tiefeschreietiefeschreietiefeschreie:
Sie waren in ihr, diese Schreie, tief in ihrem Inneren, ihre eigenen Schreie oder die anderer, und sie lagen da, drückten und kamen nicht heraus; obwohl sie schrie, bis ihr Hals schmerzte und rau wurde, waren sie nicht zu hören, nein, man konnte sie nicht hören: Denn sie lagen immer noch da drinnen, die Schreie, und sie musste sie zurückhalten, sie zurückhalten.
Sie sagten, sie sei krank. Sie brachten sie auf ein Schiff und sagten, sie müsse für eine Weile wegfahren. Um auf andere Gedanken zu kommen, sagten sie. Um zu vergessen.
Als ob sie jemals würde vergessen können.
Sie hatte Johans Gesicht nicht gesehen, aber Phantasie genug, um es sich vorzustellen. Wie sich die Haut in der Hitze zuerst spannte und dann zusammenzog, wie das Feuer das Haar auf seinem Kopf versengte. Sein schönes, dickes Haar.
Am Abend nach dem Fest kam Jakob zu ihr nach Hause, er war voller Worte und Ängste. Josefina lag im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht, und atmete den Geruch von Tapete und Mauersteinen ein. Seine Hand ruhte wie ein Gewicht auf der Bettdecke.
Er sagte ihren Namen. Sie gab keine Antwort.
Da sagte er ihn noch einmal, »Josefina«, sagte er und seine Stimme war heiser und rau, als hätte er geschrien.
Sie schwieg, schaute aufs Kopfkissen.
»Sie sagen, sie wüssten nicht ... ob sie sein Augenlicht retten können.«
Sie gab einen leisen Laut von sich, was bedeutete, dass sie nichts mehr hören wollte, dass er gehen sollte, dass sie es nicht ertrug, mehr zu erfahren.
Aber er sprach weiter.
»Johan und ich ... Wir sind wie Brüder gewesen, wir sind in der gleichen Woche geboren, wir kennen uns, seit wir im Kindergarten waren ... Oh Scheiße, verdammte Scheiße! Wenn ich doch an seiner Stelle wäre!«
Als er gegangen war, lag ein Schokoriegel auf ihrem Nachttisch. Sie hatte sich aufgesetzt, bekam einen Wutausbruch und schrie ihre Mutter an, sie solle nie, niemals wieder jemanden zu ihr reinlassen. Nicht, ohne sie zu fragen.
Nicht einmal Kristina.
Mutter stand schweigend in der Tür. Ihre hellen Augen waren voll Tränen.
Geht, geht alle, ich hasse euch, lasst mich für immer in Ruhe!
Das Feuer musste kurz vor Mitternacht ausgebrochen sein. Die meisten hatten sich zu der Zeit in dem Wohnzimmer im Erdgeschoss aufgehalten. Keiner von ihnen hatte etwas gemerkt, bis Maria laut und schrill aufschrie:
»Aber es brennt ja, verdammt noch mal!«
Genau diese Worte kehrten immer wieder. Sobald Josefina allein war, hörte sie Marias Schrei und die Worte, die die Übelkeit in ihr hochsteigen ließen, aber sie wollte sie hören. Musste sie hören.
»Aber es brennt ja, verdammt noch mal, es brennt ...«
Zuerst saßen sie wie versteinert da, als bräuchte die Botschaft ihre Zeit, um in ihr Bewusstsein einzudringen.
Maria schrie weiter und jetzt konnten alle den gelben, beißenden Rauch riechen. Er kam von irgendwo oben.
Auf der Anrichte im Flur stand ein Telefon. Sie erinnerte sich an den Streit wegen der Nummer.
»Hundertzwölf natürlich, die haben das doch geändert!«
»Welche Adresse ist das hier, wisst ihr das?«
Wie sie in die Küche gestolpert war, wie sie einen Eimer aus lila Plastik gefunden hatte. Wie sie den Wasserhahn aufdrehte, immer weiter, ohne dass der Strahl sich veränderte, er blieb dünn und spärlich, das würde eine Ewigkeit dauern. Jemand zog an ihrem Pullover und rief, sie solle kommen. Da war der Qualm bereits bis in die Küche gedrungen und sie war betrunken, ihr war schwindlig und sie brüllte, sie müssten doch löschen, aber Jakob kam hustend zu ihr und zwang sie rauszugehen.
Als die Sirenen endlich zu hören waren, stand das ganze Haus in Flammen.
Sie hatten sich an diesem Abend getrennt. Oder besser gesagt: Josefina hatte Schluss gemacht. Es zumindest versucht. Er war so lieb, der Jakob, er liebte sie so. Ihm wehzutun ...
Sie hatte ziemlich viel getrunken und sie lachte, als sie es sagte: »Wir passen einfach nicht zusammen, Jakob, du brauchst eine andere.«
Aber eigentlich stimmte das gar nicht, sie war es, die einen anderen brauchte, nicht Jakob, er brauchte sie mehr als alles andere.
Sie konnte nicht mehr. All diese Liebe.
Doch sie lachte, als sie es sagte, und vielleicht nuschelte sie auch ein wenig dabei, denn er starrte sie durch seine Brille an und schien nicht verstanden zu haben.
Sie nahm ein Glas vom Tisch, sie wusste nicht, ob es ihres war, aber das spielte in dem Moment auch keine größere Rolle, sie trank und es brannte in ihrer Kehle. Und da sagte er genau das, was sie erwartet hatte:
»Hör auf zu trinken, Josefina, du wirst sonst betrunken!«
Sie wollte erwidern, dass sie das schon war, aber stattdessen überfiel sie die Wut, und sie schüttete den Inhalt des Glases direkt in sein überraschtes neunmalkluges Gesicht.
Es war Ende April und sie machten ein Klassenfest. Freddis Vater hatte ihnen das Sommerhaus zur Verfügung gestellt und geplant war eigentlich, dass er und seine neue Frau auch dabei sein sollten, aber es gab irgendein Missverständnis. Also waren sie allein da draußen, und sie hatten Schlafsäcke und eine ganze Menge Selbstgebrannten dabei, den Måns über seine Kontakte organisiert hatte.
Josefina war schon früher mal blau gewesen, aber nie derart betrunken. Sie trank und es gefiel ihr. Ein wenig tat sie es auch, um es Jakob zu zeigen. Er glaubte, er könne über sie bestimmen. Er tat so, als sei alles klar zwischen ihnen.
Sie hatten den Teppich im Wohnzimmer eingerollt, und als sie das taten, fanden sie Spuren von Mäusen, kleine, harte schwarze Kügelchen.
»Machen deine Eltern eigentlich nie sauber?«, fragte Sara neckisch und pikste Freddi in den Bauch. Es war offensichtlich, dass sie an ihm interessiert war. Als ihr einfiel, dass seine Eltern ja geschieden waren, wurde sie rot wie eine Tomate.
Aber Freddi blieb cool wie immer.
»Wir haben nach dem Winter noch keinen Hausputz gemacht!«, sagte er. »Die Mäuse kommen rein, wenn die Kälte einzieht. Pass auf, dass dir keine ins Höschen springt, zu deiner Muschi!«
Und dann lachte er, dass man seine Plomben sehen konnte. Das Haus war aus Holz gebaut, rot mit weißen Ecken. Ein typisches Haus auf dem Land. Es lag im Wald und Nachbarn gab es keine, weshalb sie die Musik so laut aufdrehen konnten, wie sie wollten. Josefina tanzte. Ihr Körper lebte und bewegte sich wie nie zuvor, sie fühlte sich leicht und irgendwie unempfindlich, auf eine unbestimmte Weise froh.
Sie dachte nicht mehr an Jakob.
Sein Freund Johan stoppte sie, packte sie am Handgelenk.
»Komm, ich muss mal mit dir reden!«
Sie lachte und sang mit steifen Lippen:
»Ich will dich im Dunkel bei mi-hi-hi-hi-hir!«
»Josefina, reiß dich zusammen.«
»Okay, okay. Was ist denn?«
Aber als sie aufhörte zu tanzen, brach ihr der kalte Schweiß aus und sie musste rauslaufen und sich übergeben. Johan hielt sie die ganze Zeit fest, hielt ihr die Haare zurück.
»Es wird gleich besser, das geht vorbei«, tröstete er sie. Immer wieder. »Das geht vorbei.«
Ach, Johan!
Nachdem sie sich übergeben hatte, fühlte sie sich besser und sie ging wieder ins Haus, ins obere Stockwerk. Dort gab es ein Badezimmer und sie war ganz allein im ersten Stock. Sie wusch sich das Gesicht und es gelang ihr, die meisten Flecken auf dem Pullover wegzureiben. Ihr fiel ein, dass sie mit Jakob Schluss gemacht hatte, und sie überlegte, was er wohl machte. Dann stellte sie sich in Freddis kleinem Jungenzimmer ans Fenster, und obwohl es schon spät war, war es noch nicht dunkel draußen. Sie sah die Schatten der anderen über dem Gras tanzen und flattern. Sie fand ihre Zigaretten, und als sie sich eine anzündete, entdeckte sie eine alte Kerze. Die stand in einem Weihnachtskerzenständer am Fenster und sie war rot und erst zur Hälfte heruntergebrannt. Sie hielt ihr Feuerzeug daran. Der schwarze Docht fing sofort Feuer und brannte mit kräftiger, gerader Flamme.
Sie musste später wohl wieder nach unten gegangen sein, zu den anderen, ganz sicher. Sie tanzte ein wenig, die Musik war sehr laut. Gemeinsam mit einigen anderen tröstete sie Lena, die weinend in einer Ecke saß, und das machte sie wieder froh, daran erinnerte sie sich noch. Und dann war Freddi da, er zog sie vom Boden hoch, er wollte tanzen, seine Hand auf ihrer Haut. Ihr war heiß und sie schwitzte.
... aber das Licht, das Licht.
Es waren nicht viele Leute auf dem Schiff. Mutter hatte eine Kajüte gebucht. Dorthin brachten sie sie noch vor der Abfahrt, damit sie sich hinlegte und ausruhte. Als ob sie ernsthaft krank wäre.
Das behaupteten sie jedenfalls immer wieder.
Vater hatte Proviant für sie gekauft, wie früher, als sie noch klein war und sie zusammen mit dem Auto in Urlaub fuhren. Limonade, Bananen und Schokoladenkekse.
»Ich mache eine Runde«, sagte er und es war so weit, die Schiffsmotoren tuckerten.
Mutter saß zusammengekauert da, den Blick aufs Meer gerichtet. Mit einem Mal hatten sie nichts, worüber sie hätten reden können. Mutter in ihrer Batikbluse und den Stretch-Jeans. Ihr dichtes, zerzaustes Haar.
Sie hatte gerade die Korrektur ihrer neuesten Gedichtsammlung gelesen, die im Herbst herauskommen sollte, und sie sagte, sie hätte Kopfschmerzen, und nachts hatte sie angefangen, mit den Zähnen zu knirschen, sodass es bis in Josefinas Zimmer hinein zu hören war.
Wie hieß das neue Buch? Josefina fiel es nicht mehr ein. Aber an das vorherige konnte sie sich erinnern und an die Fernsehsendung, Mutter wirkte so ruhig auf dem Bildschirm, sie las mit kräftiger Stimme.
Das Haus war voller Blumen. Ihre Mutter hieß Anna Silversten und war eine bekannte Dichterin.
Sie war sehr jung gewesen, als Josefina auf die Welt kam, nur zwei Jahre älter als Josefina jetzt. Als sie Mutter wurde, war sie noch nicht einmal achtzehn.
Papa Stellan war genauso jung gewesen. Er spielte Gitarre in einer Band. Die Band gab es immer noch, The Londoners. Als ob sie je in London gelebt hätten, ziemlich albern eigentlich. In der letzten Zeit war die Band so richtig in Schwung gekommen, fuhr herum und spielte auf verschiedenen Festen und Partys.
Als Josefina noch klein war, war sie sehr stolz auf ihre Eltern. Sie waren anders. Sie war auch anders, irgendwie besser. Sie zeigte Mamas Bücher herum und zupfte an den Saiten von Papas Gitarre, ließ aber keinen ihrer Freunde anfassen.
Irgendwann später würde sie auch Gedichte schreiben und eine Band gründen.
Dann folgten all die Jahre voller Verachtung. Könnten sie nicht ein bisschen normaler sein?
Als Josefina auf die Welt kam, war Stellan beim Militär. Nicht einmal mit in die Klinik konnte er kommen, um Anna bei der Hand zu halten und ihr zu helfen, richtig zu atmen. Josefina hatte gehört, wie sie sich deshalb stritten, das schien immer noch wie ein Stachel in Annas Herz zu stecken. Stellan ließ sich jedes Mal wieder provozieren.
»Was kann ich dafür, dass ich keinen Urlaub gekriegt habe?
Was kann ich denn dafür, dass das Kind mehrere Wochen zu früh gekommen ist? Denkst du, das war mein Fehler? Wenn du wüsstest, was ich durchgemacht habe! Ich konnte nicht bei der Geburt meines einzigen Kindes dabei sein, das ist ein schreckliches Gefühl, aber das kannst du dir ja gar nicht vorstellen!«
Anna schrie zurück, dass er das dann ja später hätte nachholen und häufiger zu Hause sein können, statt wie so ein blöder Vertreter landauf, landab herumzukutschieren.
»Aber genau das bin ich doch! Ich verkaufe Bücher, verdammt noch mal!«
Josefinas Vater arbeitete als Vertreter für einen großen Verlag. Das bedeutete, dass er den Wagen voll mit Büchern lud und überall im Land zu den Buchhändlern fuhr, um ihnen die neuen Bücher des Verlags vorzustellen, damit sie sie kauften. Das bedeutete auch, dass er fast nie zu Hause war.
Anna hatte eine große Schwester, die hieß Estrid. Als Anna noch klein war, konnte sie den merkwürdigen Namen nicht aussprechen, daraus wurde Hessli. Tante Hessli war diejenige, die der jungen Mutter half, sich um die kleine Josefina zu kümmern. Tante Hessli war immer zur Hilfe bereit.
Zu ihr fuhren sie jetzt mit dem Schiff.
Jakob kam wieder, er musste sie unbedingt sehen. Er stand im Flur und redete mit Anna. Anna sprach leiser.
»Josefina wird für eine Weile wegfahren. Sie muss sich ausruhen. Sie ist mit ihren Nerven total am Ende.«
»Darf ich sie denn wenigstens kurz begrüßen?«
»Du musst verstehen ... sie will niemanden sehen.«
»Ach, bitte!«
Und er drängte sich an ihr vorbei und zog sich die Schuhe aus, er ging durch den Flur und stand in Josefinas Zimmer.
Sie starrte aus dem Fenster. Sie hatte sich seit mehr als einer Woche nicht mehr die Haare gewaschen.
Jakob fiel vor ihr auf die Knie, davon wurde ihr ganz schwindlig.
»Was willst du?«, flüsterte sie.
Er griff nach ihren Händen.
»Deine Mutter wollte mich nicht reinlassen.«
»Ich will keinen Menschen sehen ...«
»Darf ich dir denn schreiben, darf ich anrufen?«
Sie gab keine Antwort.
Er sagte:
»Das werde ich tun, ich schreibe, ich rufe an. Ich werde nie aufhören dich zu lieben.«
Er war ihr erster fester Freund. Aber eigentlich war sie nie in ihn verliebt gewesen. Doch, einmal, als er wütend auf sie war und zwei Tage lang nicht mit ihr redete, als er mit den anderen Mädchen lachte, sie aber wie Luft behandelte. Da wünschte sie, er möge zu ihr zurückkommen.
Und er kam.
Er hieß Jakob Jankovic und sein Vater war Jude, während seine Mutter Schwedin war, aus Stockholm. Fast alle Verwandten des Vaters waren im Vernichtungslager Auschwitz umgekommen. In diesem Sommer wollte der Vater mit der Familie nach Auschwitz fahren. Das Lager existierte noch als eine Art Museum. Jakob hatte sich gewünscht, dass sie mitkommen würde.
Wie sie ein Paar wurden? Nun ja, eines Tages kam er in der Schule zu ihr und fragte – ganz unbefangen – ob sie Lust hätte, mit ihm abends ins Kino zu gehen. Am nächsten Tag war eine Lehrerfortbildung und sie hatten keine Hausaufgaben, ihr fiel kein Grund ein, warum sie Nein sagen sollte.
Danach waren sie zusammen. Anfangs wollte er sie immer umarmen, sie küssen, mit ihr schlafen, aber nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie sich dafür noch nicht reif fühlte, akzeptierte er das. Er erklärte, er würde gern warten.
Es stimmte nicht, dass sie sich noch nicht reif fühlte. In Wirklichkeit mochte sie es nicht, wenn er seine Zunge in ihren Mund schob oder mit seinen Fingerspitzen ihre Haut berührte. Er war lieb, nett und aufmerksam. Aber er war nicht der Richtige. Und das konnte sie ihm doch nicht sagen.
Manchmal glaubte sie auch, sie hielte es mit Jakob nur aus, weil sie so die Möglichkeit hatte, Johan zu sehen. Johan hatte keine Freundin. Sie waren zu dritt zusammen und das war schön, denn dann stellte Jakob sich nicht so an. Sie waren eher aufeinander eingespielt, alle drei. Wie Geschwister. Sie war nicht direkt in Johan verliebt. Doch sie mochte ihn auf eine ganz besondere Art.
Der Feuerqualm war dick und beißend, aber sie waren alle aus dem Haus gekommen und hatten Fernsehapparat, CD-Player und die Scheiben retten können. Sie standen in dem trockenen, struppigen Gras, das noch nicht für den Sommer gesäubert worden war. Was jetzt auch keiner mehr machen würde. Sie sahen zu, wie sich die Flammen an dem einen Giebel durch die Ritzen zwischen dem Dach und der Wand fraßen. Freddi war ganz weiß im Gesicht. Josefina sah das und sie drückte sich die Nägel in die Handflächen. Dadurch entstanden kleine, rissige Dellen, die Wunden davon waren auch später noch da, wurden zu kleinen Verhärtungen. Sie jammerte leise, klagte stumm, war nicht mehr betrunken, aber der Boden schwankte und bebte dennoch unter ihr.
Sie standen dicht beieinander, als suchten sie bei den anderen Schutz, aber das hier war etwas, womit niemand fertig werden konnte, das Feuer war ein Monster und es schluckte alles, was sich ihm in den Weg stellte. Freddis Ferienhaus, in dem er als kleines Kind gewesen war, die Tapeten, das Sofa, die Gardinen, es ließ die Fensterscheiben springen und Kunststoffteile schmelzen und sich verformen. Dicht beisammen standen sie, und ihre Augen klebten fest an dem Haus und was damit geschah, und ihre Ohren waren aufs Äußerste gespitzt. Kommt die Feuerwehr nicht bald? Und wenn sie es nicht finden!
Da geschah es, als sie alle beisammenstanden wie kleine, geschnitzte Spielfiguren eines Brettspiels, dass eine der Spielfiguren ausbrach und aufs Haus zulief. Johan.
Josefina sah es zunächst nicht, hörte aber, wie jemand seinen Namen rief.
»Johan! Wo willst du hin?«
Sie richtete ihren Blick auf die Treppe, die bis jetzt noch ganz heil und normal dalag, unversehrt, unzerstört. Es gab ein Foto drinnen im Haus, ein Foto von Freddi, als er noch sehr klein war, er saß mit baumelnden Beinen auf der Treppe. Jetzt lief Johan die Treppe hinauf und verschwand im Haus. Josefina hörte die eigene Stimme.
»Johan, sag mal, spinnst du, Johan!«
Und sie wollte sich aus der Gruppe lösen, aber Arme packten sie, hielten sie fest.
»Er will nur was holen, sein Manuskript, er will die Tasche mit dem Manuskript holen.«
Johan schrieb. Johan war dabei, ein Theaterstück zu schreiben. Er hatte ihnen das Stück im Laufe des Abends vorgelesen. Es war ein Fantasy-Stück. Es handelte von der Suche nach Geylon, dem Reich der Guten. Es war fast fertig, er hatte von ihnen wissen wollen, wie sie es fanden, und alle waren von seinem Können beeindruckt. Er hatte gesagt, er wolle es zu einem Wettbewerb einschicken, den er im Internet gefunden hatte. Jetzt lief er zurück ins Haus, um die Tasche mit dem Stück zu holen, sicher hatte er es zu Hause auf seinem Computer, aber heute Abend hatte er wohl einige wichtige Änderungen per Hand eingefügt.
Sie erinnerte sich daran, dass die Gruppe auseinanderfiel. Sah Jakob zur Treppe laufen und einige ums Haus herum verschwinden. Sie dachte, dass es jetzt wirklich gefährlich wurde, ihre Arme und Beine zitterten, sie schrie hinauf in den Himmel und dann war die Feuerwehr da.
Ihre Kleidung stank nach Rauch. An diesem Abend hatte sie ihre neue schwarze Hose und einen gestreiften kurzärmligen Pullover angehabt. Ihre Mutter musste alles wegwerfen. Sogar die Jacke, sie konnte sie nicht mehr sehen.
Die Feuerwehrmänner in Stiefeln, mit Reflektorstreifen. Weiße Helme mit Nummern drauf. Später ein Krankenwagen. Jemand lag auf einer Bahre, das war Johan, aber sie sah ihn nicht, sie wandte sich ab, sie glaubte, er wäre tot. Als der Krankenwagen den Waldweg entlang verschwand, fiel die eine Giebelseite des Hauses zusammen und die Funken wirbelten wie Flocken. Sie hörte jemanden weinen, es klang wie ein erwachsener Mann.
Später sollte sie immer wieder nachts genau von diesem Weinen aufwachen. Zuerst Marias Schrei, es brennt. Dann das Weinen. Es war Freddi gewesen, der da weinte, er brach hustend und weinend im Gras zusammen. Josefina lag nachts in ihrem Bett und sah, wie der hübsche, coole Freddi zusammenbrach und sich zu verstecken versuchte, wie er um all die Erinnerungen an früher trauerte. Sie wollte zu ihm laufen und sich hinter seinen Rücken legen, aber ihre Beine zitterten so, dass sie nicht laufen konnte. Stattdessen kam Sara, sie ließ sich neben ihm nieder und zog ihn weg vom Haus. Als Josefina sie in dieser Nacht sah, erschien sie ihr bärenstark, ihre Brust quoll aus dem Ausschnitt und die Arme wuchsen. In dieser Nacht wurde Sara so stark, dass sie Freddi vom Boden heben und weit, weit wegtragen konnte.
In Wirklichkeit waren sie mit dem Auto nach Hause gebracht worden. Die Polizei war da gewesen und hatte mit ihnen geredet. Die Polizei und eine wütende Ärztin. Warum war sie so wütend?
Sie hatte ihren Namen gesagt und ihren Blick in Josefinas Augen gebohrt.
»Ich heiße Lilian Ferm und ich bin Ärztin. Was habt ihr hier bloß angestellt?«
Sollte eine Ärztin es nicht gut mit einem meinen?
Der beißende Geruch nach Krankenhaus, Josefina war auf dem Weg in den Schrei, aber die Spritze ließ sie verstummen, nahm ihr und dem Schrei die Kraft.
Und dort, in dieser Stille, blieb sie.
Jakob und Johan und Josefina. Die drei Js. J wie in Ja, wie in Jude. Jakob hatte seine Zeiten der Schwermut. Das hing mit seiner Abstammung zusammen. Mit allen, die nicht mehr lebten.
Dann konnte er von einem Kopfschmerz überfallen werden, der ihm die kalten Schweißperlen auf die Stirn trieb, dann hielt er es nicht aus allein zu sein. Es war schwer, bei Jakob zu sein, wenn er sich so fühlte, er konnte unvermittelt wütend werden und alles und alle verfluchen.
Jakobs Vater war noch ein kleiner Junge, als er mit seinen Eltern und Geschwistern gezwungen wurde, in einen Eisenbahnwaggon einzusteigen, der sie ins Vernichtungslager Auschwitz irgendwo in Polen brachte. Als sie ankamen, wurden er und der ältere Bruder Frans von dem Rest der Familie getrennt. Die beiden Jungen waren die Einzigen, die den Krieg überlebten. Alle anderen starben, Vater, Mutter, vier Schwestern und zwei kleine Zwillingsbrüder.
»Ich habe meine Großeltern väterlicherseits nie gesehen. Ich habe keine Onkel oder Tanten aus der Linie. Ich habe auch keine Cousins oder Cousinen von Papas Seite. Die Nazis haben die Hälfte meiner Familie ermordet.«
Jakobs Vater und dessen Bruder kamen schließlich nach Schweden. Josefina hatte ein Foto von ihnen gesehen, sie waren mager wie Skelette, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Frans hatte mit all seinen Erinnerungen nicht in dem neuen Land leben können. Er erhängte sich in einem Schuppen außerhalb von Ulricehamn. Da war er nicht älter als zwanzig Jahre.
Josefina fühlte sich ganz unbeholfen und voller Ehrfurcht, als sie Jakobs Vater kennen lernte. Was er alles gesehen und erlebt hatte! Was er alles durchgemacht hatte! Er hatte sehr spät geheiratet und war schon alt. Er hatte graue Haarbüschel in den Ohren und einen Blick, der geradewegs durch sie hindurchging. Seine Hände waren sanft und weich, die Nägel gelb. Er stellte ihr mit trauriger Stimme ein paar Fragen. Sie hatte ihn niemals lachen sehen.
»Ist er nie fröhlich, dein Vater?«, fragte sie Jakob. »Kann er denn nie darüber hinwegkommen, über ... über all das Schreckliche?«
»So ist er nun einmal«, sagte Jakob. »Wir reden nie darüber. Deshalb weiß ich das nicht. Aber du kannst es dir ja wohl selber denken.«
Es war schwer, sich das selbst vorzustellen. Ernsthaft.
Jakobs Mutter war deutlich jünger. Sie hieß Alice und tanzte gern. Vom Äußeren her ähnelte Jakob mehr seiner Mutter als seinem Vater. Die Mutter war auf Söder geboren, dort war sie auch aufgewachsen. Sie hatte alle Bücher von Anna Silversten gelesen und ließ immer einen Gruß an sie ausrichten.
»Die Worte deiner Mutter haben mir schon oft geholfen, das sollst du nur wissen. Das kannst du ihr übrigens gern sagen. Schreibst du auch?«
Nein. Das tat Josefina nicht. Und sie spielte auch kein Instrument.
Aber Johan schrieb. Im Aufsatz war er der Beste in der Klasse. Er konnte die Worte bezwingen, wie er es immer nannte. »Die Worte sind da, um bezwungen zu werden. Dann werden sie zu Schlüssel und Schwert. Dann kommt man, so weit man will.«
Wenn es ums Schreiben ging, redete Johan immer so feierlich, benutzte so merkwürdige Worte. Er wollte Dramatiker werden. Er saß immer an neuen Stücken, ließ sie zur Probe spielen, um zu hören, ob die Repliken stimmten. Es musste natürlich gut klingen, sonst hätte er keinen Erfolg.
Aber vermutlich hatten weder Jakob noch Josefina schauspielerisches Talent. Deshalb klang es nie natürlich, so gut es auch geschrieben sein mochte.
Er schrieb ein Stück über einen kopflosen Mann, der nach seiner Erinnerung suchte. Jakob sollte den Mann spielen, Josefina wand sich vor Lachen, als sie ihn ins Zimmer schlurfen sah. Sie versuchte ihr Lachen zu unterdrücken, sie sah, dass Johan sauer wurde, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Sie selbst sollte auch auftreten, und zwar als der Tod. Sie lieh sich einen Schal von Johans Mutter und nahm einen Zollstock als Sense. Geplant war, dass sie die Sense schwingen sollte, als würde sie Leichen ernten, aber jedes Mal, wenn sie das tat, klappte der Zollstock so albern zusammen, dass sie kichern musste. Sie lachte, dass ihr ganz heiß wurde, sie versuchte sich in den Arm zu kneifen, aber es nützte nichts.
Schließlich lachten sie alle drei. Sie fielen mitten in Johans Zimmer zu Boden, ein großer bebender Haufen.
Sie hielt viel von ihm. Schrecklich viel.
Sein braunes Haar mit Mittelscheitel, die blauen Augen, die fast immer fröhlich waren, die Dinge registrierten und aufnahmen. Dinge, die er später benutzen konnte. In seinen Texten.