Dieses Buch wurde vermittelt durch: Agentur Herring / Agentur Ashera
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2015
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Karin Jähne – Fotolia.com
und © sinuswelle – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4820-1
Ein Besuch in der Oberlausitz lohnt sich immer. Ganz gleich, zu welcher Jahreszeit Sie hierherkommen, von der Landschaft über die Kultur gibt es in der östlichsten Ferienlandschaft Deutschlands viel zu erkunden und zu bestaunen. Und allem vorweg: Die Menschen, die hier leben, machen die Lausitz zu einer der schönsten Regionen des Landes.
Wo genau die Oberlausitz beginnt, ist dabei gar nicht so einfach festzulegen. Zumal sich Teile der Lausitz bis nach Polen und der Tschechischen Republik ausdehnen. Doch auch der sächsische Teil erstreckt sich ziemlich weit: vom Tor der Oberlausitz westlich von Dresden zum Zittauer Gebirge. Vom Oberlausitzer Bergland bis zur Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Nicht zu vergessen die großen Städte Bautzen und Görlitz.
Begleiten Sie mit uns zusammen den Schriftsteller Robert Krauss, der die Lesereise zu seinem neuen Roman mit den Recherchen für sein nächstes Werk verbinden möchte, und erleben Sie amüsante, spannende und natürlich kriminell gute Geschichten, die Ihnen Land und Leute näherbringen.
Aber seien Sie unbesorgt. Sie müssen in der Oberlausitz nicht um Leib und Leben, Hab und Gut fürchten. Die Handlungen und Personen sind einzig und allein unserer Fantasie entsprungen. Falls Sie Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen oder lebenden Menschen finden, dann freuen wir uns natürlich, dass wir so gut gedichtet haben. Außerdem sind da ja noch die Kommissarin Franziska Hartmann und ihr Kollege Roland Krämer. Die beiden passen schon auf, dass die Gegend hier zwar einen Mordsspaß macht, aber alle ruhig urlauben und leben können.
Herzlich,
Silke Porath & Sören Prescher
Obwohl ich selbst ursprünglich aus der Region stamme und viele Orte und Sehenswürdigkeit kenne, konnte und wollte ich mich während der Arbeit an diesem besonderen Krimi-Buch nicht allein auf meine Erinnerungen und die Recherchen verlassen. Dafür liegt mir diese Gegend einfach zu sehr am Herzen.
Deshalb möchte ich die Gelegenheit an dieser Stelle nutzen und einigen Leuten danken, die Silke und mir mit Tipps und Ratschlägen hilfreich zur Seite gestanden haben: allen voran meine Eltern, meine Schwester Sandra und mein Opa. Außerdem Conrad Kluge und Cyrano Heine – beides Freunde, die ich bereits seit Kindestagen kenne und die mich an etliche Dinge von früher erinnert haben, die ich gar nicht mehr im Kopf hatte.
Nicht zu vergessen danke ich meiner Frau Tanja und meinen Kindern für die viele Geduld mit mir.
Vielen Dank euch allen. Ohne euch wäre diese Lektüre buchstäblich eine völlig andere geworden.
Ohne Sören wäre ich unwissend geblieben und hätte die Lausitz niemals entdeckt. Danke schön dafür!
Ein Dankeschön auch an Familie Kretzschmar. Sie sind, ohne es zu ahnen, richtige Lausitz- und Sachsenbotschafter.
»Du willst doch nicht wirklich nach Dunkeldeutschland?« Der erstaunte Ausruf meines Chefs hallte in meinen Ohren nach, als ich die Autobahn in Uhyst a. T. verließ. Hier erstreckte sich vor mir die Natur in ihrer ganzen Pracht: jede Menge weite Felder, satte Wiesen und immer wieder Bäume, deren Blätter im Glanz der Septembersonne zu leuchten schienen.
Nicht schlecht als Start für meine Lesereise, für die ich mir im Werbebüro extra eine Woche freigenommen hatte. Auch so besaß ich absolut keinen Grund zum Klagen: Auf der A 4 war ich ohne nennenswerte Zwischenfälle vorangekommen, der Wetterbericht sagte für die kommenden Tage keinen einzigen Regentropfen voraus und vor wenigen Tagen war mein neuer Roman ›Scherbentanz‹ erschienen. Das Leben konnte so schön sein.
Nach gut zwei Kilometern lenkte ich meinen Wagen die Staatsstraße in Richtung Kamenz ab. Einmal mehr fiel mir auf, dass in dieser Gegend sämtliche Straßen und Ortsschilder zweisprachig bedruckt waren. Oben deutsch, darunter auf Sorbisch.
Der Nachmittag war jung und frühestens in zwei Stunden brauchte ich mich in der Buchhandlung der Lessing-Stadt blicken lassen. Was sollte ich mit der verbleibenden Zeit tun? Mir in Kamenz das Lessing-Museum oder die Reste der mittelalterlichen Stadtbefestigung anschauen?
Reizvoll wäre es sicherlich.
Doch einige Kilometer vor der Stadt lag das Dorf Panschwitz-Kuckau mit seinem überaus beeindruckenden Kloster Sankt Marienstern. Allein von außen machte der Komplex mit seinen gewaltigen rot-weißen Gebäuden und dem metallenen Kirchturm einiges her. Von meinen Vorabrecherchen über die Region wusste ich, dass mich drinnen ein Museum, eine gemütliche Gaststätte und ein größerer Klostergarten erwarteten, in dem die 18 Nonnen allerlei Kräuter und Gemüse anbauten. Wie oft bekam man die Gelegenheit, so etwas aus der Nähe zu betrachten?
Ich stellte den Wagen auf dem großen Parkplatz auf der Westseite ab und befand mich alsbald inmitten des Klosterhofs. Ein Pflastersteinweg führte an den frisch gestutzten Rasenflächen vorbei zu schmalen Blumenbeeten, Bäumen, einem kleinen Brunnen und mehreren Säulen mit kunstvoll verzierten Steinfiguren. Umgeben war alles von weißen Gebäuden voller roten Fenster- und Kantenumrandungen. Aus dem Internet kannte ich zwar einige Bilder, aber das Innere der Abtei jetzt aus der Nähe zu sehen, war ein Fest für die Augen. Sofort färbte die Ruhe des Ortes auf mich ab und jedweder Stress oder Termindruck wurde nichtig. Ich ließ mich auf einer kleinen Bank im Schatten der Bäume nieder und schloss für einen Moment die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich eine Frau im weiß-schwarzen Gewand aus der Kirche kommen. In den Händen hielt sie einige Bücher, was sie mir sogleich sympathisch machte. Einer meiner Romane würde wohl zwar nicht darunter sein, aber jeder lesende Mensch stellte in der heutigen Zeit einen Pluspunkt dar. Kurz stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn die Nonne demnächst auf eBook-Reader umsteigen würde, aber die Heilige Schrift und elektronische Lesegeräte passten in meinen Augen absolut nicht zusammen.
Ich zückte mein Smartphone, um mir einige Gedanken über das Kloster zu notieren. Vielleicht würde ich was davon ja für einen neuen Roman benutzen können.
»Sind Sie ein Reporter?«, fragte plötzlich eine Frauenstimme. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Ordensfrau auf mich zugekommen war. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte bis Ende 40. Ihr Blick war ernst, aber gütig. Welche Haarfarbe sie trug, vermochte ich unter ihrem schwarzen Velan nicht zu erkennen. »Sie sehen aus, als wären Sie einer.«
»Nicht ganz, ich bin Schriftsteller. Trotzdem: gut erkannt.«
Sie zeigte ein schmales Lächeln. »Schreiben Sie über unser Kloster?«
»Da bin ich mir noch unschlüssig. Momentan betreibe ich Recherchearbeit. Mal schauen, ob daraus ein Roman werden kann.«
»Was für Geschichten schreiben Sie denn?«
Oha. Das Eis wurde dünner. Sollte ich ihr tatsächlich von unheimlichen Flüchen, rachsüchtigen Geistern und Zeitreisen erzählen? Das zöge bestimmt ein spontanes Bekreuzigen nach sich. »Vorwiegend Fantastik. Vor wenigen Tagen ist mein fünfter Roman erschienen.«
»Sie meinen aber nicht ›Scherbentanz‹, oder?«
Jetzt war ich beeindruckt. »Doch, genauso heißt er.«
»Dann sind Sie Robert Krauss, der Schriftsteller aus Koben, und halten heute Abend eine Lesung in Kamenz!«
»Mir fehlen die Worte.«
»Was denn? Darf ich mich nicht für Fantasy und dergleichen interessieren? Die Bibel ist voll von Wundern und mysteriösen Ereignissen.«
»Das schon, aber …«
Lachend setzte sie sich neben mich auf die Bank. »Ich bin Schwester Carola. Zwar kenne ich nicht all Ihre Bücher, aber die Geschichten, die ich gelesen habe, haben mir gut gefallen. Es wäre unglaublich, wenn Ihr nächstes Buch hier spielen würde. Viel Unheimliches werden Sie in unserem Kloster allerdings nicht finden.«
»Ehrlich gesagt überlege ich ohnehin einen Kurswechsel. Eventuell mehr in Richtung Krimi. Während der Lesereise durch die Oberlausitz wollte ich mir einige Inspirationen holen.«
»Oh, ich liebe Krimis.«
Spätestens jetzt musste auch ich lächeln. »Sie haben nicht zufällig was von irgendwelchen ungesetzlichen oder rätselhaften Dingen in der Gegend mitbekommen, die mir weiterhelfen könnten?«
»Nicht, dass ich wüsste. Wobei, warten Sie, da war diese eine Sache. Allerdings liegt das schon zig Jahre zurück.«
»Das stört mich nicht. Worum ging es denn da?«
Und dann begann Schwester Carola zu erzählen.
Seit ihrer Jugend bekamen sich die vier Peuker-Brüder ständig in die Haare. Manchmal genügte ein Bier zu viel oder eine falsche Bemerkung und sofort begann der nächste Streit zwischen Marko, Timo, Konrad und Jan, dem Ältesten. Außerdem besaßen die Brüder das untrügliche Talent, sich mit beharrlicher Regelmäßigkeit gegeneinander auszuspielen.
Kurz vor der Jahrtausendwende waren sie zwar alle schon über 30 und hatten eigene Familien, aber bei den wenigen Gelegenheiten, die sie sich alle auf dem alten Familienanwesen unweit des barocken Herrenhauses in Räckelwitz trafen, dauerte es nicht lange, bis der eine auf dem anderen herumhackte. Zusätzlichen Zündstoff gab es durch ihre Ehefrauen, die ebenfalls der Meinung waren, sich in alles einmischen zu müssen.
Der Einzige, der den zänkischen Haufen zusammenhielt, war Vater Benedikt. Nach dem Tod seiner Frau Anfang der Neunziger war er das alleinige Familienoberhaupt und führte die Sippschaft mit eiserner Hand. Nicht selten ging er bei den Reibereien lautstark dazwischen oder zwang die Streithähne an einen Tisch, um das Thema zu klären.
Doch auch das vitalste Oberhaupt kann mit zunehmendem Alter nur bedingt gegen tückische Krankheiten ankämpfen. So kam schließlich ein Tag Anfang Mai, an dem sich die vier Söhne an Benedikt Peukers Sterbebett wiederfanden. Der hielt die wohl längste, wenn auch letzte Rede seines Lebens. Beinahe druckreif, ganz so, als habe er all die Jahre am Text gefeilt. Die Brüder klebten an den Lippen des Vaters und waren sich wohl zum ersten Mal im Leben einig: Hier durfte kein Wort verpasst werden.
»Jungs, ihr wisst, dass ich bei Kriegsende ein Hosenscheißer von gerade mal elf Jahren war. Viel zu jung, um sich an irgendwelchen Kämpfen zu beteiligen, aber alt genug, um gewisse Sachen zu erledigen. Als mich meine Mutter im Spätwinter ’45 um einen Gefallen bat, fragte ich nicht nach, sondern tat ihn ihr einfach. Sie übergab mir eine kleine Holzkiste, in die sie all unseren Familienschmuck, die alten Goldmünzen meiner Urgroßeltern sowie das Silberbesteck verstaute, und bat mich, die Truhe im Hinterland zu vergraben. Ich sollte keinem davon erzählen und die Kiste tief genug verbuddeln, dass kein Panzer oder russischer Spähtrupp auf sie stoßen würde.
Ich suchte die ganze Gegend nach einer passenden Stelle ab. In einem kleinen Hain mit drei alten Eichen nördlich von Räckelwitz wurde ich schließlich fündig. Der Bodenfrost fasste um die Zeit herum nicht mehr ganz so tief, und ich vergrub die Truhe in einer regnerischen Märznacht. Bald darauf marschierten die Russen in der Lausitz ein, und meine Familie wusste sich keinen anderen Rat als zu fliehen. Mehrere Jahre lang lebten wir oben im Harz und hatten keine Chance, in die alte Heimat zurückzukehren. Als es mir in den Fünfzigern schließlich gelang, hatten sich manche Teile der Landschaft ziemlich verändert. Viele Häuser von früher standen nicht mehr oder waren in den letzten Kriegstagen stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Selbst manche Wege waren verschwunden. Nicht viel besser stand es um manche Waldstücke. Die Panzer hatten auf ihrem Weg gen Westen alles plattgewalzt, was ihnen in die Quere kam. Darunter auch den Hain mit den drei Eichen.
Monatelang suchte ich danach und wollte nicht wahrhaben, dass dieser so markante Anhaltspunkt einfach verschwunden war. Irgendwann zweifelte ich an mir selbst und überlegte, ob es nicht auch irgendwo bei Schmeckwitz, Neudörfel oder Horka gewesen sein könnte. Aber egal, wo ich mich umschaute und grub, die Truhe blieb verschwunden.
Schließlich gab ich auf und versuchte, mich damit abzufinden. Über die Jahre bin ich zwar gelegentlich losgezogen und habe überlegt, wo es noch gewesen sein könnte. Von Erfolg waren aber auch diese Suchen nie gekrönt. Jetzt ist es zu spät. Was trotzdem nicht heißt, dass mich das Thema in Ruhe lässt. Also rauft euch gefälligst zusammen und sucht den Schatz! Er liegt in gut einem Meter Tiefe. Das sollte zu schaffen sein. Wahrscheinlich hätte ich euch schon viel früher davon erzählen sollen, um mit frischem Blut an die Sache heranzugehen. Glaubt mir, wenn ihr fündig werdet, wird das euer Schaden nicht sein. Die Gold- und Silbersachen dürften jedem von euch ein hübsches Sümmchen einbringen.«
Die Brüder waren sofort Feuer und Flamme. Insbesondere der Älteste, Jan, wäre am liebsten gleich am nächsten Tag losgezogen. Doch noch am gleichen Abend starb der Vater und die kommenden Tage hatten die vier genug andere Dinge um die Ohren. Aber kaum war der alte Mann beerdigt und all seine Angelegenheiten geklärt, machten sich die Männer ans Werk.
Marko, einer der beiden mittleren Brüder, schlug vor, die Suche von Anfang an professionell anzugehen und aus den Fehlern ihres Vaters zu lernen. Dieser hatte sich immer nur auf seine Erinnerungen verlassen, die im Laufe der Jahre mehr als trügerisch sein konnten. Sie hingegen sollten sich auf einer Landkarte jedes in Frage kommende Gebiet markieren und eines nach dem anderen vornehmen.
»Wie stellst du dir das vor: Sollen wir dort alles umgraben, bis wir fündig werden?«, fragte der jüngste Bruder Timo.
Marko schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Das würde Jahre dauern. Wir besorgen uns technische Ausrüstung und suchen das Erdreich damit ab. Nur wenn der Detektor ausschlägt, setzen wir den Spaten an.«
»Wir sollten die ganze Sache allerdings so unauffällig wie möglich vornehmen«, sagte der älteste Bruder Jan. »Die meisten Grundstücke dürften mittlerweile in Privatbesitz sein. Deren Besitzer werden uns was husten, wenn wir einfach so auftauchen und alles platttrampeln.«
Konrad schüttelte den Kopf. »Die in Frage kommenden Gebiete liegen alle außerhalb. Da dürfte das nicht so schlimm sein. Wenn es doch zu heikel ist, gehen wir einfach nachts dorthin. Ein Metalldetektor braucht kein Licht, um was unter der Erde auszumachen.«
»Dann bleiben bloß noch die Behörden. Ist das, was wir vorhaben, nicht illegal?«
»Quatsch. Höchstens ’ne rechtliche Grauzone. Streng genommen suchen wir bloß unseren uns zustehenden Besitz.«
»Trotzdem sollten wir die Sache nicht an die große Glocke hängen«, schob Jan hinterher. »Wenn wir die Kiste gefunden haben, können wir immer noch behaupten, dass wir sie auf Vaters Dachboden entdeckt haben. Keiner kann uns was anderes beweisen.«
Das überzeugte alle und sie machten sich ans Werk. Marko besorgte die technische Ausrüstung wie Grabwerkzeug und Metalldetektor (dank Internet alles kein Problem), während sich Timo und Konrad die Landkarten der umliegenden Dörfer vornahmen. Jan übernahm die Grobplanung und die zeitliche Abstimmung. Der Alte wäre verwundert gewesen über die plötzliche Eintracht, mit der seine Brut ein gemeinsames Ziel verfolgte.
Zwei Wochen nach der Beerdigung begannen sie mit der Suche. Zunächst auf die Grün- und Waldflächen nördlich von Räckelwitz beschränkt. Anfangs auch nur nach Einbruch der Dunkelheit, aber nachdem Konrad im fahlen Mondlicht unglücklich über eine Baumwurzel stolperte und sich den Knöchel verstauchte, weiteten sie ihre Bemühungen auf den späten Nachmittag und die Wochenenden aus. Die wenigen Male, die sie jemand dabei sah, taten sie so, als würden sie spazieren gehen.
Zum ersten Mal seit Jahren zogen die vier Brüder tatsächlich an einem Strang. Keiner ging auf den anderen los oder versuchte ihn irgendwo madig zu machen. Ganz im Gegensatz zu ihren Frauen und Kindern. Einige Male luden sie sie zu kleinen Familienfesten auf dem elterlichen Grundstück ein, doch was die Männer versöhnlich stimmte, schien die anderen noch mehr gegeneinander aufzuhetzen. Ständig hatte eine der Frauen etwas an den Vorschlägen der anderen auszusetzen. Selbst der Nachwuchs ärgerte sich die meiste Zeit gegenseitig. Schließlich zogen die Brüder die Reißleine und trafen sich von nun an nur noch allein. Die ständigen Nachfragen ihrer Kinder, sie begleiten zu dürfen, wurden ihnen auf Dauer sowieso zu anstrengend.
Trotz modernster Technik wurden sie in der Gegend oberhalb von Räckelwitz nicht fündig. Einmal schlug der Detektor zwar Alarm, beim Graben stellten sie allerdings schnell fest, dass auf dem Wiesenstück lediglich jemand seinen Abfall versenkt hatte.
Als Nächstes nahmen sie sich das Gebiet rund um Schmeckwitz vor. Hier gab es viele Waldflächen, mit denen sie einige Zeit ziemlich beschäftigt waren. Marko riet zwar vom kompletten Absuchen des Waldes ab, widersprach aber nicht groß, als seine Brüder auf Nummer sicher gehen wollten. Als allerdings der Erfolg ausblieb, konnte er sich ein »Ich hatte es euch ja gleich gesagt« nicht verkneifen. Was die Stimmung und Motivation nicht verbesserte. Je länger die Fehlschläge andauern, desto mehr frustrierte es die Brüder, und der Alkoholkonsum während der Suche nahm zu. An manchem Nachmittag machte die Wilthener Goldkrone schon vor dem Aufbruch die Runde, ein, zwei Mal verhinderte der Weinbrand sogar, dass sie überhaupt loszogen.
Hinzu kam, dass keiner der vier ein geselliger Trinker war. In einem Wäldchen hinter dem Piskowitzer Grubensee kam es schließlich zum ersten großen Eklat seit Vaters Beerdigung.
»Du hältst das verdammte Ding bestimmt nicht richtig«, ging Jan Marko an.
»Hättste mal nicht so ’n billigen Ami-Dreck gekooft«, schob Timo sofort hinterher. »Is ja klar, dass es damit nichts wird.«
»Bin ich jetzt auf einmal schuld daran? Was kann ich denn dafür, dass unser Alter sich nicht mehr erinnerte, wo er sein Zeug verbuddelt hat? An der Ausrüstung liegt es jedenfalls nicht. Und auch nicht daran, dass wir – ich – sie falsch einsetze. Aber wenn du willst, kannst du von jetzt an den Detektor führen. Dann wird bestimmt sofort alles besser.«
»Schlechter geht ja gar nicht mehr.«
Einen Moment lang funkelten sich die beiden grimmig an. Konrad stellte sich dazwischen, bevor sie sich an die Gurgel gingen. »Bleibt mal ruhig, Leute. Wir wussten vorher, dass es nicht leicht werden würde. Na und? Eine Schatzsuche ist nun mal kein Kinderspiel. Wenn es so einfach wäre, hätte die Truhe längt jemand entdeckt.«
»Und was, wenn genau das passiert ist?«, fragte Timo. »Vielleicht hat derjenige bloß nichts gesagt.«
Jan winkte ab. »Glaub ich nicht. Wäre einer aus der Gegend überraschend zu Geld gekommen, hätten wir es mitbekommen. So was geht rum wie ein Lauffeuer.«
»Wenn ihr aufgeben wollt, tut das«, sagte Marko. »Aber dann beschwert euch später nicht, wenn ihr leer ausgeht. Ich suche weiter, bis ich fündig werde. Selbst wenn ich dafür bis rüber nach Panschwitz oder Kamenz gehen muss.«
Die Standpauke wirkte und sie machten sich wieder ans Werk. Doch auch hier blieb die Suche zunächst ohne Ergebnisse. Gelegentlich schlug zwar der immer noch von Marko geführte Detektor aus, in der Regel entpuppte sich der Fund aber binnen weniger Minuten als Abfall.
Als sie der Meinung waren, die Wälder nördlich von Schmeckwitz zur Genüge durchforstet zu haben, bewegten sie sich ostwärts, an Handricks Teich vorbei in Richtung Neudörfel. Auf einem Feld, keine 100 Meter von der Straße entfernt, meldete sich der Detektor wieder. Diesmal mit deutlich größeren Ausschlägen als all die Male zuvor.
Augenblicklich schlug Markos Herz schneller, und er schaute seine Brüder erwartungsvoll an. Diese vergewisserten sich kurz, dass sich niemand in der Nähe befand, der ihnen gefährlich werden konnte, und stießen die Schaufelspitzen tief in die Erde. Mittlerweile war Juni und der Boden von den vielen Sonnenstunden ziemlich ausgedörrt und hart wie Asphalt. Aufhalten konnte das die vier nicht.
Jan leckte sich die Lippen. Timo keuchte vor Aufregung. Als es Konrad mit seinem verletzten Knöchel nicht schnell genug ging, legte er die Schaufel beiseite und beförderte die Erdbrocken mit bloßen Händen aus dem Loch. Bald hatten sie eine mehr als einen Meter breite und ebenso tiefe Grube ausgehoben. Auf das harte Holz einer Truhe waren sie dabei allerdings trotzdem noch nicht gestoßen. Keuchend und schwitzend legten sie eine Pause ein. Nur Marko blieb stirnrunzelnd neben dem Erdloch stehen. Er konnte nicht anders, als den Metalldetektor in die Vertiefung hinabzulassen. Noch während er ihn abwärts bewegte, überschlug sich die Nadel fast und das Gerät gab einen unangenehm kratzigen Piepton von sich. Markos Nackenhaare stellten sich auf, gleichzeitig lächelte er. Sie befanden sich auf dem richtigen Weg. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von ihrem Schatz.
Die anderen zögerten ebenfalls nicht, sich abermals ins Zeug zu legen. Rückenschmerzen und Muskelkater waren absolut keine überzeugenden Gegenargumente.
Dann endlich berührte Jans Spatzenspitze etwas Hartes. Sofort legte er sein Werkzeug weg und suchte den Boden mit den Fingern ab. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte. Doch genauso schnell setzte Ernüchterung ein: Er fühlte keine Kiste. Genau genommen fühlte er nicht mal einen großen, sondern mehrere kleine Gegenstände. Hatte sich das Holz der Truhe im Laufe der Jahre dermaßen zersetzt, dass es zerfallen war und sie die Überreste beim Herausschaufeln komplett übersehen hatten?
Seine Hände umschlossen einige längliche Gegenstände, die er von der Form her überhaupt nicht zuordnen konnte. Irritiert betrachtete er sie genauer: schwarze Metallstücke, eines gebogen, das andere sah aus wie ein schmales Rohr. Waren das Stücke einer Maschine oder Werkzeuge?
»Das sieht aus, als wäre es eine alte Pistole«, sagte Konrad neben ihm.
Tatsächlich. Nachdem sein Bruder es erwähnt hatte, bemerkte er es auch.
»Hier ist noch mehr.« Timo stand auf und hielt etwas in den Händen, das wie ein alter Soldatengürtel aussah. Er drückte es Jan in die Hand und kniete sich nieder, um weitere Gegenstände zu holen. Als Nächstes förderte er die Fetzen einer dunklen Uniform zutage.
»Fehlt nur noch ein Stahlhelm.« Am liebsten hätten sie den ganzen Plunder dahin zurückgeschleudert, wo sie ihn hergeholt hatten. Die ganze Sache war nichts anderes als ein verdammter Reinfall.
»Augenblick mal.« Timos Stimme klang dünn, beinahe ängstlich. »Ach, du Scheiße.«
Jan vermutete, sein Bruder würde ihm irgendwelche alten Knochen – vielleicht sogar einen Totenschädel – präsentieren, doch Timo hielt zwei dünne Metallrohre mit einer Verdickung an der Oberseite in den Händen.
»Sind das …?«
»… alte Handgranaten«, beendete Konrad den Satz. Er hatte sich schon immer sehr für Militaria interessiert und täuschte sich gewiss nicht.
Unweigerlich trat Jan einen Schritt zurück. Sein Mund fühlte sich auf einmal trocken wie Sandpapier an.
»Was ’n los? Bekommst du ’nen feuchten Rücken?« Konrad wirkte geradezu amüsiert. Er schwenkte das Kriegsspielzeug umher, als könnte es nicht jeden Moment hochgehen.
»Ich glaube, wir lassen das alles hier und sehen zu, dass wir uns verziehen.«
»Wir können hier nicht einfach die Grube offen lassen«, widersprach Marko. »Jemand könnte reinfallen. Kinder könnten mit den Sachen spielen.«
Scheiß drauf, lag es Jan auf der Zunge. Doch nach all den Wochen dürften sie auch genug Leute in der Gegend herumstapfen gesehen haben. Wenn sie hier ein tiefes Loch zurückließen, würde die Polizei direkt zu ihnen kommen und eine Menge unangenehme Fragen stellen.
»Also gut, wir schaufeln alles wieder zu. Aber vorsichtig!«
Widerwillig griffen sie nach ihren Schaufeln.
»Schon wieder Wandertag?« Marie knallte die Kühlschranktür so fest zu, dass einer der Magneten, die ihre Einkaufslisten festhielten, auf den Boden knallte. Sie fluchte. Mal wieder. »Ist ja schön, dass ihr Brüder so dicke seid. Aber denkst du mal an deine Kinder? An mich? Und du solltest den Rasen mähen. Ist schließlich Sonnabend!«
Jan bückte sich nach dem Zettel. Als er sich aufrichtete, stieg ihm der in vielen Jahren in der Dederon-Kittelschürze gespeicherte Schweißgeruch seiner Frau in die Nase. Ihn schüttelte, aber er drückte Marie trotzdem einen flüchtigen Kuss auf die mit zu viel Rouge geschminkte Wange. Er war froh, dass es in diesem Augenblick draußen hupte.
»Timo ist da«, sagte er, schnappte sich den mit Bier und Schnitten gefüllten Rucksack und machte, dass er aus der Küche kam. Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Gattin das Gesicht verzog. Er knallte die Haustür hinter sich zu und eilte zum Auto seines Bruders.
»Dicke Luft?« Timo grinste. Hinter der Küchengardine klebte Marie am Fenster. Und sah alles andere als fröhlich aus. Jan zuckte mit den Schultern, als wolle er eine lästige Fliege abstreifen.
»Fahr los!«
Timo fuhr. Auf direktem Weg nach Gränze. Dass auf dem Ortsschild unter der deutschen Schreibweise auch das sorbische Hranca stand, nahm keiner der beiden wahr. Jan war mitten drin, sich den Frust von der Seele zu reden, als sein Bruder den Wagen durch das Dorf lenkte. Hinter dem Ort wollten sie die Suche nach der mysteriösen Kiste weiter treiben. Ohne Konrad und Marko. Denn die waren von ihren Frauen dazu vergattert worden, das Wochenende mit den Kindern beim Schulfest zu verbringen. Jan war heilfroh, dass seine eigene Brut aus dem Alter raus war. Und Timo sah seine drei Kinder nach der Scheidung sowieso nur noch alle 14 Tage.
»Ständig am Meckern. Mach dies, mach das.« Jan äffte seine Frau nach und dachte mit Schaudern daran, dass ihm dank deren robuster Gesundheit noch viele gemeinsame Jahre bevorstanden. Aus der fröhlichen jungen Frau war eine dauerkeifende Matrone geworden. Marie, die vor der Wende im Konsum gearbeitet hatte, stand jetzt hinter der Kasse des kleinen Ladens, den ein süddeutscher Drogeriegigant im ehemaligen Konsum eröffnet hatte. Motzt über die schlechten Arbeitsbedingungen, den miesen Lohn und darüber, dass das Leben schlecht und ihres ganz besonders übel war.
»Tja, ich hab das hinter mir«, feixte Timo.
»Ich kann mich nicht scheiden lassen.« Jan seufzte. »Kann ich mir nicht leisten!« Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder verdiente er zwar nicht schlecht, aber mit dem Maklergehalt von Timo konnte sein Salär nicht mithalten.
»Wer weiß, vielleicht heben wir ja doch mal den Schatz vom Alten.« Timo lenkte den Wagen an den Rand des Feldwegs. Die Brüder stiegen aus, schnappten sich das Equipment aus dem Kofferraum und verschwanden im Wald.
Ungefähr zur selben Zeit stolperte Konrad keine 500 Meter entfernt über eine Wurzel. Er fluchte und ließ sich auf den mit Nadeln übersäten Waldboden plumpsen.
»Verdammte Kacke!«
»Sei keine Memme, weiter geht’s!« Marko verdrehte die Augen und ließ den Detektor weiter über den Boden gleiten. Eigentlich glaubte er nicht mehr an einen Fund – aber wenn doch, dann müsste er den Familienschatz wenigstens nur mit einem Bruder teilen. Er grinste, als er daran dachte, dass Jan und Timo, die ihn schon zu Kinderzeiten über alle Maßen genervt hatten, leer ausgehen würden. Von seinen drei Brüdern mochte er zwar keinen wirklich, aber Konrad war bei weitem das kleinste Übel.
»Ist doch sinnlos hier.« Konrad rappelte sich hoch. Er hatte gehofft, sein Fuß sei gebrochen, wenigstens übertreten, sodass er die Suche abbrechen könnte. Pustekuchen, nach drei Schritten war der Schmerz verflogen. Trotzdem humpelte er demonstrativ und fluchte leise vor sich hin.
»Scht!« Marko blieb nach wenigen Metern abrupt stehen. Der Detektor schwieg – dafür waren weiter entfernt Stimmen zu hören. Auch Konrad lauschte in das Dickicht hinein. Was er hörte, kam ihm bekannt vor. Verdammt bekannt. Er nickte seinem Bruder zu. Dieser schob den Detektor unter einen Busch, dann beeilten sich die beiden, in Richtung der Stimmen zu hasten. Und tatsächlich: Hinter einem Busch saßen Jan und Timo, vor sich einen identischen Suchdetektor, eine schlecht gemalte Karte der Region und einen Berg belegter Brote. Jan setzte eben ein Radeberger an.
»Ach! Auch hier?« Konrad schob das Astwerk beiseite und trat auf die Brüder zu. Jan verschluckte sich und hustete Gerstensaft auf die Schnitten. Timo riss die Augen auf, wollte aufspringen, ließ es aber, als hinter Konrad der vierte Peukerbruder auf die kleine Lichtung trat. Jan fasste sich als Erster. »Schulfest? Dass ich nicht lache!«
»Trautes Heim? Du lügst doch selbst!« Konrad knirschte mit den Zähnen. In dem Moment sah er dem Vater so ähnlich, dass es die anderen drei Brüder schauderte. Sekundenlang fixierten sie sich gegenseitig wie die Schlange eine Maus. Erst der Schrei eines Vogels irgendwo im Geäst löste die Spannung. Konrad ließ sich auf den Boden sinken, griff nach einem von Marie dick mit Butter bestrichenen Brot und grinste. Marko schnaubte, setzte sich dann ebenfalls und schnappte Jan die Bierflasche weg. Er leerte sie in einem Zug und rülpste leise. Timo knispelte an einem Ast. Dann sagte er leise: »In Ordnung. Quitt. Alle vier.«
Die drei anderen wollten widersprechen, ließen es aber. Aus gutem Grund. Jan hatte alles satt. Die drei anderen Brüder. Seine Frau. Die stets nölenden Kinder und den Mief im Einfamilienhaus. Mal rauskommen, das wär’s, vier Wochen Asien. Und dann nicht wiederkommen. Er seufzte.
Auch Timo seufzte. Er dachte an die junge Nachbarin, die ins Haus gegenüber vor vier Wochen eingezogen war. Nein, eine feste Beziehung wollte er nicht, nie wieder, eine Scheidung reichte. Aber ab und an frisches Fleisch im Bett. Und das kostete, Einladungen zum Essen, Drinks, Blumen. Geld, das er wegen der Unterhaltszahlungen nicht hatte.
Von Konrad war ein Schnauben zu hören. Vor seinem inneren Auge tauchte, wie so oft in den vergangenen Wochen, das Bild einer riesigen Schatztruhe auf, gefüllt bis zum Rand mit Geld. Seinem Geld. Er hatte in vielen durchwachten Nächten überschlagen, dass ihn ein Viertel Anteil aus dem Familienschatz nicht retten würde. Mindestens die Hälfte sollte es sein – dann könnte er bis zum Jahreswechsel und damit zur Steuerprüfung jene Gelder zurück in die Firmenkasse transferieren, die sein Chef ihm freiwillig nicht hatte geben wollen. Und mit dem Rest wäre endlich ein neuer Wagen drin.
Marko zog die Nase hoch. Wenn er Pech hatte, hatte er vor gut acht Wochen einen Volltreffer gelandet. Blöderweise nicht bei seiner Frau. Sondern bei der von Konrad. Blieb zwar in der Familie, wie er heimlich scherzte, aber trotzdem …
»Also gut.« Jan unterbrach das Schweigen als Erster. Die anderen starrten ihn an. »Morgen ist Sonntag. Wir treffen uns mit unseren Familien gleich früh am Haus. Die Kinder können rumrennen und die Frauen drinnen weiter das Gerümpel vom Alten aussortieren. In der Zwischenzeit nehmen wir uns gemeinsam die Wälder rund um Horka und den Steinbruch vor. Damit sollten alle zufrieden sein.«
Konrad schnaubte verächtlich. »Zufrieden bin ich erst, wenn dieser Irrsinn vorüber ist und wir die Kiste gefunden haben.«
»Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus«, sagte Marko. »Wenn dort nichts ist, wird’s langsam heikel.«
Die anderen nickten, aber keiner wollte etwas hinzufügen.
Noch am Abend gab es wieder Streit mit Marie. Allein Jans Andeutung, morgen ein weiteres Familientreffen zu veranstalten, brachte sie auf die Palme. »Och, nö, nicht schon wieder. Warum denn das?«
»Hattest du dich nicht beschwert, dass ich zu wenig Zeit für die Kinder und dich habe? Du weißt, dass wir den letzten Wunsch unseres Alten erfüllen müssen. Das ist die Chance, wie wir alles unter einen Hut kriegen.«
Marie schmollte ein wenig, stimmte aber schließlich zu. Glücklich war sie damit nicht, und Jan war sich sicher, dass sie ihn das die nächsten Tage auch deutlich spüren lassen würde.
Am nächsten Morgen trafen sie zeitgleich mit Konrad und seiner Sippschaft ein. Alle lächelten freundlich, aber Jan bezweifelte nicht, dass der nächste Knatsch keine Stunde auf sich warten lassen würde.
Entsprechend beeilte er sich, seine Ausrüstung zusammenzusuchen. Kaum waren Timo und Marko eingetroffen, machten sich die vier Brüder auf den Weg. Auch diesmal mit einer Goldkrone und mehreren Radebergern im Gepäck, aber noch ließ jeder die Finger davon.
Das änderte sich mit jeder weiteren ergebnislos verstreichenden halben Stunde. Außerdem brannte ihnen die Sonne ordentlich auf dem Pelz. Kurz nach elf hatten sie die ersten Gerstensaftflaschen bis zur Hälfte geleert.
Besser fühlte sich Jan danach allerdings nicht. Die ganze Sache nervte ihn. Warum hatte der Alte nicht einfach eine Schatzkarte zeichnen können, so wie es jeder andere an seiner Stelle getan hätte? Oder noch besser: Das Tafelsilber nicht verscharren, sondern bei der Flucht mitnehmen. Aber wahrscheinlich hätte ihm dann unterwegs irgendein freundlicher Alliierter beim Tragen geholfen.
Das unangenehme Piepen des Metalldetektors riss ihn aus den Gedanken. Neben ihm bewegte Marko den Sensor behutsam über den nadeligen Boden. Sie befanden sich am Waldrand irgendwo westlich von Horka, keine 500 Meter vom Steinbruch entfernt.
»Wartet mal, ich glaube, hier is’ was.«
Konrad runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich bloß wieder irgendwelcher Unrat. Echt unfassbar, wie viele Dreckschweine es gibt.«
»Oder noch ein paar Hinterlassenschaften vom Krieg«, sagte Timo.
Nach all den Rückschlägen der vergangenen Wochen konnte Jan seinen Brüdern diese Einstellung nicht verdenken. Auch seine Erwartungen waren inzwischen ziemlich gering. Außerdem taten ihm Rücken und Arme weh. Kein Wunder bei der ganzen Plackerei der letzten Zeit. Trotzdem begannen sie zu graben.
Schicht für Schicht der ausgedorrten Erde trugen sie ab. Es war mühsam und staubte höllisch. Aber sie hielten durch.
Kurz bevor Jan nach seinem nächsten Radeberger greifen wollte, stieß Timo mit seiner Schaufel auf etwas Hölzernes. Es klopfte dumpf, und sofort hörten auch alle anderen auf, weiter zu graben.
»Dann mal los, lasst uns die Abfalltonne freilegen.« Jan wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du, ich glaube, das ist kein Abfall. Das sieht aus wie ’ne Kiste.«
Augenblicklich knieten sich alle Brüder nieder und buddelten mit den Fingern weiter.
Es sah nicht nur aus wie eine Truhe, sondern besaß auch die Form und Beschaffenheit einer solchen. Gleich darauf schlossen sie die letzten Zweifel aus.
Aber war es tatsächlich ihre Kiste?
Vorsichtig schoben sie den verrosteten Riegel beiseite. Jans Pulsschlag schien sich mit jeder Sekunde zu verdoppeln.
Zuerst sah er Münzen, dann Broschen und Perlenketten. Dazu Besteck und sogar zwei Kelche. Überall funkelte und glitzerte es.
Timo stieß einen erstaunten Pfiff aus. Neben ihm keuchten Marko und Konrad. Jans Starre hielt nur eine Sekunde. Ebenso die seiner Brüder.
In nahezu einer Bewegung hechteten die vier nach vorn, um den Schatz als Erster in den Finger zu halten.
Doch statt Gold und Silber berührten sie sich nur gegenseitig: Zuerst knallten ihre Köpfe aneinander. Dann rempelten sie sich mit den Schultern an und rammten sich die Ellbogen in die Seiten und gegen die Brust.
Zurückweichen war kein Argument. Nicht mal, als es schmerzhaft wurde.
Einmal strichen Jans Fingerkuppen kurz über den Silberkelch, aber nur einen Atemzug später drängte ihn Markos Arm wieder zurück.
Timo schrie auf. Nur kurz, aber dafür umso lauter. Konrad brummte etwas Unverständliches. Ans Innehalten dachte trotzdem keiner.
Schließlich wurde es Jan zu bunt.
»Hört auf«, brüllte er aus voller Kehle. »Das wird doch so nichts.« Er wartete seine eigenen Worte aber nicht ab, sondern begann, seine Brüder zurückzuziehen. Anfangs sträubten sie sich, folgten ihm dann aber widerwillig.
»Jetzt behält mal jeder seine Finger bei sich.«
»Damit du dich zuerst bedienen kannst?« Marko stand die Gier deutlich in den Augen geschrieben.
»Nein, du Blödmann. Damit wir hier für klare Verhältnisse sorgen. Jeder kriegt seinen Anteil. Am besten hier und jetzt, bevor sich daheim unsere Weiber einmischen.«
»Oder rückzus einer von uns ’nen Unfall hat.«
Keiner lachte über Timos Scherz.
»Und wer verteilt die Sachen?«, fragte Marko. »Doch nicht etwa du, Jan? Du warst schon früher in Mathe keine Leuchte.«
»Du kannst es gern übernehmen. Wir anderen schauen eh genau zu.«
Genau das taten sie. Bei den Münzen ging noch alles klar. Manches davon waren ziemlich alt aussehende Dublonen, anderes bloß Reichsmark-Stücke, die bestenfalls ein paar Sammler interessieren dürften. Trotzdem wollte keiner auf seinen Anteil davon verzichten.
Beim Schmuck wurde es schwieriger. Die Menge ließ sich nicht gerecht durch vier teilen und auch nicht mit Silberbesteck ausgleichen. Nach nur wenigen Minuten bekamen sie sich in die Haare.
»Mir reicht’s jetzt«, rief Konrad. »Ich nehme jetzt mein Häufchen und dazu das und das hier. Den Rest könnt ihr unter euch aufteilen.«
Er kam nicht mal dazu aufzustehen.
»Könnte dir so passen, Kollege«, widersprach Timo. »Dir die Rosinen rauspicken und uns die Krümel lassen. Vergiss es. Du bleibst schön hier, sonst kriegste gar nüscht.«
»Wer will mich denn davon abhalten?« Er funkelte Timo grimmig an.
»Bleibt mal auf’m Teppich, Leute«, ging Jan dazwischen. »Jeder kriegt seinen gerechten Anteil.«
Konrad schüttelte den Kopf. »Dass ich nicht lache. Ich hab doch gesehen, wie du Timo vorhin ein geheimes Zeichen gegeben hast. Ihr macht doch eh schon gemeinsame Sache.«
»Willste damit andeuten, dass wir betrügen? Du spinnst doch. Jeder kriegt das Gleiche.«
»Ach, und was ist dann mit dem Kettenanhänger, der vorhin zufällig aus der Kiste direkt in deine Tasche gewandert ist?«
»Bitte was?« Mit einem Satz stand Marko neben Jan und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Mit der anderen Hand tastete er dessen Taschen ab. »Na sieh mal einer an.«
Unbemerkt von den anderen versuchte Konrad den Moment der Unachtsamkeit für sich zu nutzen. Er griff nach einer Kette von Jans Stapel. Das klappte noch ganz gut. Als er sich danach einige von Markos Münzen einstecken wollte, bemerkte dieser die linke Tour und stürzte sich auf ihn. »Ey, hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?«
»Was zum …« Die beiden anderen hielten inne. Jan löste sich aus dem Griff seines Bruders und versuchte dazwischenzugehen. Ein Fausthieb traf ihn am Kinn.
Schmerz und Wut explodierten in Jans Inneren. Ganz egal, wer ihn gerade getroffen hatte und ob es vielleicht unabsichtlich war. Ihn zu schlagen, bedeutete eine Abreibung für beide. Schon im Sprung ballte er beide Hände zu Fäusten.
Einen Moment lang schaute Marko seinen Brüdern amüsiert zu. Dann dämmerte ihm die Gelegenheit. Sollten sich die Holzköpfe doch prügeln. Wenn drei sich stritten, freut sich der vierte, oder wie das Sprichwort hieß.
Langsam ging er in die Knie. Zuerst noch zögernd, aber nachdem der Rest genug anderes um die heißen Ohren hatte, schnappte er sich rasch die Truhe und schob sein Viertel des Schatzes hinein.
Die anderen waren noch immer mit sich beschäftigt.
Hervorragend.
Als Nächstes schob er Konrads Häufchen hinein. Danach die Anteile von Timo und Jan. Ausgerechnet beim letzten Stück – einer unglaublich hässlichen, aber bestimmt sehr wertvollen Perlenkette – schauten die anderen auf.
»Hey, was machst’n du da?«, rief Timo.
Jan und Konrad verteilten sich noch jeweils einen Magenschwinger und hielten ebenfalls inne.
»Ich glaube, der will uns abzocken.«
Marko schluckte hart. Hob die Kiste. Wich zurück. Stolperte fast über eine der Schaufeln. Griff nach dem Metalldetektor und schleuderte ihn nach seinen Brüdern. Dann rannte er los.
Wohin war erst mal egal. Wichtig war nur die Schatzkiste in seinen Armen. Verflucht, war die schwer. Trotzdem dachte er nicht daran anzuhalten.
Er lief tiefer in den Wald. Wich Baumwurzeln und Sträuchern aus. Hinter ihm brüllten die anderen, dass er stehenbleiben sollte. Aber wenn er das täte, wäre er geliefert. Gleiches Blut hin oder her, sie würden ihn windelweich prügeln.
Marko sprang über eine Wurzel und schlug dann einen Haken nach links. Timo war ihm dicht auf den Fersen. Aber auch der Abstand zu Jan und Konrad betrug kaum mehr als 30 Meter.
Kurz überlegte er, die Kiste fallen zu lassen, doch das kam nicht in Frage. Ebenso wenig, sie zu öffnen und den Inhalt über den Waldboden zu verstreuen. Nicht nach all den Strapazen, die er und die anderen bis hierhin ertragen mussten.
»Bleib stehen, du elender Mistkerl«, rief Jan.
Gleich darauf knallte die Goldkrone-Flasche neben ihm gegen einen Baumstamm. Weinbrand spritzte Marko ins Gesicht, auf der Zunge schmeckte er den Alkohol.
Er lief eine kleine Anhöhe hinauf. Augenblick mal, wohin war er überhaupt unterwegs? Ging es hier nicht zum Horkaer Steinbruch?
Sekunden später sah er ihn vor sich: das dunkle, majestätische Blau, umgeben von hellen Granitfelsen und vereinzelten Bäumen. Wie oft waren sie als Kinder zum Schwimmen und Tauchen hier? Ein Stück weiter vorn gab es eine Klippe, von der sie als Mutprobe immer ins Wasser gesprungen waren.
Marko hatte keine Ahnung, was er hier wollte, rannte aber trotzdem weiter, wohin ihn seine Beine trugen. Einmal kam er gefährlich nahe an den Felsrand. Steine bröckelten und knirschten unser seinen Schuhen. Marko hielt das Gleichgewicht und wollte sich tiefer in den Wald zurückziehen, um … ja, was eigentlich? Er hatte keine Ahnung.
Von links sah er Jan und Konrad auf sich zukommen. Rechts lag der See. Hinter ihm jagte Timo. Weiter vorn versperrten ihm Bäume den Weg.
Er saß in der Falle.
Was nun? Aufgeben und komplett auf den Schatz verzichten? Auf keinen Fall.
»Bleibt weg von mir!«, rief er mit zittriger Stimme. Doch die anderen schienen nicht mal im Traum daran zu denken.
Timo rieb sich bereits die Faust. Die Mordlust stand auch den anderen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Wie sollte er nur heil aus dieser Sache herauskommen? Marko war zum Heulen zumute. Das alles nur wegen so eines blöden Schatzes. Er wünschte, sie hätten die verdammte Kiste nie gefunden.
In dieser Sekunde durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Er betrachtete die Truhe, aus der die Perlenkette halb heraushing. Es schmerzte nur einen Moment lang.
Im hohen Bogen schleuderte er die Kiste über die Klippe. Der Deckel öffnete sich und verteilte einen Teil des Inhalts im Flug. Hinter ihm schrien seine Brüder auf.
Dann waren sie bei ihm. Jan packte ihn am Kragen und stieß ihn in Richtung Abgrund. Mit gefletschten Zähnen verpasste Konrad ihm einen Kinnhaken.
Einen Augenblick lang sah Marko nur Sterne.
»Verdammt, was hast du getan? Ich hab große Lust, dich gleich hinterherzuwerfen.«
»Nein … bitte nicht.«
»Was sollte das? Wieso wolltest du uns beklauen?«
»Wollte ich doch gar nicht, sondern bloß den Schatz aus der Gefahrenzone bringen. Am besten heim, wo wir uns deswegen nicht in die Haare kriegen.«
»Erzähl doch keinen Scheiß!« Timo verpasste ihm ebenfalls einen Hieb. »Mann, das schöne Geld. Alles futsch.«
»Ich hab die Kohle echt gebraucht.« Konrad schien den Tränen nahe zu sein. Auch Marko hatte feuchte Augen, allerdings vor Schmerzen. Es gab keine Stelle seines Körpers, die nicht wehtat. Trotzdem bereute er seine Entscheidung nicht. Verbessert hätte der Schatz ihr Verhältnis sicher nicht. Neid war wirklich eine tückische Eigenschaft.
Eine Woche lang redeten die Brüder kaum miteinander, besuchten aber unabhängig voneinander den Steinbruch. Als sie sich einmal alle vier zur gleichen Zeit dort trafen, sahen sie zwischen den Steinen etwas funkeln.
In Windeseile hatten sie sich bis auf die Unterhosen ausgezogen und suchten die grünen Uferstellen ab. Sie fanden zwei Münzen und wagten sich tiefer hinein.
Bis zum Abend bargen sie einen Teil des Schmucks. Am nächsten Tag kamen sie wieder, diesmal mit Tauchausrüstung, um auch den tiefer gelegenen Sandboden abzusuchen. Schließlich fanden sie sogar die noch halb volle Truhe.
Um gar nicht erst wieder Gefahr zu laufen, sich deswegen wieder zu bekriegen, übergaben sie alles einem Auktionshaus und ließen andere im Zuge einer Versteigerung dafür bieten. Mehrere 1.000 Mark kamen zusammen, die sie gleich vom Auktionshaus aus auf die vier Konten überweisen ließen.
Alles schien in bester Ordnung.
Dann trafen sich Marko und Konrad beide beim Urologen in Kamenz. Beide verspürten ein unangenehmes Jucken in der Leistengegend, das sich seit Wochen hartnäckig hielt. Als ihnen die gemeinsame Komponente dämmerte, entflammte der Streit von vorn. Vergessen waren dadurch auch die Ultraschallfotos, die der werdende Papa Konrad eigentlich stolz seinen Brüdern zeigen wollte.
Aber es blieb ja alles in der Familie.