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Impressum

 

www.vahlen.de

 

Original work copyright © 2014 Frederic Laloux

Published by arrangement with Frederic Laloux

 

ISBN 978-3-8006-4914-3

 

© 2015 Verlag Franz Vahlen GmbH, Wilhelmstraße 9, 80801 München

Satz: Fotosatz Buck, Zweikirchener Str. 7, 84036 Kumhausen

Umschlaggestaltung: Ralph Zimmermann – Bureau Parapluie

Bildnachweis: © Djemphoto − depositphotos.com (modifiziert)

eBook‐Produktion: Datagroup int. SRL, www.datagroup.ro

 

Dieser Titel ist auch als Printausgabe beim

Verlag und im Buchhandel erhältlich.

VInhaltsverzeichnis

Einführung: Die Entstehung eines neuen Organisationsmodells

Die Grenzen unseres gegenwärtigen Organisationsmodells

Die Fragen, durch die die Recherche für dieses Buch ausgelöst wurde

Organisationen im Laufe der Evolution (Kapitel 1 des Buches)

Empirische Forschung – was uns die Pioniere lehren können (Kapitel 2 des Buches)

Warnhinweis

Notwendige Bedingungen (Kapitel 3 des Buches)

1 Eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive

1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart

Das reaktive Paradigma (Infrarot)

Das magische Paradigma (Magenta)

Das tribale impulsive Paradigma (Rot)

Tribale Organisationen

Das traditionelle konformistische Paradigma (Bernstein)

Traditionelle Organisationen

Das moderne leistungsorientierte Paradigma (Orange)

Moderne Organisationen

Das postmoderne pluralistische Paradigma (Grün)

Postmoderne Organisationen

Von tribal zu postmodern: Die Koexistenz von Organisationsmodellen

1.2 Über die Stufen der Entwicklung

Die Komplexität der menschlichen Evolution

Der Übergang in neue Stufen

Die Anwendung der Stufenentwicklung in Organisationen

Der Zug der Führung – nach unten und oben

1.3 Das integrale evolutionäre Paradigma (Petrol)

Die Ängste des Egos in den Griff bekommen

Innere Stimmigkeit als Kompass

Das Leben als Reise der Entfaltung

Auf Stärken aufbauen

Angemessener Umgang mit Widrigkeiten

Weisheit jenseits von Rationalität

Die Suche nach Ganzheit

Ganzheit in der Beziehung zu anderen

Ganzheit in der Verbundenheit mit dem Leben und der Natur

Was das für evolutionäre Organisationen bedeuten könnte

2 Die Strukturen, Praktiken und Kulturen evolutionärer Organisationen

2.1 Drei Durchbrüche und eine Metapher

Eine neue Metapher: Organisationen als lebendige Systeme

Die drei Durchbrüche von evolutionären Organisationen

Die Organisationen, die in der Recherche untersucht wurden

2.2 Selbstführung (Strukturen)

Ein Fallbeispiel: von modern zu integral

Selbstführende Teams

Unglaubliche Ergebnisse

Kein Vorgesetzter

Kein mittleres Management

Stark reduzierte Unterstützungsfunktionen

Arbeiter werden zu Führenden

Kein Vorstand, wenig Besprechungen

Koordination und Wissensaustausch zwischen den Teams

Vertrauen versus Kontrolle

Die Energie des Vertrauens

Projekte

Die Skalierung für zehntausende Mitarbeiter

Freiwillige Arbeitsgruppen

Kein Organigramm, keine Stellenbeschreibung, keine Stellenbezeichnung

Selbstführende Schüler, Lehrer und Eltern – eine evolutionäre Schule

2.3 Selbstführung (Prozesse)

Entscheidungsfindung – der Beratungsprozess

Entscheidungsfindung in Zeiten der Krise

Einkauf und Investitionen

Explizite Annahmen

Interne Kommunikation

Konfliktlösung

Die Definition und Verteilung der Rollen

Leistungsmanagement auf der Teamebene

Individuelles Leistungsmanagement

Kündigungen

Vergütung und Anreize

Zusammenfassung – die Strukturen, Prozesse und Praktiken der Selbstführung

2.4 Die Suche nach Ganzheit (Allgemeine Praktiken)

Mit unserem Menschsein arbeiten

Sichere und offene Arbeitsumgebungen

Räume zur Reflexion

Storytelling

Besprechungen

Umgang mit Konflikten

Gebäude und Statussymbole

Ökologisches und soziales Engagement

2.5 Die Suche nach Ganzheit (Personalprozesse)

Neueinstellung

Onboarding

Weiterbildung

Stellenbeschreibungen, Stellenbezeichnungen und Karriereplanung

Verpflichtungen, Arbeitsstunden und Flexibilität

Feedback und Leistungsmanagement

Kündigung und Entlassung

Zusammenfassung – Praktiken und Prozesse, die die Ganzheit unterstützen

2.6 Auf den evolutionären Sinn hören

Konkurrenz, Marktanteile und Wachstum

Gewinne

Entscheidungsfindung durch das Hören auf den evolutionären Sinn

Praktiken, um auf den evolutionären Sinn zu hören

Strategie als organischer Prozess

Produktangebote und Marketing

Planung, Budgetierung und Controlling

Veränderungsmanagement

Kunden, Zulieferer und Informationsfluss

Sinnvolles Stimmungsmanagement

Der individuelle Sinn und der Sinn der Organisation

Zusammenfassung – auf den evolutionären Sinn hören

2.7 Weitverbreitete kulturelle Eigenschaften

Wie Kultur, Systeme und Weltsichten miteinander interagieren: die vier Quadranten

3 Die Emergenz evolutionärer Organisationen

3.1 Notwendige Bedingungen

Leitendes Management

Den Raum halten

Vorbildfunktion für die drei Durchbrüche evolutionärer Organisationen

Und ansonsten: Ein Kollege wie jeder andere

Vorstand und Eigentümer

Notwendig, aber nicht ausreichend

3.2 Die Gründung einer evolutionären Organisation

Übergreifende Annahmen und Werte

Drei Praktiken zur Selbstführung

Vier Praktiken zur Ganzheit

Zwei Praktiken zum evolutionären Sinn

3.3 Die Veränderung einer schon bestehenden Organisation

Die Implementierung von Selbstführung

Die Einführung von Praktiken der Ganzheit

Die Einführung von Praktiken des evolutionären Sinns

3.4 Ergebnisse

Anekdotische Evidenz

Treiber außergewöhnlicher Leistung

3.5 Evolutionäre Organisationen und eine evolutionäre Gesellschaft

Wie könnte eine integrale evolutionäre Gesellschaft aussehen?

Evolutionäre Organisationen in einer integralen evolutionären Gesellschaft

Die Zukunft schaffen

Anhänge

Anhang 1: Recherchefragen

Anhang 2: Jenseits der integralen evolutionären Perspektive

Anhang 3: Die Strukturen evolutionärer Organisationen

Anhang 4: Überblick über die Strukturen, Praktiken und Prozesse evolutionärer Organisationen

Anmerkungen

Leseempfehlungen

Danksagungen

Nachwort von Ken Wilber

Stichwortverzeichnis

1Einführung: Die Entstehung eines neuen Organisationsmodells

Wir verändern die Dinge nicht, indem wir gegen die bestehende Wirklichkeit kämpfen. Um etwas zu verändern, müssen wir ein neues Modell entwickeln, dass das alte Modell überflüssig macht.

Richard Buckminster Fuller

Aristoteles, der große griechische Philosoph und Wissenschaftler behauptete in einem Text, den er im Jahre 350 v. Chr. schrieb, dass Frauen weniger Zähne hätten als Männer.[1] Heute wissen wir, dass das Unsinn ist. Aber fast 2000 Jahre lang war es anerkanntes Wissen in der westlichen Welt. Dann kam eines Tages jemand auf eine Idee: Lasst uns nachzählen!

Die wissenschaftliche Methode – das Formulieren einer Hypothese und ihre Überprüfung mittels Experiment – ist so tief in unserem Denken eingeprägt, dass es für uns schwer verständlich ist, dass intelligente Menschen blind einer Autorität vertrauen und die Annahmen nicht überprüfen. Natürlich könnten wir auch denken, dass die Leute damals einfach noch nicht klug genug waren. Aber bevor wir sie zu streng beurteilen, sollten wir uns vielleicht selbst fragen: Könnten sich zukünftige Generation genauso über uns wundern? Könnten auch wir Gefangene einer vereinfachenden Sichtweise der Welt sein?

Es gibt Gründe für diesen Verdacht. Als ein Beispiel möchte ich Ihnen eine einfache Frage stellen: Wie viele Gehirne hat der Mensch? Wahrscheinlich ist ihre Antwort „eines“ (oder, wenn Sie eine Fangfrage erwarten, könnten Sie „zwei“ antworten, und damit die oft erwähnten rechten und linken Gehirnhälften meinen). Aber unser heutiges Wissen geht davon aus, dass wir drei Gehirne haben: Das große Gehirn in unserem Kopf; darüber hinaus gibt es aber noch ein kleines Gehirn im Herzen und ein weiteres im Bauch. Die letzten beiden sind vergleichsweise klein,[2] aber es sind trotzdem vollkommen autonome Nervensysteme.

Und hier wird es interessant: Das Gehirn im Herzen und das Gehirn im Bauch wurden erst vor Kurzem entdeckt, obwohl die technologischen Voraussetzungen für diese Entdeckung schon seit langer Zeit existierten. Alles, was man dafür braucht, ist eine Leiche, ein Messer und ein einfaches Mikroskop. In der Tat wurde das Gehirn im Bauch schon vor lange Zeit entdeckt, und zwar in den 1860er Jahren von einem deutschen Arzt namens Auerbach. Seine Entdeckung wurde von zwei englischen Kollegen, Bayliss und Starling, noch weiter verfeinert. Und dann geschah etwas Außergewöhnliches: Das Gehirn im Bauch geriet in der Medizin irgendwie in Vergessenheit. Ein Jahrhundert lang wurde es vollkommen aus dem Blick verloren! Erst in den späten 1990er Jahren wurde es von dem amerikanischen Neurowissenschaftler Michael Gerson und anderen wiederentdeckt.

2Wie konnten die Mediziner die Existenz eines Gehirns vergessen? Meiner Ansicht nach hat es mit dem Glaubenssystem unserer Zeit zu tun: In einer hierarchischen Weltsicht kann es nur ein Gehirn geben, dass die Kontrolle hat, so wie es nur einen einzigen Chef an der Spitze jeder Organisation geben kann. Obwohl es in der Umgangssprache Ausdrücke wie „mein Herz sagt mir“ oder „mein Bauchgefühl sagt mir“ gab, kann es nicht möglich sein, dass es drei autonome Gehirne gibt, die nebeneinander arbeiten, wenn wir glauben, dass die Welt klare Hierarchien braucht, um zu funktionieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir die beiden anderen Gehirne zum gleichen Zeitpunkt entdeckten (oder wiederentdeckten), als das Internet zu einem bestimmenden Element unseres Lebens wurde. Das Internetzeitalter hat eine neue Weltsicht vorweggenommen, in der die Möglichkeit verteilter Intelligenz vorstellbar wird, die die bisherigen Top-Down-Hierarchien ersetzt. In dieser Weltsicht ist Raum für die Idee, dass wir mehr als ein Gehirn besitzen und dass diese verschiedenen Gehirne in gemeinsamer Intelligenz zusammenarbeiten können.

Wir können nur schwer nachvollziehen, dass die Menschen im Mittelalter der Behauptung des Aristoteles Glauben schenken konnten, nach der Frauen weniger Zähne hätten als Männer. Aber es scheint, dass auch wir in gleicher Weise Gefangene unseres Denkens sein können. Moderne Wissenschaftler weigerten sich, genau durch das Mikroskop zu schauen, „weil es nur ein Gehirn geben kann“, so wie die Zeitgenossen Galileis sich weigerten, durch sein Teleskop zu schauen, weil es undenkbar war, dass unser gottgeschaffener Planet irgendetwas anderes als das Zentrum des Universums sein könnte.

Die Grenzen unseres gegenwärtigen Organisationsmodells

Mein Interesse gilt nicht der Medizin oder Astronomie, sondern Organisationen und Zusammenarbeit. Aber die konzeptuelle Frage bleibt die gleiche: Könnte es sein, dass unsere gegenwärtige Weltsicht die Art und Weise, wie wir über Organisationen nachdenken, begrenzt? Könnten wir eine wirkungsvolle, sinnvolle und beseelte Form der Zusammenarbeit entwickeln, wenn wir unser Glaubenssystem verändern würden?

In vielerlei Hinsicht ist das eine merkwürdige und undankbare Frage. Viele tausend Jahre lang lebten die Menschen unter ständiger Bedrohung durch Hungersnöte und in Angst vor Seuchen; eine Dürre oder eine einfache Grippe konnten ihnen das Leben kosten. Dann brachte uns plötzlich, fast wie aus dem Nichts, die Moderne in den letzten beiden Jahrhunderten nie da gewesenen Wohlstand und eine ständige Erhöhung der Lebenserwartung. Dieser außergewöhnliche Fortschritt kam nicht aus dem Handeln Einzelner, sondern durch die Zusammenarbeit von Menschen in Organisationen:

In weniger als zwei Jahrhunderten haben moderne Organisationen für die Menschheit sensationelle Fortschritte ermöglicht – ein Augenzwinkern in der Geschichte unserer Spezies. Keine der neuen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte wäre ohne Organisationen als Mittel menschlicher Zusammenarbeit möglich gewesen.

Aber trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, dass die heutige Organisationsführung ihre Grenzen erreicht hat. Das Leben in Organisationen erfahren wir zunehmend als desillusionierend. Für die Menschen, die am Boden der Pyramide arbeiten, besagen Umfragen übereinstimmend, dass die Arbeit meist als notwendiges Übel und ständige Anstrengung gesehen wird und wenig mit Begeisterung oder Sinn zu tun hat. Die Tatsache, dass die Dilbert-Cartoons von Scott Adams zu kulturellen Ikonen werden konnten, sagt viel darüber aus, inwieweit vielen Menschen die Arbeit in Organisationen unerträglich und sinnlos erscheint. Und das ist nicht nur am Boden der Pyramide so. Während der 15 Jahre, in denen ich Führungskräfte in Organisationen beraten und gecoacht habe, konnte ich ein gut gehütetes Geheimnis durchschauen: Das Leben an der Spitze der Pyramide bringt nicht mehr Erfüllung. Hinter der Fassade und dem Prunk besteht auch das Leben mächtiger Führungskräfte aus stillem Leiden. Ihre hektische Geschäftigkeit ist oft ein schlechter Deckmantel für ein tiefes Gefühl innerer Leere. Die Machtspiele, die politischen Manipulationen und die Konkurrenzkämpfe fordern schließlich von jedem Beteiligten ihren Preis. Am 4Boden und an der Spitze sind Organisationen meist Spielfelder für die unerfüllten Ziele unseres Egos, die tiefere Sehnsucht unserer Seele hat dort keinen Platz.

Instinktiv wissen wir, dass das Management veraltet ist. Wir wissen, dass die Rituale und Routinen im Lichte des beginnenden 21. Jahrhunderts ziemlich deplatziert aussehen. Deshalb kommen einem die Witze in einem Dilbert Cartoon und eine Episode von Das Büro zugleich bekannt und peinlich vor.

Gary Hamel

Dieses Buch ist aber keine Schimpftirade über große Unternehmen, die vor Gier wahnsinnig geworden sind. Menschen, die in Regierungs- oder gemeinnützigen Organisationen arbeiten, sind meist nicht viel besser auf ihren Arbeitsplatz zu sprechen. Selbst Tätigkeiten, in denen Menschen einer Berufung folgen, sind nicht immun gegen eine Desillusionierung mit den Organisationsstrukturen. Lehrer, Ärzte sowie Krankenschwestern und -pfleger verlassen massenhaft ihre Berufe. Unsere Schulen sind leider meist seelenlose Maschinen, in denen Lehrer und Schüler einfach vorgeschriebenen Abläufen folgen. Wir haben Krankenhäuser in kalte, bürokratische Institutionen verwandelt, die den Ärzten und dem Pflegepersonal ihre Fähigkeit nehmen, aus ihrem Herzen für die Menschen zu sorgen.

Die Fragen, durch die die Recherche für dieses Buch ausgelöst wurde

Die Art und Weise, wie wir die gegenwärtigen Probleme von Organisationen zu lösen versuchen, machen die Lage schlechter und nicht besser. Die meisten Organisationen haben viele Runden mit Change-Programmen, Fusionierungen, Zentralisierungen und Dezentralisierungen, neuen IT-Systemen, neuen Leitbildern, neuen strategischen Managementsystemen oder neuen Prämiensystemen durchlaufen. Es macht den Eindruck, als hätten wir die gegenwärtige Organisationsführung bis an ihre Grenzen ausgereizt, und diese traditionellen Rezepte scheinen eher ein Teil des Problems zu sein als deren Lösung.

Wir sehnen uns nach mehr, nach einer radikal anderen Weise der Zusammenarbeit in Organisationen. Aber ist das wirklich möglich oder nur Wunschdenken? Wenn es möglich ist, Organisationen zu schaffen, die mehr von unserem menschlichen Potenzial zugänglich machen, wie würden sie dann aussehen? Wie können wir sie verwirklichen? Dies sind die Fragen, die im Zentrum dieses Buches stehen.

Für mich sind dies keine akademisch interessanten Fragen, sondern sehr praktische Anliegen. Immer mehr Menschen sehnen sich danach, beseelte Organisationen zu schaffen, wenn sie nur wüssten, wie das möglich ist. Viele von uns müssen nicht davon überzeugt werden, dass wir neue Formen von Unternehmen, Schulen und Krankenhäusern brauchen. Aber Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, dass es tatsächlich möglich ist, und dass es Antworten auf einige ganz konkrete Fragen gibt. Die hierarchische Pyramide erscheint veraltet, aber welche andere Struktur könnte sie ersetzen? Was ist mit der Entscheidungsfindung? Jeder sollte in der Lage sein, bedeutungsvolle Entscheidungen zu treffen, nicht nur ein paar Leute „ganz oben“, aber führt das nicht ins Chaos? Und wie 5gehen wir mit Beförderungen und Lohnerhöhungen um? Können wir Herangehensweisen an solche Themen finden, ohne strategischen Überlegungen zu folgen, die einem Konkurrenzdenken entstammen? Wie können wir Meetings gestalten, die produktiv und von positiver Stimmung getragen sind, wo wir aus unseren Herzen sprechen und nicht aus unserem Ego? Wie können wir einen Sinn finden, der zum Zentrum für all unser Tun wird, und den Zynismus vermeiden, der oft durch abgehobene Leitbilder ausgelöst wird? Wir brauchen nicht nur eine große Vision einer neuen Organisationsform. Wir brauchen konkrete Antworten auf viele solcher konkreten Fragen.

Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst – es ist das Handeln mit der Logik von gestern.

Peter Drucker

Das Einnehmen dieser praktischen Perspektive befreit uns nicht davon, auch die weitaus größeren gesellschaftlichen und ökologischen Implikationen zu berücksichtigen. Die Art und Weise unseres Wirtschaftens hat die Grenzen der Ressourcen unseres Planeten überschritten. Unsere Organisationen tragen in großem Maße zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Zerstörung von Ökosystemen, dem Klimawandel, der Erschöpfung der Trinkwasservorräte und der Verringerung der Humusschicht bei. Wir treiben ein Spiel mit dem Feuer, in dem es um unsere Zukunft geht, und hoffen darauf, dass noch mehr Technologie die Wunden heilen wird, die die Moderne auf dem Planeten hinterlassen hat. Ökonomisch gesehen wird ein Modell des grenzenlosen Wachstums mit begrenzten Ressourcen unweigerlich an sein Ende kommen; und die letzte Finanzkrise war vielleicht nur ein Vorbeben, dem noch größere Beben folgen werden. Es ist wohl keine Übertreibung, sondern traurige Realität, dass das Überleben vieler Tierarten, Ökosysteme und vielleicht der Menschheit selbst von unserer Fähigkeit abhängt, uns zu höheren Formen des Bewusstseins zu entwickeln und von dort aus in neuer Weise zusammenzuarbeiten, um unsere Beziehung mit der Welt zu transformieren und die Schäden, die wir angerichtet haben, zu heilen.

Organisationen im Laufe der Evolution (Kapitel 1 des Buches)

Einstein prägte den bekannten Satz, dass Probleme nicht mit der gleichen Bewusstseinsebene gelöst werden können, die sie verursacht hat. Vielleicht müssen wir Zugang zu einer neuen Bewusstseinsstufe und einer neuen Weltsicht finden, um unsere Organisationen neu zu erfinden. Für einige Menschen mag die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft zu einer neuen Weltsicht entwickeln kann, von dem aus wir eine radikal neue Organisationsform schaffen können, als Wunschdenken erscheinen. Aber das ist genau das, was in der Menschheitsgeschichte schon mehrere Male geschehen ist, und es gibt Anzeichen, die darauf hinweisen, dass uns vielleicht bald eine weitere Veränderung der Denkweise – und damit ein neues Organisationsmodell – bevorsteht.

6Eine große Anzahl von Forschern – darunter Psychologen, Philosophen und Anthropologen – haben die Reise des menschlichen Bewusstseins genau untersucht. Sie haben herausgefunden, dass wir uns in der etwa 100.000 Jahre langen Geschichte der Menschheit durch eine Reihe aufeinanderfolgender Stufen entwickelt haben. Auf jeder Stufe machten wir einen Sprung in unseren kognitiven, moralischen und psychologischen Fähigkeiten im Umgang mit der Welt. Es gibt einen wichtigen Aspekt, den die Forscher bisher meist übersehen haben: Jedes Mal, wenn sich die Menschheit zu einer neuen Stufe bewegte, erfand sie eine neue Weise der Zusammenarbeit, ein neues Organisationsmodell. Das erste Kapitel des Buches folgt dieser Geschichte: wie sich das Bewusstsein der Menschheit entwickelt hat und wie wir auf jedem Schritt des Weges neue Organisationsmodelle erfunden haben. (Diese nacheinander entstandenen Modelle gibt es noch heute, deshalb kann uns diese historische Perspektive sehr viel lehren, um die verschiedenen Organisationsformen zu verstehen, die noch heute angewandt werden, und um die Debatten, die gegenwärtig im Bereich des Managements geführt werden, besser nachzuvollziehen.)

Nun kommen wir zum besonders spannenden Punkt: Die Entwicklungspsychologie hat viel über die nächste Stufe des menschlichen Bewusstseins zu sagen, in die wir uns gerade erst hineinbegeben. Zu dieser neuen Stufe gehört, dass wir unser Ego in die Schranken weisen und nach einer authentischeren und heilsameren Daseinsweise suchen. Wenn die Vergangenheit uns etwas über die Zukunft sagen kann, dann werden wir beim Wachsen in diese nächste Bewusstseinsstufe auch ein neues, damit einhergehendes Organisationsmodell entwickeln.

Empirische Forschung – was uns die Pioniere lehren können (Kapitel 2 des Buches)

Das zweite Kapitel des Buches beschreibt in praktischen Einzelheiten, wie Organisationen auf dieser neuen Stufe arbeiten. Dort sehen wir, dass uns die Zukunft nicht nur bevorsteht – sie zeigt sich schon in der Gegenwart. Zwei Jahre lang habe ich bahnbrechende Organisationen untersucht, die schon in signifikantem Maße mit einem neuen Organisationsmodell arbeiten, das mit der nächsten Stufe der menschlichen Entwicklung einhergeht. Als ich diese zukunftsweisenden Organisationen untersuchte, beschäftigten mich folgende Fragen:

Wie sehen Organisationen aus, die nach dieser nächsten Bewusstseinsstufe geformt werden, und wie ist es, darin zu arbeiten? Ist es bereits möglich, ihre Strukturen, Praktiken, Prozesse und Kulturen in nützlichen Einzelheiten zu beschreiben (mit anderen Worten, ihr Organisationsmodell konzeptuell nachzuvollziehen), um anderen Menschen zu helfen, ähnliche Organisationen zu schaffen?

Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich mich in diese Untersuchung zukunftsweisender Organisationen begab. Dieses Feld entsteht ja erst; würde ich trotzdem gute Beispiel finden? Würde ich nur auf kleine Organisationen stoßen, 7mit einer kurzen Geschichte, die kaum wirklich bedeutsame Einsichten boten? In jedem Fall war ich der Ansicht, dass es recht strenge Auswahlkriterien geben musste – sonst hätten die Erkenntnisse, die die Studie formulieren würde, nicht genug Wert. Um in diese Recherche mit aufgenommen zu werden, konnten die Organisationen aus allen geografischen Bereichen oder Sektoren kommen (Wirtschaft, gemeinnützige Organisationen, Bildung, Gesundheit, Regierungsorganisationen), aber sie mussten mindestens 100 Menschen beschäftigen,[3] und seit mindestens fünf Jahren nach Strukturen, Prozessen, Praktiken und Kulturen arbeiten, die mit den Merkmalen der nächsten Entwicklungsstufe einhergehen.

Meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Die zwölf Organisationen, die ich untersuchte (im Kapitel 2.1 finden Sie einen Überblick), übertrafen diese Vorgaben bei Weitem. Viele arbeiten schon seit Langem nach diesen neuen Prinzipien, manche seit 30 oder 40 Jahren, und nicht nur mit einer Handvoll Mitarbeiter, sondern mit einigen Hundert und in einigen Fällen mehreren Tausend Angestellten.

Es gab noch eine weitere Überraschung: Ich erwartete, vor allem im Dienstleistungsgewerbe entsprechende Beispiele zu finden – also im Gesundheitswesen oder in der Pädagogik –, wo die Arbeit oftmals eine Berufung ist und der ideelle Zweck der Organisationen den Menschen hilft, ihre selbstbezogenen Motivationen zu überwinden. Ich war froh, dass sich diese Annahme als falsch herausstellte. Unter diesen Pionieren gibt es sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch gemeinnützige Organisationen. Dazu zählen Einzelhändler, Produktionsbetriebe, ein Energieunternehmen, ein Nahrungsmittelhersteller, eine Schule und eine Klinikgruppe.

Mich überraschte auch, dass diese Organisationen einander nicht kannten. Wenn ich solche Pioniere finden würde, hatte ich erwartet, dass sie gleichgesinnte Kollegen kennen würden und mit ihnen Einsichten und Erfahrungen austauschten. Stattdessen waren sie im Allgemeinen erfreut zu hören, dass sie nicht die Einzigen waren, die ein Experiment wagten, in dem sie die heutigen Managementpraktiken hinterfragten. Im Scherz betrachtete ich diese Organisationen als freundliche Aliens, wie es sie in alten Fernsehserien zu sehen gab, die nun schon seit einiger Zeit unter uns leben, ausgestattet mit übernatürlichen Kräften, aber isoliert und unerkannt. Vielleicht sind wir nun endlich bereit, sie als das zu sehen, was sie sind: nicht nur freundliche oder merkwürdige Außenseiter, sondern Pioniere unserer kollektiven Zukunft.

Die Untersuchung dieser Fallstudien umfasste zwei Sammlungen von Fragen (die im Anhang 2 aufgelistet sind). Die erste Fragensammlung bezog sich auf 45 Praktiken und Prozesse, die in der Organisationsforschung allgemein diskutiert werden:

8Für jeden dieser 45 Bereiche versuchte die Recherche herauszufinden, ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden. Der Ansatz war absichtlich sehr weit und offen gefasst: Angesichts der neu entstehenden Natur dieses Themas, betrachtete die Forschung das gesamte Spektrum von Strukturen, Praktiken und Kulturen, die typischerweise in der Organisationsforschung eine Rolle spielen, ohne von bestimmten Vorannahmen auszugehen. Dabei wurden öffentlich zugängliches Material, interne Dokumente, Interviews und Besuche vor Ort herangezogen.

Warnhinweis

Jede der zukunftsweisenden Organisationen ist für sich genommen beeindruckend und hätte ein ganzes Buch verdient, um ihre spezielle Geschichte zu erzählen. Aber in meiner Untersuchung war ich natürlich neugierig, ob daraus mehr werden konnte als eine Sammlung von Fallstudien: Gibt es Muster und Gemeinsamkeiten, die auf ein kohärentes neues Modell hindeuten? Können die Pioniere nicht nur Inspiration geben, sondern zeigt sich in ihrer Arbeit ein Modell für die Menschen, die neue, beseelte Organisationsformen entwickeln wollen.

Die Organisationen, die für dieses Buch untersucht wurden, sind wie freundliche Aliens, wie es sie in alten Fernsehserien zu sehen gab, die nun schon seit einiger Zeit unter uns leben und trotz ihrer übernatürlichen Kräfte unerkannt blieben.

Meine Untersuchungen zeigten, dass dies in der Tat möglich ist. Diese wegweisenden Organisationen kannten einander nicht und experimentierten für sich allein; sie arbeiten in radikal unterschiedlichen Sektoren und an verschiedenen Orten; einige haben Hunderte, andere Zehntausende Mitarbeiter. Trotzdem haben sie nach vielen Runden von Versuch und Irrtum überraschend ähnliche Strukturen und Praktiken gefunden. Mir fällt es schwer, nicht davon begeistert zu sein. Es bedeutet, dass ein kohärentes Organisationsmodell zu entstehen scheint, das wir bis in die Einzelheiten beschreiben können. Dies ist kein theoretisches Modell, keine utopische Idee, sondern ein ganz konkreter Weg, um Organisationen von einer höheren Bewusstseinsstufe aus zu führen. Wenn wir anerkennen, dass die menschliche Evolution eine Richtung hat, dann zeigt sich hier etwas Außergewöhnliches: ein Entwurf für die Zukunft von Organisationen, mehr noch, ein Entwurf für die Zukunft der Arbeit.

Ich schreibe diese Zeilen in dem vollen Bewusstsein, dass wir uns in den frühen Tagen dieses neu entstehenden Phänomens befinden. Deshalb bin ich nicht der Ansicht, dass dieses Buch eine definitive, fixe Beschreibung dieses neuen Organisationsmodells bietet. Während immer mehr Unternehmen in diesem Bereich neue Wege gehen, weitere Forscher sie aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen und die Gesellschaft als Ganzes sich entwickelt, wird das Bild mit mehr Einzelheiten und Strukturen ausgefüllt werden. Aber ich bin der Überzeugung, dass wir schon jetzt einen Entwurf erkennen können, der uns zeigt, wie wir unterschiedliche Organisationen so gestalten können, dass sie weitaus 9produktiver, erfüllender und sinnorientierter arbeiten. Führungskräfte, die neue Organisationsformen entwickeln wollen, müssen nicht bei null anfangen; sie können sich von den detaillierten Beschreibungen im zweiten Kapitel dieses Buches inspirieren lassen, in dem die Prinzipien, Strukturen, Praktiken und Kulturen ausgeführt werden, die ein neues Zusammenkommen in Organisationen unterstützen.

Notwendige Bedingungen (Kapitel 3 des Buches)

Die Untersuchung für dieses Buch brachte auch interessante Einsichten über den Weg hervor, durch den solche neuen Organisationen entstehen können (basierend auf der zweiten Gruppe von Recherche-Fragen – siehe Anhang 1). Welche Bedingungen sind notwendig, um dieses neue Modell funktionsfähig zu machen? Wenn Sie planen, eine Organisation zu gründen und von Anfang an das alte Modell vermeiden wollen, um auf einer neuen Grundlage zu beginnen, was können Sie dann von den Pionieren lernen, die es vor Ihnen getan haben? Oder wenn Sie eine bestehende Organisation führen – sei sie klein oder groß – und überlegen, sie in Richtung dieses neuen Paradigmas zu verändern, wie könnten Sie dann sinnvollerweise beginnen und Ihre Kollegen auf diesen Weg mitnehmen? Das sind einige der Fragen, denen wir uns im dritten Kapitel des Buches zuwenden werden.

Wenn wir die herausfordernden Probleme unserer Zeit lösen wollen, werden wir neue Organisationsformen brauchen – stärker sinnorientierte Wirtschaftsunternehmen, beseelte Schulen, wirkungsvollere gemeinnützige Organisationen. Jeder, der aus den alten Bahnen ausbricht und sich ins Neue begibt, wird wahrscheinlich auf Widerstände stoßen und als Idealist oder Narr bezeichnet werden. Die Anthropologin Margaret Meade sagte einst: „Unterschätze niemals die Kraft einiger engagierter Menschen, die Welt zu verändern. In der Tat wurde die Welt nur durch solche Menschen verändert.“ Wenn Sie einer davon sind, wenn Sie sich berufen fühlen, eine zutiefst beseelte, sinnvolle und produktive Arbeitsumgebung zu schaffen, dann hoffe ich, dass Ihnen dieses Buch zusätzliches Vertrauen darin geben kann, dass es möglich ist. Möge es Sie als praktischer Leitfaden auf Ihrem Weg begleiten. Ich habe keinen Zweifel, dass die Welt bereit ist und auf Sie wartet.

111 Eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive

Kapitelübersicht

1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart

1.2 Über die Stufen der Entwicklung

1.3 Das integrale evolutionäre Paradigma (Petrol)

1.1 Paradigmenwechsel: Organisationsmodelle in Vergangenheit und Gegenwart

Sehen heißt nicht glauben: Glauben heißt sehen!

Du siehst die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie du bist.

Eric Butterworth

Können wir Organisationen schaffen, die von den Pathologien frei sind, die sich allzu oft am Arbeitsplatz zeigen? Frei von politischen Grabenkämpfen, Bürokratie und Konkurrenz; frei von Stress und Burnout; frei von Resignation, nachtragenden Gedanken und Teilnahmslosigkeit; frei von großspurigem Verhalten an der Spitze und der erschöpfenden Arbeit auf den unteren Ebenen? Können wir Organisationen neu erfinden und ein neues Modell entwickeln, das die Arbeit produktiv, erfüllend und sinnvoll macht? Können wir beseelte Arbeitsplätze schaffen – Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen und gemeinnützige Organisationen –, wo unsere Talente sich entfalten können und unsere Berufungen wertgeschätzt werden?

Wenn Sie Gründer oder Leiter einer Organisation sind und eine neue Arbeitsumgebung gestalten wollen, hängt viel von Ihrer Antwort auf diese Frage ab! Viele Menschen in Ihrer Umgebung werden diese Idee als Wunschdenken abtun und versuchen, Sie davon abzubringen. „Die Menschen ändern sich nicht“, sagen sie, „wir alle haben Egos, wir wollen nur unseren eigenen Vorteil. Wir beschuldigen gern andere, kritisieren und verbreiten Gerüchte. Das wird sich nie ändern.“ Wer kann dem widersprechen? Aber andererseits haben wir alle diese besonderen Momente der Teamarbeit erlebt, wo Leistungen ohne Anstrengung und mit tiefer Freude möglich waren. Die menschliche Genialität kennt keine Grenzen und radikale Innovationen entstehen plötzlich wie aus dem Nichts. Wer würde wetten, dass wir nicht in der Lage sein werden, bessere Arbeitsumgebungen zu schaffen?

12Auf welche Stimme sollten Sie also hören? Können wir vom Land „Management-wie-wir-es-kennen“ ablegen und Kurs auf eine neue Welt nehmen? Oder werden Sie einfach vom Rand der Welt fallen, weil es hinter dem Bekannten nichts mehr gibt?

Zu meiner Überraschung fand ich einen Teil der Antwort nicht beim Blick nach vorn, sondern durch den Blick zurück in die Vergangenheit. Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit mehrere Male die Art und Weise, wie Menschen zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten, neu erfunden – und dabei jedes Mal ein weitaus überlegenes Organisationsmodell geschaffen. Zudem deutet diese historische Perspektive auf ein neues Organisationsmodell hin, dass kurz bevorsteht und auf seine Verwirklichung wartet.

Der Schlüssel zu dieser historischen Perspektive kommt interessanterweise nicht aus der Geschichte der Organisationen, sondern allgemeiner gesprochen aus dem Feld der menschlichen Geschichte und der Entwicklungspsychologie. Es zeigt sich, dass im Laufe der Geschichte die Organisationsformen, die wir erfunden haben, mit der vorherrschenden Weltsicht und dem bestimmenden Bewusstsein verbunden waren. Jedes Mal, wenn wir als Spezies unser Denken über die Welt verändert haben, entwickelten wir wirkungsvollere Organisationsformen.

Eine große Anzahl von Menschen – Historiker, Anthropologen, Philosophen, Mystiker, Psychologen und Neurowissenschaftler – haben sich dieser zutiefst faszinierenden Frage gewidmet: Wie hat sich die Menschheit von den frühesten Formen des menschlichen Bewusstseins zum komplexen Bewusstsein der modernen Zeit entwickelt? (Einige widmeten sich auch einer damit verbundenen Frage: Wie entwickeln wir uns als Menschen heute von der vergleichsweise einfachen Bewusstseinsform bei der Geburt zum Bewusstsein des vollen Erwachsenenalters?)

Diese Fragen haben Menschen aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet. Abraham Maslow hat bekanntermaßen untersucht, wie sich menschliche Bedürfnisse in der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, von grundlegenden physiologischen Bedürfnissen bis hin zur Selbstverwirklichung. Andere haben die Entwicklung durch die Perspektive der Weltsichten (Jean Gebser und andere), kognitiven Fähigkeiten (Jean Piaget), Werte (Clare Graves), der moralischen Entwicklung (Lawrence Kohlberg, Carol Gilligan), Selbstidentität (Jane Loevinger), Spiritualität (James Fowler), Führungsstile (Susanne Cook-Greuter, Robert Kegan, Bill Torbert) usw. betrachtet.

In ihren Untersuchungen haben sie immer wieder zeigen können, dass sich die Menschheit in Stufen entwickelt. Wir sind nicht wie Bäume, die kontinuierlich wachsen. Wir entwickeln uns durch plötzliche Transformationen, wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird, oder eine Kaulquappe, die sich zum Frosch entwickelt. Heute ist unser Wissen über die menschliche Entwicklung sehr stichhaltig. Insbesondere zwei Denker – Ken Wilber und Jenny Wade – haben außergewöhnliche Arbeit geleistet, weil sie alle wichtigen Stufenmodelle miteinander verglichen und einander gegenübergestellt haben und dabei starke Übereinstimmungen feststellen konnten. Jedes Modell betrachtet vielleicht einen anderen Teil des Berges (eines schaut z. B. auf Bedürfnisse, das andere auf die Kognition), aber es ist der gleiche Berg. Diese Forscher geben den Stufen 13vielleicht unterschiedliche Namen oder unterteilen und gruppieren sie anders. Aber das zugrunde liegende Phänomen ist das gleiche, so wie die Maßeinheiten Celsius und Fahrenheit darstellen, dass es einen Punkt gibt, wo Wasser gefriert, und einen anderen, bei dem es kocht. Diese Entwicklungsperspektive konnte durch starke Evidenz aus großen Datenmengen gestützt werden. Wissenschaftler wie Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter, Bill Tolbert und Robert Kegan haben diese Stufentheorie mit vielen Tausend Menschen in verschiedenen Kulturen getestet, unter anderem in Organisationen und Unternehmen.

Philosophen, Mystiker aus vielen Weisheitstraditionen, Psychologen und Neurowissenschaftler haben sich alle dieser zutiefst faszinierenden Frage gewidmet: Wie hat sich die Menschheit von den frühesten Formen des menschlichen Bewusstseins zum komplexen Bewusstsein der modernen Zeit entwickelt?

Jede Bewegung in eine neue Bewusstseinsstufe hat eine völlig neue Ära der Menschheitsgeschichte eingeläutet. An jedem Wendepunkt veränderte sich alles: die Gesellschaft (entwickelte sich von Familiengruppen zu Stämmen zu Imperien zu Nationalstaaten); die Ökonomie (von Jägern und Sammlern zu Gartenbau, Landwirtschaft und Industrialisierung); die Machtstrukturen; die Rolle der Religion. Aber ein Aspekt hat bisher noch nicht viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Mit jeder neuen Stufe des menschlichen Bewusstseins ging auch ein Durchbruch in unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit einher, was zu einem neuen Organisationsmodell führte. Die Organisationen, die wir heute kennen, sind der Ausdruck unserer gegenwärtigen Weltsicht, unserer momentanen Entwicklungsstufe. Es gab zuvor andere Modelle und alles deutet darauf hin, dass es weitere geben wird.

Wie sehen nun die Organisationsmodelle in der Vergangenheit und Gegenwart der Menschheitsgeschichte aus – und wie könnte das nächste Modell beschaffen sein? In diesem Abschnitt nehme ich Sie mit auf eine kurze Reise durch die wichtigsten Stufen der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und den damit einhergehenden Organisationsmodellen. Meine eigene Beschreibung der Stufen geht auf viele Forscher, vor allem auf die Metaanalysen von Wade und Wilber zurück. Wobei ich kurz verschiedene Facetten jeder Stufe erwähne – die Weltsicht, die Bedürfnisse, die kognitive Entwicklung und die moralische Entwicklung. Ich bezeichne jede Stufe und das damit verbundene Organisationsmodell mit zwei erklärenden Begriffen und einer Farbe. Die Bezeichnung der Stufen ist immer schwierig, denn ein einziger Begriff wird nie die gesamte komplexe Realität einer Stufe des menschlichen Bewusstseins umfassen können. Ich habe Adjektive gewählt, die am Ehesten diese Stufe wiedergeben, in einigen Fällen habe ich dabei eine Bezeichnung aus schon bestehenden Stufentheorien übernommen, in anderen Fällen habe ich einen Namen gewählt, den ich geprägt habe. In der Integralen Theorie werden die Stufen oft nicht mit einem Namen, sondern mit einer Farbe bezeichnet. Bestimmten Menschen erleichtert diese Farbencodierung die Erinnerung, deshalb bezeichne ich die Stufen in diesem Buch auch mit der korrespondierenden Farbe (um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch hinzufügen, dass diese Benennung nicht folgende Tatsache verdecken sollte: Die Art und Weise, wie ich die Bewusstseinsstufen beschreibe, stammt aus meiner eigenen Synthese der Arbeit verschiedener Autoren, 14sie wird deshalb im Allgemeinen, aber nicht immer in jedem Detail mit der Beschreibung der gleichen Stufen in der Integralen Theorie übereinstimmen).

Das reaktive Paradigma (Infrarot)[1]

Dies ist die früheste Entwicklungsstufe der Menschheit, die etwa die Zeit von 100.000 bis 50.000 v. Chr. umfasst, als wir in kleinen Familiengruppen lebten (in einigen abgelegenen Teilen der Welt gibt es solche Gruppen heute noch, woher unser Wissen über diese Stufe stammt). Diese Gruppen zählen meist nur einige Dutzend Menschen. Über diese Anzahl hinaus fallen diese Gruppen auseinander, denn die Fähigkeit, mit Komplexität in Beziehungen umzugehen, ist auf dieser Stufe sehr begrenzt. Das Ego hat sich noch nicht voll ausgeformt; die Menschen nehmen sich noch nicht als vollkommen verschieden von anderen und der Umwelt wahr (weshalb einige diese Periode romantisieren und es als eine Art Seligkeit vor dem Dualismus sehen, wobei sie die extrem hohe Rate von Gewalt und Mord auf dieser Stufe ignorieren). Die Nahrungssuche ist die Grundlage des Überlebens. Dieses Modell erfordert keine nennenswerte Arbeitsteilung (ausgenommen die Frauen, die Verantwortung für das Gebären und die Pflege der Kinder übernehmen), deshalb gibt es auf dieser Stufe noch kein Organisationsmodell. In der Gruppe gibt es keine Hierarchie – es gibt keinen Ältesten oder Häuptling, der eine Führungsrolle übernimmt.

Heutzutage gibt es nur wenige Gruppen, die aus diesem Paradigma leben. Aber Kinderpsychologen untersuchen neugeborene Babys, was in etwa dieser Stufe entspricht – neugeborene Babys verbinden sich mit der Welt in einer vergleichbaren Form von Bewusstsein, worin das Konzept des Selbst noch nicht vollkommen von der Mutter und der Umgebung verschieden ist.

Das magische Paradigma (Magenta)[2]

Vor etwa 15.000 Jahren und an manchen Orten der Welt vielleicht früher begann sich die Menschheit zu einer Bewusstseinsstufe zu bewegen, die einige Autoren als „magisch“ bezeichnet haben. Diese Stufe korrespondiert mit der Bewegung von kleinen Familiengruppen zu Stämmen mit bis zu wenigen Hunderten Menschen. Psychologisch und kognitiv bedeutet diese Stufe einen großen Schritt in der Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen. Auf dieser Stufe ist das Selbst körperlich und emotional zum größten Teil von anderen differenziert, aber es sieht sich immer noch als das Zentrum des Universums. Ursache und Wirkung können kaum nachvollzogen werden, deshalb ist die Welt voller Geister und Magie: die Wolken bewegen sich, um mir zu folgen; schlechtes Wetter ist die Strafe der Geister für meine bösen Taten. Um diese magische Welt zu besänftigen, suchen die Stämme ihr Heil in rituellem Verhalten und im Vertrauen auf den Stammesältesten oder den Schamanen. Die Menschen leben meist in der Gegenwart, mit einigen Elementen aus der Vergangenheit, aber es gibt kaum Projektionen in die Zukunft. Im kognitiven Bereich gibt es noch keine Abstraktion, keine Klassifizierung und kein Konzept von großen Mengen. Der Tod wird nicht als 15besonders real gesehen und es gibt bezeichnenderweise auch keine Angst vor dem Tod (was die weiterhin starke Gewalt und die vielen Tötungen erklärt). Auf dieser Stufe gibt es noch keine Organisationen. Die Aufgabenteilung ist sehr begrenzt, obwohl die Älteren einen besonderen Status und ein gewisses Maß von Autorität genießen.

Heute wird diese Stufe typischerweise von Kindern im Alter von etwa 24 Monaten erfahren. Sie erlangen die sensorisch-motorische Differenzierung (Wenn ich in meinen Finger beiße, ist es anders, als wenn ich in die Decke beiße) und emotionale Differenzierung (Ich bin nicht meine Mutter, aber in ihrer Gegenwart fühle ich mich auf magische Weise sicher). Mit angemessener Pflege entwickeln sich die meisten Kinder über diese Stufe hinaus.

Das tribale impulsive Paradigma (Rot)[3]

Historisch gesehen war der Übergang zum tribalen impulsiven Paradigma ein weiterer großer Schritt für die Menschheit. Es brachte vor ungefähr 10.000 Jahren die ersten Stammesfürstentümer und anfänglichen Imperien hervor. Hier entstand auch die erste Form von Organisation (die ich im Weiteren als tribale Organisationen bezeichnen werde).

Das Ego ist nun vollkommen ausgebildet und die Menschen haben ein Selbstgefühl, das völlig getrennt von anderen und der Welt ist. Anfangs ist diese Erkenntnis furchterregend: zum ersten Mal wird der Tod in einer neuen Weise real. Wenn ich nur ein kleiner Teil bin, der getrennt vom Ganzen ist, dann könnte ich leiden und sterben. Auf dieser Stufe wird die Welt als ein gefährlicher Ort gesehen, wo die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse davon abhängt, dass man stark und widerstandsfähig ist. Die Währung in dieser Welt ist Macht. Wenn ich mächtiger bin als du, dann kann ich einfordern, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden; wenn du mächtiger bist als ich, dann ordne ich mich unter und hoffe, dass du für mich sorgst. Das emotionale Spektrum ist hier immer noch recht primitiv und die Menschen drücken ihre Bedürfnisse oft durch Wutanfälle und Gewalt aus. Zum großen Teil ist man sich der Gefühle anderer Menschen nicht bewusst. Die Aufmerksamkeit gilt weiterhin vor allem der Gegenwart – Ich will es und ich will es jetzt –, aber diese Impulsivität kann sich etwas in die Zukunft erstrecken, wobei einfache Strategien angewandt werden, die sich auf Macht, Manipulation und Unterordnung stützen. Einfache kausale Beziehungen, wie Belohnung und Strafe, werden verstanden. Das Denken wird von polaren Gegensätzen bestimmt, was ein Schwarz-Weiß-Denken hervorruft – zum Beispiel stark/schwach, mein Weg/dein Weg.

Mit der Differenzierung des Egos wird auch eine Rollenverteilung möglich – mit anderen Worten, eine sinnvolle Arbeitsteilung. Es gibt einen Anführer und einfache Krieger. Hier beginnt in großem Ausmaß die Sklaverei, weil nun Aufgaben aufgeteilt werden können, sodass sie an Feinde aus benachbarten Stämmen übergeben werden, die besiegt und gefangen genommen wurden. In der Geschichte hat dies zur Bildung von Stammesfürstentümern geführt, in denen nicht Hunderte, sondern Tausende oder Zehntausende Menschen regiert 16wurden. Das Verhalten der tribalen Stufe finden wir immer noch in Erwachsenen in vielen Stammesgesellschaften der heutigen Zeit und in unterprivilegierten Bereichen entwickelter Länder, wenn die Umstände den Kindern nicht die angemessene Erziehung ermöglichen, um sich über diese Stufe hinaus zu entwickeln. Jedes Paradigma hat auch seine gute Seite, einen Kontext, in dem es angemessen ist. Das tribale Paradigma ist sehr passend für eine feindliche Umgebung: Schlachtfelder, Bürgerkriege, „gescheiterte Staaten“ (Failed States), Gefängnisse oder gewalttätige Gegenden in Großstädten.

Tribale Organisationen

Organisationen, die nach der tribalen impulsiven Bewusstseinsstufe gebildet wurden, erschienen als Erstes in der Form kleiner Eroberungsarmeen, als die mächtigen Stammesfürstentümer zu anfänglichen Imperien anwuchsen. Auch heute findet man sie noch in der Form von Straßengangs und Mafiaclans. Die gegenwärtigen tribalen Organisationen leihen sich technische Mittel und Ideen von der Moderne – wie zum Beispiel die Waffen und die Informationstechnologie, die im organisierten Verbrechen genutzt werden. Aber sowohl ihre Strategien als auch ihre Praktiken folgen zum großen Teil dem tribalen Paradigma.

Was sind die definierenden Merkmale tribaler Organisationen? Ihr Zusammenhalt wird durch die ständige Machtausübung in den interpersonellen Beziehungen gewährleistet. Wolfsrudel geben hier ein gutes Gleichnis: So wie der Alphawolf seine Macht wenn nötig ausübt, um seinen Status im Rudel zu erhalten,[4]Ich will es, deshalb nehme ich es mir