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Für Alice und Vincent
Übersetzung aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Le Bonheur National Brut« bei Albin Michel, Paris.
ISBN 978-3-492-97170-6
September 2017
© Editions Albin Michel – Paris 2014
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2015
Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, nach einem Entwurf von Le Livre de Poche
Covermotiv: Charles, The Image Works, Inc.
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Das Land war faktisch zweigeteilt.
Seit mehreren Monaten erging sich ganz Frankreich in wilden Beschimpfungen, Vermutungen und Prognosen; Linke wie Rechte standen sich in Temperament und Böswilligkeit in nichts nach.
Ich, Paul Savidan, siebzehn Jahre und sieben Monate alt, hatte keine besonderen Erwartungen an diese Präsidentschaftswahlen. Selbst wenn ich hätte wählen dürfen, ich hätte mich niemals dieser todlangweiligen Übung unterzogen. Ich hielt mich fern von allem Politischen, wies es mit einer Art diffusem Ekel, einem vagen Misstrauen weit von mir. Es wäre mir wahrscheinlich schwergefallen, diese Haltung zu rechtfertigen, aber sosehr mir der Sturm auch ins Gesicht blies, ich hielt daran fest, und das stellte bei uns in der Bretagne geradezu eine Meisterleistung dar. So, wie ich aufgrund meines zarten Alters schon den Mai 1968 verpasst hatte, sollte ich auch diesen 10. Mai und jede Menge zukünftige Mairevolutionen verpassen – natürlich immer aus den allerbesten Gründen. Mit der Zeit entwickelte es sich übrigens fast zu einem Charakterzug, dass ich immer abseits der großen Ereignisse stand, die meine Welt genauso prägen wie die der anderen. Aber das ist eine andere Geschichte, und es ist zu früh, um sich damit aufzuhalten.
Diese ganze Aufregung über das Duell um das Präsidentenamt berührte mich kaum. Sie hatte die unverrückbare Abfolge meiner morgendlichen Aktivitäten nicht im Geringsten beeinflusst, eine Reihe intimer Gesten und Rituale, von denen ich nicht mehr sagen könnte, ob sie sich der Gewohnheit verdankten oder einem Bedürfnis. Genau wie Sauberkeit und Ordnung befreite mich auch die Macht der Routine von den wirren, verqueren, bestialischen Gedanken, die mich ununterbrochen heimsuchten. Ich kann es auch gleich zugeben: Mehr als für alles andere interessierte ich mich für meine Sexualität. Ohne große Übertreibung darf ich behaupten, dass sie in diesen Jahren den Großteil meiner Energie auffraß.
Um halb zehn setzte ich mich vor meine Karteikarten, schließlich stand in etwas mehr als einem Monat mein Abitur an. Ich war ein durch und durch mittelmäßiger Schüler, der sich nur aufgrund ständiger väterlicher Ermahnungen und ebenso kontinuierlicher Büffelei auf einem akzeptablen Leistungsniveau hielt.
Es war ungefähr Mittag, als das Telefon im verwaisten Wohnzimmer klingelte.
Ich ließ es gut zehn Mal läuten, bis ich einsah, dass meine Trägheit gegen diesen Anrufer nichts ausrichten konnte. Wer konnte bloß derart stur sein? Eigentlich fiel mir da nur eine Person ein. Etwas schwunglos und ziemlich resigniert, machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, steuerte auf den kleinen runden Tisch zu, auf dem das neueste mausgraue Bakelitmodell der französischen Post stand, und hob ab.
»Hallo …«
Es war die männliche Stimme meines Freunds Rodolphe.
»Das war ja klar, dass du es bist.«
»Was treibst du denn, Amigo?«
»Ich lerne, Alter. In einem Monat ist Abi, falls du das vergessen hast.«
»Du lernst? Heute lernst du? Frankreich steht zwei Fingerbreit vor dem Triumph seiner revolutionären Kräfte über die reaktionärsten Ränder, und du lernst, du armer Irrer?«
»Ich backe eben kleine Brötchen, das erzählst du mir doch die ganze Zeit.«
»Was müsste denn noch passieren, damit du aus deiner verdammten Bude kriechst? Eine Kernexplosion?«
»Was genau war noch mal der Grund für deinen Anruf?«
»Uns fehlen ein paar Leute für die Auszählung. Natürlich alles unter meinem Kommando. Ein kleines Arrangement in letzter Sekunde mit dem Herrn Bürgermeister, und ein persönlicher Sieg über meinen Alten, der mir verboten hat, auch nur die Nase in diese Räuberhöhle voller Kellerasseln zu stecken. Ach ja, und außerdem war ich heute früh beim Wählen …«
»Hm … Und dann?«
»Und dann? Oh Mann, dir bläst der Atem der Geschichte ins Gesicht, und du machst die Luke zu, damit dir die Frisur nicht durcheinandergerät! Ich war beim Wählen, verdammt, und das war wie … wie eine Entjungferung! Ein zweites erstes Mal, wenn du weißt, was ich meine …«
»Da bin ich nicht ganz sicher, Rodolphe.«
»Puh … ja klar … Ich weiß nicht mal, warum ich dich das frage. Egal … Und?«
»Und was?«
»Lässt du dich herab, uns unter die Arme zu greifen?«
Ich ließ mir grundsätzlich gern Zeit, um meine Meinung in Worte zu fassen. Vage Aussagen gab es bei mir nicht, was häufig zur Folge hatte, dass ich meine Gesprächspartner so beredt wie nervtötend anschwieg. Erst nach sekundenlangem Zögern fühlte ich mich in der Lage, zu äußern, was meinem Gedankengang am nächsten kam:
»Rodolphe … ich … ich glaube nicht, dass mir das besonders viel Spaß machen würde.«
»Paulchen, Paulchen …«
Jetzt klang er offen verächtlich.
»Kannst du mir ein einziges verdammtes Beispiel für eine Sache nennen, für die du wenigstens im Ansatz deinen Arsch hochkriegst?«
Da hätte ich ihm eine ganze Reihe von Beispielen nennen können, gerade jetzt am Vormittag, wo mir, gestraft vom arbeitsamen Studium, hartnäckige Phantasien durch den Kopf gingen. Da ich deren Inhalt aber keinesfalls jemandem mitteilen wollte, und schon gar nicht meinem besten Freund, begnügte ich mich mit einem tiefen, mürrischen Seufzer.
»Du bist doch nicht ganz dicht.« Ganz leise kam das, mit Bitterkeit in der Stimme. Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Anders als ich brauchte Rodolphe Lescuyer weder zu lernen, um gute Noten zu bekommen, noch seine Worte abzuwägen, um mit ihnen zu glänzen. Ich finde es wirklich erstaunlich, dass Freundschaft so unterschiedliche Menschen verbinden konnte, wie wir es damals waren und in den nächsten dreißig Jahren immer mehr werden sollten. Aber warum auch nicht? Im Grunde ist es eine klassische Konstellation: guter Cop, böser Cop, die Schöne und das Biest, Batman und Robin, es gibt jede Menge Beispiele in Literatur, Film und, häufiger als man denkt, auch im wirklichen Leben. Ich, der ich mich als farblos und ungebildet wahrnahm, erkannte in Rodolphe die Inspiration und Brillanz, die mir fehlten. Rodolphe dagegen brauchte Zuhörer, die zwar aufmerksam genug waren, um ihm zu folgen, aber träge genug, um das Maul zu halten, wenn er übers Ziel hinausschoss.
Rodolphe setzte seine Jagd nach Freiwilligen den ganzen Nachmittag fort. Er rekrutierte sie hauptsächlich unter den zahlreichen Freunden, die er nach zwei Jahren im Ortsverband der Jungsozialisten um sich geschart hatte. Für sie war er so etwas wie eine Galionsfigur. Rodolphe war der Organisation aus zwei Gründen beigetreten, und es war kaum möglich, zu sagen, welcher schwerer gewogen hatte. Rodolphe wollte in die Politik, und auf seinem Weg zu einem Platz an der Sonne erschien ihm die Partei als eine Art natürliches Sprungbrett. Außerdem – und damit brüstete er sich unentwegt – bedeutete es eine weitere Gelegenheit, seinen Vater zur Weißglut zu treiben, für den als eingefleischter Kommunist die Sozialisten – und im gleichen Atemzug die extreme Linke – ein noch gefährlicherer Feind waren als die Rechte selbst. Seit zwei Jahren standen Vater und Sohn sich in einem gnadenlosen Nervenkrieg gegenüber.
Rodolphe sah auf die Uhr. Es war vier. Nach einem Blick zum Himmel und einer ausgiebigen Abwägung von Pro und Kontra entschied er sich für die Windjacke, die an einem Haken in der Diele hing. Dann packte er seine langen Haare, die ihm in unbezähmbaren Wirbeln vom Kopf abstanden, unter eine dicke Wollmütze. Hinter sich hörte er die Stimme seiner Mutter:
»Du gehst raus?«
Er drehte sich um.
»Ich muss mal an die Luft.«
»Gehst du hin?« Sie wurde lauter.
Rodolphe kniff den Mund zu, seine Art, zu zeigen, dass keine Antwort zu erwarten war. Hélène trat langsam zu ihrem Sohn. Auf ihrem runden, vor der Zeit gealterten Gesicht deutete sich ein trauriges Lächeln an; schwer lasteten die Lider auf zwei dunklen, fast reglosen Augen, die ihren Glanz restlos eingebüßt hatten. Dennoch sprach Zärtlichkeit aus ihnen. Rodolphe umarmte seine Mutter. Kaum hörbar, als wäre es ein Geheimnis, flüsterte sie ihm ins Ohr:
»Du weißt, wie wichtig es für ihn ist. Diese Leute haben sich furchtbar schlecht benommen.«
Sie löste sich von ihm und fasste ihren Sohn mit beiden Händen fest an den Armen.
»Das verstehst du doch?«
»Das sind alte Geschichten, Mama. Ich will mich damit nicht mehr erpressen lassen.«
Er nahm den Türgriff.
»Ich kann dir alles verzeihen, alles. Nur nicht, wenn du ihm absichtlich wehtust.«
Er wollte nicht kämpfen und ging.
Rodolphe verließ den langen, menschenleeren Strand und folgte einem Trampelpfad, der durch Stechginster, hohe Farne und wilde, buschige Gräser führte. Entlang des gesamten schmalen Weges ragten rund geschliffene Granitblöcke auf, überwuchert von trockenen, rissigen Flechten in allen Farbtönen, die aussahen wie Felsexkremente. Er stieg einen Steilhang hinauf, bis er nur wenige Meter weiter oben einen Vorsprung erreichte. Zu seinen Füßen, ein Dutzend Meter unter ihm, türmten sich Hunderte von Granitblöcken, über die riesige Wellen peitschten. Rodolphe trat gefährlich nah an den Rand, bis seine Zehen ins Leere ragten. Windböen bliesen ihm ins Gesicht. Mehrmals drohte er zu fallen, aber er war in dieser Übung so trainiert, dass er jedes Mal wieder ins Gleichgewicht fand. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet. Über dem schäumenden Meer stand eine weiße Sonne am dunstverhangenen Himmel. Er schloss die Augen, um sich besser auf die Geräusche konzentrieren zu können. Das Tosen der Brandung gegen die Felsen zwang seinem Gehirn die gleiche synchrone Bewegung auf, die ihn mit jedem Windstoß traf. Wilde Gedankenfetzen jagten ihm durch den Kopf, er sah sich in fünf, zehn, in fünfzehn Jahren. Eine heftige Sturmbö zerrte an ihm. Er wankte kurz, fand aber die Kraft, ihr zu widerstehen, indem er die Arme ausbreitete. Dann wiederholte er sich sein Versprechen, das er jedes Mal ablegte, wenn er auf diese felsige Halbinsel stieg: Eines Tages würde ihm die Welt gehören.
Es war jetzt fast 17 Uhr, in einer Stunde würden die Wahllokale schließen. Rodolphe schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr ins Ortszentrum zum Rathaus, einem kleinen Gebäude aus grauem Stein, auf dessen traurigem Schieferdach grünliche Moose wucherten. Er drückte die Glastür auf. Dahinter herrschte eine Stimmung wie vor einem Banküberfall. Es wurde nur leise und wenig gesprochen, zu viel hatte man sich in den letzten Wochen schon in Mutmaßungen ergangen. Überall in dem unwirtlichen Saal hatten sich Trauben von Verschwörern gebildet. Der Bürgermeister selbst gab sich hochoffiziell, mit aufgesetztem Umstandslächeln und Schärpe über der Schulter. Wie eine dicke Trikolorebiene summte er von Grüppchen zu Grüppchen, die Wangen – vielleicht zu Ehren der Sozialisten, die ihm zu seinem Posten verholfen hatten – rosig vor stummer Erregung. Die letzten Wähler verteilten sich noch auf die beiden Wahlkabinen im hinteren Teil des Raums und verbargen ihre Absichten hinter einem Vorhang aus geflickter, grauer Kunstseide. Ein paar Jugendliche sprachen leise miteinander: Das war die treibende Kraft der Jugendbewegung, die Rodolphe einbestellt hatte. Der reichte dem Hausherrn zögerlich die Hand und wurde jovial umarmt – »Tja, bei Gott, da kann man nichts sagen, die Zukunft der Nation sind Sie« –, dann trat Rodolphe zu seinen eingeschüchterten Jüngern und dankte ihnen herzlich für ihren Bürgersinn, der sie antrieb.
Zur selben Zeit wartete ich geduldig, dass der Schalter im Kino Le Noroît öffnete, wo an diesem Tag Excalibur von John Boorman gezeigt wurde. Für mich als mäßigen Leser und frustrierten Fernsehzuschauer war das Kino das einzige Fenster zur Welt, das ich halbwegs aufbekam. Natürlich war auch diese Strategie eher utopisch, wenn man bedenkt, wie schwer das Gewicht von Illusion und Lüge auf jedem Bild lastet, aber es war eben mein Weg, und niemand, nicht einmal meine Eltern, konnte dagegen etwas ausrichten. Jeden Sonntag also, und nicht ganz so regelmäßig auch mittwochnachmittags, leistete ich mir einen Film, von dem ich in der Regel noch nie gehört hatte. Und genau darin lag der Reiz. Ich ging durch die mit granatrotem Samt gepolsterte Schwingtür und versank in tiefstem Halbdunkel im immer gleichen Sessel. Dort gab ich mich der inständigen Hoffnung auf irgendeine Art von Offenbarung hin. Etwas also, das möglichst mit Sex zu tun hatte oder, noch besser, mit der Präsentation eines Körpers. Und zwar nach Möglichkeit eines männlichen. Selbst ein verstohlener Blick – vor allem ein verstohlener Blick – auf die Nacktheit eines Mannes, die unerwartet aus den Windungen eines komplexen Drehbuchs erwuchs, überwältigte mich. Pornografisches mochte ich nicht, es war mir zu unmittelbar, zu trivial. Ich liebte es, mir die Szenen selbst auszumalen, zu phantasieren, zu projizieren. Ich brauchte einen methodischen Aufbau, intellektuell und ästhetisch solide, damit das Fleischliche in seiner ganzen halluzinatorischen Dimension wirken konnte. Seit sechs Jahren schon erhellten die Kinobilder das obskure Objekt meiner Begierde.
Ich war schwul, das wusste ich schon lange, schon immer eigentlich. Bereits mit sieben Jahren interessierte mich der pralle Schritt des schönen Thierry la Fronde aus der gleichnamigen Abenteuerserie weitaus mehr als das eher farblose Gesicht seiner Gefährtin Isabelle. Im Grunde machte mir das nichts aus. Es war eben so und nicht anders. Meine Zeit würde schon noch kommen. Bis dahin bemühte ich mich um Beherrschung, belog alle um mich herum und fühlte mich nicht einmal unwohl dabei.
Um 19:55 Uhr, als die meisten Franzosen den Atem anhielten, beschleunigte sich meiner. Ich steckte mitten in einer dieser Masturbationsübungen, deren immer neue Inszenierung für mich ein unerschöpflicher Quell des Staunens war. Diesmal hatte ich mein Ding zwischen Matratze und Lattenrost meines Betts geklemmt, eine Technik, die ich nach Mike Nichols’ Catch-22 eingeführt und seither immer weiter verfeinert hatte – eindeutig am gelungensten durch das Kissen vom weichen elterlichen Sofa, das ich mir unter die Knie schob, um mir mehr Bequemlichkeit und eine optimale Abschusshöhe zu verschaffen. Nach einigem wenig überzeugenden, weil überstürzten Hin und Her beschloss ich, der Gesamtbewegung ein etwas mäßigeres Tempo zu gestatten. Aus dem Furioso wurde ein Allegro. Meine Gedanken hefteten sich an ein besonders hartnäckiges Bild des Films, den ich gerade gesehen hatte, und um Punkt 20 Uhr ejakulierte ich, wie ein Tier grunzend, zwischen Decken und Lattenrost.
Mit ähnlich lautem Geheul, freilich ganz anderer Natur, wurden im Rathaus die ersten Umfrageergebnisse aufgenommen, die François Mitterrands Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verkündeten. Zuerst hatte es niemand glauben können. Auf den Bildschirmen baute sich der kahle Schädel des Siegers von oben her auf, jedoch durch die Rastergrafik so grob auf eine ausgefranste, unscharfe Näherung reduziert, dass sich von der daraus entstandenen unangenehmen Ähnlichkeit mit dem Gegner nicht wenige täuschen ließen. Doch dann kam die Klarheit, und mit ihr die Hysterie. Rodolphe war wie vor den Kopf gestoßen, etliche Sekunden stand er mit offenem Mund da. Von überallher tönten dumpfe, urwüchsige, unkontrollierte Schreie, Körper hüpften auf und nieder, Füße stampften, Hände klatschten, wortgewaltige Parolen schwirrten durch die Luft. Rodolphe nahm es kaum wahr. Es war also möglich! Alles hatte einen Sinn. Es gab noch Hoffnung. Ja, verdammt, die Entscheidung, in die Politik zu gehen, war richtig.
Der Abend verging wie im Traum.
Als folgten sie einem Aufruf, ergossen sich Massen von Menschen auf die Straßen. Bald wurde überall getanzt, gejohlt, gesungen und gedrängelt. Nichts schien wichtiger, als das Wahlergebnis am eigenen Leib zu spüren, es zu überprüfen, sich wie besessen aneinanderzudrängen, als entbehrte dieser Sieg einer verlässlichen Wahrheit und als müsste man ihn sich in die Ohren schreien, um sich davon zu überzeugen. Ein strahlender Sieg wurde es auch für die Winzer aus der Champagne, deren Flaschen unablässig von Hand zu Mund gingen. Egal wo, ob drinnen oder draußen, es wurde getrunken und laut gegrölt. Autos blieben mitten auf der Straße stehen und luden unter ohrenbetäubendem Hupen Ladungen von Passagieren aus, die den Umstehenden spontan um den Hals fielen und nicht selten in deren Armen in Tränen ausbrachen. Ein leicht angesäuselter Greis stimmte würdevoll die Carmagnole an, und Dutzende andere fielen im Chor mit ein, obwohl die meisten kaum den Text kannten, aber egal! Ein begeisterter Blumenhändler liquidierte gratis seinen Rosenbestand, und die Blüten wurden im Knopfloch getragen wie ein hart verdienter Orden. Anwohner rückten die Lautsprecher aus ihrem Wohnzimmer ans Balkongeländer, ans offene Fenster, und ließen Musik herausschallen, die die fiebrige Erregung der Massen noch weiter anheizte. Überall lautes Gelächter, Freudentränen. Es war, als hätte eine verheerende und heilsame Flutwelle soeben eine unsichtbare Mauer eingerissen, hinter der sich über Jahrhunderte maßlose Gefühle angestaut hatten.
Nie war man derart glücklich gewesen.
Nie hatte man so sehr gehofft.
Im Rathaus wuchs das Grüppchen von Rodolphes Mitstreitern bald um etwa zwanzig Oberschüler an, darunter nicht wenige Mädchen, was den Siegesrausch um die Verheißung möglicher Sinneslust erweiterte. Tanguy Caron, ein weiterer meiner Freunde, nutzte die Gelegenheit, um sich eng an Myriam Le Gac zu schmiegen, ein Prinzesschen aus der Abiturklasse des sprachlichen Zweigs, auf das er schon seit zwei Jahren ein Auge geworfen hatte, das aber seine Avancen bisher nur mit abweisendem Glucksen quittiert hatte. Als überzeugte Sozialistin ließ sich das junge Mädchen, berauscht vom Bier, seinem eigenen Jubel und dem Toben seiner Kameradinnen, diesmal hinreißen, was recht weitreichende Fummeleien auf der Damentoilette des Rathauses nach sich zog. Für Tanguy wurden Myriam Le Gacs Brüste an diesem Abend symbolisch zum Busen der Nation.
Selbst ich kreuzte irgendwann noch auf, obwohl meine Eltern – die auf das Wahlergebnis so wütend wie panisch reagierten – mich an die herannahenden Prüfungen erinnert hatten, um mich davon abzubringen. Ich kam spät, nachdem ich heimlich abgehauen war, was ich mich nur selten traute. Ich war noch recht aufgewühlt deswegen, als ich die Glastür zum verqualmten Versammlungsort aufstieß. Doch da Rodolphe mich von nun an regelmäßig mit Alkohol versorgte, brauchte ich nicht lange, um zur allgemeinen Stimmung aufzuschließen, ich tanzte, hüpfte und brüllte Parolen, die ich nach meiner Ausnüchterung sicher leugnen würde. Tanguy erschien bald am Arm der schönen Myriam: Bei den Mengen von Flüssigkeit, die hier konsumiert wurden, war der Ansturm auf die Damentoilette groß, und es wurde heikel, sie länger besetzt zu halten. Als er mich sah, ließ er seine neueste Eroberung stehen und stürzte sich in meine Arme.
»Paul … Aaaah … Mein Paulchen … Aaaah … Du bist da … Super … Ooooh, das ist super … Ooooh … Echt super …«
Und er fing an, mich zu schütteln wie einen Pflaumenbaum, und brüllte wie ein Wilder. Ganz offensichtlich hinderten ihn der Alkohol und die berauschende Realität von Myriams Körperbau, den geringsten halbwegs vernünftigen Satz zustande zu bringen. Als er sich beruhigt hatte und wieder einigermaßen klare Gedanken fassen konnte, wandte er sich strahlend an Rodolphe, zerzaust und atemlos.
»Ich hasse deinen … deinen Idioten von … Mitterrand, aber immerhin verdanke ich ihm einen Riesenspaß am Tag seiner Krönung!«
Während er redete, sah er ständig hinüber zu Myriam Le Gac, die sich zu einer Gruppe von Freunden gesellt hatte und bei jeder geringsten Gelegenheit vor Lachen brüllte.
»Wahrscheinlich ist es das erste und das letzte Mal, dass unser Präsident dir einen Steifen macht«, meinte Rodolphe grinsend.
Tanguy lachte auf. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er konservativ wählte, auch nicht vor Rodolphe – vor allem nicht vor Rodolphe. Seit der sechsten Klasse waren sie erbitterte Rivalen. Sie waren beide Kämpfernaturen, und es reichte schon der geringste Anlass, um ihnen das in Erinnerung zu rufen.
»Ich hab sie gekriegt, diese … dieses … Biest. Du hast mir immer gesagt, die krieg ich nie, und jetzt hab ich sie gekriegt!«
Er jubelte wie ein Stabhochspringer, der seinen Rekord um ein paar Zentimeter verbessert hatte.
Bald darauf brachen wir auf. Irgendwo hatte Tanguy einen gewaltigen Joint aufgetrieben, den wir herumgehen ließen in dieser Nische zwischen Rathaus- und Pfarrhausmauer. Mein erster Törn stand also unter dem doppelten Schutz von Republik und Klerus. Es war nicht anders zu erwarten: Ich übergab mich. Genau gesagt, übergab ich mich in die unmittelbare Nähe von Myriams Espadrilles, was die aber kaum wahrnahm. Immerhin steckte sie gerade in durchaus leidenschaftlichem Zungenkontakt mit Tanguy und anschließend – wo wir schon mal dabei sind – mit Rodolphe, der sich gar nicht hatte aufdrängen wollen, aber auch nicht Nein sagen mochte. Das Mädchen war, wie gesagt, Sozialistin, und der Alkohol bewirkte, dass es an diesem Abend sehr gerne bereit war, die Lehren seiner Partei von Teilen und Großzügigkeit in die Tat umzusetzen. Tanguy erlitt einen Wutanfall, der von der Wirkung des Haschs wahrscheinlich verstärkt wurde. Teilen war noch nie seine Stärke gewesen, aber mit Rodolphe kam es überhaupt nicht infrage. Ohne ein Wort riss er Myriams Hand an sich und verschwand mit ihr im Rathaus; uns überließ er unserem traurigen Schicksal.
Gegen sechs Uhr morgens, als die Kräfte und Champagnervorräte des Bürgermeisters erschöpft waren, gingen alle nach Hause. Ich hatte beschlossen, bei Rodolphe zu schlafen. Daheim wollte ich mich lieber bei Tageslicht stellen, wenn ich frisch und ausgeschlafen war, als im Morgengrauen, torkelnd und leichenblass.
Am Küchentisch saß Pierre Lescuyer mit Antoine, dem ersten seiner zwei Söhne, der drei Jahre älter war als Rodolphe. Der Vater war Vorarbeiter, und der Sohn Arbeiter bei CIT-Alcatel, einer der optoelektronischen Fabriken, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, seit in der Nachbarstadt das Nationale Forschungslabor für Telekommunikation gegründet worden war. Die beiden Männer tranken ihren Kaffee, und aus den Ruten, Keschern und dem ganzen Kram, der sich am Eingang häufte, war zu schließen, dass sie angeln gehen wollten.
Sie brummten einen kaum hörbaren Gruß. Rodolphes Vater war nie gut auf mich zu sprechen gewesen. Als Kind der besseren Gesellschaft war ich für ihn zwangsläufig ein Arschloch, eine Meinung, die er in all den Jahren nicht auch nur einmal zu korrigieren versuchte. Ich blieb also vorsichtig hinter meinem Kumpel stehen und gab mir Mühe, mich dabei so aufrecht wie möglich zu halten. Auch Rodolphe war die Rolle des Eindringlings sichtlich unangenehm, und er meinte, etwas sagen zu müssen.
»Gewonnen, hm?«, versuchte er es vorsichtig, die Hand fest an den Türrahmen gestützt.
»Wenn man so will.«
Der Vater senkte die Nase in seine Kaffeetasse. Der Bruder echote:
»Jjjo, wenn man so will.«
Unter dem Einfluss des Alkohols und der Verzweiflung fing Rodolphe an zu stottern.
»Mann, seid ihr nicht mal ein bisschen zufrieden? Diesmal gibt es doch bestimmt ein paar Ministerien für die Ko… Kommunisten, oder?«
»Scheint so.«
»Und hast du davon nicht schon im… immer geträumt?«
Der Vater setzte mit beiden Händen seine Kaffeetasse ab und wandte sich mit großem Ernst an Rodolphe.
»Du weißt doch, wo dieser Mitterrand herkommt, oder?«
Er verschluckte das »e« im Namen, eine Angewohnheit all derer, die den neuen Präsidenten nicht ausstehen konnten. Es klang in etwa wie Mitrand.
»Ja, Papa, ich weiß … Vichy, der Francisque-Orden, Schueller, L’Oréal, die Cagoule, der ganze rechtsextreme Sumpf, ja, ja, Papa, das weiß ich alles … von dir übrigens, wirklich danke, danke …«
Der Vater fuhr auf: »Verdammt, meinst du etwa, er lässt ihnen freie Hand? Hast du gehört, was dieser Sack von Rocard gesagt hat?«
»Darf ich dich darauf hinweisen, dass auf dem Parteitag Mitterrands Leitantrag durchgekommen ist und eben nicht Rocards?«
»Glaub mir, eigentlich denken deine Sozialisten aber so. Wir sind für die doch bloß Marionetten. Sie fahren unsere Stimmen ein, und basta. Uns wollen sie doch bloß das Maul stopfen. Und das werden sie auch schaffen, das geb ich dir schriftlich. Du wirst schon sehen …«
Antoine sah sich bemüßigt zu ergänzen:
»Jjjo, wirst schon sehen, Mann.«
Und wir sollten tatsächlich sehen. So langsam enthielt die Unterhaltung ziemlich viele Déjà-vus, und Rodolphe bevorzugte es, sich weitere Argumente zu ersparen.
»Tja, na dann, guten Fang …« Er lächelte mitleidig.
»Klar, geh dich mal ausnüchtern, Arschgesicht.« Antoine wandte sich wieder seinem Kaffee zu.
Schnell nahmen wir die Stufen hinauf in Rodolphes Zimmer. Auf der Luftmatratze, die ich dreimal neu aufblasen musste, tat ich in den nächsten Stunden kaum ein Auge zu, während Rodolphe neben mir mit einem seligen Lächeln auf den Lippen schnarchte. Wie ich ihn da so engelsgleich liegen sah, malte ich mir sein Traumland aus, in allen denkbaren Rosatönen und reich gefüllt mit üppigen Brüsten.