Das Buch:
Werner P. Bonner besitzt eine unheimliche Gabe: Wenn er seine Hand auf die Grabsteine des Friedhofs legt, sieht er, wie die Menschen zu Tode gekommen sind. Mehr noch: Er sieht die Wahrheit. Eine Wahrheit, so düster und unheimlich, dass man sie besser nicht erzählen sollte. Doch Bonner kann nicht anders. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Wahrheiten zu verkünden.
Jede Nacht zieht der Friedhofsänger, so nennen ihn die Leute, weil er so schaurige Geschichten zu erzählen weiß, durch die Straßen von Kevelaer, einem Wallfahrtsort am unteren Niederrhein, immer auf der Suche nach neuen Zuhörern …
BAND 4: DIE SCHREIBMASCHINE
Marcel Diepmann hat einen Traum. Er möchte ein berühmter Bestseller-Autor werden wie sein Idol Stephen King. Allerdings besitzt er nicht einen Hauch Talent. Als ihm das Schicksal eine antiquierte Schreibmaschine zuspielt, scheint Marcel an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen zu sein, denn alles, was er darauf schreibt, wird mit einem Mal zur Realität. Und die Geschichten, die Marcel sich ausdenkt, sind unvorstellbar böse …
Der Autor:
Daniel Stenmans wurde 1979 in Goch (Nordrhein-Westfalen) geboren und wohnt in Kevelaer. Er hat diverse Theaterstücke veröffentlicht (u.a. ‚Es muss ja nicht immer Shakespeare sein‘, ‚Haltet den… Hasen‘, ‚Holland in Not‘) und, gemeinsam mit Michael Hübbeker, die interaktiven Mystery-Hörbücher ‚Die Femeiche‘ und ‚Die schwarze Kirche‘ (Ueberreuter Verlag). ‚Der Friedhofsänger‘ ist seine erste E-Book-Reihe.
Der Friedhofsänger
Band 4:
Die Schreibmaschine
ISBN 978-3-944124-66-7
Copyright © 2015 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Cover-Layout und -Rechte: Boris Braun
Weitere spannende Bücher finden Sie auf:
www.mainbook.de und auf www.mainebook.de
Intro
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Outro
Letztes Kapitel
Guten Abend.
Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Hier auf dem Friedhof von Kevelaer. Sie sind hier, um eine neue Geschichte zu hören, nicht wahr? Eine, von der sich niemand vorstellen will, dass sie wirklich geschehen ist. Aber ich versichere Ihnen … auch wenn es noch so unglaublich klingt … alles, was ich Ihnen erzähle, ist die reine Wahrheit …
Ein paar neue Gesichter sehe ich auch. Das freut mich. Denen möchte ich mich noch kurz vorstellen. Den Übrigen sage ich: Sehen Sie sich einmal um, schauen Sie sich die einzelnen Grabsteine an … Vielleicht entdecken Sie einen Namen, dessen Geschichte Sie erfahren möchten.
Und den Neuen sage ich: Kommen Sie näher. Haben Sie keine Angst. Ich bin ein harmloser Kerl, der niemandem etwas Böses will. Zumindest glauben die meisten, dass ich einer bin. Die, die das nicht glauben, gehen mir einfach aus dem Weg. Sobald sie mich sehen, wechseln sie die Straßenseite oder machen einfach auf dem Absatz kehrt. Die Menschen hier glauben, es ist besser, nichts mit mir zu tun zu haben. Sie glauben, dass ich das Böse anziehe.
Und sie haben recht.
Werner P. Bonner, so heiß ich. Aber erinnern können sich nur noch die wenigsten an meinen richtigen Namen. Die meisten nennen mich einfach nur den Friedhofsänger.
Ich ziehe durch die Straßen von Kevelaer, einem kleinen, beschaulichen Wallfahrtsort im Kreis Kleve, in Nordrhein-Westfalen. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Zuhörern. Menschen, denen ich meine Geschichten erzählen kann. Menschen, wie Sie. Was ich Ihnen erzählen will, sind Geschichten, die man eigentlich nicht hören möchte, aber denen man sich nicht entziehen kann. Geschichten, die eine eigenartige Faszination besitzen.
Eine beängstigende Faszination.
Sie sollten wissen, Kevelaer ist ein Ort gewaltiger Kräfte. Vor allem spiritueller Kräfte. Der Handelskaufmann Hendrik Busmann hatte im 17. Jahrhundert eine Marienerscheinung, woraufhin er der Mutter Gottes eine Kapelle bauen ließ – die Gnadenkapelle, mitten im Herzen Kevelaers. Doch das Leben strebt immer nach einem Gleichgewicht. Wo Licht ist, existiert auch Schatten. Und die Schatten hier in Kevelaer sind tief. Schatten, in denen sich allerhand verborgen hält. Und manchmal krabbelt etwas daraus hervor und bringt das Gleichgewicht ins Wanken. Und schon entwickelt sich eine Geschichte, von der niemand etwas weiß, aber die erzählt werden will.
Und da komme ich ins Spiel.
Es gibt die offizielle Geschichte … und es gibt die wahre Geschichte. Ich kenne sie alle. Die wahren Geschichten. Die offiziellen interessieren mich nicht. Es handelt sich dabei um eine Wahrheit, die immer im Schatten verborgen bleibt. Denn würde sie aus dem Schatten hervor kriechen, würde sie sowieso niemand glauben. Aber nur weil etwas nicht wahrhaftig sein kann, heißt es nicht, dass es nicht wahr ist … Ich lege meine Hand auf einen Grabstein des Friedhofs, und schon erfahre ich, was wirklich passiert ist. Denn hinter einer Geschichte, gibt es immer noch eine zweite, von der niemand etwas wissen will.
Denn die kostet den Verstand.
Soll ich sie Ihnen erzählen?
Die wahre Geschichte …
Das hier ist der Grabstein von Marcel Diepmann. Als er starb, war er voller Hoffnung, das Leben, welches er führte, bald in eine andere – bessere – Richtung zu lenken. Er war ein schweigsamer junger Mann, der hoffte, bald aus der Tristesse seines Daseins herauszukommen. Er hatte einen Traum. Doch der entwickelte sich in einen furchtbaren Albtraum, aus dem es für ihn kein Erwachen mehr gab.
Marcel biss genüsslich in seinen Burger, als dem Kerl hinterm Tresen das Blut aus den Augen lief.
Erst waren es nur vereinzelte Tränen, die sich über die unteren Augenlider schoben, rot und dickflüssig. Doch ihnen folgte ein wahrer Strom aus Blut, der die Wangen hinunterlief und sein Gesicht in eine groteske Maske verwandelte. Das schräg aufgesetzte Burger-King-Hütchen tat das seine dazu, um ihn wie die Gestalt eines skurrilen Horrorfilms aussehen zu lassen.
Marcel nickte und lächelte. Er nahm sich eine Pommes aus der Tüte vor ihm auf dem Tisch und biss sie in der Mitte durch. Die zweite Hälfte wollte er gerade in die Mayonnaise tauchen, als der kleine Dicke hinter der Kasse einen blutigen Klumpen erbrach und auf den Tresen spuckte, genau auf das Tablett von zwei Teenies.
Doch die schienen davon nichts zu merken. Das junge Mädchen lächelte, der Junge nahm das Menü entgegen. Sie wandten sich ab und suchten sich im Fastfood-Restaurant einen Platz. Das nächste Mal seid ihr dran, dachte Marcel und grinste, als er dem hübschen Pärchen hinterher sah. Er blickte zurück zu dem blutenden Typen hinterm Tresen. Seine debilen Augen wanderten umher. Das Blut war aus ihnen verschwunden, ebenso von seinen Wangen und aus seinem Hemd. Er sah wieder genauso normal und langweilig wie vorher aus, als Marcel den Laden vor einer halben Stunde betreten hatte.
Zombiegeschichten bringen’s nicht!, dachte Marcel. Worauf sonst ließen blutende Augen und blutige Kotze schließen, wenn nicht auf irgendeinen Virus, der Menschen in seelenlose Bestien verwandelte? Nichts Neues. Tausendmal gelesen, tausendundeinmal in dämlichen Filmen gesehen.
Marcel warf seinen Burger aufs Tablett. Mit einem Mal hatte er keinen Hunger mehr. Er griff nach seiner Cola und saugte an dem bereits zerkauten Ende des Strohhalms. Wenn dir nichts Besseres einfällt, wirst du es nie zu etwas bringen, dachte er resigniert.
Aber das wollte er. Er wollte ein großer Schriftsteller werden, ein Bestsellerautor. Einer von jenen, den die Leser liebten, von dem sie alle Werke unbedingt besitzen wollten. Nicht nur einfach lesen, nein, von dem sie alle Bücher im Regal stehen haben mussten, und sei es auch noch so schmal. Marcel wollte, dass sie sich selbst ein Telefonbuch kaufen würden, schriebe er seinen gottverdammten Namen darauf. Doch das alles war nur Wunschdenken.
Es würde sich niemals erfüllen.
Zumindest nicht mit so bescheuerten Ideen, dachte er.
Daran mangelte es ihm nicht. Ganz und gar nicht. Täglich kam ihm irgendein verrückter Einfall zu einer fiesen Horrorgeschichte. Ein Rasenmäher, in den das Böse gefahren war und alle Menschen niedermetzelte. Eine niedliche Barbiepuppe, die zum Leben erwachte und kleine Mädchen killte. Oder eine mörderische Couch, die alle, die auf ihr Platz nahmen, verschluckte. Ein Haufen Eingebungen, aber alles nichts Halbes und vor allem nichts Ganzes. Denn obwohl sich in seinem Köpfchen so viel Skurriles ansammelte, hatte er es noch nie geschafft, eine einzige Geschichte zu Ende zu schreiben.
Klar, weil alles scheiße ist!
Nein, antwortete er sich, weil ich einfach …
(Zu schlecht bin!)
… keine Zeit dafür habe.
Is‘ klar!, feixten seine Gedanken.
Marcel hörte, wie er sich innerlich auslachte. Der rationale Teil seines Selbst lachte ihn ständig aus.
Er stellte sein Getränk zurück aufs Tablett. Er hatte sich nicht nur den Hunger, sondern auch seinen Durst verdorben. Das muss man erst mal schaffen, dachte er und schob das Tablett zurück.
Er wollte gerade aufstehen, als sich die Tür des Burger-Kings öffnete und zwei Männer und eine Frau hereinkamen. Marcel hielt in der Bewegung inne und sah die Neuankömmlinge an.
Nein, er starrte sie an, insbesondere die junge Frau.
Laura Michaelis war wunderschön. Hätte Marcel ihre Schönheit beschreiben müssen, wüsste er nicht wie. Die Worte, die Laura gerecht werden würden, waren noch nicht erfunden worden, da war er sich sicher. Sie war mittelgroß und hatte eine schlanke Figur. Sie war weit davon entfernt, ein Hungerhaken zu sein und Modelagenturen wären sich sicher einig, dass sie für eine entsprechende Karriere ein paar Kilos zu viel hatte. Aber Marcel würde dazu sagen: Alles an Ort und Stelle und in den perfekten Proportionen. Laura hatte lange, gelockte Haare, die ihr über die Schultern fielen. Meistens jedenfalls, heute waren sie zu einem wirren Pferdeschwanz zurückgebunden. Doch das Besondere an ihr waren ihre Augen, groß, mandelförmig, in einem zarten rehbraun. Zumindest stellte Marcel es sich so vor. Er war ihr noch nie so nah gewesen, um seine Theorie überprüfen zu können. Und ihr Lächeln war das Schönste, das er je gesehen hatte. Sein Herz schlug bei ihrem Anblick schneller.
„Hey!“ Das war der Kerl, der seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte. Phillip Tervooren. Er nickte dem Jungen hinterm Tresen zu. Phillip war im Grunde ein netter, gutaussehender Typ. Blond, blaue Augen, stets adrett, aber locker gekleidet, in Jeans und Hemd, gestylte Haare und immer mit einem Lächeln im Gesicht. Alle Welt mochte ihn, zumindest stellte es sich Marcel so vor.
Nur ich nicht, dachte er.
Dabei hatte Phillip ihm nie etwas getan. Das einzige Vergehen, das er sich hatte zu Schulden kommen lassen war, mit Laura Michaelis liiert zu sein. Und noch dazu glücklich, wie es aussah.
Der andere Kerl hieß Thomas Michaelis. Lauras Bruder. Marcel kannte ihn nur zu gut. Sie waren auf dem Gymnasium in dieselbe Klasse gegangen. Thomas gehörte zu den Typen, die stets an vorderster Front agierten und den Jubel der anderen brauchten wie genügend Essen und Trinken. Thomas war eine ausgemachte Rampensau, der das Scheinwerferlicht seiner Mitschüler dazu missbrauchte, um andere – Schwächere – darin bloßzustellen. Marcel gehörte damals zu seinen bevorzugten Opfern.
Thomas‘ Augen weiteten sich, als er Marcel erkannte. Er grinste höhnisch. „Ey, Schriftsteller!“, johlte er. „Heute schon jemanden umgebracht, du Freak?“ Dann brach er in schallendes Gelächter aus und schlug Phillip auf die Schulter. Phillip sah von seinem Kumpel zu Marcel und wieder zurück und verstand offenbar nicht, was Thomas meinte.
„Lass es!“, sagte Laura. Und dann – unfassbar, aber wahr – lächelte sie Marcel zu. Ein Lächeln, das sagte Hör gar nicht hin!
Doch Marcel hörte ganz genau hin.
„Der hält sich für’n ganz großen Schriftsteller oder so“, sagte Thomas, ohne seine Freunde anzusehen. Er sah Marcel an. „‘N Kumpel von mir arbeitet beim Kävels Bläche. Und der Vogel hat gefragt, ob die nicht eine Kurzgeschichtenreihe von ihm veröffentlichen wollen.“ Thomas grunzte vor Lachen. „Tim hat mir eine zu lesen gegeben. Gruseliges Zeug. Nicht unbedingt, was er schreibt, sondern wie. Echter Müll.“
Phillip wusste nicht, wie er reagieren sollte. Um seine Mundwinkel legte sich ein Lächeln, aber es schien ihm unangebracht. Er nickte nur und wandte sich dem Burger-King-Angestellten zu.
„Und wisst ihr was …“, sagte Thomas weiter.
„Jetzt hör schon auf.“ Laura schubste Thomas zum Tresen, sah wieder zu Marcel, zuckte mit den Schultern und schenkte ihm ein weiteres versöhnliches Lächeln. Marcel grinste zurück. „Nimm’s ihm nicht übel!“, sagte sie. „Mein Bruder ist halt ein Idiot!“
Wie konnte eine so tolle Frau nur so einen Riesenarsch als Bruder haben? Das Leben ging schon seltsame Wege.
„Kein Ding“, sagte Marcel und wandte sich ab. Er tat, als interessierte er sich nicht mehr für die drei. Denn die kümmerten sich auch nicht weiter um ihn, sondern bestellten sich jeder das Tagesmenü.
Marcels Segen – oder sein Fluch – war es, über ein großes Maß an lebhafter Phantasie zu verfügen. Und die überfiel ihn ohne Vorwarnung. Dann spulte sich vor seinem geistigen Auge ein Film ab, von dem er besser niemandem erzählte.
So auch jetzt.
Gerade als Marcel sich umdrehte …
… sprang der dicke Typ mit der schiefsitzenden Burger-King-Cappy in einem Satz über den Tresen und stellte sich mit hassverzerrter Fratze vor den dreien auf. Laura stieß einen Schrei aus, Thomas taumelte mit Panik im Blick zurück – machte sich sogar in die Hosen – und Phillip warf sich – heldenhaft wie er aussah – schützend vor seine Freundin. In der Hand hatte der wahnsinnig gewordene Burger-Bräter einen Pfannenwender …
(Einen Pfannenwender???? –
Verdammt, Messer kann jeder!)
… aus Edelstahl mit spitz zulaufender Fläche. Den erhob er weit über den Kopf und schlug zu. Wie mit einer Fliegenklatsche zog er Thomas die Wendefläche über den Kopf, holte ein weiteres Mal aus und schlitzte ihm dann, mit der scharfen Kante, die linke Wange auf. Sofort sprudelte Blut hervor und Marcel glaubte sogar, durch den blutigen Spalt in der Backe ein paar Zähne sehen zu können. Thomas ging heulend zu Boden.
Marcel schüttelte den Kopf.
Und erwachte.
Aus seinem Tagtraum?
Seiner Phantasie?
Seiner Wunschwelt?
Auf jeden Fall noch rechtzeitig. Er vergewisserte sich, dass nichts von alldem, was er gerade gesehen hatte, passiert war – auch wenn es ihn um seinen alten Klassenkameraden nicht leid getan hätte – und wandte sich dem Ausgang zu. Schade, dass es keine Möglichkeit gab, seine Gedankenwelt wahr werden zu lassen. Er würde es einigen heimzahlen wollen…
Es kam ihm vor wie eine Erscheinung. Wäre ja auch nicht die erste in Kevelaer. Nur erschien Henrik Busmann die Mutter Gottes nicht bei Tag, und erst recht nicht inmitten eines großen Menschenauflaufs wie dem Trödelmarkt auf dem Parkplatz vom EDEKA an der Feldstraße.
Marcel hatte den Burger-King verlassen, sein Fahrrad genommen und die Straße zum EDEKA-Markt überquert, in Gedanken immer noch bei Laura Michaelis‘ hübschem Gesicht.
Er fühlte sich himmlisch. Sie hatte ihn wahrgenommen. Es hat nichts zu bedeuten, dachte er. Das war ihm klar. Manchmal stellte er sich vor, wie er in die Damenumkleidekabine des Kevelaerer Freibads stiefeln und sich in aller Seelenruhe umsehen würde. Er war sich sicher, nicht bemerkt zu werden, weil er so unscheinbar war. Dass Laura ihn wahrgenommen, ihn sogar angelächelt und zugezwinkert hatte, war für ihn wie Weihnachten und Ostern zusammen.
Er stellte sein altes Hollandrad, dessen Markenname längst vom Rost zerfressen war, an den Zaun, der das Gelände von EDEKA und Holz Derks voneinander trennte, und stiefelte los. Er schob sich durch die Menschenmassen, die auf der Suche nach den besten Schnäppchen waren.
Und was gab es nicht alles für Kram? Angefangen von alten Spielekonsolen, als Tennis noch aus zwei verpixelten Balken bestand, die einen ebenso verpixelten Ball über eine Linie katapultieren mussten, über Suppenschüsseln, Nachttöpfen, bis hin zu alten Langspielplatten, CDs und Büchern. Ein älterer Herr mit langem gezwirbelten Schnurrbart und eine in die Jahre gekommene Frau, die kurz davor stand, sich ihren Bart ähnlich zwirbeln lassen zu können, feilschten um den Preis einer alten Porzellanpuppe, deren rechter Arm fehlte.
„30 Euro“, bot die Frau. Marcel war erstaunt, dass sie für das kaputte Ding so viel Geld ausgeben wollte.
„Tut mir leid, Gnädigste“, sagte der Zwirbelbart. „Unter 45 kann ich die nicht hergeben.“
„35“, feilschte die Frau und stemmte ihre Linke in die üppige Hüfte.
Der Mann schloss die Augen und schüttelte gemächlich den Kopf.
„40. Mein letztes Angebot.“
Zwirbelbart schien zu überlegen.
„Wenn Sie glauben, dass Sie heute noch ein besseres Angebot bekommen, junger Mann …“, sagte die Dame und reichte dem Mann die Puppe zurück. Zwirbelbart zögerte. Marcel sah gespannt zu.
„Na gut, Gnädigste. Aber das bleibt unter uns.“ Dann zeigte er eine Reihe blitzblanker Zähne. Die Dame strahlte übers ganze Gesicht. Marcel sah mit krauser Stirn von einem zum anderen und fragte sich, was dieses Ding so besonders machte.
„Ist sie nicht hinreißend?“, sagte sie und hielt Marcel, der immer noch wie gebannt auf die Szene starrte, die Puppe hin.
„‘Ne Puppe halt“, stotterte er.
„Ach, du hast doch keine Ahnung.“ Die Frau wandte sich ab und zückte aus ihrer Jacke ein Portemonnaie, um den Zwirbelbart zu bezahlen. Dabei umklammerte sie ihr erworbenes Spielzeug mit festem Griff.
Marcel schüttelte den Kopf und ging weiter.
Ein großer, fetter Kerl, der einen öligen Backfisch in einem winzigen Brötchen balancierte, trat vor ihm zur Seite und gab den Blick auf einen wackeligen Tapeziertisch frei, der nur wenige Meter am Ende des Ganges auf ihn zu warten schien. Was Marcel darauf stehen sah, ließ sein Herz schneller schlagen, dass er sein Blut bis zum Hals pulsieren spürte. Ihm wurde warm, dann heiß.
Wun … der … schön …, dachte er. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Beine zitterten. Um ihn herum existierte nichts mehr. Er hatte nur noch Augen für das, was dort auf ihn in der mittäglichen Sonne zu warten schien. Es war, als hätte irgendetwas seine Wahrnehmung mit immenser Kraft zerrissen, um alle seine fünf Sinne nur auf dieses eine kleine, in der Sonne glitzernde Ding zu fokussieren. Eine Olivetti M 40.
Eine Schreibmaschine
Eine alte Schreibmaschine.
Marcell erreichte den Trödeltisch mit zittrigen Beinen und stand nun vor seiner persönlichen Erscheinung, sah mit offenem Mund darauf herab, wie sie einsam und verlassen auf dem Tisch stand und von der Sonne wie von einem Theaterspot angestrahlt wurde. Der geschwungene, bronzene Zeilenschalter funkelte. Die runden, schwarzen Buchstaben- und Zahlentasten waren mit goldfarbenen Ringen umrahmt, die ebenfalls glänzten, als habe ihr Besitzer sie in mühsamer Feinarbeit poliert. Das wie sandgestrahlte Gehäuse schien ein einziges Kaleidoskop aus Licht und Farben zu sein, das sich Marcel in seine Netzhaut einbrannte. Er schloss die Augen und konnte die wunderbare alte Schreibmaschine immer noch glänzen und leuchten sehen.
„Oh … Mann …“, ächzte er. Sein Mund war trocken, als hätte man ihm seine Kehle mit Sandpapier ausgescheuert. Er fasste sich an den Hals und krächzte. Er ging ein wenig in die Hocke, um sich der wundersamen, für ihn einzigartigen Schönheit der Schreibmaschine zu nähern.
Dann legte er die Finger auf die Tasten.
Sie fühlten sich warm an.
Er war überrascht, doch er zuckte nicht zurück. Seine Fingerkuppen berührten die glatte Oberfläche der Tasten, spürten die eingestanzten Buchstaben und Ziffern und streichelten sie. Sein gesamter Körper schien mit einem Mal zu summen. Ein Geräusch, das mehr wie ein Gefühl war, ein Kitzeln, welches ihn ganz erfüllte. Warm, wohltuend. Als legte man eine Hand auf die Motorhaube eines laufenden Wagens. Seine Augen wurden feucht und er zwinkerte eine Träne fort.
„Sie ist schön, nicht?“
Marcel sah auf, ohne die Hände von der Schreibmaschine zu nehmen. „Sie?“, fragte er.
„Sie! Die Schreibmaschine.“ Marcel sah in das runzelige Gesicht eines alten Mannes. Wohl der Trödler, der die Schreibmaschine zum Verkauf anbot. „Sie ist mein absolutes Prachtstück.“