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Andreas
Müller, Melanie Probst, Roland Noirjean
Können die wo fertig sind früher gehen?
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Andreas Müller
Melanie Probst
Roland Noirjean
Können die
wo fertig sind
früher gehen?
Wer über Lernen nachdenkt,
muss über Aufgaben nachdenken.
Und umgekehrt.
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Andreas Müller, Melanie Probst, Roland Noirjean
Können die wo fertig sind früher gehen?
ISBN Print: 978-3-0355-0148-3
ISBN E-Book: 978-3-0355-0149-0
Layout, Zeichnungen & Grafische Gestaltung:
Roland Noirjean, Beatenberg, www.lernenbewegt.ch
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:
http://mehr.hep-verlag.com/frueher-gehen
www.fair-kopieren.ch
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Inhaltsverzeichnis
1
Wer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken 7
Wirkungen und Nebenwirkungen 9
Mehr Ausüben als Üben 11
2
Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken 13
Erfahrungswelt beeinflussen 16
Kompetenzen generieren 17
3
Wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken 27
Das Lernen organisieren 30
Mentale Trojaner 32
Personalisierte Lernkonzepte 34
4
Erstens kommt es anders und zweitens wenn man nachdenkt 37
Perspektive der Lernenden 39
Perspektive schulischen Lernens 44
Perspektive des Lehrers 46
5
Das Sanduhr-Prinzip 51
Appetizer: Der Gruss aus der Küche 56
Anspruch: Das Pferd am Schwanz aufzäumen 58
Auseinandersetzung: Glasplatte durchbrechen 63
Anschluss: Frontalangriff auf die Molekularpädagogik 65
Arbeitsweise: «Gewusst-wie» ist die halbe Miete 68
Auswertung: Hinter dem Horizont kommt noch etwas 71
6
Design oder Nichtsein 85
Prototypische Formate 88
LernSteps – Schritte zu einem Thema 89
LernJobs – Kompositionen mit Langzeitwirkung 90
LernUnits – individuelle oder kooperative Kleinprojekte 96
The Making of 99
7
Wie man sie einbettet, so liegen sie einem 105
Kulturbildende Einbettung («spirit») 109
Strukturbildende Einbettung 117
8
Beispiele 121
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1
Wer über seine Arbeit
nachdenkt, muss über
Aufgaben nachdenken
7
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1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
D
ie Arbeit in der Schule besteht zu
einem wesentlichen Teil darin,
Aufgaben zu erteilen und zu korri-
gieren – oder, wenn man auf der anderen Seite
sitzt, sie zu erledigen. Im Mathematikunter-
richt verbringen die Schüler vier Fünftel der
Zeit mit dem Lösen von Aufgaben.1
Da kommt ganz schön was zusammen: «Über
100 000 Aufgaben sind der Durchschnitt –
mindestens. Nicht selten werden es eine
Viertelmillion. So viele Aufgaben stellt eine
Lehrkraft im Laufe ihres Berufslebens im Un-
terricht», stellt Gerhard Eikenbusch fest. Und
er wundert sich, «wie wenig wir darüber wis-
sen, wie Aufgaben im Unterricht überhaupt
funktionieren».2 Aufgaben, so scheint es, sind
halt einfach Aufgaben. Alltagsroutine eben.
Die stellt man sich zusammen, kopiert sie aus
einem Buch raus, bedient sich einer Kopier-
vorlage oder lädt sich «etwas» aus dem Netz
runter. Noch einfacher: Man nimmt das Buch
Seite soundso und hangelt sich von Kapitel
zu Kapitel. Nicht von ungefähr werden diese
Bücher ja Lehrmittel genannt.
Das ist, gelinde gesagt, erstaunlich, wenn
man sich vor Augen führt, welche zeitliche
Bedeutung Aufgaben haben – und welche
Selektionswirkung ihnen zukommt. Denn
schliesslich bestimmen sie zu einem nicht
unerheblichen Teil über schulisches Sein oder
Nichtsein. Und nicht zu vergessen: Die un-
erquicklichen Diskussionen, die sich Tag für
Tag in ungezählten Familien um ein spezielles
Aufgabenformat drehen – die Hausaufgaben.
Seit gut 150 Jahren gibt es allgemeinbildende
Schulen in unseren Breitengraden und genau-
so lange existiert der Hauptfeind aller freien,
unbeschwerten Nachmittagsvergnügungen:
die Hausaufgaben. Erstaunlich dabei: Es han-
delt sich mehr um ein pädagogisch-rituelles
Relikt als um eine Erfolg versprechende
Massnahme. Zahlreiche Studien legen nahe,
dass Hausaufgaben keinerlei nachweisbaren
Einfluss auf den schulischen Erfolg haben.
Daran ändern auch die Milliarden von Euro
wenig, die in Deutschland Jahr für Jahr in den
Nachhilfeunterricht gebuttert werden.
Nichtsdestotrotz: Um all das, was als Aufga-
ben bezeichnet wird, dreht sich all das, was als
schulisches Lernen bezeichnet wird. Damit
Aufgaben und mit ihnen das schulische Ler-
nen nicht zur öden Beschäftigungstherapie
verkommen, ist es unerlässlich, ihnen die
1
Reusser, Kurt: Aufgaben – das Substrat der
Lerngelegenheiten im Unterricht. In: Profil.
03/2013.
2
Eikenbusch, Gerhard: Aufgaben, die Sinn machen.
Wege zu einer überlegten Aufgabenpraxis im
Unterricht. In: Pädagogik. 03/2008.
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nötige professionelle Aufmerksamkeit zu
schenken. Das heisst: Wer über seine Arbeit
nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken.
Aber was sind eigentlich Aufgaben: Als
«Verpflichtung, eine vorgegebene Handlung
durchzuführen» definiert Wikipedia die
Aufgabe. Na ja, das trägt nur sehr beschränkt
zur Klärung bei. Und, dass die Schulaufgabe
eine Aufgabe sei, «die in der Schule erledigt
wird», überrascht auch nicht gerade. Aller-
dings, dass Aufgaben einfach «erledigt» wer-
den müssen, das sagt einiges aus über die Ab-
gründe schulischen Aufgabenverständnisses.
Wirkungen und
Nebenwirkungen
Grundsätzlich kann man sagen: Eine Aufgabe
versteht sich als Aufforderung zu einem Soll
als Differenz zu einem Ist. Also: Etwas soll
nachher anders sein als der Status quo.
Das Ist: Der Abfalleimer quillt über. Das Soll:
Der Eimer soll leer und der Abfall entsorgt
sein. Und die Aufgabe dazwischen heisst:
Abfall wegbringen.
Das Ist: Ich verstehe diesen Text nicht, weil
viele Informationen mir unbekannt sind. Das
Soll: Ich will/soll/muss mich über den Inhalt
unterhalten können. Die Aufgabe dazwischen
heisst demnach: Nachschlagen, klären, was
die Dinge bedeuten, sodass ich mir ein mög-
lichst differenziertes Bild machen kann von
den Aussagen des Textes.
«
Der Weg des geringsten
Widerstandes führt
immer bergab.
»
Aufgaben verfolgen gleichsam ein Ziel, eine
Absicht. Sie beabsichtigen eine Wirkung.
Und im schulischen Idealfall manifestiert sich
diese Wirkung im beabsichtigten Kompetenz-
zuwachs.
Allerdings: Mit Aufgaben verhält es sich wie
mit Medikamenten: Sie können zu unbeab-
sichtigten Nebenwirkungen führen.
Diese Nebenwirkungen können positiv und
erfreulich sein: Ein Lernender lernt mehr
oder intensiver oder differenzierter als eigent-
lich lehrerseits beabsichtigt war. Will heissen:
Er tut mehr als das, was geradeso verlangt
Eine klare Ausgangslage (IST) und ein klares
Ziel (SOLL) machen den Weg einfacher. Je dif-
fuser Ausgangslage und Erwartungen, desto
grösser die Unsicherheit.
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1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
wird. Er ist stolz auf das, was dabei entstanden
ist. Und er fühlt sich gut dabei. Aber genauso
gut kann eine Aufgabe zu negativen Neben-
wirkungen führen – eine Bestätigung für
Inkompetenz, ein Anlass für Ärger zu Hause,
ein Grund, zu bescheissen, so zu tun als ob
(und halt auf diesem Feld Kompetenzen zu
erwerben …).
Ein Grund dafür liegt im Wesen der Aufgabe:
Während beispielsweise beim olympischen
Sprint über hundert Meter das Ist (Startpflö-
cke), der Weg (Bahnen) und das Soll (Ziel-
linie) absolut klar sind, verhält sich das mit
schulischen Aufgaben häufig anders.
Das Ist, also die Ausgangslage, liegt keines-
wegs so offen zutage. Die «Startpflöcke»
stehen alles andere als in einer Reihe. Und in
Abhängigkeit von Vorwissen, emotionalen
Vorerfahrungen und entsprechenden menta-
len Modellen, von Befindlichkeiten und von
jeder Menge Umgebungsfaktoren versteckt
sich auch das Soll, also die expliziten und im-
pliziten Ziele, Intentionen und Erwartungen,
häufig hinter einem dichten Nebelschleier des
Unverständlichen.
Ein Beispiel dazu, eine sogenannte Selbstlern-
aufgabe in Mathematik: «Bei 0 ° C wird in
einem Skilager heisser Kaffee ausgeteilt, der
in den Bechern abkühlt. In der Abbildung ist
die exponentielle Abkühlungskurve des Kaf-
fees dargestellt. Bestimme aus der Zeichnung,
welche Temperatur der Kaffee nach 20 Minu-
ten hat und wie lange man warten muss, wenn
man den Kaffee mit 60 ° C trinken möchte.»
Wer in aller Welt denkt sich so etwas aus? In
welchem Skilager zeichnet man wohl eine
Abkühlungskurve, um zu wissen, wann man
sich mit dem Kaffee nicht mehr die Zunge
verbrennt?
Unter Normalos kann die Reaktion eigent-
lich nur sein: Kopfschütteln, Nase rümpfen,
Augenbrauen hochziehen und dann mit
einem gutturalen «Heeee!?» auf den Lippen
fragend in die Runde blicken. Deshalb: Wer
als Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, muss
über Aufgaben nachdenken. Denn eben:
Aufgaben dominieren schulisches Lernen.
Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch den
Unterricht und in den Diskussionen weit
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darüber hinaus. – Eigentlich ist es simpel:
Menschen lernen, was sie tun. Entscheidend
ist damit, was die Lernenden zu tun erhalten.
Oder was sie sich selber zu tun geben. Anders
gesagt: Die Qualität der Aufgabenstellung
hat massgeblich Einfluss auf die Qualität des
Lernens.
Und nun ist die Milchbüchleinrechnung
schnell gemacht:
Zahl der Aufgaben während eines Schülerle-
bens: Viele.
Multiplikation 1: schlechte Aufgaben =
viel mal schlecht = Schule ist doof.
Multiplikation 2: gute Aufgaben =
viel mal gut = Lernen ist geil.
Die Aufgaben und das Denken, das dahinter
steckt, führen schnurstracks zum Dreh- und
Angelpunkt schulischen Lernens. Nein, sie
bilden gleichsam den Dreh- und Angelpunkt.
Daraus lässt sich der Schluss ziehen: «Zeig
mir deine Aufgaben und ich sag’ dir, wie und
was du lernst.»
Mehr Ausüben als Üben
«Können die, wo fertig sind, früher gehen?»
So oder ähnlich klingt es – zumindest sinn-
gemäss – durch alle schulischen und hoch-
schulischen Einrichtungen hindurch. Da-
hinter verbirgt sich ein zutiefst bulimisches
Verständnis von Lernen. Und die Aufgaben
sind ein wesentlicher Grund dafür. Klar, wenn
Lernen etwas ist, das es zu erledigen gilt, ver-
hält es sich mit den Aufgaben gleich. «Die
hab’ ich erledigt!» Das heisst nun aber kei-
neswegs, dass sich damit auch der beabsich-
tige Kompetenzzuwachs eingestellt hat. Eine
Erledigungsaufgabe erledigt zu haben, heisst
nichts anderes als genau das. Wenn es aber um
Lernen geht, um die nachhaltige Entwicklung
von Kompetenzen, dann braucht es folgerich-
tig Lernaufgaben. Diesem Verständnis fol-
gend dienen Lernaufgaben dem Lernen. Das
heisst: Der Lernende kann «es» noch nicht.
Und daraus folgt: Die Lernaufgabe ist Mittel
für und Weg zum Lernerfolg.
In einem tradierten schulischen Lernver-
ständnis steht der Unterricht im Zentrum.
«Die häufigste und bekannteste Form», so
Wikipedia 2014, «ist der Schulunterricht.
Hier werden Schüler in einer Gruppe durch
einen Lehrer in der Institution Schule un-
terrichtet. » Was etwa so viel heisst wie: Die
Lehrperson sagt, was Sache ist, sagt und zeigt,
wie etwas zu gehen hat, erklärt den Dreisatz,
die Schreibweise von Rhododendron oder die
Welt. Die Schüler, dergestalt zu Wissenden
mutiert, erhalten nun Aufgaben, das Gehabte
zu üben. Der Aufgabe kommt auf diese Weise
die Funktion zu, den Unterricht mehr oder
weniger sinnvoll zu ergänzen.
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1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
Dieses Denkmuster ist weit verbreitet: Zuerst
muss man etwas lernen. Heisst: Die Lehrer
sind aufgefordert, «es» den Schülern beizu-
bringen. Und wenn sie «es» dann geschnallt
haben, können sie es üben. Und üben – das
scheint wichtig zu sein. Jedenfalls liefert die
Internet-Suchmaschine weit über zwei Mil-
lionen Ergebnisse: Vom Englisch über das
Erziehen bis zum Krieg im Irak – alles lässt
sich offensichtlich üben. Gemeint ist mit
«Üben» : etwas immer wieder tun. Und das
Ziel: Es besser zu können – sei es Englisch,
Erziehen oder eben Krieg-Führen im Irak.
Aber nicht nur deswegen verbinden sich mit
dem Wort «Üben» in der Regel nicht ge-
rade ermutigende Gefühle. Der gedankliche
Schritt zum – schulischen – Lernen ist klein.
Denn schulisches Lernen steht meist in asso-
ziativer Verbindung zu «auswendig». Und
diesem Muster folgend sind denn auch viele
Aufgaben gedacht und gestaltet. Es geht dar-
um, etwas, das man im Prinzip kann, zu üben
und unter Beweis zu stellen. Damit verbinden
sich fast automatisch bestimmte Verhaltens-
weisen bei den Lernenden. «So tun als ob»
ist eine. «Erledigen» eine andere. Aufgaben
werden damit zu Erledigungsaufgaben.
Lernaufgaben folgen einer grundsätzlich
anderen Logik. Sie verstehen sich nicht als
Wurmfortsatz zum Unterricht, nicht als er-
gänzender Übungsanlass. Lernaufgaben bil-
den den Dreh- und Angelpunkt. Sie fordern
nicht zum Üben, sondern zum Ausüben auf.
Sie stehen im Zentrum. Und der «Unter-
richt » gliedert sich gleichsam um die Aufga-
be herum, unterstützt sie. Dabei beschränkt
sich «Unterricht» keineswegs nur auf die Ak-
tivitäten der Lehrperson. Im Gegenteil. Peer
Tutoring, das Lernen voneinander und mitei-
nander also, spielt eine vergleichbar wichtige
Rolle. Ebenso wie die vielen anderen Formen
und Möglichkeiten, sich den Dreisatz, die
Schreibweise von Rhododendron oder die
Welt zu erschliessen.
Lernaufgaben nehmen damit Prinzipien auf,
wie sie schon von Comenius formuliert wor-
den sind – 1657 notabene. Die Dinge sollen
durch eigenes Tun erlernt werden, gab er zu
bedenken. Und die Lernenden sollen «beim
Gegenstand verweilen, bis dieser gänzlich
begriffen ist». Schon damals also: Nichts da
von «erledigen». Umso mehr muss sich die
moderne Lernaufgabe verstehen als explizite
und implizite Aufforderung an die Lernen-
den, sich eigenaktiv, vertieft und in Zusam-
menhängen mit Dingen auseinanderzusetzen.
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2
Wer über Aufgaben
nachdenkt, muss über
Lernen nachdenken
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
L
ernen. Alle sprechen davon. Wie vom
Wetter. Aber vom Wetter wissen wir
in der Regel mehr als vom Lernen.
«Lernen», der Begriff verleiht ohnehin
schon bedeutungsschwangeren Situationen
eine spezielle Note. Wie aufs Kommando
fallen reihum die Stirnen faltenbildend in
sich zusammen, wenn das Wort «Lernen»
der Leichtigkeit des Seins ein abruptes Ende
bereitet. Wer mit der Rolle als kommuni-
kativer Nestbeschmutzer kokettieren will,
muss nur das Wort «Lernen» in die Runde
werfen – und die geballte Aufmerksamkeit ist
ihm sicher. Denn zumeist ist «Lernen» nicht
sonderlich positiv konnotiert. Und wenn
«Lernen» dann noch verbal mit «Schule»
verlinkt wird, dann ordnen sich die Gehirn-
funktionen automatisch dem Regime des
Mandelkerns unter und schalten auf Flucht
oder Angriff.
Zwar weiss man: Menschen lernen selbst und
ständig. Überall und immer. Ob sie wollen
Ein Problem schulischen Lernens: Die Ansichten darüber, was «Lernen» ist, wie «Lernen»
funktioniert und wer was tun muss, gehen diametral auseinander.
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oder nicht. Den weitaus grössten Teil dessen,
was Menschen wissen und können, haben
sie nicht in schulischen Settings erworben,
sondern implizit und informell. Und doch
macht es den Anschein, als sei die Schule der
Ort, wo die Tätigkeit namens «Lernen» ihre
Wurzeln und ihre Heimat hat.
Doch schulisches Lernen ist eine Abart da-
von – und wird mit zunehmender Schuldauer
immer abartiger. «Das müsst ihr heute ler-
nen!» «Ich weiss, ich sollte mehr lernen.»
«Gestern mussten wir die Kommaregeln
lernen.» Schulische Alltagsformulierungen.
Und alles scheint klar. Auf den ersten Blick
und auf das erste Hinhören. Dann wird’s
kompliziert. Denn: Was heisst eigentlich
«lernen» ? Was heisst «Kommaregeln ler-
nen»? Alle, die es gibt, in allen Anwendungs-
formen? Oder nur auswendig lernen? Und
wie? Mündlich, der Spur nach? Oder schrift-
lich? Und was heisst «mehr lernen»? Was ist
«mehr»?
Vielleicht bezeichnend, dass gerade im Kon-
text von Schule alle mit einem Begriff ope-
rieren, der nicht geklärt ist. So ein bisschen
erinnert es an den Turmbau zu Babel. Die
babylonische Sprachverwirrung brachte das
Projekt zum Stillstand. Nur: Dort und damals
haben mit einem Mal alle eine andere Sprache
gesprochen. Und das Verständnis blieb auf
der Strecke. Im Gegensatz zum Turmbau in
Babel benutzen beim «Lernen» alle das glei-
che Wort und gehen deshalb von der irrigen
Annahme aus, sie verstünden das Gleiche. Das
heisst: Im Gegensatz zum Turmbau merkt
man die Sprachverwirrung im Zusammen-
hang mit «Lernen» nicht. Nicht auf Anhieb
zumindest.
Neurowissenschaftlich gesehen ist «lernen»
die Veränderung von Synapsen. Aber der
Lehrer kann ja seinen Schülern nicht den
Auftrag geben, «verändert bis morgen eure
Synapsen». Deshalb spricht er eben von Ler-
nen. Das Problem dabei: Lernen ist ein Män-
gelverb. Das sagt zweierlei. Lernen ist erstens
ein Verb, eine Tätigkeit, eine Aktivität. Wer
«
Man muss an sich arbeiten,
nicht an Arbeitsblättern.
»
lernt, tut. Was aber dieses Tun ist, dazu bedarf
es ergänzender Verben. Das Verb lernen allein
sagt darüber noch überhaupt nichts aus. «Ich
habe keine Zeit, ich lerne gerade.» Was tut
diese Person, die das sagt? Schreiben? Be-
schreiben? Abschreiben? Oder lesen? Einfach
lesen? Und was passiert mit dem «Gelese-
nen »? Die Liste solcher und ähnlicher Fra-
gen liesse sich beliebig weiterführen. Das lässt
die Folgerung zu: Lernen ist ein äusserst kom-
plexes Geschehen. Es entzieht sich zudem bis
zu einem gewissen Grad der bewussten Wahr-
nehmung. Und damit der Steuerung. Dieses
undurchsichtige Geschehen lässt sich deshalb
auch nicht einfach auf ein Verb reduzieren.
Eben: Lernen ist ein Mängelverb. Es bedarf
ergänzender Verben und Beschreibungen, um
wenigstens annäherungsweise zum Ausdruck
bringen zu können, was gemeint sein könnte.
Das führt flugs zur Forderung: Schulen und
Kollegien müssen ihr Lernverständnis auf den
Tisch legen. Sie müssen klären und erklären
worüber sie sprechen, wenn von «lernen»
die Rede ist – und das ist es ja sehr oft. Ein
solches gemeinsames Lernverständnis be-
schränkt sich nicht auf das Kollegium. Denn
direkt betroffen sind davon die Lernenden.
Sie müssen sich ein klares Bild davon machen
können, wie sie ihre Arbeit erfolgreich gestal-
ten können. Und da reicht «Lernt ...!» bei
Weitem nicht.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Erfahrungswelt
beeinflussen
Lernen ist ein Prozess, bei dem Menschen
Wissen, Können oder Fühlen zuwächst, über
das sie zuvor nicht verfügten. Im Verlaufe
dieses Prozesses machen sie Erfahrungen, aus
denen sie verändert hervorgehen. Diese füh-
ren zu einer Veränderung des Verständnisho-
rizonts und damit zu einer neuen Begegnung
mit der Welt. Klar, wer weiss, dass Hobart die
Hauptstadt von Tasmanien, Tasmanien nicht
ein Nachbarland der Schweiz, sondern eine
Insel südlich von Australien ist, kann eine Be-
ziehung herstellen, wenn bei der Ursprungs-
deklaration grasgrüner Äpfel «Hobart» oder
«Tasmanien» steht. Er begegnet damit der
Welt ein kleines bisschen anders. Jedes Lernen
führt also zu einer etwas anderen Begegnung
mit der Welt. Und mit sich. Das ist beispiels-
weise dann der Fall, wenn man Texte lesen
und verstehen kann. Wer in der Zeitung liest,
dass seine Kaffeemaschine explodieren kann
und sich schon verschiedene Vorfälle zugetra-
gen haben, wird seine Abscheu vor Linden-
blüten oder anderen Teesorten zumindest für
den Moment überwinden. Oder eine neue
Kaffeemaschine kaufen. Oder die Probe aufs
Exempel machen. Er tut etwas anders, als er es
vorher getan hat. Wer gemerkt hat, in welcher
Reihenfolge der Lehrer die Aufgaben abfragt,
kann sich darauf vorbereiten, die Antwort
bereitzuhalten, wenn er drankommt. Und wer
verstanden hat, wie sich das mit den Kommas
beim Infinitiv verhält, der wird den kleinen
Strich am richtigen Ort zu Papier bringen.
Menschen tun oder lassen die ganze Zeit et-
was. Und all das, was sie tun oder lassen, führt
zu Erfahrungen mit sich selber und mit der
Welt. Die einzelnen kleineren oder grösseren,
häufigeren oder selteneren Erfahrungen ver-
binden sich zu Erkenntnissen. Also beispiels-
weise: Beschimpfe nur Leute, die kleiner oder
langsamer sind als du.
Die ganzen Erfahrungen und die damit ver-
bundenen Konstruktionsprozesse werden
beeinflusst von unterschiedlichsten Faktoren.
Manche liegen im Menschen selber, manche
ausserhalb.
Wer also auf das menschliche Lernen in ei-
ner bestimmten Art und Weise einwirken
will (und das ist ja eine zentrale Aufgabe der
Schule), muss die Erfahrungswelt der Lernen-
den beeinflussen.
Will heissen: Schulen müssen jene Erfah-
rungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die
das Lernen zu einer subjektiv bedeutsamen
Angelegenheit machen. Dass es sich lohnt, in
England links und nicht rechts zu fahren, ist
ein lebensdienliches Beispiel für Bedeutsam-
keit. Ein anderes: Wenn ein Schüler erlebt,
wie er etwas kann, wie es sich anfühlt, kompe-
tent zu sein, wenn man von anderen etwas ge-
fragt wird. Lernen findet im Lernenden statt,
nicht an ihm. So gesehen machen Menschen
nicht Erfahrungen, sondern die Erfahrungen
machen sie. Menschen sind das Produkt ihrer
Erfahrungen. Das gilt ohne Abstriche auch
für das schulische Lernen.
Menschen sind das Produkt ihrer
Erfahrungen:
Erfahrungen machen uns.
Je unterschiedlicher die Erfah-
rungen, desto unterschiedlicher die
Menschen.
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Kompetenzen
generieren
Lernen, auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, ist
eines nicht: Konsum. Lernen ist Produzieren.
Entstehen lassen. Konstruieren. Erzeugen.
Hervorbringen. Generieren. Etwas Neues
wird mit vorhandenen Gefühls-, Denk- und
Wissensstrukturen in Beziehung gesetzt.
Ausgangspunkt ist eine gewisse Irritation,
ein mehr oder weniger grosses gedankliches
Fragezeichen. Ein solches Fragezeichen kann
beispielsweise sein, sich im italienischen Ris-
torante zu vergewissern, ob «caldo» wirklich
«kalt» heisst.
Mehr oder weniger bewussten gedanklichen
Fragezeichen kann man sich stellen. Oder
nicht. Wer das Nichtwissen oder Nichtkön-
nen als Impuls annimmt, will von diesem un-
befriedigenden Ist zu einem erwünschten Soll
kommen. Damit einher geht ein Prozess der
Verarbeitung mit dem Ziel, aus etwas Frem-
dem etwas Eigenes zu machen.
Lernen beginnt mit einer Irritation, mit Nichtwissen, mit Nichtkönnen. Das ist die immer wieder
neue Ausgangslage. Die Menschen gehen – auch in Abhängigkeit zum jeweiligen Kontext –
sehr unterschiedlich mit dieser Situation um. Den einen ist es Wurst, sie sind nicht neugierig,
sie haben keine Lust oder keine geeignete Strategie. Dann gehen sie bewusst oder unbewusst
auf Distanz. Die anderen stellen sich der Situation – immer wieder neu.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Wissen hilft Wissen
Dabei geht es zum Beispiel um fachliche
Kompetenzen. Je nach Schulart und Lehrper-
son einer der Schlüsselbegriffe: Fachlichkeit.
Dieser Anspruch kommt meistens von jenen,
die in der Fächerhierarchie die prestigeträch-
tigen Spitzenplätze belegen. Zwar kann kaum
jemand erklären, was mit «Fachlichkeit»
genau gemeint ist. Aber es klingt allemal
wichtig und mahnt auf mehr oder weniger
subtile Weise zu angemessener Demut und
Ehrerbietung. Deshalb werden sie ja auch
Hauptfächer genannt. Allerdings: Je mehr so-
genannte Fachlichkeit, desto weniger hat das
in der Regel mit dem Leben im Allgemeinen
und jenem eines Jugendlichen im Speziellen
zu tun. Latein, die späte Rache der Römer an
den Germanen, ist ein Beispiel dafür. Jahr-
zehntelang war kein vollwertiges Mitglied der
Bildungselite, wer nicht mindestens die la-
Je mehr PUTPUT (Verarbeitung),
desto mehr OUTPUT.
teinischen Zitate bei Asterix und Obelix ver-
stehen konnte, ohne in den Fussnoten nach
der Übersetzung suchen zu müssen. Latein
war bis vor nicht allzu langer Zeit der Inbe-
griff für «Bildung», das kleine Latinum die
Eintrittskarte zu höheren Weihen. Diese Art
von Fachlichkeit degenerierte gleichsam zum
schulischen Selbstzweck. Latein verschwand
dann zunehmend auf die Nebenbühnen der
Bedeutungslosigkeit. Doch eine Menge ähn-
lich weltfremder Fach- und Themenbereiche
ziert nach wie vor die Lehrpläne und Prü-
fungsverordnungen. Und sie bleibt dann auch
dort, wo sie herkommt: in der Schule eben.
Auf der anderen Seite ist klar: Menschen
brauchen Wissen, sie brauchen fachliche
Kompetenzen. Und die häufig kolportierte
Aussage, man brauche kein Wissen mehr,
man müsse nur wissen, wo suchen, ist natür-
lich Nonsens. Denn um zu suchen (und vor
allem um zu finden), muss man wissen. Wie
will man sonst wissen, was man sucht?
Im Prinzip stellen sich zwei Fragen, wenn es
um die fachlichen Kompetenzen in der Schu-
le geht: Welche? Und wie viel davon? Einfa-
che Fragen eigentlich – aber sie zielen mitten
ins Herz der schulischen Bildung und all der
persönlichen Interessen, die sich damit in
irgendeiner Weise verbinden. Was ist das, was
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