Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.
© Querverlag GmbH, Berlin 2013
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Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie der Familie Zesewitz.
ISBN 978-3-89656-554-9
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Meiner Großmutter, die mit ihren farbigen Erzählungen über ihre Kindheit im St. Pauli der 1920er Jahre meinen Enthusiasmus für diese Zeit geweckt hat.
23.4.1921 – 15.6.2009
„Mok wat de wüss – de Lüd snackt doch.“
„Hemmo! Wir sprechen kein Platt! Und setze deiner Tochter ja keine Flausen in den Kopf!“
Dina hatte den missbilligenden Ton ihrer Mutter noch im Ohr, als der Zug in den Altonaer Bahnhof einfuhr und zischend in einer Dampfwolke zum Stehen kam. Sie setzte ihren Hut auf die leicht zerdrückte Frisur, streifte die Handschuhe über und versuchte, das vom langen Sitzen zerknitterte neue Kleid glatt zu streichen. Daheim in Stapelmoor war es ihr wunderschön und wie ein Versprechen auf die große Welt vorgekommen – in Hamburg war sie nicht mehr sicher, ob es wirklich so schick war. In ihrem Abteil hatten zwei junge Frauen gesessen, bestimmt nicht viel älter als sie selbst, aber sie hatten ausgesehen wie aus einem Modemagazin, trugen Lippenstift und Puder, redeten ununterbrochen über Nachtklubs und Männer und Getränke mit fremdländischen Namen und hatten lange Zigarettenspitzen.
Flapper, hatte Dina halb verächtlich gedacht. Halb aber auch bewundernd. Die beiden würden sich sicher nicht auf der Hauswirtschaftsschule langweilen. Ich bin eben langweilig. Eine Landpomeranze, da kann man wohl nichts machen.
Sie zerrte ihren Koffer und die Tasche auf den Bahnsteig, als ihr bereits Tante Luise um den Hals fiel.
„Ach, Kind, dass du endlich da bist!“
Tante Luise war eine stattliche Person, die durch die modernen Kleider mit der tiefen Taille unnötig stämmig wirkte. Sie war eine angeheiratete und inzwischen wieder verwitwete Cousine von Dinas Mutter und führte eine ‚seriöse Pension für ledige Mädchen‘, wie sie stets betonte.
Das Gewimmel auf der Straße machte Dina fast schwindelig und in einer Straßenbahn hatte sie auch noch nie gesessen. Tante Luise lächelte. „Tja, min Deern, das ist ein anderer Schnack hier als in Stapelmoor, was?“
Dina nickte. Sie hatte es kaum abwarten können, nach Hamburg zu kommen. Die Hauswirtschaftsschule war zwar nicht gerade das, wovon sie träumte, aber sie hatte immer gewusst, dass sie nicht in Ostfriesland bleiben konnte. Was hätte sie in Stapelmoor tun sollen – etwa Onno heiraten? Früher oder später hätte er sie bestimmt gefragt. Dina schauderte. Sie mochte Onno, er war ein wirklich netter Kerl. Sie hoffte, dass er sich nicht in den Kopf setzen würde, auf sie zu warten. Aber selbst wenn. Frientje Janssens hatte sich ihm vermutlich bereits an den Hals geworfen, kaum dass Dina in den Zug gestiegen war. Und Frientje konnte sehr überzeugend sein. Dina seufzte und hoffte, dass sich die Sache mit Onno auf diese Weise von allein erledigen würde.
Das Zimmer, das sie in Tante Luises Pension bewohnen würde, gefiel ihr auf Anhieb, obwohl es natürlich keins von den guten sein konnte, für die ihre Tante den Bewohnerinnen ordentlich Miete abknöpfte. Es war klein, merkwürdig verwinkelt und lag direkt unter dem Dach. Das konnte im Winter ziemlich kalt und im Sommer sehr warm werden, aber es war ja erst Oktober. Ein wundervoller Oktober mit strahlend blauem Himmel, einigen milden Stunden am Tag und an den Abenden schon recht kühl. Das seidige, goldene Licht und der in der Stadt ungewöhnliche Geruch nach Erde schienen Dina wie ein Festhalten an der Lebendigkeit der warmen Jahreszeit, bevor die Starre des Winters einsetzen würde. Und so lehnte sie sich sehnsüchtig aus dem Fenster, das zwar zum Innenhof hinausging, aber aufgrund seiner Lage direkt unter dem Dach recht viel Licht abbekam.
Wie laut es war! Von der Straße her hörte sie den Verkehr: das Hupen der Automobile, Pferdewagen, Straßenbahnen und aus dem Haus einiges an Stimmen. Gezeter einer wütenden Frau aus einer Küche gegenüber. Aus dem Vorderhaus drang das erbarmungslose Gekratze eines mäßig begabten Geigenschülers herüber und unten im Hof fegte eine alte Frau die bunten hereingewehten Blätter zusammen, wild umkläfft von ihrem winzigen Hund, der den Besen attackierte.
„Dinchen!“
Ihre Tante zog es vor, sie von drei Stockwerken tiefer durchs ganze Haus zu rufen, als die schmalen Treppen heraufzukeuchen. Dina schoss zur Tür.
„Ja! Ich komme runter!“
„Zieh dich an, wir gehen aus!“
Das war eine willkommene und gänzlich unerwartete Aufforderung. Dina schlüpfte voller Begeisterung rasch in ihren Mantel, setzte den Hut wieder auf und stob die Treppen hinunter. Im Wohnzimmer von Tante Luise traf sie auf eine junge Frau, die auf dem Sofa liegend in einem Buch las.
„Dinchen, das ist Fräulein Elisabeth. Sie hat ein Zimmer im zweiten Stock, aber ihr Ofen ist leider nicht ganz in Ordnung, deshalb ist sie oft hier in meinem Salon.“
„Liz. Alle nennen mich so. Hatten Sie eine gute Reise … Dinchen?“
„Guten Tag, bitte nennen Sie mich Dina!“
Liz hob die schmal gezupften Augenbrauen und lächelte verschwörerisch.
Ehe Dina zu einer Erklärung ansetzen konnte, legte auch schon Tante Luise los.
„Ach, ich habe ganz vergessen – Dinchen ist ja bloß ein dummer Kosename, den nur alte Leute wie ich verwenden … Dina also. Ihr jungen Dinger mögt ja dieses ausländische Zeug, also werde ich versuchen, mich daran zu gewöhnen und dich so nennen, sonst kommen noch alle durcheinander.“
Sie zwinkerte ihrer Nichte zu, die sich panisch wand. Luise dachte nicht daran zu verraten, dass der Vorname des Mädchens eine dieser fürchterlichen friesischen Monstrositäten war, die kein Mensch kannte geschweige denn aussprechen konnte. Luise verstand besser, als Dina es sich jemals hätte vorstellen können, was es hieß, einen Neubeginn zu wagen.
„Dann wollen wir mal!“
Dina, die sich kurz gefragt hatte, warum Fräulein … Liz mitten in der Woche um diese Zeit nicht bei der Arbeit war, folgte ihrer Tante. Die vielen großen Häuser, die Menschen und Gefährte auf den Straßen, das alles machte sie sehr müde, aber auch unendlich neugierig darauf, was das Leben weit weg von Stapelmoor für sie bereithalten mochte.
„Sieh her, Mädchen, zur Hauswirtschaftsschule geht es hier herunter und dann ganz am Ende rechts und gleich wieder rechts. Es ist leicht zu finden, ein Backsteingebäude mit einem vorgemauerten Portal.“
Dina blinzelte irritiert, denn an die Schule hatte sie gar nicht gedacht, als sie über ihr neues Leben nachgesonnen hatte. Aber das war nun mal der Grund, warum sie in Hamburg war. Der Grund, warum ihre Eltern sie überhaupt hatten gehen lassen. Ihrer Mutter war es wichtig, dass sie lernte, was eine Frau nach ihrem Dafürhalten wissen musste. Ihr Vater hingegen hatte ihre diffuse Unruhe verstanden, würde sie jedoch schrecklich vermissen. Sie war das einzige Kind, das den Eltern nach dem Tod ihres Bruders im letzten Kriegsjahr geblieben war, und nun – zehn Jahre später – verließ sie die Familie. Dina liebte ihren Vater und es fiel ihr unendlich schwer, ihn allein zu lassen. Ihre Mutter war die stets Beherrschte, die ausschließlich Hochdeutsch sprach und alle Energie darauf verwendete, dass man ihrem Hause von innen nicht anmerkte, dass es inmitten von Kuhwiesen, Bauernkaten und ungepflasterten Feldwegen stand. Dina hatte immer das Gefühl, ihren Ansprüchen nicht zu genügen. Sie hatte zwar die hochgewachsene Gestalt, das kräftige goldblonde Haar und die feinen Züge ihrer Mutter geerbt, war aber verträumt, wenig bodenständig und leider auch ziemlich ungeschickt. Ständig verschüttete sie etwas, stolperte über alles und vergaß Dinge, wenn sie ihr nicht wichtig waren. Außerdem war sie manchmal schüchtern und so war ihre Mutter meist von ihrer einzigen Tochter ebenso enttäuscht wie von dem Leben, das sie mit ihrer Familie in der friesischen Einöde führte. Dabei vergaß sie, dass ihr Mann sie genau so liebte wie an jenem Abend, als sie zusammen durchgebrannt waren, weil bereits wenig später jeder hätte sehen können, dass Dinas Bruder sich bereits angekündigt hatte. Sie hatten unterwegs geheiratet und eine Weile in Hamburg gelebt. Aber in der Stadt war Hemmo nicht glücklich gewesen und deshalb ging Dinas Mutter nach einigen Jahren mit ihm zurück. Das Alter ihres Bruders wurde um ein Jahr heruntergelogen und in Stapelmoor reparierte Hemmo wieder mit Hingabe landwirtschaftliche Geräte, die wenigen Automobile im Dorf und sogar Uhren. Von seinem Talent, auch den ältesten Gerätschaften wieder Leben einzuhauchen, lebten sie gut, und dennoch hatte eine leichte Verbitterung nach der Rückkehr von Helene Harms Besitz ergriffen.
Und nun war Dina nach Hamburg gegangen. Sie wusste, ihre Mutter beneidete sie insgeheim und ihr Vater sah, wie sich die Geschichte wiederholte, nur dass Dina nach seinem Dafürhalten nicht verschwinden musste, um etwas zu verbergen.
„Kind, wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ Tante Luise schüttelte den Kopf. Das Mädchen war für sein Alter ganz schön verträumt und hatte sicher so einiges an Gedöns im Kopf. Darauf würde sie ein Auge haben müssen, aber sonst war die Deern schon richtig. Dat löpt sich all torecht, dachte Luise.
„Ich hab zugehört, Tante Luise. Die Hauswirtschaftsschule. Ich finde das Gebäude wieder.“
Was soll ich da bloß?, fragte sie sich, während sie neben ihrer unaufhörlich weiter schwadronierenden Tante herging. Ein paar Ecken weiter wurden die Straßen plötzlich breiter und sie wusste kaum noch, wohin sie zuerst schauen sollte. Die vielen Geschäfte. Und Menschen, die überall herumwimmelten! Tante Luise nahm Dina beim Ellenbogen und schob sie durch die Eingangstür in ein Café, in dem an flachen Marmortischchen Kaffee und Kuchen serviert wurden.
„Setz dich, Kind.“
Dina ließ sich auf dem zierlichen Sesselchen nieder und schaute sich um. Das leise Geplauder hatte auf sie eine hypnotische Wirkung. Der grauhaarige Herr, der mit einer jungen Frau am Tisch saß, die seine Tochter hätte sein können, hätte er nicht seine Hand mit Ehering auf ihrem Knie gehabt, orderte Likör bei der Bedienung, die ein schwarzes Kleid mit einer weiß gestärkten Schürze und einem adretten Spitzenhäubchen trug. Am Nebentisch saßen zwei überaus elegante Damen. Sie trugen das Haar modisch kurz und in Wasserwellen, viel Schminke und ihre Kleider waren gerade noch knielang, mit tiefen Taillen und schwingenden Säumen. Ihre Schuhe hatten Dackelabsätze und Riemchen. Dina seufzte. Würde sie auch eines Tages so aussehen? Elegant, modisch und so, als nähme sie das Leben leicht? Eher nicht. Ihre naturgegebene Trampeligkeit würde sie vermutlich über ihre eigenen Füße stolpern lassen und mit Schminke konnte sie nicht umgehen. Sie hatte es einmal mit Puder versucht, dabei aber immer das Gefühl gehabt, dass ihr nach einer Weile die Haut aus dem Gesicht bröckelte. Wie machte man es bloß, dass es so zart und puppenhaft aussah? Und leicht nehmen konnte sie sowieso nichts.
„Möchtest du einen Kaffee, Kind?“
„Gibt es hier auch Tee?“
Die Bedienung nickte. „Ja, natürlich, gnädiges Fräulein.“
„Gut, dann für meine Nichte ein Kännchen Tee. Und wir nehmen noch zwei Stücke von der Schaumtorte.“
Tante Luise hatte offensichtlich die Spendierhosen an.
„Danke!“
„Dafür nicht, mein Mädchen. Wir wollen doch deine Ankunft feiern!“
Dina aß ihre Torte und nahm kleine Schlucke von ihrem Tee, der ziemlich dünn war und nicht annähernd so schmeckte, wie sie es von zu Hause kannte. Aber Kaffee konnte sie einfach nicht trinken. Ich bin eben ein echtes Friesengewächs, dachte sie.
Eine der beiden Damen am Nebentisch rauchte eine Zigarette in einer langen Spitze. Als sie ausatmete, schaute sie Dina durch die Rauchwolke an. Ihr Blick glitt erst langsam an ihr entlang, dann sah sie ihr direkt in die Augen. Dina verschluckte sich und warf das Milchkännchen um. Ein ironisches Lächeln spielte um die rot geschminkten Lippen der Dame am Nebentisch. Dann dreht sie sich weg und wendete sich wieder ihrer Begleiterin zu, die sie anhimmelte und ununterbrochen redete.
„Kind, was ist denn? Ist dir nicht gut?“
„Doch.“ Dina wurde rot. Wie peinlich. Sie begann den Milchtümpel, der sich über das Spitzendeckchen auf dem Tisch ausbreitete, mit ihrem Taschentuch aufzutupfen. Die Bedienung kam mit einem Lappen.
„Lassen Sie mich das machen, gnädiges Fräulein.“
Dina wäre am liebsten aufgesprungen und hätte das Café verlassen. Warum war sie bloß immer so schusselig?
Währenddessen half die Dame am Nebentisch ihrer schwatzhaften Begleiterin in den Mantel. Im Hinausgehen drehte sie sich um und sah Dina wieder mit einem spöttischen Lächeln an. Das Mädchen an ihrer Seite bemerkte es und wirkte amüsiert. Sie nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. Ein Glöckchen bimmelte melodisch, die Tür fiel ins Schloss und die beiden waren verschwunden.
„Bist du schon neugierig auf die Hauswirtschaftsschule? Du wirst Freundinnen finden und ihr werdet zusammen unterwegs sein, vielleicht hat eine einen netten, älteren Bruder …“
Tante Luises Geplauder klang wie das Meeresrauschen an Dinas Ohr. Wenn man daran gewöhnt war, hörte man es gar nicht mehr.
Als sie am Abend in ihrem Bett lag und zu müde zum Einschlafen war, dachte sie über den vergangenen Tag nach. Ihre Eltern am Bahnhof, die Zugfahrt, Tante Luises Pension, das Café und die Dame am Nebentisch, die sie so lange angesehen hatte. Warum wohl? Dina wusste, dass sie nicht hässlich war, aber ihre Kleidung und Frisur nahmen sich altmodisch aus. Nichts, was eine moderne Frau hätte ansehen müssen. Na, vermutlich hatte sie zusammen mit ihrer Freundin über sie gelacht, dachte Dina verdrießlich. Was wohl in Hamburg auf sie wartete? Sie drehte sich unruhig hin und her. Was sollte auf sie warten, außer der verflixten Hauswirtschaftsschule am nächsten Morgen?
„Kind! Du musst doch frühstücken!“
„Keine Zeit! Ich muss los, sonst bin ich gleich am ersten Tag zu spät.“ Mit diesen Worten schoss Dina aus der Haustür. Sie hastete die Straße hinunter und steckte im Laufen das belegte Brot in die Tasche, das ihre Tante ihr hingehalten hatte.
„Nun mal nicht so hastig, junge Dame!“
Himmel! Fast hätte sie einen schmächtigen, älteren Herrn umgerannt, der vor seinem Laden stand und rauchte.
„Entschuldigung. Ich bin zu spät dran. Es tut mir leid.“
„Wohin geht es denn so zügig am frühen Morgen?“ Er schaute sie amüsiert über den Rand seiner Brille an.
„In die Hauswirtschaftsschule.“
„Kenn ich. Ist gleich hier um die Ecke. Na, dann sehen Sie mal zu.“ Er hustete, als er seinen Zigarettenstummel austrat und wieder zurück in seinen Laden ging.
Photo-Atelier Lohmann, las Dina. Ein schlichter, eleganter Schriftzug. Aber was trödelte sie wieder herum.
In der Schule angelangt, klopfte sie an die Tür des Sekretariats.
„Herein!“
„Guten Tag. Ich bin …“
„Zu spät.“
„Es tut mir leid, ich …“
„Das sehen wir hier nicht gern. Fräulein …?“
„Harms.“
„Ach hier. Daufdine Harms. Aus Stapelmoor. So so.“
„Dina.“
„Fräulein Harms.“ Die Schulsekretärin schaute sie vorwurfsvoll an. „So einen Unsinn machen wir hier nicht. Seien Sie nicht kindisch.“
Das saß.
„Ihre Klasse sitzt in Raum 37 im zweiten Stock. Gleich rechts geht es nach oben. Wenn ich dann bitten dürfte, Fräulein Harms.“
Dina eilte im Laufschritt die Treppe hinauf. Als sie das Klassenzimmer gefunden hatte, atmete sie ein paar Mal tief durch und drückte dann die Klinke herunter.
Dreißig Augenpaare richteten sich auf sie. Einige der Mädchen begannen leise zu kichern.
„Ruhe. Augenblicklich!“, donnerte es vom Pult her. „Fräulein Harms. Schön, dass Sie uns dann doch noch die Ehre geben.“
„Entschuldigen Sie die Verspätung, Frau …“ Verdammt! Die Sekretärin hatte ihr den Namen ihrer Lehrerin nicht gesagt.
„Fräulein Schramm, wenn es beliebt, Fräulein Harms.“
Die Stimme der alten Frau mit Dutt troff vor Sarkasmus. Dina fühlte, wie sie rot wurde. Alle starrten sie an und hielten sie vermutlich für schwachsinnig.
„Meinen Sie, es wäre Ihnen möglich, sich zu setzen, damit wir fortfahren können?“
„Natürlich.“ Sie blickte sich suchend nach einem freien Platz um. Ein Mädchen mit zwei dicken dunkelbraunen Zöpfen lächelte sie an. Freundlich. Sie lachte sie nicht aus und deutete auf den freien Platz neben sich. Dankbar rutschte Dina auf den Stuhl und stellte ihre Tasche auf den Boden.
Fräulein Schramm fuhr fort, den Stundenplan zu erläutern, der lauter aufregende Fächer wie Kochen, Große Wäsche, Haushaltsrechnen, Nähen und Hygiene enthielt. Am Ende der Stunde teilte sie Zettel aus, auf denen die Materialien gelistet waren, die sie sich besorgen mussten, um am Unterricht teilzunehmen. Dina seufzte. Bleistifte, Hefte und … Schürzen. Das war noch furchtbarer als in der Schule in Stapelmoor.
„Die Schürzen bringen mich um!“, murmelte ihre Sitznachbarin ihr zu. „Ich bin übrigens Ida Lerch.“
„Ich bin Dina … Harms. Ich glaube, ich mag auch keine Schürzen.“
Ida kicherte. „Du bist wohl nicht aus Hamburg, oder?“
„Nein, ich komme aus Ostfriesland, aus Stapelmoor. Das kennt hier kein Mensch.“
„Oh, von der Küste.“
„Ja. Ich wohne bei meiner Tante. Und du?“
„Zu Hause bei meinen Eltern. Sie hätten es lieber gehabt, dass ich studiere. So richtig an der Universität. Aber dazu habe ich gar keine Lust – dann lieber das hier und Schürzen. Kochen können schadet ja nicht. Mein Bruder studiert Medizin. Das ist vielleicht eklig, was die da machen müssen. Das wäre nichts für mich.“ Ida schüttelte sich.
Dina musste nun auch lachen. Vielleicht wurde es hier doch nicht so schlimm.
„Dina, komm endlich! Was starrst du da immer in das Schaufenster?“ Ida versuchte, die Freundin am Arm weiterzuziehen. „Wir kommen sonst wieder zu spät und kriegen noch ein Mangelhaft!“
Widerwillig folgte Dina. Die viel zu heiße Mai-Sonne spiegelte sich im Schaufenster vom Atelier Lohmann. Dort auf dem Schulweg anzuhalten war etwas, worauf sie sich insgeheim jeden Tag freute. Es gab natürlich nicht immer etwas Neues zu sehen, aber oft genug eben doch und das war immer aufregend. Die ausgestellten Photographien von lokalen Berühmtheiten, Landschaftsaufnahmen oder die Landungsbrücken bei Nacht machten aber lediglich einen Teil der Anziehungskraft von Lohmanns Schaufenster aus. Zwischen den Photographien hindurch konnte man von Zeit zu Zeit einen Blick auf Herrn Lohmann bei der Arbeit erhaschen. Sie konnte sich selbst nicht recht erklären, was sie so sehr daran faszinierte, diesen kleinen, kahlen Mann mit der Nickelbrille heimlich dabei zu beobachten, wie er mit dem Vergrößerungsglas Kontaktabzüge besah, sich hier und da eine Notiz machte, Photopapier schnitt oder eine Aufnahme rahmte. Dabei brannte sie vor Neugier, einen Blick in das Atelier werfen zu können, in dem die Bilder gemacht wurden, denn das konnte man von draußen nicht sehen. Sie war so sehr in Gedanken, dass sie Ida nicht zugehört hatte, die nun ungeduldig wurde und sie in die Seite stieß.
„Und? Was ist nun?“
„Womit?“
„Du hast mir gar nicht zugehört!“ Ida war beleidigt.
„Entschuldige, es tut mir leid. Ich hab wieder geträumt.“ Jetzt war Dina wirklich geknickt, denn Ida sah gekränkt aus. „Bitte wiederhole es für eine alte Dame mit einem Gehirn wie ein Sieb, wunderschönes Fräulein Ida.“ Sie lächelte die Freundin zerknirscht an.
„Ich habe meiner Mutter viel von dir erzählt und jetzt hat sie gesagt, ich soll dich doch einmal zu uns nach Hause einladen! Heute kommt auch mein Bruder mit einigen Kommilitonen von der Universität. Wir können im Garten in der Laube sitzen, das Wetter ist so schön im Moment!“ Sie strahlte und hakte sich bei Dina ein.
„Ich werde mich bemühen und mich gut benehmen am Kaffeetisch des Lerch’schen Familienanwesens.“ Dina grinste Ida von der Seite an und schubste sie nun leicht.
Als sie nach der Schule nach Hause kam, konnte sie sich kaum noch auf den freien Nachmittag freuen, denn der Tag war wieder einmal wenig erfolgversprechend verlaufen. Sie hatte zwar den Linseneintopf recht ordentlich hinbekommen, es hatte für ein Befriedigend gereicht, was Dina als großes Glück erschien. Aber dann hatte sie fünf Leinenservietten beim Bügeln komplett ruiniert, was ihr bereits das zweite Mangelhaft in dieser Woche eingebracht hatte. Das elende Monstrum von Bügeleisen war einfach immer zu heiß, wenn sie es von dem mit Kohlen beheizten Ofen nahm. Und schwer war es auch noch. Sie hatte es nicht oft genug über den Schmutzlappen geschoben, um die Bügelfläche von Kohlenkrümeln und Asche zu reinigen, und dann hatte sie auch noch, um das Hantieren mit dem Bügeleisen so zeitsparend wie möglich zu machen, mehrere Servietten übereinander gelegt und das Bügeleisen zu lange darauf gelassen. Sie seufzte. So etwas konnte einfach nicht funktionieren. Jedenfalls war der kleine Stapel Leinenservietten hinterher bräunlich verbrannt, hatte grauschwarze Schlieren von Asche und war auch noch völlig verzogen. Fräulein Schümann sah entsetzt das Bügeleisen und dann Dina an, nachdem sie erkannt hatte, dass da nichts mehr zu retten war, und schüttelte resigniert den Kopf.
„Fräulein Harms, so geht das wirklich nicht. Wissen Sie, was Leinenservietten kosten? Wenn Sie so mit Ihrem Aussteuerleinen umgehen, wird sich Ihr zukünftiger Ehemann aber herzlich bedanken und das Haushaltsgeld kürzen!“
Dina hatte den Kopf gesenkt und war rot geworden. Die anderen Mädchen hatten gekichert und stolz ihre eigenen perfekt gebügelten Servietten zu blöden Schwänen oder Kronen gefaltet. Am liebsten hätte sie der Lehrerin entgegengezischt, dass sie ohnehin keinen Ehemann haben wollte, dem sie von morgens bis abends alles recht machen und hinterherräumen musste. Der sich womöglich über ihren Linseneintopf mokierte und ihr wöchentlich das Geld zuteilte. Sie schluckte eine Antwort jedoch hinunter. Eine weitere schlechte Note konnte sie sich wirklich nicht leisten, und schon gar nicht im Betragen. Das Bügelfiasko war wirklich schlimm genug. Wo sollte das noch hinführen? Wenn sie sich nicht mehr zusammenriss, würde ihr Zeugnis eine ziemliche Katastrophe werden.
„Na, Dina, mit dir möchte ich nicht verheiratet sein“, lachte Annegret Kohn, als sie alle aus dem Klassenraum strömten, in dem Fräulein Schümann zusammen mit dem Geruch des verbrannten Leinens allein zurückblieb. Dina streckte Annegret die Zunge heraus und blieb zurück, um auf Ida zu warten.
„Da kann dir dein siamesischer Zwilling auch nicht helfen“, lästerte Annegret weiter.
„Halt einfach den Mund!“, entfuhr es Dina heftiger, als sie wollte.
„Wenn ich ähnlich schlecht stehen würde wie du, wäre ich etwas netter zu den anderen.“
„Was hat das damit zu tun? Kriege ich davon etwa bessere Noten, wenn ich zu dummen Gänsen wie dir nett bin?“
Dina wurde wütend. Annegret hackte gern auf ihr herum. Meistens ignorierte sie sie, aber an diesem Tag fühlte sie sich angriffslustig.
Annegret schnappte beleidigt. „Na, hör mal! Du bist die Schlechteste in der ganzen Klasse und spielst dich immer auf, als wärst du sonst wer! Du hältst dich wohl für was Besseres? Dabei wohnst du bei deiner Tante, die Zimmer an alleinstehende Frauen von sehr zweifelhaftem Ruf vermietet. Ich würde da an deiner Stelle ganz ruhig sein.“
Ida stellte sich neben Dina. „Du würdest ruhig sein, Annegret? Das glaubst du doch wohl selber nicht. Du kannst gar nicht ruhig sein, weil du in einer Tour dummes Zeug redest und auch noch über Sachen, von denen du keine Ahnung hast.“ Idas dunkle Augen funkelten und sie zog ihre Freundin aus dem Kreis, der sich um die beiden gebildet hatte. „Komm, Dina, derartiges Gewäsch musst du dir nicht anhören.“
Draußen legte Ida den Arm um sie. Dina zitterte vor Wut.
„Das nächste Mal, wenn die wieder anfängt, knalle ich ihr eine!“
„Nein, das wirst du nicht tun. Dann fliegst du womöglich von der Schule und die lacht sich eins.“
Dina hatte gedacht, es würde mit der Zeit besser werden. Wurde es aber nicht. Die meisten Mädchen waren in Ordnung. Es waren einzig Annegret und die Schar ihrer Untergebenen, die sich nicht nur vorgenommen hatten, die besten Hausfrauen der Republik zu werden, sondern auch auf dem Weg dahin so viele andere wie möglich zu drangsalieren und zu demütigen. Und Dina war schusselig und verträumt genug, um ein erstklassiges Ziel für diese dummen Geschöpfe abzugeben.
In ihrem Dachzimmer angekommen, zog Dina das verschwitzte Schulkleid aus und wusch sich mit dem lauwarmen Wasser am Waschtisch. Sie hatte sich schon im Herbst gedacht, dass es in ihrer Mansarde ebenso heiß wie kalt sein konnte, hatte aber nicht damit gerechnet, dass es bereits im Mai derartig bruttig sein würde. Das konnte ja heiter werden im Sommer.
Sie hatte ihr einziges gutes Sommerkleid herausgelegt, das deutlich besser gebügelt war als ihre Servietten in der Schule, aber Dina schob diese Gedanken nun beiseite, denn sie freute sich auf den Besuch bei ihrer Freundin. Schon ein paar Mal hatte sie Ida zu sich nach Hause mitgenommen. Ihre Tante hatte nichts dagegen, wenn sie in ihrem Salon auf dem Grammophon Platten hörten und Ida Dina das Tanzen beibrachte. Aber im Hause Lerch ging es förmlicher zu. Es bedurfte einer offiziellen Einladung und nun hatte Ida ihrer Mutter offenbar lange genug in den Ohren gelegen. Sie durfte Ida einfach nicht blamieren. Sie flocht ihr langes Haar zu zwei Zöpfen, die sie am Hinterkopf zu einem ovalen Nest aufsteckte. Die Haarnadeln pikten, aber sie war schließlich kein Backfisch mehr. Dina seufzte. Manchmal wünschte sie sich genau dahin zurück. Alles war viel unkomplizierter gewesen. Genauso einfach wie der seitliche Zopf, den sie sich an den meisten Tagen morgens machte, ohne nachzudenken.
Zur Feier des Tages leistete sie sich einen Fahrschein für die Straßenbahn, um nicht verschwitzt bei den Lerchs anzukommen, aber das letzte Stück von der Haltestelle reichte weiß Gott noch bei dieser Hitze. Das war ja eine richtig feine Gegend, eine Villa gediegener als die andere. Als sie in die Bellmannstraße einbog, verließ sie fast der Mut. Es reihten sich große Gärten aneinander, in denen ebenso beeindruckende einzelne Häuser standen, die bunt verglaste Erker und manchmal sogar Türmchen hatten. Nummer sechsunddreißig, das war es also. Dina stockte der Atem und sie wäre am liebsten gleich umgedreht. Treppenstufen, die mit altmodischen Mosaiken belegt waren, führten zur Haustür hinauf. Auf jeder der Stufen stand rechts und links je ein Kübel mit zylindrisch geschorenen Buchsbäumchen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, stieg mit wackeligen Beinen die Stufen hinauf und läutete. Ein Mädchen, das ungefähr so alt war wie sie selbst, öffnete. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine weiße Schürze und ein Häubchen.
„Sie wünschen?“
„Guten Tag, mein Name ist Dina … Harms, ich …“
„Guten Tag, Fräulein Harms. Bitte, treten Sie näher. Die Herrschaften sind im Garten, Fräulein Lerch erwartet Sie bereits.“
Dina folgte mit schleppenden Schritten dem Dienstmädchen durch das große Haus. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte manchmal aus Idas Erzählungen herausgehört, dass es bei ihr zu Hause förmlich zuging und dass ihre Mutter Etikette sehr ernst nahm, aber Ida hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass sie aus so einer Familie stammte. Würde Dina sich besser in Hamburg auskennen, hätte ihr die Adresse bereits verraten können, was sie erwartete, aber sie war ins offene Messer gelaufen. Als sie durch die Terrassentür in den Lerch’schen Garten hinaustrat, kam Ida ihr entgegen.
„Oh, du bist da! Wie schön! Hast du es gut gefunden? Blöde Frage, du bist ja da!“ Sie fiel ihr um den Hals und war einfach Ida. Wie immer.
Dina sammelte sich. „Du hast mich ja ganz schön für dumm verkauft!“
Ida sah sie verwirrt an.
„Na, hör mal! ‚Fräulein Lerch erwartet Sie bereits‘ … Warum hast du mir nicht gesagt, was mich hier – außer dir – erwartet? Ich komme mir ganz schön deplatziert und dumm vor.“
„Ich mir doch auch. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich mag nicht mit meiner Familie protzen.“
Ida sah sie unglücklich und etwas schuldbewusst an. Sie tat Dina fast leid. Schmunzelnd hakte sie sich bei Ida unter.
„Na, Fräulein Lerch, dafür hab ich was gut bei dir! Zeigst du mir den Garten? Es ist schön schattig hier, gar nicht so heiß wie zu Hause in meiner Dachkammer.“
„Ja, komm. Ich habe den Kaffeetisch im Pavillon gedeckt, der ist ganz luftig, aber es fallen einem nicht ständig Blätter und Insekten in die Tasse. Den Apfelkuchen habe ich selbst gebacken! Meine Mutter hat getobt, als sie mich in der Küche erwischt hat, sage ich dir! Aber ich wollte das Rezept ausprobieren, das ich mir neulich ausgedacht habe, weißt du noch?“
„Ida? Und das muss Fräulein Harms sein. Willst du mir deine Freundin nicht vorstellen, Kind?“
Eine großgewachsene Dame trat aus der Terrassentür in den Garten hinaus. Nava Lerch trug das ergrauende dunkle Haar in einem elegant gewellten, modisch kurzen Bubikopf und ihr Kleid war aus einem fließenden, jadegrünen Stoff, der in der Nachmittagssonne matt glänzte.
„Aber natürlich.“ Ida errötete. „Mama, das ist meine beste Freundin, Dina Harms.“
Dina knickste und nahm vorsichtig die schmale Hand, die Idas Mutter ihr entgegenhielt.
„Guten Tag, Fräulein Harms. Ich freue mich sehr, dass meine Tochter auf dieser … Schule eine Freundin gefunden hat. Sie müssen uns öfter besuchen. Was ist denn da drinnen los?“ Unwillig drehte sie sich um. Im Haus waren Türenknallen und Männerstimmen zu hören. „Verzeihen Sie, Fräulein Harms, das muss mein Sohn sein. Wenn Simon mit seinen Kommilitonen hier erscheint, bricht das Chaos aus. Einige von ihnen sind beinahe bereits fertig studierte Ärzte, benehmen sich aber schlimmer als kleine Kinder.“ Sie wandte sich abrupt von den Mädchen ab und ging der Gruppe junger Männer, die gestreifte Sommerjacketts und helle Hosen trugen, entgegen.
„Simon! Was soll dieser Lärm wieder? Werdet ihr nie erwachsen?“
„Mama, zauberhaft und umwerfend wie immer!“ Er ergriff die Hand seiner Mutter und küsste sie formvollendet.
„Kindskopf!“ Sie lächelte ihren Sohn hingerissen an, mehr als willens, ihm jeden Unsinn zu verzeihen, den er sich ausdenken konnte. „Komm jetzt, wir haben Besuch und damit meine ich nicht diese Bande hier!“ Sie schlug einen der Freunde ihres Sohnes spielerisch mit ihrem chinesischen Sandelholzfächer auf die Schulter.
„Madame Nava, wir sind Ihnen doch alle willenlos ergeben.“
Der auffallend attraktive Mann mit den eigentümlich zwischen blau und grün irisierenden Augen nahm ihn ihr aus der Hand, fächelte ihr graziös Luft zu und verbeugte sich elegant.
„Friedrich – ich bitte Sie! Sie machen mich immer verlegen! Es sollte verboten sein, dass man in Ihrem Alter bereits ein solcher Charmeur ist! Wie könnt ihr Jungs es wagen, eine alte Frau so aufzuziehen … Simon, begrüße deine Schwester und ihre Schulfreundin, Fräulein Harms.“
„Ida, Schwestertier, was hast du uns denn da Hübsches mitgebracht? Ein blonder Engel von der Waterkant. Mensch, van Heeren, mach den Mund wieder zu, du siehst zu dämlich aus, wenn deine Augen so glubschen!“
Die Aufmerksamkeit der Studenten lag augenblicklich auf Dina, die sich am liebsten in einem Loch verkrochen hätte.
Madame Nava hatte Erbarmen mit Dina. „Macht mir das Mädchen nicht kopfscheu, benehmt euch. Sie ist diesen Mumpitz nicht gewöhnt, den ihr hier dauernd veranstaltet!“ Ida nahm Dinas Hand und zog sie hinter sich her zum Pavillon.
„Es gibt Kuchen!“
Das ließen sich die Jungs nicht zweimal sagen. Beim Kaffee wurden sie richtig handzahm und Dina plauderte angeregt mit Sebastian zu ihrer Rechten, der Chirurg werden wollte und ihr begeistert im Detail sein erstes Anatomie-Kolleg beschrieb.
„Hör doch auf, Berger. Wissen Sie, Fräulein Dina, er kann nämlich nicht am Ende der Veranstaltung vom Professor über den grünen Klee gelobt worden sein, weil er nämlich ohnmächtig geworden ist, als der Magen herauspräpariert wurde und …“
„Jetzt reicht es aber! Das ist ja widerlich!“ Ida schüttelte sich.
„Du bist doch sonst nicht so empfindlich.“ Mark van Heeren, der Ida ziemlich oft und lange ansah, schubste sie leicht.
„Trotzdem!“
„Ach, Mädels, jetzt seid mal nicht zimperlich – dafür ist der Tag zu schön!“
Sebastian griff nach seinem unförmigen Koffer, den er neben dem Tisch abgestellt hatte.
„Jetzt wollen wir mal den Nachmittag mit Damen für die Ewigkeit festhalten, bevor die Sonne weg ist und wir zum gemütlichen Teil übergehen! Los, werft euch in Positur.“ Er förderte eine erstaunlich kleine Photokamera zutage.
„Mensch! Dafür hast du also die letzten Semesterferien ununterbrochen gearbeitet und so geheimnisvoll getan!“
Er grinste. „Los, stellt euch da drüben neben den Ginster.“
Dina war elektrisiert. Was für eine kleine Kamera! Man konnte sie wirklich überallhin mitnehmen. Alles, was einem gefiel, festhalten. Momente wie diesen. Gesichter, die vielen aufregenden Seiten der Stadt … Was für Möglichkeiten! Mark van Heeren drängelte sich zwischen sie und Ida und himmelte diese weiter an.
„Achtung! Jetzt!“
Sebastian drückte ab. „Und jetzt noch eine von den holden Schönheiten allein. Weg da, Kommilitonen.“
Als er fertig war, fasste Dina ihren Mut zusammen.
„Wollt ihr nicht auch eins, nur ihr vier?“
„Willst du das etwa schießen?“
„Warum nicht? Lass sie doch – es kann doch nichts passieren“, schaltete sich Friedrich ein.
„In Ordnung. Schau hier durch den Sucher, bis du uns gut drinnen hast, und dann ist dies hier der Auslöser. Und halte den Apparat so ruhig du kannst.“
Die Studenten nahmen Haltung an.
Dina konnte sich nicht erklären, was sie so sehr faszinierte. Ihr Herz raste und sie schnappte nach Luft. Sie fand die vier im Sucher, wie Sebastian es ihr erklärt hatte, wartete einen Moment, bis sie ruhig standen.
„Jetzt!“ Und sie drückte den Auslöser. Ihre Hände zitterten.
„Mädchen, alles gut? Du bist ja ganz käsig.“
„Ja, alles in Ordnung. Darf ich bitte noch eins machen?“
Er lachte, legte ihr dann aber vorsichtig den Riemen der Kamera um den Hals und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Na, Leute, dann müssen wir uns jetzt wohl gut benehmen, wir sind heute unter Beobachtung: Fräulein Dina verfolgt uns mit der Kamera.“
Viel zu schnell wurde es dämmerig und das schwindende Licht bereitete Dinas Experimenten ein Ende.
„Die Kamera ist wie ein Auge“, erklärte ihr Sebastian. „Im Dunkeln sieht sie nichts, wenn man ihr nicht die Zeit gibt, sich daran zu gewöhnen.“
„Wie gebe ich einem Apparat Zeit, sich an das Dunkel zu gewöhnen?“
„Da ist aber wer Feuer und Flamme, scheint mir.“ Er lachte. „Da das Kameraauge sich nicht von selbst an die Dunkelheit gewöhnen kann, muss man ihm helfen oder auch ihm Zeit geben. Das heißt, man verlängert die Belichtungszeit. Aber warum willst du das alles wissen?“
„Ach, nur so!“
„Na, dann komm, wir packen ein – und auch aus.“ Er grinste, als er die Kamera verstaute und ein Akkordeon aus dem zerbeulten Koffer zutage förderte.
„O ja! Berger, spiel uns was!“ Mark van Heeren zog Ida von ihrem Stuhl hoch und Simon Lerch forderte Dina zum Tanzen auf. Sebastian schaute zwar daraufhin etwas finster, schnallte sich aber dennoch sein Akkordeon um und begann zu spielen. Sie tanzten, bis es ganz dunkel war und das Dienstmädchen Petroleumlampen herausbrachte, die warmes Licht und einen eigentümlichen Geruch verbreiteten.
„Ich brauche eine Pause!“ Dina setzte sich.
Simon zuckte mit den Schultern, wandte sich dem rauchenden Friedrich Behrens zu, der die ganze Zeit kaum etwas gesagt hatte, schlug zackig die Hacken zusammen, salutierte. Friedrich grinste, trat seine Zigarette aus und reichte Simon affektiert die Hand und blinzelte übertrieben im Versuch, sich wie ein schüchternes Mädchen zu benehmen, das zum Tanz aufgefordert wurde.
Dina lachte über das Schauspiel und setzte sich neben Sebastian, der nun eine leisere Melodie anschlug, die sie sogar kannte.
Schöner Gigolo, armer Gigolo
Denke nicht mehr an die Zeiten
Wo du als Husar, goldverschnürt sogar
Konntest durch die Straßen reiten
Uniform passé, Liebchen sagt Adieu
Schöne Welt, du gingst in Fransen
Wenn das Herz dir auch bricht
Zeig ein lachendes Gesicht
Man zahlt und du musst tanzen
Dinas Stimme war mühelos dem Akkordeon gefolgt und erst als Sebastian die Melodie zart ausklingen ließ, bemerkte sie, dass Ida und Mark auf dem Gartenmäuerchen saßen und ihnen gebannt zugehört hatten, während Simon und Friedrich selbstvergessen den Tango bis zur letzten Note zu Ende tanzten.
Ida und Mark spendeten Beifall.
„Kinners, das ist aber spät geworden! Dina, die letzte Bahn ist weg. Du könntest natürlich im Gästezimmer übernachten.“
„Danke, Ida. Aber meine Tante hat noch kein Telephon. Sie wird sich Sorgen machen, wenn ich nicht zurückkomme.“
„Das ist natürlich dumm. Nächstes Mal sag ihr gleich, dass du übernachtest – mit den Herren der Schöpfung wird es immer spät.“
Sebastian packte sein Akkordeon ein.
„Ich kann dich nach Hause bringen, Dina, ich bin mit dem Fahrrad hier.“
„Na, das ist ein wahrer Held. Sebastian, weißt du auch, wo Dina wohnt?“, meinte Ida kichernd.
Er zuckte mit den Schultern. Ein echter Kavalier ließ sich nicht abschrecken. „Nein, wo denn?“
„Karpfangerstraße.“
Sebastian sah erleichtert aus. „Na, so weit ist das doch gar nicht! Eine Deern von St. Pauli.“
Er schien sich nicht im Geringsten an dem Viertel zu stören, das über die Hamburger Landesgrenzen hinaus verrufen war, und deutete auf sein Fahrrad, das er an einen Baum gelehnt hatte. „Wollen wir?“
„Kind, was ist denn los mit dir? Hörst du den Wecker nicht? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“
Tante Luise klang wirklich verärgert. Mühsam schälte sich Dina aus ihrer Decke und blickte müde auf das Durcheinander in ihrer Dachkammer. Es war spät geworden und sie konnte kaum die Augen öffnen. Sebastian hatte sie tatsächlich auf der Stange seines Fahrrads sitzend nach Hause gefahren. Als sie abgestiegen war, hatte sie ihm gedankt und er hatte sie etwas melancholisch angesehen. Was erwartete er denn? Dina seufzte. Was Jungs halt so erwarten. Wie auch immer. Jetzt musste sie zusehen, dass sie in die Schule kam, sonst setzte es was. Keine ihrer Lehrerinnen verstand Spaß, was das Zuspätkommen anging, und auch sonst nicht. Da gab es kein Vertun. Sie zog sich an, flocht sich die Haare zusammen, griff die Schultasche und stieg widerwillig die Treppe hinunter.
„Glaub ja nicht, dass ich dir den Tee und die Schulbrote hinterhertrage! Erst lässt du dich mitten in der Nacht von so einem Hallodri auf dem Fahrrad nach Hause kutschieren und dann poussierst du auch noch auf offener Straße herum. Mein liebes Kind: Wenn ich das deiner Mutter schreibe, bist du schneller wieder in Stapelmoor, als dir lieb ist!“
„Es tut mir leid, Tante Luise – ich habe aber weiß Gott nicht poussiert. Es war später geworden, als ich wollte, und es fuhr keine Straßenbahn mehr und … ich habe nicht poussiert!“ Ihr kamen vor Wut die Tränen.
„Das will ich hoffen! Ich bin schließlich für dich verantwortlich.“ Ihre Tante schien sich zu beruhigen und schob ihr einen Apfel und ein in Butterbrotpapier gewickeltes Frühstück über den Tisch. „Nun sieh zu, dass du loskommst.“
Dina griff sich beleidigt das Brot und den Apfel und verließ das Haus. Es war ähnlich warm wie am Vortag. Das würde was werden in den muffigen Schulräumen. Sie seufzte. Bei so einem Wetter müsste man an der Alster spazieren gehen.
Sie rannte an Lohmanns Atelier vorbei. Vor der geöffneten Ladentür stand der Photograph mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand und genoss die Morgensonne.
„Na, so fix heute? Wird aber auch Zeit oder fangt ihr Mädels nicht um acht an?“
Dina schnaubte und Herr Lohmann lachte so sehr, dass er husten musste. Der hatte es gut. Er war sein eigener Herr. Eigener Laden. Nein, kein Laden … ein Photoatelier. Sie stolperte, weil sie in Gedanken war. Photographieren. Sie hatte tags zuvor gerade einmal ein paar Aufnahmen gemacht, im Garten von Idas Familie. Sie wusste nicht mal, ob sie überhaupt etwas geworden waren. Mit dem Läuten der Schulglocke keuchte sie durch die Eingangstür der Schule. Das war zu spät. Verflixt noch eins! Als sie die Tür zum Klassenraum öffnete, zerstob jede Hoffnung, dass sie es noch vor Fräulein Schramm geschafft haben könnte.
„Ach, das Fräulein Harms. Wie schön.“ Beißende Ironie. „Ich bin ja immer hocherfreut, wenn Sie meinem Unterricht beiwohnen, will sagen, ihn nicht nur durch physische Anwesenheit bereichern, sondern einen Ihrer stets wertvollen Beiträge liefern. An die Tafel.“
O Gott! Dina wurde schwarz vor Augen. Ida schaute sie erschrocken an und konnte ihr doch nicht helfen.
„Zuhören: Sie erwarten zwölf Gäste zu einem diner. Es soll vier Gänge geben. Und jetzt hätten wir gern Ihre Vorschläge, wenn’s beliebt, Fräulein Harms. Mit exakten Mengenangaben.“
„Die einzigen ‚diners‘ mit zwölf Personen, die ich je gesehen habe, waren Beerdigungsessen. Bei uns auf dem Land sind wir ja etwas eingeschränkt von den Mitteln her. Insofern: eine klare Suppe mit Eierstich vorneweg und dann vielleicht gekochter Kabeljau mit Pellkartoffeln und Senfsauce. Dazu Bier. Pro Nase in etwa ein halber Liter Suppe, ein etwa handgroßes Stück Fisch und eben ein paar Kartoffeln.“ Dina zitterte vor Zorn.
Fräulein Schramm war blass geworden. „Setzen, Harms. Wir sehen uns nach dem Unterricht beim Direktor.“
„Was hat dich denn gerade geritten?“, zischte Ida ihr zu, als Dina sich neben sie in die Bank fallen ließ.
„Ruhe! Fräulein Lerch: an die Tafel. Sie vollenden das Werk Ihrer Sitznachbarin. Bei der Wahl Ihrer Freundinnen sollten Sie etwas mehr Sorgfalt walten lassen.“
Der Rest der Stunde rauschte an Dina vorbei. Als es läutete, zog Ida sie nach unten in den Hof, wo sie ihre Pausen verbrachten.
„Was war denn vorhin mit dir los? Was hast du dir denn dabei gedacht? Du weißt doch, wie die Schramm reagiert, wenn man das Pech hat, ihr gegen den Strich zu gehen! Musstest du das auch noch herausfordern? Was willst du nachher dem Direktor sagen?“
Dina trat missmutig nach einem Stein. Sie hatte auch keine Ahnung, was das geben sollte. Was, wenn die Schramm auf einen Verweis drängte? Konnte man sie mitten im Jahr von der Schule werfen, weil sie zugegebenermaßen wirklich schlechte Noten hatte und mehrfach zu spät gekommen war? Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären?
Als sie am Ende des Schultages an die Tür des Direktorats klopfte, war ihre Angst vor der möglichen Konsequenz ihres Verhaltens zu einem harten, schmerzenden Klumpen in der Magengegend geworden.
„Herein!“