden, was für mein Königreich das Beste ist«, konterte sie. »Wir befinden uns in einer Krise. Unsere Hauptstadt ist zerstört, und unser Volk trauert. Wir benötigen dringend Verbündete. Mächtige Verbündete.«
»Orath ist eine Missgeburt«, warnte Andar sie. »Eine Kreatur, die vom Chaos pervertiert wurde.«
»Der Orden behauptet das Gleiche von uns«, rief ihm die Königin ins Gedächtnis.
Als sie um die letzte Ecke bogen, blieb Rianna wie angewurzelt stehen. Die schwere Eichentür der Ratskammer war geschlossen, und an den Wänden zu beiden Seiten stand ein halbes Dutzend Soldaten der königlichen Wache mit grimmigen Gesichtern und gezückten Schwertern.
»Ist Orath ein Gast oder ein Gefangener?«, erkundigte sie sich.
»Er ist gefährlich, meine Königin«, erklärte Andar. »Trotz der Anwesenheit der königlichen Wache könnte ich nicht für Eure Sicherheit garantieren.«
»Dann wird die Leibgarde vor der Kammer warten«, entschied Rianna und hob die Hand, um Andars obligatorischen Einspruch abzuwehren.
»Öffne die Tür!«, befahl sie.
Der Soldat direkt neben der Tür gehorchte ihrem Befehl, aber mit einem winzigen Zögern, währenddessen er Andar einen Blick zuwarf.
Bin ich bereits so tief gefallen?, dachte Rianna. Dennoch konnte sie die Reaktion des Mannes verstehen. Es war ihr nicht gelungen, ihr Volk vor dem Drachen und dem Zerstörer der Welten zu beschützen. Tausende ihrer Untertanen lagen tot auf den Straßen, und ihr eigener Sohn hatte sein Volk verraten.
Ich war Vaaler gegenüber schwach. Ich sah die Gefahr in meinen Träumen, aber statt seine Hinrichtung anzuordnen, habe ich ihn nur verbannt. Ich habe wie eine Mutter gehandelt, nicht wie eine Königin. Ich habe das Leben meines Sohnes über das meines Volkes gestellt.
Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen. Ihr Herz war verhärtet, ihre Entschlossenheit eisern.
Trotzdem stockte sie, als sie sah, was jenseits der Tür auf sie wartete. Andar hatte sie vorgewarnt und ihr gesagt, dass Orath weder ein Danaan noch ein Mensch wäre. Nach eigenem Bekunden war er ein Knecht. Aber auch diese Bezeichnung hatte sie nicht auf seine beklemmende Erscheinung vorbereiten können.
Er war groß und hager, fast so klapperdürr wie ein Skelett, und trug einen langen schwarzen Umhang. Beides bildete einen auffallenden Kontrast zu seiner alabasterfarbenen Haut. Er hatte ein langes schmales Gesicht und keine Haare auf dem Kopf. Seine Gesichtszüge erinnerten entfernt an die einer Fledermaus. Die spitzen Ohren waren viel zu klein und eng an seinen Schädel gepresst, seine Nase war eingefallen; die Nasenlöcher bildeten nur zwei diagonale Schlitze mitten in seinem Gesicht. Die Pupillen seiner gelben Augen waren klein und dunkel, und in seinem lippenlosen Mund schimmerten viel zu viele scharfe, spitze Zähne.
Doch noch beunruhigender als sein missgestaltetes Gesicht war die Aura von Magie, die er ausstrahlte. Das Chaos umhüllte ihn wie ein Kokon. Es war dieselbe Macht, die ihre Stadt zerstört hatte.
Was nützt die Gabe der Prophezeiung, wenn mir die Überzeugung fehlt, mich danach zu richten?
Mit einem tiefen Atemzug betrat Rianna den Raum. Eine Sekunde später folgte ihr Andar. Die Königin machte eine kurze Handbewegung, ohne sich umzusehen, und im nächsten Moment schloss einer der Wachposten die Tür hinter ihr und sperrte die drei in dem kleinen Ratszimmer ein.
»Ich bin Rianna Avareen, Königin der Danaan!«, erklärte die Frau.
Ihre Stimme war kräftig und selbstbewusst, aber Orath spürte ihren Widerwillen, so wie er ihn auch in dem Hohen Zauberer gewittert hatte, als er sich diesem vorgestellt hatte. Er hätte einen Bann wirken können, um sein Äußeres zu verändern, und mithilfe einer einfachen Illusion wie ein Danaan aussehen können. Aber das hätte seine Macht unnötig beansprucht. Außerdem sollten die Sterblichen wissen, dass er keiner von ihnen war. Sie sollten begreifen, dass er ihnen Dinge anbieten konnte, die kein anderer vermochte.
»Ich bin Orath«, erwiderte er auf die Worte der Königin. »Ich bin gekommen, um einen Pakt vorzuschlagen.«
»Gekommen? Woher?«, wollte der Hohe Zauberer wissen.
Er hatte Angst und war argwöhnisch, genauso wie die Königin. Aber in Letzterer witterte Orath noch etwas anderes. Eine Gier, die er zu befriedigen wusste. Mit einem lautlosen Machtwort verstärkte er die Aura um sich herum. Ein kleines Opfer seiner Macht, um ein Abbild noch größerer Autorität zu erzeugen, eine subtile Ausstrahlung, die dabei helfen konnte, die Sterblichen mit seinen Argumenten auf seine Seite zu ziehen.
»Ich komme aus den Tiefen der Nördlichen Waldungen«, behauptete er.
»Unsere Patrouillen kennen jeden Fingerbreit des Nordforsts«, erwiderte die Königin. »Wir haben noch nie Berichte über eine Kreatur wie dich erhalten.«
Orath lachte leise. »Eine Kreatur wie ich«, murmelte er. »Einst war ich wie Ihr. Bin ich jetzt so grauenvoll geworden?«
»Du bist ein Danaan?« Andar klang vollkommen ungläubig.
»Kein Danaan. Ich bin vor langer Zeit durch diese Wälder geschritten, als Menschen und Danaan noch ein Volk waren. In der Zeit vor dem Kataklysmus.«
»Damit müsstest du weit über siebenhundert Jahre alt sein«, spottete Andar.
»Ich habe nicht sieben Jahrhunderte wirklich erlebt«, gab Orath zu. »Den größten Teil dieser Zeit habe ich … geschlafen. Ich wurde vom Vermächtnis in ewige Starre versetzt.«
»Du hast mit Daemron gegen die Alten Götter gekämpft!« Rianna setzte rasch die kleinen Stückchen von Oraths Lüge zu einem Bild zusammen, wie er es gehofft hatte.
»Nicht alle Anhänger des Schlächters wurden bei seinem Sturz mit ihm verbannt«, erklärte Orath. »Nach dem Kataklysmus haben etliche von uns dem Gemetzel des Krieges den Rücken gekehrt. Doch wir waren ebenfalls vom Chaos berührt worden. Als die alten Götter das Vermächtnis schufen, sind wir wie die ChaosBrut in einen ewigen Winterschlaf gefallen.«
»Aus welchem der Ring dich geweckt hat«, flüsterte die Königin. »Wie er auch den Drachen erweckte.«
Orath nickte, sagte jedoch nichts. Ihm war klar, dass es besser war, möglichst wenig zu reden. Seine Lügen würden erheblich mehr Gewicht haben, wenn die Königin glaubte, sie wäre selbst hinter die Wahrheit gekommen.
»Du hast von einem Pakt gesprochen«, drängte sie ihn fortzufahren.
»Ich kann Euch helfen zurückzuerlangen, was rechtmäßig Euch gehört. Ich kann Euch helfen, den Ring zurückzubekommen.«
»Warum willst du uns helfen?«, wollte Andar wissen. »Welchen Vorteil ziehst du aus diesem Pakt?«
Der da traut mir nicht, dachte Orath. Die Aura wirkte bei einigen besser als bei anderen. Aber es war auch nicht nötig, ihn auf seine Seite zu ziehen. Die Loyalität des Hohen Zauberers seiner Monarchin gegenüber würde ihn zwingen, trotz seiner persönlichen Zweifel ihren Anordnungen Folge zu leisten.
»Über Jahrhunderte habt Ihr und Euer Geschlecht den Ring gehütet.« Orath sprach zur Königin und ignorierte Andar. »Ihr habt seine Macht unter Kontrolle gehalten. Jetzt befindet er sich in den Händen einer Person, die es nicht versteht, das Chaos zu beherrschen. Was in Eurer Stadt geschah, war nur der Anfang«, spann er seinen Faden weiter. »Wird der Ring noch einmal benutzt, wird er ganze Armeen von schlafender ChaosBrut erwecken. Sie werden Tod und Vernichtung über die Welt bringen, und zwar in einem Ausmaß, das Ihr Euch nicht im Entferntesten vorstellen könnt.
Ich habe einen Kataklysmus miterlebt. Ich weiß, dass ein weiterer die Welt zerstören wird und mich mit ihr.«
»Woher wissen wir, dass du den Ring nicht für dich selbst haben willst?« Andar war noch nicht zufriedengestellt.
»Er würde mich zerstören, wenn ich ihn benutzen würde.« Das entsprach nur zur Hälfte der Wahrheit. Daemrons Artefakte zu benutzen war gefährlich und unberechenbar. Ihre Macht war dafür gedacht, gemeinsam eingesetzt zu werden, wobei jedes einzelne Artefakt die Macht der beiden anderen in der Balance hielt. Er würde es nur wagen, ihre Macht freizusetzen, wenn er den Ring, das Schwert und die Krone vereint in seinem Besitz hatte.
»Wenn ich den Ring selbst zurückholen könnte, würde ich das tun«, gab der Knecht zu. »Um ihn sicher zu behüten«, setzte er dann noch rasch hinzu. »Aber ich bin nicht stark genug, um gegen jemanden bestehen zu können, der die Macht des Rings gegen mich richtet. Ebenso wenig wie Euer Königreich das vermag.«
Er spürte ihre Unsicherheit, ihre Verwirrung und ihre Furcht. Sein Zauber war zwar nicht stark genug, um eine Person zu zwingen, ihm zu gehorchen, aber er konnte diese Person in eine Richtung drängen, in die sie ohnehin bereits tendierte; sie fühlte sich verloren und suchte verzweifelt nach jemandem, der ihr sagte, was sie tun sollte.
»Glaubst du, dass wir ihn zurückbekommen, wenn wir zusammenarbeiten?«, erkundigte sich die Königin.
»Das kommt auf Euch an, meine Königin.« Orath verbeugte sich tief. »Wie weit seid Ihr bereit zu gehen, um Euer Volk zu beschützen? Was seid Ihr bereit zu tun, um den Ring wiederzuerlangen?«
»Alles!«, stieß Rianna hervor. »Alles«, wiederholte sie.
2
Keegan konnte sich nicht bewegen. Er lag wie betäubt auf dem Schlachtfeld, das einst ein Strand gewesen war, umringt von Leichen. Nicht alle Toten waren Menschen. Über ihm stand eine titanische Gestalt, umhüllt vom Feuer des Chaos. Die blauen Flammen loderten so intensiv, dass sie in Keegans Augen brannten. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen übertönte alle anderen Geräusche – das Vermächtnis zerfiel.
Verängstigt und hilflos vermochte der junge ChaosWirker nicht, den Blick abzuwenden. Er war unfreiwilliger Zeuge der ungeheuren Zerstörung, die die freigesetzte Macht des Artefakts bewirkte.
Er schrak aus dem Schlaf hoch. Sein Herz hämmerte, und Schweißtropfen liefen ihm über die Stirn. Der Stumpf seines linken Arms pochte heiß vor Schmerz, und er spürte, wie die Phantomfinger seiner abgehackten Hand sich unwillkürlich krampfhaft zur Faust ballten.
In dem schwachen Licht der Glut des Lagerfeuers konnte er undeutlich Vaalers Gestalt erkennen. Der junge Mann kniete neben ihm.
»Was ist los?«, fragte Vaaler. »Geht es dir nicht gut?«
Keegan atmete mehrmals durch, um sich zu beruhigen. »Es ist nichts«, erwiderte er dann. »Nur ein schlechter Traum.«
»Deine Träume sind erheblich mehr als nichts«, erinnerte ihn der verbannte Kronprinz der Danaan.
»Ich bin müde«, protestierte Keegan, schob seinen Stumpf unter seinen anderen Arm und rollte sich auf die Seite, um Vaaler den Rücken zuzukehren. »Ich muss schlafen.«
Vaaler stand auf und ging zur anderen Seite des Lagers, ließ ihn in Ruhe. Der Schlaf übermannte Keegan rasch, und glücklicherweise kam der Traum nicht zurück.
Scythe warf sich unruhig von einer Seite auf die andere, während ihr Verstand unaufhörlich arbeitete. Als sie hörte, wie Keegan sich herumwälzte und im Schlaf stöhnte, wäre sie fast aufgestanden, um nach ihm zu sehen. Aber Vaaler kam ihr zuvor, also blieb sie lieber, wo sie war.
Dass Norr neben ihr fest schlief, machte alles nur noch schlimmer. Normalerweise half ihr sein tiefes, rhythmisches Schnaufen, sich zu entspannen, aber in dieser Nacht hatten seine lauten Atemzüge den gegenteiligen Effekt.
Das ist nicht seine Schuld, ermahnte sie sich. Schuld ist diese ganze verfluchte Situation.
Anders als ihr barbarischer Liebhaber, der selbst den Kataklysmus verschlafen hätte, verbrachte sie ihre Nächte in rastloser Sorge, seit sie mit ihren vier Gefährten nach der Vernichtung von Ferlhame geflüchtet waren.
Sie hatten zwei Tage gebraucht, um den Rand des Forsts von Danaan zu erreichen, und dann einen weiten Bogen nach Nordosten geschlagen, um den FreiStädten auszuweichen. Die Bäume waren nicht allmählich lichter geworden, wie man hätte erwarten können; stattdessen wirkte die Grenze des Waldes scharf gezogen und unnatürlich. Mit nur wenigen Schritten traten sie aus einem dichten Wald, dessen Blätterdach den größten Teil der Sonne fernhielt, und standen dann auf den weiten Ebenen des eisigen Ostens.
Hier war es deutlich kälter als in dem feuchten, stickigen Wald, und während der ganzen Reise hing eine Nebeldecke über dem Land. Die Tundra erstreckte sich bis zum Horizont, flach und konturlos; nur ein paar Gruppen von Büschen und einige Hügel waren in der Ferne gerade eben zu erkennen. Keegan wurde immer kräftiger, und Jerrod hatte versucht, ihr Tempo zu steigern, seit sie den Wald verlassen hatten. Aber die Pferde hatten Mühe, auf dem Permafrost Halt zu finden. Ihre Hufe sanken bei jedem Schritt in den halb gefrorenen Schlamm. Dazu behinderte ein eisiger Gegenwind ihr Fortkommen, der seit drei Tagen kein bisschen nachgelassen hatte. Um die verlorene Zeit aufzuholen, ritten sie jeden Tag von Tagesanbruch bis lange nach Sonnenuntergang.
Dieser endlose Ritt forderte allmählich seinen Tribut. Doch obwohl ihr Körper jeden Tag vollkommen ausgelaugt war, wenn sie vom Pferd stieg, fand Scythe trotzdem keine Ruhe, wenn sie sich hinlegte. Sie konnte einfach nicht aufhören darüber nachzudenken, in was Norr und sie da hineingeraten waren. Jerrod hatte die anderen davon überzeugt, dass Keegan der Retter der Welt war, aber bei ihr hatten die Worte des wahnsinnigen Mönchs nicht dieselbe Wirkung gehabt.
Der junge ChaosWirker hatte einen Drachen vernichtet und die Hauptstadt der Danaan zerstört, aber als er den Ring benutzte, den Vaaler der Königin der Danaan gestohlen hatte, hätte ihn das fast das Leben gekostet. Scythe war der festen Überzeugung, dass Keegan praktisch Selbstmord begehen würde, sollte er versuchen, den Ring noch einmal einzusetzen.
Vielleicht gehört das ja zu seinem Schicksal, von dem Jerrod ständig redet, dachte sie. Vielleicht muss Keegan auch zum Märtyrer werden, wenn er der Retter sein will. Es würde mich nicht überraschen, wenn Jerrod ihm das verschwiegen hätte.
Sie traute dem Mönch nicht. Er benutzte Keegan. Aber keiner der anderen sah das so, nicht einmal Norr. Also war sie diejenige, die ihn im Auge behalten musste.
Aber vielleicht stehst du doch nicht ganz alleine da.
Vaaler war ihr vorhin zuvorgekommen, als sie nach Keegan hatte sehen wollen. Er hatte alles aufgegeben, sein Volk, seine Familie und sein Königreich, um sich ihrer Unternehmung anzuschließen. Wenn sie es schaffte, ihn dazu zu bringen, Jerrod mit ihren Augen zu sehen, konnten sie beide zusammen vielleicht Keegan daran hindern, irgendetwas Dummes zu tun.
Es war kalt. Der Herbst stand vor der Tür, und es würde nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel. Scythe wappnete sich gegen die Kälte, rollte sich aus ihren Decken und ging zu Vaaler, der am Lagerfeuer saß und die Glut anfachte.
Als sie in der ersten Nacht, nachdem sie den Forst verlassen hatten, ein Lager aufschlugen, hatte Norr ihnen gezeigt, wie man ein Loch in das Eis grub, um an den schwarzen, lehmigen Torf darunter zu gelangen. Dieser Torf brannte nur langsam, entwickelte zu viel Rauch, stank sonderbar und spendete nicht genug Wärme, aber hier in der Tundra gab es nichts anderes, das sie hätten verbrennen können.
Der Danaan blickte hoch, als sie näher kam. Seine Augen wirkten in den spärlichen Flammen eingefallen und blickten gehetzt.
Vielleicht ist Keegan ja nicht der Einzige, der jemanden braucht, der auf ihn aufpasst.
»Habe gehört, wie du aufgestanden bist«, erklärte sie, als sie zu ihm trat und sich neben ihn ans Feuer hockte, um das bisschen Wärme aufzunehmen, das aus der Grube drang. »Geht es Keegan gut?«
»Er hat Albträume«, gab Vaaler leise zurück. »Aber er will nicht darüber reden.«
»Kann man ihm das verdenken? Nach allem, was er durchgemacht hat, will er wahrscheinlich einfach nur eine Weile vergessen.«
Vaaler schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es einfache Erinnerungen sind. Keegan hat die Gabe der Sicht. Er ist nicht nur ein Zauberer, er ist auch ein Prophet. Ich glaube, er hatte eine Vision. Und die hat ihm Angst gemacht.«
»Vielleicht überwältigt ihn einfach nur dieses ganze Gerede davon, dass er der Retter der Welt wäre.«
»Er ist der Erretter der Welt«, gab Vaaler zurück.
»Du klingst wie Jerrod.« Scythe blickte hastig über ihre Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass der Mönch nicht in der Nähe war. Sie konnte ihn nicht sehen. In den meisten Nächten bezog er etwas abseits vom Lager Position und benutzte seine magische Sicht, um in der Dunkelheit Wache zu halten.
Also konnten Vaaler und sie ungestört miteinander reden. »Ist dir jemals der Gedanke gekommen«, fragte sie leise, »dass Jerrod sich vielleicht auch irren könnte?«
»Ich habe gesehen, wozu Keegan in der Lage ist«, erinnerte Vaaler sie. »Wir haben zusammen bei Rexol studiert, dem mächtigsten ChaosMagus in den gesamten Südlanden.«
»Warum hilft er uns dann nicht bei dieser Unternehmung?«
»Weil er tot ist«, erklärte Vaaler. »Er hat versucht, eines der Artefakte zu benutzen, und das hat ihn das Leben gekostet. Jerrod hat es mir erzählt.«
»Und du fürchtest nicht, dass Keegan das Gleiche widerfahren könnte?«
Vaaler blickte wortlos in das Feuer.
»Ich zweifle nicht an deinem Freund«, versicherte ihm Scythe. »Ich denke einfach nur, dass Jerrod möglicherweise etwas zurückhalten könnte. Er ist der Sache ergeben, nicht Keegan.«
»Woher kommt dieses plötzliche Interesse an Keegans Wohlergehen?« Vaaler hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Nach allem, was ich gehört habe, hast du vor Kurzem selbst versucht, ihn umzubringen.«
»Die Lage hat sich geändert«, erwiderte sie. Aber ihr war klar, dass dies nicht genügen würde, wenn sie ernsthaft Vaaler auf ihre Seite ziehen wollte.
»Ich bin ziemlich gut darin, Leute einzuschätzen«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Ich weiß, dass er in seinem Herzen im Grunde ein guter Junge ist.«
Vaaler lachte. »Ein Junge? Er ist genauso alt wie du und ich.«
»Aber er wirkt irgendwie jünger. Naiver. Als wäre er vor der wirklichen Welt beschützt worden.«
»In dem Punkt kann ich dir nicht widersprechen«, räumte Vaaler ein.
»Ich habe mitbekommen, wie sehr du auf ihn achtgibst«, spann sie ihren Faden weiter. »Als wäre er dein kleiner Bruder. Du willst ihn beschützen. Und ob du es glaubst oder nicht, dasselbe will ich auch.«
Der Prinz dachte ein paar Sekunden über ihre Worte nach. »Und du glaubst nicht«, fragte er dann, »dass Jerrod auch so empfindet?«
»Ich glaube, dass Jerrod alles versucht, um seinen sogenannten Erretter zu finden, und dass er vor nichts zurückschreckt, um das zu erreichen.«
»Du hast recht«, sagte Jerrod, der kaum einen Schritt hinter ihm stand.
Scythe und Vaaler sprangen auf und wirbelten zu ihm herum. Keiner von ihnen hatte ihn kommen hören.
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, ein peinliches, beklemmendes Schweigen. Scythe spürte, dass ihre Wangen vor Verlegenheit und Gewissensbissen brannten, und sie versuchte hastig, sich eine Entschuldigung und eine Erklärung auszudenken. Dann drehte sich Jerrod weg.
»Weckt die anderen!«, befahl er, als er davonging. »Wir müssen aufbrechen. Wir werden verfolgt.«