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Inhaltsverzeichnis
1
Wer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken 7
Wirkungen und Nebenwirkungen 9
Mehr Ausüben als Üben 11
2
Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken 13
Erfahrungswelt beeinflussen 16
Kompetenzen generieren 17
3
Wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken 27
Das Lernen organisieren 30
Mentale Trojaner 32
Personalisierte Lernkonzepte 34
4
Erstens kommt es anders und zweitens wenn man nachdenkt 37
Perspektive der Lernenden 39
Perspektive schulischen Lernens 44
Perspektive des Lehrers 46
5
Das Sanduhr-Prinzip 51
Appetizer: Der Gruss aus der Küche 56
Anspruch: Das Pferd am Schwanz aufzäumen 58
Auseinandersetzung: Glasplatte durchbrechen 63
Anschluss: Frontalangriff auf die Molekularpädagogik 65
Arbeitsweise: «Gewusst-wie» ist die halbe Miete 68
Auswertung: Hinter dem Horizont kommt noch etwas 71
6
Design oder Nichtsein 85
Prototypische Formate 88
LernSteps – Schritte zu einem Thema 89
LernJobs – Kompositionen mit Langzeitwirkung 90
LernUnits – individuelle oder kooperative Kleinprojekte 96
The Making of 99
7
Wie man sie einbettet, so liegen sie einem 105
Kulturbildende Einbettung («spirit») 109
Strukturbildende Einbettung 117
8
Beispiele 121
1
Wer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken
7
1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
D
ie Arbeit in der Schule besteht zu
einem wesentlichen Teil darin,
Aufgaben zu erteilen und zu korri-
gieren – oder, wenn man auf der anderen Seite sitzt, sie zu erledigen. Im Mathematikunter- richt verbringen die Schüler vier Fünftel der Zeit mit dem Lösen von Aufgaben.1
Da kommt ganz schön was zusammen: «Über 100 000 Aufgaben sind der Durchschnitt – mindestens. Nicht selten werden es eine Viertelmillion. So viele Aufgaben stellt eine Lehrkraft im Laufe ihres Berufslebens im Un- terricht», stellt Gerhard Eikenbusch fest. Und er wundert sich, «wie wenig wir darüber wis- sen, wie Aufgaben im Unterricht überhaupt
funktionieren».2 Aufgaben, so scheint es, sind
halt einfach Aufgaben. Alltagsroutine eben. Die stellt man sich zusammen, kopiert sie aus einem Buch raus, bedient sich einer Kopier- vorlage oder lädt sich «etwas» aus dem Netz runter. Noch einfacher: Man nimmt das Buch Seite soundso und hangelt sich von Kapitel zu Kapitel. Nicht von ungefähr werden diese Bücher ja Lehrmittel genannt.
Das ist, gelinde gesagt, erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, welche zeitliche Bedeutung Aufgaben haben – und welche Selektionswirkung ihnen zukommt. Denn schliesslich bestimmen sie zu einem nicht unerheblichen Teil über schulisches Sein oder Nichtsein. Und nicht zu vergessen: Die un- erquicklichen Diskussionen, die sich Tag für Tag in ungezählten Familien um ein spezielles Aufgabenformat drehen – die Hausaufgaben. Seit gut 150 Jahren gibt es allgemeinbildende Schulen in unseren Breitengraden und genau- so lange existiert der Hauptfeind aller freien, unbeschwerten Nachmittagsvergnügungen: die Hausaufgaben. Erstaunlich dabei: Es han- delt sich mehr um ein pädagogisch-rituelles Relikt als um eine Erfolg versprechende Massnahme. Zahlreiche Studien legen nahe, dass Hausaufgaben keinerlei nachweisbaren Einfluss auf den schulischen Erfolg haben. Daran ändern auch die Milliarden von Euro wenig, die in Deutschland Jahr für Jahr in den Nachhilfeunterricht gebuttert werden.
Nichtsdestotrotz: Um all das, was als Aufga- ben bezeichnet wird, dreht sich all das, was als schulisches Lernen bezeichnet wird. Damit Aufgaben und mit ihnen das schulische Ler- nen nicht zur öden Beschäftigungstherapie verkommen, ist es unerlässlich, ihnen die
1
Reusser, Kurt: Aufgaben – das Substrat der Lerngelegenheiten im Unterricht. In: Profil. 03/2013.
2
Eikenbusch, Gerhard: Aufgaben, die Sinn machen. Wege zu einer überlegten Aufgabenpraxis im Unterricht. In: Pädagogik. 03/2008.
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nötige professionelle Aufmerksamkeit zu schenken. Das heisst: Wer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken. Aber was sind eigentlich Aufgaben: Als «Verpflichtung, eine vorgegebene Handlung durchzuführen» definiert Wikipedia die Aufgabe. Na ja, das trägt nur sehr beschränkt zur Klärung bei. Und, dass die Schulaufgabe eine Aufgabe sei, «die in der Schule erledigt wird», überrascht auch nicht gerade. Aller- dings, dass Aufgaben einfach «erledigt» wer- den müssen, das sagt einiges aus über die Ab- gründe schulischen Aufgabenverständnisses.
Wirkungen und Nebenwirkungen
Grundsätzlich kann man sagen: Eine Aufgabe versteht sich als Aufforderung zu einem Soll als Differenz zu einem Ist. Also: Etwas soll nachher anders sein als der Status quo. Das Ist: Der Abfalleimer quillt über. Das Soll: Der Eimer soll leer und der Abfall entsorgt sein. Und die Aufgabe dazwischen heisst: Abfall wegbringen.
Das Ist: Ich verstehe diesen Text nicht, weil viele Informationen mir unbekannt sind. Das Soll: Ich will/soll/muss mich über den Inhalt unterhalten können. Die Aufgabe dazwischen heisst demnach: Nachschlagen, klären, was die Dinge bedeuten, sodass ich mir ein mög- lichst differenziertes Bild machen kann von den Aussagen des Textes.
«
Der Wegdes geringsten
Widerstandes führt
immer bergab.
»
Aufgaben verfolgen gleichsam ein Ziel, eine Absicht. Sie beabsichtigen eine Wirkung. Und im schulischen Idealfall manifestiert sich diese Wirkung im beabsichtigten Kompetenz- zuwachs.
Allerdings: Mit Aufgaben verhält es sich wie mit Medikamenten: Sie können zu unbeab- sichtigten Nebenwirkungen führen.
Diese Nebenwirkungen können positiv und erfreulich sein: Ein Lernender lernt mehr oder intensiver oder differenzierter als eigent- lich lehrerseits beabsichtigt war. Will heissen: Er tut mehr als das, was geradeso verlangt
Eine klare Ausgangslage (IST) und ein klares Ziel (SOLL) machen den Weg einfacher. Je dif- fuser Ausgangslage und Erwartungen, desto grösser die Unsicherheit.
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1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
wird. Er ist stolz auf das, was dabei entstanden ist. Und er fühlt sich gut dabei. Aber genauso gut kann eine Aufgabe zu negativen Neben- wirkungen führen – eine Bestätigung für Inkompetenz, ein Anlass für Ärger zu Hause, ein Grund, zu bescheissen, so zu tun als ob (und halt auf diesem Feld Kompetenzen zu erwerben …).
Ein Grund dafür liegt im Wesen der Aufgabe: Während beispielsweise beim olympischen Sprint über hundert Meter das Ist (Startpflö- cke), der Weg (Bahnen) und das Soll (Ziel- linie) absolut klar sind, verhält sich das mit schulischen Aufgaben häufig anders.
Das Ist, also die Ausgangslage, liegt keines- wegs so offen zutage. Die «Startpflöcke» stehen alles andere als in einer Reihe. Und in Abhängigkeit von Vorwissen, emotionalen Vorerfahrungen und entsprechenden menta- len Modellen, von Befindlichkeiten und von jeder Menge Umgebungsfaktoren versteckt sich auch das Soll, also die expliziten und im- pliziten Ziele, Intentionen und Erwartungen, häufig hinter einem dichten Nebelschleier des Unverständlichen.
Ein Beispiel dazu, eine sogenannte Selbstlern- aufgabe in Mathematik: «Bei 0 ° C wird in einem Skilager heisser Kaffee ausgeteilt, der in den Bechern abkühlt. In der Abbildung ist die exponentielle Abkühlungskurve des Kaf- fees dargestellt. Bestimme aus der Zeichnung, welche Temperatur der Kaffee nach 20 Minu- ten hat und wie lange man warten muss, wenn man den Kaffee mit 60 ° C trinken möchte.» Wer in aller Welt denkt sich so etwas aus? In welchem Skilager zeichnet man wohl eine Abkühlungskurve, um zu wissen, wann man sich mit dem Kaffee nicht mehr die Zunge verbrennt?
Unter Normalos kann die Reaktion eigent- lich nur sein: Kopfschütteln, Nase rümpfen, Augenbrauen hochziehen und dann mit einem gutturalen «Heeee!?» auf den Lippen fragend in die Runde blicken. Deshalb: Wer als Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken. Denn eben: Aufgaben dominieren schulisches Lernen.
Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch den Unterricht und in den Diskussionen weit
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darüber hinaus. – Eigentlich ist es simpel: Menschen lernen, was sie tun. Entscheidend ist damit, was die Lernenden zu tun erhalten. Oder was sie sich selber zu tun geben. Anders gesagt: Die Qualität der Aufgabenstellung hat massgeblich Einfluss auf die Qualität des Lernens.
Und nun ist die Milchbüchleinrechnung schnell gemacht:
Zahl der Aufgaben während eines Schülerle- bens: Viele.
Multiplikation 1: schlechte Aufgaben = viel mal schlecht = Schule ist doof.
Multiplikation 2: gute Aufgaben = viel mal gut = Lernen ist geil.
Die Aufgaben und das Denken, das dahinter steckt, führen schnurstracks zum Dreh- und Angelpunkt schulischen Lernens. Nein, sie bilden gleichsam den Dreh- und Angelpunkt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: «Zeig mir deine Aufgaben und ich sag’ dir, wie und was du lernst.»
Mehr Ausüben als Üben
«Können die, wo fertig sind, früher gehen?» So oder ähnlich klingt es – zumindest sinn- gemäss – durch alle schulischen und hoch- schulischen Einrichtungen hindurch. Da- hinter verbirgt sich ein zutiefst bulimisches Verständnis von Lernen. Und die Aufgaben sind ein wesentlicher Grund dafür. Klar, wenn Lernen etwas ist, das es zu erledigen gilt, ver- hält es sich mit den Aufgaben gleich. «Die hab’ ich erledigt!» Das heisst nun aber kei- neswegs, dass sich damit auch der beabsich- tige Kompetenzzuwachs eingestellt hat. Eine Erledigungsaufgabe erledigt zu haben, heisst nichts anderes als genau das. Wenn es aber um Lernen geht, um die nachhaltige Entwicklung von Kompetenzen, dann braucht es folgerich- tig Lernaufgaben. Diesem Verständnis fol- gend dienen Lernaufgaben dem Lernen. Das heisst: Der Lernende kann «es» noch nicht. Und daraus folgt: Die Lernaufgabe ist Mittel für und Weg zum Lernerfolg.
In einem tradierten schulischen Lernver- ständnis steht der Unterricht im Zentrum. «Die häufigste und bekannteste Form», so Wikipedia 2014, «ist der Schulunterricht. Hier werden Schüler in einer Gruppe durch einen Lehrer in der Institution Schule un- terrichtet. » Was etwa so viel heisst wie: Die Lehrperson sagt, was Sache ist, sagt und zeigt, wie etwas zu gehen hat, erklärt den Dreisatz, die Schreibweise von Rhododendron oder die Welt. Die Schüler, dergestalt zu Wissenden mutiert, erhalten nun Aufgaben, das Gehabte zu üben. Der Aufgabe kommt auf diese Weise die Funktion zu, den Unterricht mehr oder weniger sinnvoll zu ergänzen.
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1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
Dieses Denkmuster ist weit verbreitet: Zuerst muss man etwas lernen. Heisst: Die Lehrer sind aufgefordert, «es» den Schülern beizu- bringen. Und wenn sie «es» dann geschnallt haben, können sie es üben. Und üben – das scheint wichtig zu sein. Jedenfalls liefert die Internet-Suchmaschine weit über zwei Mil- lionen Ergebnisse: Vom Englisch über das Erziehen bis zum Krieg im Irak – alles lässt sich offensichtlich üben. Gemeint ist mit «Üben» : etwas immer wieder tun. Und das Ziel: Es besser zu können – sei es Englisch, Erziehen oder eben Krieg-Führen im Irak. Aber nicht nur deswegen verbinden sich mit dem Wort «Üben» in der Regel nicht ge- rade ermutigende Gefühle. Der gedankliche Schritt zum – schulischen – Lernen ist klein. Denn schulisches Lernen steht meist in asso- ziativer Verbindung zu «auswendig». Und diesem Muster folgend sind denn auch viele Aufgaben gedacht und gestaltet. Es geht dar- um, etwas, das man im Prinzip kann, zu üben und unter Beweis zu stellen. Damit verbinden sich fast automatisch bestimmte Verhaltens- weisen bei den Lernenden. «So tun als ob» ist eine. «Erledigen» eine andere. Aufgaben werden damit zu Erledigungsaufgaben.
Lernaufgaben folgen einer grundsätzlich anderen Logik. Sie verstehen sich nicht als Wurmfortsatz zum Unterricht, nicht als er- gänzender Übungsanlass. Lernaufgaben bil- den den Dreh- und Angelpunkt. Sie fordern nicht zum Üben, sondern zum Ausüben auf. Sie stehen im Zentrum. Und der «Unter- richt » gliedert sich gleichsam um die Aufga- be herum, unterstützt sie. Dabei beschränkt sich «Unterricht» keineswegs nur auf die Ak- tivitäten der Lehrperson. Im Gegenteil. Peer Tutoring, das Lernen voneinander und mitei- nander also, spielt eine vergleichbar wichtige Rolle. Ebenso wie die vielen anderen Formen
und Möglichkeiten, sich den Dreisatz, die Schreibweise von Rhododendron oder die Welt zu erschliessen.
Lernaufgaben nehmen damit Prinzipien auf, wie sie schon von Comenius formuliert wor- den sind – 1657 notabene. Die Dinge sollen durch eigenes Tun erlernt werden, gab er zu bedenken. Und die Lernenden sollen «beim Gegenstand verweilen, bis dieser gänzlich begriffen ist». Schon damals also: Nichts da von «erledigen». Umso mehr muss sich die moderne Lernaufgabe verstehen als explizite und implizite Aufforderung an die Lernen- den, sich eigenaktiv, vertieft und in Zusam- menhängen mit Dingen auseinanderzusetzen.
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Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
L
ernen. Alle sprechen davon. Wie vom
Wetter. Aber vom Wetter wissen wir
in der Regel mehr als vom Lernen.
«Lernen», der Begriff verleiht ohnehin schon bedeutungsschwangeren Situationen
eine spezielle Note. Wie aufs Kommando fallen reihum die Stirnen faltenbildend in sich zusammen, wenn das Wort «Lernen» der Leichtigkeit des Seins ein abruptes Ende bereitet. Wer mit der Rolle als kommuni- kativer Nestbeschmutzer kokettieren will, muss nur das Wort «Lernen» in die Runde werfen – und die geballte Aufmerksamkeit ist ihm sicher. Denn zumeist ist «Lernen» nicht sonderlich positiv konnotiert. Und wenn «Lernen» dann noch verbal mit «Schule» verlinkt wird, dann ordnen sich die Gehirn- funktionen automatisch dem Regime des Mandelkerns unter und schalten auf Flucht oder Angriff.
Zwar weiss man: Menschen lernen selbst und ständig. Überall und immer. Ob sie wollen
Ein Problem schulischen Lernens: Die Ansichten darüber, was «Lernen» ist, wie «Lernen» funktioniert und wer was tun muss, gehen diametral auseinander.
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oder nicht. Den weitaus grössten Teil dessen, was Menschen wissen und können, haben sie nicht in schulischen Settings erworben, sondern implizit und informell. Und doch macht es den Anschein, als sei die Schule der Ort, wo die Tätigkeit namens «Lernen» ihre Wurzeln und ihre Heimat hat.
Doch schulisches Lernen ist eine Abart da- von – und wird mit zunehmender Schuldauer immer abartiger. «Das müsst ihr heute ler- nen!» «Ich weiss, ich sollte mehr lernen.» «Gestern mussten wir die Kommaregeln lernen.» Schulische Alltagsformulierungen. Und alles scheint klar. Auf den ersten Blick und auf das erste Hinhören. Dann wird’s kompliziert. Denn: Was heisst eigentlich «lernen» ? Was heisst «Kommaregeln ler- nen»? Alle, die es gibt, in allen Anwendungs- formen? Oder nur auswendig lernen? Und wie? Mündlich, der Spur nach? Oder schrift- lich? Und was heisst «mehr lernen»? Was ist «mehr»?
Vielleicht bezeichnend, dass gerade im Kon- text von Schule alle mit einem Begriff ope- rieren, der nicht geklärt ist. So ein bisschen erinnert es an den Turmbau zu Babel. Die babylonische Sprachverwirrung brachte das Projekt zum Stillstand. Nur: Dort und damals haben mit einem Mal alle eine andere Sprache gesprochen. Und das Verständnis blieb auf der Strecke. Im Gegensatz zum Turmbau in Babel benutzen beim «Lernen» alle das glei- che Wort und gehen deshalb von der irrigen Annahme aus, sie verstünden das Gleiche. Das heisst: Im Gegensatz zum Turmbau merkt man die Sprachverwirrung im Zusammen- hang mit «Lernen» nicht. Nicht auf Anhieb zumindest.
Neurowissenschaftlich gesehen ist «lernen» die Veränderung von Synapsen. Aber der Lehrer kann ja seinen Schülern nicht den
Auftrag geben, «verändert bis morgen eure Synapsen». Deshalb spricht er eben von Ler- nen. Das Problem dabei: Lernen ist ein Män- gelverb. Das sagt zweierlei. Lernen ist erstens ein Verb, eine Tätigkeit, eine Aktivität. Wer
«
Man muss an sich arbeiten,
nicht an Arbeitsblättern.
»
lernt, tut. Was aber dieses Tun ist, dazu bedarf es ergänzender Verben. Das Verb lernen allein sagt darüber noch überhaupt nichts aus. «Ich habe keine Zeit, ich lerne gerade.» Was tut diese Person, die das sagt? Schreiben? Be- schreiben? Abschreiben? Oder lesen? Einfach lesen? Und was passiert mit dem «Gelese- nen »? Die Liste solcher und ähnlicher Fra- gen liesse sich beliebig weiterführen. Das lässt die Folgerung zu: Lernen ist ein äusserst kom- plexes Geschehen. Es entzieht sich zudem bis zu einem gewissen Grad der bewussten Wahr- nehmung. Und damit der Steuerung. Dieses undurchsichtige Geschehen lässt sich deshalb auch nicht einfach auf ein Verb reduzieren. Eben: Lernen ist ein Mängelverb. Es bedarf ergänzender Verben und Beschreibungen, um wenigstens annäherungsweise zum Ausdruck bringen zu können, was gemeint sein könnte. Das führt flugs zur Forderung: Schulen und Kollegien müssen ihr Lernverständnis auf den Tisch legen. Sie müssen klären und erklären worüber sie sprechen, wenn von «lernen» die Rede ist – und das ist es ja sehr oft. Ein solches gemeinsames Lernverständnis be- schränkt sich nicht auf das Kollegium. Denn direkt betroffen sind davon die Lernenden. Sie müssen sich ein klares Bild davon machen können, wie sie ihre Arbeit erfolgreich gestal- ten können. Und da reicht «Lernt ...!» bei Weitem nicht.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Erfahrungswelt beeinflussen
Lernen ist ein Prozess, bei dem Menschen Wissen, Können oder Fühlen zuwächst, über das sie zuvor nicht verfügten. Im Verlaufe dieses Prozesses machen sie Erfahrungen, aus denen sie verändert hervorgehen. Diese füh- ren zu einer Veränderung des Verständnisho- rizonts und damit zu einer neuen Begegnung mit der Welt. Klar, wer weiss, dass Hobart die Hauptstadt von Tasmanien, Tasmanien nicht ein Nachbarland der Schweiz, sondern eine Insel südlich von Australien ist, kann eine Be- ziehung herstellen, wenn bei der Ursprungs- deklaration grasgrüner Äpfel «Hobart» oder «Tasmanien» steht. Er begegnet damit der Welt ein kleines bisschen anders. Jedes Lernen führt also zu einer etwas anderen Begegnung mit der Welt. Und mit sich. Das ist beispiels- weise dann der Fall, wenn man Texte lesen und verstehen kann. Wer in der Zeitung liest, dass seine Kaffeemaschine explodieren kann und sich schon verschiedene Vorfälle zugetra- gen haben, wird seine Abscheu vor Linden- blüten oder anderen Teesorten zumindest für den Moment überwinden. Oder eine neue Kaffeemaschine kaufen. Oder die Probe aufs Exempel machen. Er tut etwas anders, als er es vorher getan hat. Wer gemerkt hat, in welcher Reihenfolge der Lehrer die Aufgaben abfragt, kann sich darauf vorbereiten, die Antwort bereitzuhalten, wenn er drankommt. Und wer verstanden hat, wie sich das mit den Kommas beim Infinitiv verhält, der wird den kleinen Strich am richtigen Ort zu Papier bringen. Menschen tun oder lassen die ganze Zeit et- was. Und all das, was sie tun oder lassen, führt
zu Erfahrungen mit sich selber und mit der Welt. Die einzelnen kleineren oder grösseren, häufigeren oder selteneren Erfahrungen ver- binden sich zu Erkenntnissen. Also beispiels- weise: Beschimpfe nur Leute, die kleiner oder langsamer sind als du.
Die ganzen Erfahrungen und die damit ver- bundenen Konstruktionsprozesse werden beeinflusst von unterschiedlichsten Faktoren. Manche liegen im Menschen selber, manche ausserhalb.
Wer also auf das menschliche Lernen in ei- ner bestimmten Art und Weise einwirken will (und das ist ja eine zentrale Aufgabe der Schule), muss die Erfahrungswelt der Lernen- den beeinflussen.
Will heissen: Schulen müssen jene Erfah- rungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die das Lernen zu einer subjektiv bedeutsamen Angelegenheit machen. Dass es sich lohnt, in England links und nicht rechts zu fahren, ist ein lebensdienliches Beispiel für Bedeutsam- keit. Ein anderes: Wenn ein Schüler erlebt, wie er etwas kann, wie es sich anfühlt, kompe- tent zu sein, wenn man von anderen etwas ge- fragt wird. Lernen findet im Lernenden statt, nicht an ihm. So gesehen machen Menschen nicht Erfahrungen, sondern die Erfahrungen machen sie. Menschen sind das Produkt ihrer Erfahrungen. Das gilt ohne Abstriche auch für das schulische Lernen.
Menschen sind das Produkt ihrer Erfahrungen:
Erfahrungen machen uns.
Je unterschiedlicher die Erfah- rungen, desto unterschiedlicher die Menschen.
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Kompetenzen generieren
Lernen, auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, ist eines nicht: Konsum. Lernen ist Produzieren. Entstehen lassen. Konstruieren. Erzeugen. Hervorbringen. Generieren. Etwas Neues wird mit vorhandenen Gefühls-, Denk- und Wissensstrukturen in Beziehung gesetzt. Ausgangspunkt ist eine gewisse Irritation,
ein mehr oder weniger grosses gedankliches Fragezeichen. Ein solches Fragezeichen kann beispielsweise sein, sich im italienischen Ris- torante zu vergewissern, ob «caldo» wirklich «kalt» heisst.
Mehr oder weniger bewussten gedanklichen Fragezeichen kann man sich stellen. Oder nicht. Wer das Nichtwissen oder Nichtkön- nen als Impuls annimmt, will von diesem un- befriedigenden Ist zu einem erwünschten Soll kommen. Damit einher geht ein Prozess der Verarbeitung mit dem Ziel, aus etwas Frem- dem etwas Eigenes zu machen.
Lernen beginnt mit einer Irritation, mit Nichtwissen, mit Nichtkönnen. Das ist die immer wieder neue Ausgangslage. Die Menschen gehen – auch in Abhängigkeit zum jeweiligen Kontext – sehr unterschiedlich mit dieser Situation um. Den einen ist es Wurst, sie sind nicht neugierig, sie haben keine Lust oder keine geeignete Strategie. Dann gehen sie bewusst oder unbewusst auf Distanz. Die anderen stellen sich der Situation – immer wieder neu.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Wissen hilft Wissen
Dabei geht es zum Beispiel um fachliche Kompetenzen. Je nach Schulart und Lehrper- son einer der Schlüsselbegriffe: Fachlichkeit. Dieser Anspruch kommt meistens von jenen, die in der Fächerhierarchie die prestigeträch- tigen Spitzenplätze belegen. Zwar kann kaum jemand erklären, was mit «Fachlichkeit» genau gemeint ist. Aber es klingt allemal wichtig und mahnt auf mehr oder weniger subtile Weise zu angemessener Demut und Ehrerbietung. Deshalb werden sie ja auch Hauptfächer genannt. Allerdings: Je mehr so- genannte Fachlichkeit, desto weniger hat das in der Regel mit dem Leben im Allgemeinen und jenem eines Jugendlichen im Speziellen zu tun. Latein, die späte Rache der Römer an den Germanen, ist ein Beispiel dafür. Jahr- zehntelang war kein vollwertiges Mitglied der Bildungselite, wer nicht mindestens die la-
Je mehr PUTPUT (Verarbeitung), desto mehr OUTPUT.
teinischen Zitate bei Asterix und Obelix ver- stehen konnte, ohne in den Fussnoten nach der Übersetzung suchen zu müssen. Latein war bis vor nicht allzu langer Zeit der Inbe- griff für «Bildung», das kleine Latinum die Eintrittskarte zu höheren Weihen. Diese Art von Fachlichkeit degenerierte gleichsam zum schulischen Selbstzweck. Latein verschwand dann zunehmend auf die Nebenbühnen der Bedeutungslosigkeit. Doch eine Menge ähn- lich weltfremder Fach- und Themenbereiche ziert nach wie vor die Lehrpläne und Prü- fungsverordnungen. Und sie bleibt dann auch dort, wo sie herkommt: in der Schule eben. Auf der anderen Seite ist klar: Menschen brauchen Wissen, sie brauchen fachliche Kompetenzen. Und die häufig kolportierte Aussage, man brauche kein Wissen mehr, man müsse nur wissen, wo suchen, ist natür- lich Nonsens. Denn um zu suchen (und vor allem um zu finden), muss man wissen. Wie will man sonst wissen, was man sucht?
Im Prinzip stellen sich zwei Fragen, wenn es um die fachlichen Kompetenzen in der Schu- le geht: Welche? Und wie viel davon? Einfa- che Fragen eigentlich – aber sie zielen mitten ins Herz der schulischen Bildung und all der persönlichen Interessen, die sich damit in irgendeiner Weise verbinden. Was ist das, was