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Bis jetzt hatte sie noch keiner bemerkt. Langsam und lautlos ging sie mit kleinen Schritten auf dem schmalen Läufer vom Eingangsbereich in die Schalterhalle.
Ihre Schritte waren entschlossen.
Ihr Blick ausdruckslos.
Die Wunden und das eingetrocknete Blut auf ihrem zierlichen nackten Körper spürte sie nicht mehr. Nur ihr Herz pochte schmerzhaft. Sie spürte jeden einzelnen Schlag. 1–2 … 3–4–5 … 6 … Die Herzschläge waren zu schnell und zu unregelmäßig, um sie zählen zu können. Sie presste ihren Teddy, so fest sie konnte, an ihre Brust. Dadurch spürte sie das Schlagen nicht mehr so stark.
Das Neonlicht von den Röhren an der Decke war grell im Vergleich zum matten blassgrauen Tageslicht draußen. Sie blinzelte. Nur noch ein paar Schritte.
Rechts … links … rechts …
In der Mitte der Schalterhalle blieb sie stehen. Ohne den Kopf zu bewegen, schaute sie sich um. Richtete ihren Blick auf die hohen Tresen, die Computer und die Bankangestellten in ihren Anzügen. Dann hielt sie einen kurzen Moment inne, bevor sie den kleinen Kassettenrekorder behutsam auf den Steinboden stellte. Nachdem sie vorsichtig die Play-Taste gedrückt hatte, richtete sie sich wieder auf.
Eine dunkle Männerstimme hallte durch den Raum:
»Ich heiße Olivia und bin sieben Jahre alt. Hören Sie mir gut zu und tun Sie genau, was ich Ihnen sage …«
Meine Augen waren trocken geworden. Ich hatte starr vor mich hin geblickt. Wie es vorkommt, wenn sich die Gedanken verselbstständigen. Ich blinzelte zweimal, um den Blick von den spiegelverkehrten Druckbuchstaben auf der Glastür des Konferenzraums abzuwenden.
DGV, Dezernat für Gewaltverbrechen.
Obwohl die Aufschrift erst vor zwei Monaten erneuert worden war, waren die Buchstaben bereits zerkratzt. Darüber prangte das blau-gelbe Polizeiwappen. Für die Kollegen beinhaltete es ein Gefühl von Zugehörigkeit, Gemeinschaft.
Für mich nicht.
Für mich bedeutete es Eingeschlossensein.
Innerhalb der Mauern der Behörde fühlte ich mich niemals frei.
Nach all den Dienstjahren als Polizistin konnte ich mich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen, eine von ihnen zu sein. Eine von vielen. Dennoch spielte die Arbeit eine wichtige Rolle in meinem Leben. Allerdings in einer Weise, von der bislang keiner etwas ahnte.
Ich war inzwischen vierunddreißig Jahre alt, und ich hätte es wohl kaum noch länger ausgehalten, wenn ich nicht gewusst hätte, dass mit dem Doppelleben, das ich führte, bald Schluss sein würde.
Anette, die Sekretärin des Dezernats, schaute von der anderen Seite des Konferenztisches herüber. Sie lächelte. Ich zog die Mundwinkel hoch. Inzwischen war es zu einem reinen Reflex geworden. Doch das war nicht immer so gewesen. Nicht, bevor ich mit ungefähr fünfzehn begriff, dass mein Lächeln mir Vorteile verschaffte. Indem ich andere beobachtete, hatte ich gelernt, mich den Erwartungen der anderen anzupassen. Ich nickte Anette zu, die auf ihre Armbanduhr zeigte und den Kopf schüttelte, weil wir alle hier sitzen und warten mussten. Wie gewöhnlich würden die neuen Fälle, die sich am Wochenende angesammelt hatten, auf die Kollegen verteilt werden. Alle unterhielten sich. Lachten. Einige beklagten sich über die hohe Arbeitsbelastung und meinten, dass sie im Moment definitiv nicht noch mehr Ermittlungen bewältigen könnten. Ich saß da und schwieg. Versuchte nicht den Konferenztisch anzustarren, doch es fiel mir schwer. Ich sah die hässlichen Ritzen, die entstanden waren, als jemand versucht hatte, die zwölf kleinen Tische zu einem großen zusammenzuschieben. Der Höhenunterschied von mehreren Millimetern stach ins Auge. An einigen Stellen überragte eine Tischplatte die angrenzenden um mindestens vier Millimeter. Sehr störend. Die Kollegen beschwerten sich darüber, dass im Raum Sauerstoffmangel herrschte, ohne auch nur im Geringsten die Unregelmäßigkeiten und Höhenunterschiede in der Tischformation zu bemerken.
Aber ich sagte nichts.
Es war besser so.
Diese Art von Gedanken hatte ich gelernt für mich zu behalten. Ein ziemlich großer Anteil meiner Energie ging dafür drauf, die Dinge zu unterdrücken, die meine Person eigentlich ausmachten.
Ich schaute durch die Fenster an der Längsseite des Raums. Trotz der grauweißen Wolkendecke am Himmel und der Regentropfen, die sachte an den Scheiben hinunterrannen, kam mir das Leben draußen wie eine Verlockung vor. Wie schon so viele Male zuvor widerstand ich dem Impuls, einfach aufzustehen und alles hinter mir zu lassen.
Ich blieb sitzen.
Endlich um 11.47 Uhr öffnete sich die Tür. Unser Abteilungsleiter Claes Zetterlund trat ein. Er fuhr sich mit der Hand durch den dunkelblonden Pony und schüttelte sein nasses Jackett mit einem hektischen Ruck aus, bevor er es über die nächste Stuhllehne warf. Die Kollegen verstummten. Ohne ein Wort öffnete er seinen schwarzen Rucksack und zog einen Aktenordner hervor. Legte ihn auf den Tisch und holte Luft, um zu reden. Doch ich kam ihm zuvor.
»Sorry, dass ich zu spät komme?«
Er hatte mehrere Sekunden Zeit gehabt, um sich zu entschuldigen. Man hätte erwarten können, dass er zumindest irgendeine Notlüge vor sich hin murmeln würde, als er die Tür öffnete. Das gehörte zum guten Ton. So viel hatte ich von den sozialen Spielchen des Alltags begriffen. Doch als er nichts dergleichen tat, war mir klar, dass die Entschuldigung ausbleiben würde. Seine erstaunte Reaktion auf meinen Kommentar bestätigte meine Schlussfolgerung. Er kam aus dem Konzept. Hielt die Luft an, schob die Augenbrauen zusammen und ließ seinen Blick schweifen, um auszumachen, wer die Frechheit besessen hatte, einen derartigen Kommentar abzugeben. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die friedliche, entspannte Atmosphäre im Raum in genau die gereizte und unberechenbare Stimmung verwandelt, die Claes’ launischem Temperament entsprach. Im Augenwinkel registrierte ich Anettes flackernden Blick. Alle schwiegen. Warteten auf Claes’ Reaktion. Sein bohrender Blick richtete sich auf mich.
»Was zum Teufel soll das, Leona? Ich habe einen katastrophalen Vormittag hinter mir. Der Mord vom letzten Freitag, eine neue Vergewaltigung im Tantolund-Park, zwei neue Fälle schwerer Misshandlung von Abtrünnigen einer kriminellen Organisation auf dem Sveaväg, eine Brandstiftung auf Lidingö und ein neuer Raubüberfall, wegen dem mich scharenweise Journalisten terrorisieren. Ich hab absolut keinen Bock darauf, mir auch noch hier drinnen so eine Scheiße anhören zu müssen. Jedenfalls nicht von meinen Untergebenen. Ist das klar?«
Ich schwieg. Ich hatte meine Einstellung deutlich gemacht. Claes wandte sich wieder den anderen zu. Kein Laut war zu hören. Selbst ein Kollege mit einer höheren Position als der des Abteilungsleiters hätte nach diesem Ausbruch wahrscheinlich den Mund gehalten. Claes verlor wirklich schnell die Fassung.
»Wir beginnen mit dem Raub!«
Er sprach noch immer ziemlich laut. Es schien ihm schwerzufallen, sich wieder zu beruhigen.
»Also, Östermalmstorg, Nybrogatan 39.«
Ich sah, dass die Akte recht dünn war. Es war also noch nicht viel zusammengekommen. Maximal eine Anzeige und ein paar Zeugenvernehmungen.
Aus seiner Hosentasche ertönte »Thunderstruck« von AC/DC. Er zog sein Handy hervor.
»Gewaltverbrechen, Claes Zetterlund.«
Innerhalb anderer Berufsgruppen mochte es vielleicht als unhöflich gelten, mitten in einem Meeting ans Handy zu gehen. Doch bei uns wurde man vorwurfsvoll angeschaut, wenn man nicht ranging. Schließlich konnte die Menschheit in Gefahr sein.
Claes telefonierte immer laut. Machte sozusagen einen Staatsakt daraus.
»Dazu kann ich noch nichts sagen. Wir haben noch zu wenig Informa… Noch nicht … Nein, ich sagte doch … Verdammt noch mal, warten Sie einfach, bis …«
Er warf das Handy auf den Tisch.
»Verflucht. Diese Journalisten sind wie die Hyänen. Also, wer kann den Raub in Östermalm übernehmen?«
Er schaute sich im Raum um. Keiner reagierte. Wie immer. Alle schienen mit ihren laufenden Ermittlungen vollauf beschäftigt zu sein. Außerdem wollte keiner einfach irgendeinen Mist übernehmen. Dass die Chefs uns überhaupt fragten, statt die Fälle einfach irgendwem auf den Tisch zu knallen, war eine bewusste Vorgehensweise der Polizeibehörde. Man wollte den Schein wahren, dass wir Ermittler Einfluss nehmen konnten auf unsere Arbeitssituation. Aber alle wussten, dass es damit nicht weit her war. Wenn sich keiner bereit erklärte, würde Claes die Person auswählen, die er für die geeignetste hielt.
Claes, der längst wusste, dass wir uns um gewisse Ermittlungen drückten, hatte sich angewöhnt, die näheren Umstände des Verbrechens so knapp wie möglich zu umreißen, bevor er den Fall vergab.
Deswegen herrschte Argwohn.
Meistens zu Recht.
Vor allem bei Fällen mit großem Medieninteresse. Solange man nicht wusste, worum es bei dem Verbrechen ging, schwieg man. Ein Raub im Stadtteil Östermalm konnte alles Mögliche bedeuten. Vom kleinen Diebstahl bis zum Menschenraub. Vielleicht war irgendein VIP mit einer Waffe bedroht worden, und man hatte ihm das iPhone, iPad, den iPod oder sonst etwas mit i gestohlen, woraufhin er sich in diversen Zeitungen, Blogs, auf Twitter und auf Facebook ausweinen und völlig überzogene Schadensersatzforderungen stellen würde. Einen solchen Fall wünschte sich keiner. Schon gar nicht unmittelbar nach den Sommerferien, wo alle Hunderte von E-Mails durchgehen mussten, die hereingekommen waren, während sie im Urlaub waren.
Ich amüsierte mich über die Stille. Es war erstaunlich, dass alle steif und fest behaupteten, völlig ausgelastet zu sein, obwohl sie nachmittags lange Kaffeepausen einlegten.
Sich bereit zu erklären, in unangenehmen Fällen zu ermitteln, die andere mieden, gab Pluspunkte. Raubüberfälle auf Privatpersonen fielen normalerweise nicht in die spannendste Kategorie. Als Verbrechen mit hohem Status galten eher Mord, Geiselnahme, Bankraub, Überfälle auf Geldtransporter, Vergewaltigungen und andere Gewaltverbrechen, bei denen das Opfer schwer verletzt wurde. Den meisten Ermittlern war es lästig, die Medien im Nacken sitzen zu haben. Großes Medieninteresse an einem Raub deutete allerdings darauf hin, dass er spektakulär war, was mich in ganz besonderer Weise interessierte. In ein paar Sekunden würde ich mich bereit erklären.
Aber jetzt noch nicht.
Claes sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen im Raum um.
»Keiner?«
Die Kollegen begannen sich zu winden. Sie schauten vor sich auf die Tischplatte. Hoch zur Zimmerdecke. Überall dorthin, wo sie wussten, dass sie Claes’ Blick nicht begegnen würden. Denn alle waren sich im Klaren darüber, dass Claes den Fall jeden Moment einer Person seiner Wahl übergeben würde. Wenn man seinem Blick auswich, schien das Risiko geringer, dranzukommen. Das Schauspiel, das gerade aufgeführt wurde, entlockte mir ein Lächeln. Claes hatte mein Lächeln offenbar bemerkt und fixierte mich mit seinem Blick.
Ich räusperte mich.
Es war an der Zeit.
»Okay, Claes, ich übernehme ihn.«
Um zu signalisieren, dass ich es ernst meinte, streckte ich meinen Rücken. Er nickte kurz. Anette, die immer wieder darauf hinwies, dass die Fälle unter den Ermittlern der Abteilung gleichmäßiger verteilt werden sollten, schaute abwechselnd mich und Claes an.
»Leona, schaffst du das? Du hast noch den Mord in Humlegården und die Raubüberfälle aus der vergangenen Woche.«
Anette hatte recht. Der Mord im Humlegård-Park würde noch eine Menge Arbeit machen. Auch so ein Fall, vor dem sich die anderen in der Abteilung gedrückt hatten. Claes warf ihr einen kurzen Blick zu. Dann ließ er die Akte über den Konferenztisch gleiten. Wären die Tischplatten nicht unterschiedlich hoch gewesen, wäre sie vermutlich bis zu mir gerutscht. Aber jetzt wurde sie auf halbem Wege ausgebremst.
Ich verkniff mir einen Kommentar.
Beherrschte mich.
Ein Kollege griff nach der Akte. Mit Erleichterung im Blick reichte er sie mir. Claes schaute mich an.
»Ein sehr ungewöhnlicher Fall, Leona. Da kannst du zeigen, was in dir steckt. Alle mal herhören!«
Eine unnötige Aufforderung. Denn im Raum war es bereits still.
»Heute Morgen um 10.37 Uhr betrat ein vermutlich siebenjähriges Mädchen die SEB in der Nybrogatan. Das ist eine von den Bankfilialen, die noch Bargeld bereithalten. Irgendwie gelang es dem Kind, fünf Bankangestellte dazu zu bringen, ihm diverse Bündel Scheine in Plastikverpackungen auszuhändigen. Keiner der acht Kunden, die sich in der Filiale aufhielten, griff ein. Das Mädchen verließ daraufhin die Bank mit dem gesamten Geld und verschwand.«
Claes ließ seine Worte wirken. Das hier war in der Tat kein gewöhnlicher Fall. Und definitiv nicht »irgendein Mist«.
»Aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein kleines Mädchen handelt, womit der Fall großes Medieninteresse erregt, ist die Chefetage in heller Aufregung. Der Fall hat höchste Priorität erhalten«, erklärte Claes und sah mich an.
»Du willst also sagen, dass die SEB von einer Siebenjährigen ausgeraubt wurde? Hatte sie eine Bazooka bei sich?«
Vielleicht hätte ich besser meinen Mund gehalten, aber die geschilderte Situation schien mir einer gewissen Komik nicht zu entbehren.
»Wenn du vielleicht mal die Klappe halten und mich zu Ende reden lassen würdest, Leona.«
Claes’ Vokabular und seine Art, sofort laut zu werden, hatten mich schon immer gestört. In seinem Inneren schien ein unablässiger Sturm von Gefühlen zu wüten.
Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte.
»Von Waffen war nicht die Rede. Das Mädchen hatte einen Kassettenrekorder bei sich und spielte eine Mitteilung ab. Wie diese Mitteilung genau lautete, wissen wir noch nicht. Die Bankangestellten werden noch vernommen. Laut Zeugenaussagen ist das Mädchen ungefähr sieben Jahre alt. Es trug keine Kleidung und soll außerdem blutverschmiert gewesen sein. Bis jetzt haben wir noch keine Spur. Das Kind scheint sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.«
Durch den Raum ging ein Raunen. Ein kleines Mädchen, das erfolgreich einen Bankraub ausgeführt hatte.
Nackt.
Und blutverschmiert.
Dergleichen hatte man in der Abteilung noch nicht erlebt. Die meisten Kollegen hatten zwar im Laufe der Jahre so einige außergewöhnliche Fälle bearbeitet, aber selbst einige der älteren Ermittler wirkten erschrocken. Ich schaute Claes an.
»Ein nacktes Mädchen auf den Straßen von Stockholm. Das wird sich kaum in Luft aufgelöst haben. Irgendjemand muss es doch gesehen haben. Sind wir schon mit Hunden da gewesen?«
Claes weigerte sich, meinen Blick zu erwidern. Tat so, als käme die Frage von der Decke weiter hinten im Raum, während er antwortete.
»Die Hunde waren offenbar verwirrt und konnten keine Spur aufnehmen. Das Mädchen lief laut Zeugenaussagen auf der Nybrogatan in Richtung Norden davon. Danach war es wie vom Erdboden verschluckt.«
»Irgendwer wird sie in der Nähe mit dem Auto abgeholt haben. Oder vielleicht ist sie in einem Hauseingang verschwunden. Was haben wir diesbezüglich?«, fragte ich.
»Alle Autos in der Umgebung werden angehalten. Bislang ohne Ergebnis. Die Befragung der Anwohner läuft. Wir werden sehen, was sie bringt.«
Er schaute in seine Unterlagen.
»Noch leiten wir die Ermittlungen, aber im Hinblick auf die ungewöhnlichen Umstände und das zu erwartende Medieninteresse wird sehr bald die Staatsanwaltschaft übernehmen.«
Das hatte ich kommen sehen. Ein polizeiliches Ermittlungsverfahren war normalerweise unkomplizierter, zumal sich die Entscheidungsträger leicht erreichbar im Polizeipräsidium befanden und nicht bei der Staatsanwaltschaft City, die ein Stück weiter entfernt lag, hauptsächlich aber, weil die polizeilichen Ermittlungsleiter mehr auf Draht waren und offensiver agierten, wenn die Lage es erforderte. Polizisten waren eher dazu bereit, gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Die Staatsanwaltschaft war da zurückhaltender. Mit dem Blick ausschließlich auf ein Gerichtsverfahren gerichtet, war sie nur an hieb- und stichfesten Ergebnissen interessiert, die erwartungsgemäß zu einer Verurteilung führten. In diesem Fall sah ich es allerdings als Vorteil an, mit einem Staatsanwalt zusammenarbeiten zu können. Viele Staatsanwälte verhielten sich verhältnismäßig passiv, was mir entgegenkam, da ich hoffte, die Ermittlungen nach meinen Vorstellungen leiten zu können, ohne über jedes kleinste Detail Rechenschaft ablegen zu müssen. Doch es war entscheidend, welcher Staatsanwalt den Fall bekam. Er legte für gewöhnlich die grobe Richtung fest, wie die Ermittlungen laufen sollten. Einmal hatte ich mich geweigert, einen Fall zu übernehmen, weil ich nicht mit dem Staatsanwalt konnte. Er mischte sich ständig in meine Arbeit ein. Es war nicht zum Aushalten gewesen. Ich brauchte meine Unabhängigkeit.
»Ich habe eine Arbeitsgruppe für dich zusammengestellt und ein Meeting für 15 Uhr anberaumt, damit du allen Beteiligten einen Überblick über den Fall geben kannst. Bis dahin wird höchstwahrscheinlich auch der zuständige Staatsanwalt feststehen.«
Er schaute mich an, als wollte er meine Reaktion testen. Denn er wusste, dass ich nicht mit jedem x-beliebigen zusammenarbeiten würde. Ich nickte kurz.
»Wie viel Geld haben sie denn erbeutet?«
Fredriks Frage kam nicht unerwartet. Er war immer interessiert an aufsehenerregenden Verbrechen. Er hatte »sie« gesagt. Natürlich ging er davon aus, dass außer dem Mädchen noch andere Personen hinter dem Raub standen. Sonst wäre der Fall wohl nicht beim DGV gelandet, sondern im Dezernat für Jugendkriminalität. Doch Tatsache war nun mal, dass ein siebenjähriges Mädchen den Raub ausgeführt hatte.
»Du meinst, wie viel hat sie erbeutet, die kleine Siebenjährige«, sagte ich lächelnd.
Claes ließ mit einem lauten Knall einen Aktenordner auf den Tisch fallen. Er schien genug zu haben von meinen vorlauten Einwänden.
»Vielleicht sollte ich dir lieber nicht die Verantwortung für einen so wichtigen Fall übertragen, Leona. Du kannst offenbar nicht damit umgehen.«
Ich konnte mich nicht mehr länger zurückhalten.
»Und mit dem Mord in Humlegården etwa auch nicht? Oder mit dem Raub von letzter Woche? Den könntest du dann ja auch gleich jemand anderem übertragen, wenn du plötzlich an meiner Fähigkeit zweifelst und meinst, dass irgendwer hier im Raum besser für den Fall geeignet ist!«
Wenn er Streit suchte, bitte sehr. Er starrte mich an. Ein Anflug von Zweifel befiel mich. War ich zu weit gegangen? Ich hatte immerhin angedeutet, dass ich mich für eine bessere Ermittlerin hielt als meine Kollegen. Darauf stand nahezu die Todesstrafe. Denn in der Abteilung waren alle gleichgestellt. Keiner durfte sich von den anderen abheben, sofern man nicht eine Chefposition innehatte.
Es war totenstill geworden. Claes stand über den Konferenztisch gebeugt, auf dem er sich mit beiden Händen abstützte. Er fixierte mich mit weit aufgerissenen Augen.
»Du kannst gehen!«, rief er.
Ich starrte ihn an. Versuchte fieberhaft seinen Blick zu deuten. Meinte er es etwa ernst? Er hob eine Hand. Wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Tür. Ich rührte mich nicht.
»Bist du schwer von Begriff, Leona? Verschwinde!«
»Aber Claes, du kannst sie doch nicht …«
Claes hob abwehrend die Hand in Anettes Richtung, die versucht hatte, mir beizustehen. Ohne mich aus den Augen zu lassen, wies er weiterhin auf die Tür. Alle saßen wie versteinert da. Ich sammelte die Anzeige und die übrigen Unterlagen zusammen. Stand abrupt auf, sodass mein Stuhl mit einem lauten Quietschen nach hinten rutschte und gegen die Wand knallte. Nachdem ich mit der freien Hand meinen Pulli glatt gestrichen hatte, ging ich mit festen Schritten um den Tisch herum in Claes’ Richtung. Als ich hinter seinem Rücken den Ausgang ansteuerte, stand er noch immer mit ausgestrecktem Arm da. Ich verließ den Raum und knallte die Tür hinter mir zu.
Olivia hatte angefangen zu zittern. Sie versuchte es zu verhindern, aber es ging nicht. Der Regen machte alles nass und ließ ihren Körper auskühlen. Außerdem juckte es überall. Das Wasser lief ihr über das Gesicht. Wenn sie es aus den Augen wischte, brannte es so stark, dass ihr die Tränen kamen.
Den Rucksack hatte sie in der Bankfiliale kaum vom Fußboden hochheben können. Nachdem sie ihn sich dann auf den Rücken gehievt hatte, ging es einigermaßen. Aber danach, als sie ihn wieder absetzen wollte, war es passiert. Sie hatte das Gleichgewicht verloren und war der Länge nach auf den Asphalt gestürzt. Die Wunde am Knie blutete und brannte immer stärker. Auch der Rucksack war ganz nass und schmutzig. Sie betete zu Gott, dass nichts kaputtgegangen war, denn dann würde Papa ziemlich böse werden.
Nichts war so gekommen, wie Papa es gesagt hatte. Er musste es vergessen haben. Vergessen, ihr zu erzählen, dass es so … schrecklich werden würde.
Das schwarze Regencape klebte an ihrem Körper und legte sich wie eine Eisschicht auf ihre Haut.
Außerdem roch es überall so unangenehm. Und dann hörte sie die ganze Zeit über merkwürdige Geräusche. Viele aufgeregte Stimmen. Sirenen, die laut heulten. Sie taten ihr in den Ohren weh, obwohl sie sie sich zuhielt. Auch Hunde hatte sie gehört. Eigentlich mochte sie Hunde, aber diese bellten entsetzlich. Jetzt waren endlich alle Geräusche verstummt.
Sie summte leise vor sich hin, obwohl Papa es ihr verboten hatte. Aber so verging die Zeit schneller. Es war ein Lied, das Mama ihr immer vorgesungen hatte. Sie konnte ihre weiche Stimme hören, wenn sie an sie dachte. Wenn doch nur ihre Mama hier wäre.
Was hatte Papa sich nur dabei gedacht, sie ohne Kleidung nach draußen zu schicken? Mama hätte so etwas nie zugelassen. Wenn sie Mama doch nur gleich gesagt hätte, dass sie sich eigentlich nicht traute, allein mit Papa wegzufahren, aber sie war so froh darüber gewesen, dass er ausgerechnet sie für die gemeinsame Fahrt ausgewählt hatte. Als sie erfuhr, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Schiff fahren würde, war sie vor Freude um den Küchentisch herumgetanzt. Es hatte am ganzen Körper gekribbelt. Auch wenn sie ein wenig Angst vor der weiten Fahrt hatte, verspürte sie doch große Sehnsucht nach ihrem Papa. Außerdem hatte er ihr versprochen, dass sie Oma besuchen würden.
Der erste Tag ihrer Reise war lustig gewesen. Das Schiff, mit dem sie fuhren, war das größte, das sie je gesehen hatte. Es war größer als ihr Haus und hatte sogar Platz für Geschäfte. In einem dieser Geschäfte hatte sie sich Süßigkeiten aussuchen dürfen. Dann hatten sie noch ein weiteres Geschäft aufgesucht. Dort hatte Papa ihr einen Stoffteddy und ein Armband mit weißen Schneekristallen drauf gekauft. Papa war so lieb zu ihr gewesen. Sie durfte bis halb elf Uhr aufbleiben, und das Bett, in das sie dann kroch, befand sich über dem, in dem Papa schlief. Auf dem Schiff zu schlafen war gar nicht so schlimm, wie ihre Schwester es ihr prophezeit hatte. Ihre Schwester hatte gemeint, die Wellen wären so hoch, dass man nachts aus dem Bett fiel. Stattdessen hatte es nur ein klein wenig geschaukelt, wie in einer Wiege.
Erst als sie an Land gingen, begann all das Schreckliche. Plötzlich war Papa ganz böse. Aber nicht immer, mal war er nett und dann wieder böse. Den Teddy, den sie auf dem Schiff geschenkt bekommen hatte, wollte sie jede Nacht mit ins Bett nehmen. Aber schon nach der ersten Nacht hatte er ihn ihr weggenommen. Er hatte gesagt, dass er krank geworden wäre und er ihn mit einem Mittel einsprühen müsste, damit er wieder gesund würde. Das glaubte sie nicht. Teddys können doch gar nicht krank werden! Manchmal fragte sie sich, ob nicht eher Papa krank war, aber sie spielte sicherheitshalber mit, damit Papa nicht böse wurde. Er verhielt sich immer so merkwürdig, wenn er böse war. Dann schrie er und fuchtelte wild mit den Armen.
Früher hatte er ihre Schwester und sogar Mama geschlagen. Doch das war lange her. Es war, bevor sie von Papa wegzogen. Olivia hatte er nie geschlagen. Denn sie war immer lieb. Er sagte immer, dass er nur zu den Bösen böse sei. Olivia bemühte sich, immer lieb zu sein, doch manchmal fiel es ihr schwer, da sie nicht immer wusste, was er von ihr wollte. Dann meinte er, sie wäre schwer von Begriff. Deshalb musste sie immer blitzschnell denken.
Manchmal behauptete Papa, sie hätte sich dumm angestellt, ohne dass sie wusste, warum. Wie heute. Vielleicht war sie wirklich dumm, aber er hatte sie auch gezwungen, sehr schwierige Dinge zu tun. Das mit dem Rucksack war am schwierigsten, weil er so viel wog. Und außerdem war es so kalt. Aber Papa würde sie abholen, wenn es dunkel geworden wäre. Sie sehnte sich danach, dass er käme, denn dann würde er bestimmt wieder nett zu ihr sein.
Sie hockte sich hin. Es war anstrengend, so lange zu stehen, aber sie konnte sich nicht richtig setzen, da es überall so nass war. Und außerdem krabbelten auf dem Boden ekelhafte Käfer herum. Nicht die kleinen roten mit den schwarzen Punkten, die sich auf den Blumen in Omas Sommerhaus niederließen. Diese hier waren viel größer und hatten lange Fühler. Sie waren überhaupt nicht niedlich. Außerdem klang es merkwürdig, wenn sie sich bewegten. Es raschelte so komisch. Sie konnten auch Wände hinaufkrabbeln. Einer war auf ihr Bein gesprungen, aber sie hatte ihn sofort weggeschnipst, sodass er auf dem Rücken landete. Da lag er nun und zappelte. Zwei andere Käfer fraßen etwas vom Boden.
Olivia hatte auch Hunger. Papa hatte ihr zum Frühstück nur ein Butterbrot und eine Banane gegeben. Mehr durfte sie nicht essen, und sie durfte auch nichts trinken, damit sie auf keinen Fall pinkeln musste, hatte er gesagt. Den Geschmack der Banane hatte sie noch im Mund. Süß und weich. Wie gerne hätte sie jetzt noch eine gegessen.
Draußen ergriff mich ein flüchtiges Gefühl von Freiheit, als ich mit raschen Schritten durch den Korridor lief. Ich streckte meinen Körper, dann löste ich das Haargummi und schüttelte den Kopf, bis mir die Haare über die Schultern fielen. Dass Claes mich während des Meetings rausgeschmissen hatte, störte mich nicht.
Im Gegenteil.
Ich lächelte.
Lächelte angesichts der Tatsache, dass ich nicht bis zum Ende dort sitzen musste. Außerdem wollte ich so schnell wie möglich den Tatort aufsuchen. Ich hielt meinen Dienstausweis vor den Scanner neben der Glastür und gab den Code ein, um in den nächsten Korridor und zu meinem Zimmer zu gelangen.
Nach zwei Schritten im Korridor sah ich es. Das Bild. Es hing schief. Nicht extrem, aber schief genug, um mich auf meinem wohltuenden Spaziergang vom Meeting in mein Zimmer zu stören. Ich ergriff eine Ecke der gerahmten Lithografie und rückte sie ein paar Millimeter zur Seite. Trat dann zurück, bis ich mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand des Korridors stand, und bewunderte mein Werk. Was die Lithografie zeigte, war mir ziemlich egal, aber jetzt bildete sie zumindest eine harmonische Verbindung mit ihrer Umgebung.
Ich atmete aus.
Den gesamten Vormittag über war es ruhig gewesen, doch als ich den Aufzug betrat, wurde ich wieder an die Renovierungsarbeiten erinnert. Die Lagen an Pappe, mit denen das Innere des Fahrstuhls ausgekleidet war, bewirkten, dass er einem enger vorkam, als er eigentlich war. Nicht, dass ich Probleme mit engen Räumen hatte, aber es erinnerte mich an etwas. Ich kam allerdings nicht drauf, an was. Die schmutzige Feuchtigkeit unter den Schuhen der Leute hatte die Pappe auf dem Fußboden aufgeweicht, ein leicht modriger Geruch stieg von der Pappe auf, der mir Übelkeit verursachte. Ich schluckte. Schaute auf, um zu sehen, in welchem Stockwerk wir gerade waren. Den Schmierereien auf der Pappe zufolge hatten so einige Mitarbeiter die Nase voll von den Umbaumaßnahmen, die einfach kein Ende nahmen. Fragen wie »Wann hört das verdammte Bohren auf?« und »Kann man jemanden aufgrund des Einsatzes von ohrenbetäubendem Arbeitsgerät verklagen?« verzierten die Pappe. Als die Türen aufglitten, standen drei Arbeiter im Blaumann vor mir und warteten. Während ich hinausging, beobachtete ich im Augenwinkel, wie sie sich nach mir umdrehten. Ich seufzte. Die Baumaßnahmen würden noch bis zum kommenden Sommer andauern, was bedeutete, dass auch die Arbeiter noch mindestens bis dahin im Haus sein würden. Da aber die Polizeibehörde beschlossen hatte, den Platzmangel zu beheben, indem sie das Polizeipräsidium in Kronoberg ausbaute, damit die gesamte Kripo City unter einem Dach Platz fand, ließ sich die Anwesenheit der Handwerker wohl nicht vermeiden. Ich hatte diese Berufsgruppe nie für besonders umgänglich gehalten, deshalb war ich erstaunt, dass ich ziemlich oft von ihnen angesprochen wurde. Sie interessierten sich ernsthaft für unseren Berufsalltag, wollten alles Mögliche wissen, von Einbrüchen in Sommerhäusern bis hin zu der Frage, wer Palme umgebracht hatte. Sie schienen fast stolz darauf zu sein, mit ihrer Arbeit an der wichtigen Umorganisation der Polizeibehörde beteiligt zu sein. Sie waren bald bestens informiert, in welche verschiedenen Abteilungen das Ermittlungsdezernat untergliedert war, und das Kürzel DGV klang in ihren Ohren »wie eine coole Fernsehserie«, wie einer von ihnen es ausgedrückt hatte …
Ich saß bereits in einer der Zivilstreifen der Polizeibehörde, die ich mittlerweile fast als mein Eigentum betrachtete, und bog in die Kungsgata ein, als mein Diensthandy in der Handtasche zu summen begann. Der Wagen hinter mir fuhr viel zu dicht auf. Aber ich ließ ihn drängeln.
»Gewaltverbrechen, Leona Lindberg«, meldete ich mich.
»Hej Liebling, ich bin’s.«
Diesen säuselnden Tonfall kannte ich. Was hatte er wohl diesmal zu bedeuten?
»Ich habe zu tun, bin unterwegs zu einem Tatort«, sagte ich.
»Nur kurz«, sagte Peter.
Wohl kaum. Kurz ging in unserer Beziehung gar nichts mehr. Jede kleine Meinungsverschiedenheit wuchs sich zu stundenlangen Diskussionen aus.
Allerdings nicht am Stück.
Denn dazu fehlte die Zeit.
Die täglichen Pflichten wie arbeiten, Kinder in die Tagesstätte bringen und wieder abholen, einkaufen, Essen kochen, spielen, Gutenachtgeschichten vorlesen und die Kinder zu Bett bringen sorgten dafür, dass alle übrigen Dinge in den kurzen Zeiträumen dazwischen geschehen mussten. Und so diskutierten wir jede noch so unbedeutende Kleinigkeit im Verlauf einer Woche immer wieder. Peter liebte es, Sachen auszudiskutieren. Ich hingegen fand die meisten dieser Debatten völlig sinnlos.
»Kannst du die Kinder heute Nachmittag von der Kita holen? Bei mir wird’s nämlich etwas eng«, sagte er.
Ich hätte es ahnen müssen. Natürlich wurde es bei ihm ausgerechnet heute eng, wo ich mit dem neuen Fall beschäftigt war. Ich schaute auf die Uhr. Nach meinem Besuch am Tatort würde der Nachmittag mit Meetings und Ermittlungsmaßnahmen ausgefüllt sein.
»Das wird schwierig, Peter. Claes hat mich auf einen schweren Raubüberfall angesetzt. Ich werde es kaum schaffen.«
»Also ich kann beim besten Willen nicht, Leona. Du musst es irgendwie hinkriegen.«
»Peter, es geht nicht. Es handelt sich um einen Banküberfall, in den ein Kind involviert ist.«
»Sind dir deine eigenen Kinder nicht wichtiger?«
Ich war erstaunt, dass Peter immer noch nicht gemerkt hatte, dass es zwecklos war, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen.
»Nur zur Erinnerung, es sind auch deine Kinder, oder? Hol du sie ab!«
»Du weißt doch, wie mein Chef ist. Ich habe null Spielraum hier. Ich würde liebend gern zu Hause bleiben und mich den ganzen Tag um die Kinder kümmern, wenn wir von deinem Gehalt leben könnten, aber davon kann ja nicht mal eine Person leben.«
Da war er also.
Der nächste Seitenhieb.
Peters Kommentare bestätigten, dass unsere Beziehung eine Richtung eingeschlagen hatte, die ich voll und ganz als Versagen meinerseits ansehen musste. Meine Bemühungen, ein funktionierendes Familienleben zu führen, waren viele Jahre lang erfolgreich gewesen. Wir lebten genau wie die meisten unserer Bekannten. Die Arbeit war ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Aber die Familie ebenso. Sie half mir, die Bodenhaftung nicht zu verlieren.
Aber sie zehrte auch an mir.
In letzter Zeit mehr denn je.
Aber bald wäre Schluss damit.
Dass Peter so tat, als hinge von seinem Job in der Werbeagentur das Überleben der Familie ab, war einfach lächerlich. Ich hatte nicht übel Lust, den Anruf einfach wegzudrücken. Die Kinder in der Kita versauern zu lassen. Wenn die Leute von der Kita anriefen, sollte Peter ihnen doch erklären, warum er sie nicht rechtzeitig abgeholt hatte. Aber wenn es Probleme gab, rief man natürlich bei mir an und nicht bei ihm. Auch da keine Gleichberechtigung.
Ein kurzer Blick auf die Uhr. Ich holte tief Luft. Mit etwas Glück würde ich es vielleicht schon noch schaffen, sie abzuholen.
»Ich kümmere mich drum«, sagte ich und bog in die Nybrogatan zur SEB ein.
Am Tatort waren noch alle Kräfte im Einsatz. Zwei Polizeiwagen mit Blaulicht standen auf der Straße. Neugierige Passanten, Journalisten und Fotografen drängten sich vor der Filiale. Die meisten hatten ihre Schirme aufgespannt, um sich vor dem Nieselregen zu schützen. Ich musste mich zum Einsatzleiter durchkämpfen. Hielt ihm meinen Dienstausweis hin.
»Leona Lindberg, Ermittlerin. Wie sieht’s aus?«
Er nickte und hielt mir das Absperrband hoch.
»Antonsson. Im Bus dort drüben werden gerade die Zeugen vernommen. Bislang noch keine Spur von dem Mädchen.«
Antonsson war der älteste Kollege im Außendienst, den ich kannte. Er war von kräftiger Statur und einen Kopf größer als die meisten übrigen Kollegen. Mit seinem grauen Schnauzbart sah er aus wie ein Konstabler in einem altmodischen Schwarz-Weiß-Film.
»Entschuldigung, dürfte ich ein kurzes Statement bekommen? Was weiß man über das Mädchen?« Ein Journalist mit blondem Haar war neben uns aufgetaucht und schaute mich auffordernd an.
Antonsson drängte ihn zurück. »Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass wir noch keine Aussagen machen können.«
Wir ließen den Mann stehen, gingen in Richtung Bankgebäude.
»Techniker?«, fragte ich.
»Vor Ort. Allerdings noch kein Bericht. Sie wissen ja, wie die heutzutage sind. Lassen sich gern bitten. Ich warte nur darauf, dass die fertig werden, damit wir zusammenpacken können. Das Medienaufgebot ist der Wahnsinn. Hab ich seit dem Attentat auf Anna Lindh nicht mehr erlebt. Dieses kleine Mädchen ist jedenfalls ein gefundenes Fressen für die Presse.«
»Sie können alle Medien an mich verweisen.«
Auf dem Weg zum Eingang drehte ich mich noch einmal zu Antonsson um.
»Und könnten Sie dafür sorgen, dass die Kollegen da hinten das Blaulicht ausmachen?«
Ich hatte Blaulicht noch nie gemocht. Aber die meisten Kollegen fuhren geradezu drauf ab. Sie fühlten sich nur dann wie richtige Polizisten, wenn sie ihre Uniform anhatten und mit Blaulicht und Sirene in ihrem Wagen herumfuhren. Aber das betraf hauptsächlich die jüngeren Polizisten. Unter den älteren, die noch im Außendienst arbeiteten, gab es einige, die zu den besten Polizisten überhaupt gehörten. Diejenigen, die eine gewisse Distanz zu ihrem Job aufgebaut und es nicht mehr nötig hatten, sich groß aufzuspielen. Leider gab es von ihnen viel zu wenige, nicht zuletzt weil diese Arbeit mit unbequemen Arbeitszeiten wie Nachtschicht und Wochenenddienst verbunden war, und das war mit dem Leben eines gewöhnlichen Durchschnittsschweden schwer vereinbar.
Das Blaulicht irritierte mich.
»Von diesem elenden Blaulicht kriegt man ja epileptische Anfälle«, sagte ich halblaut zu mir selbst.
Unmittelbar vor der Glastür drehte ich mich ein weiteres Mal um und ließ meinen Blick über den Östermalmstorg schweifen. Der Platz lag auf der anderen Straßenseite und war jetzt nahezu menschenleer. Der Regen sorgte dafür, dass die Menschen sich eng an den Hausfassaden entlangbewegten. Ich betrat die Bankfiliale. Ein Mann kam auf mich zu.
»Gunnar Månsson, Kriminaltechniker. Wir sind hier gleich fertig. Leider nicht viel zu tun für uns.«
»Laut Zeugenaussagen soll das Mädchen blutverschmiert gewesen sein. Irgendwelche Spuren?«
»Kein einziger Blutstropfen.«
»Fingerabdrücke? Irgendetwas?«
Månsson schüttelte den Kopf. Die automatischen Schiebetüren im Eingangsbereich sorgten dafür, dass das Mädchen sie nicht mit den Händen öffnen musste. Nicht, dass wir für die Identifizierung des Kindes irgendeinen Nutzen von Fingerabdrücken gehabt hätten, denn es war noch zu jung, um in dem entsprechenden Identifizierungssystem erfasst sein zu können. Aber wenn wir die Kleine irgendwann aufgriffen, wäre es sinnvoll, feststellen zu können, ob es sich um das richtige Mädchen handelte.
Dass offenbar weder die Kriminaltechniker noch die Hundeführer brauchbare Spuren gefunden hatten, war ungewöhnlich.
»Wenigstens Schuhabdrücke?«
»Zurzeit ist noch unklar, was das Mädchen an den Füßen getragen hat. Schuhabdrücke im normalen Sinn existieren jedenfalls nicht. Hingegen haben wir Spuren eines anderen Sohlentyps gefunden. Wir melden uns diesbezüglich.«
»So früh wie möglich, wenn ich bitten darf.«
Auch wenn dieser Raubüberfall großes Medieninteresse erregte, wusste ich, dass er bei den Kriminaltechnikern nicht die höchste Priorität besaß. In den letzten Tagen waren innerhalb kürzester Zeit mehrere Morde und andere schwere Verbrechen begangen worden, sodass sie jede Menge zu tun hatten. Und hier war schließlich keiner ums Leben gekommen. Es gab nicht einmal Verletzte, wenn man von dem Mädchens selbst absah, das sich seine Verletzungen, wenn es denn Verletzungen waren, allerdings nicht am Tatort zugezogen zu haben schien. Dennoch drängte die Sache für uns. Dass Månsson angesichts meiner Worte schnaubte, kümmerte mich nicht.
Ich sah mich in der Filiale um. Sie war ungewöhnlich groß. Die meisten Banken hatten viele ihrer Dienstleistungen ins Internet verlegt. Die Filialen waren infolgedessen in den vergangenen Jahren nicht nur stark reduziert, sondern oft auch verkleinert worden. Diese allerdings war sehr geräumig, mit bodentiefen Fenstern entlang der gesamten Front zur Nybrogatan. Durch die getönten Scheiben konnte man deutlich sehen, was sich draußen abspielte. Die fünf Kassentresen waren im hinteren Teil der Filiale halbkreisförmig angeordnet. Ich zählte die Überwachungskameras, die an den Wänden installiert waren.
»Ungewöhnlich viele Kameras. Sind die Filme bereits sichergestellt worden?«
»Unsere Leute sind noch damit beschäftigt. In der Tat ziemlich viele Kameras. Sie zeigen das Geschehen aus diversen unterschiedlichen Winkeln. Wollte wohl jemand ’ne Show draus machen.«
»Ich will das gesamte Bildmaterial der vergangenen zwei Wochen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass jemand vorher hier gewesen ist und die Lage sondiert hat. Geben Sie alles zur Bild- und Tonanalyse. Bis auf die Aufnahmen von heute Vormittag. Die will ich morgen früh auf meinem Schreibtisch haben.«
Auf dem Weg zum Ausgang sah ich Antonsson durch die Fensterfront. Er war gerade dabei, einen jungen Mann mit Kamera um den Hals einzufangen, der über die Absperrung geklettert war und auf den Eingang zusteuerte. Ich wandte mich zu Gunnar Månsson um.
»Seid vorsichtig mit den Journalisten, die hier rumschnüffeln. Ich will nicht, dass wir morgen die Bilder eines blutverschmierten siebenjährigen Mädchens auf den Titelseiten zu sehen bekommen.«
Månsson nickte. Er wies mit dem Daumen in den hinteren Bereich der Bank. »Wäre übrigens ganz sinnvoll, wenn einer mal mit dem Bankdirektor sprechen würde. Er macht einen Riesenstress, weil er die Bank möglichst schnell wieder öffnen will.«
Ich nickte und ging weiter in Richtung Ausgang. Ich hatte nichts dagegen, einem Anzug tragenden Bankdirektor freundlich, aber bestimmt zu erklären, dass es sich hier um polizeiliche Ermittlungen handelte und er heimgehen und mit seinen Kindern spielen konnte, bis unsere Techniker fertig waren. Im Gegenteil, es würde mir die triste Fahrt zurück ins Dezernat versüßen.
Nach meiner Rückkehr vom Tatort wartete bereits die Arbeitsgruppe, die Claes zusammengestellt hatte, im Konferenzraum auf mich. Ich würde alle Beteiligten über den Fall informieren, hatte jedoch nicht vor, eine ausführliche und detaillierte Darstellung zu geben. Nicht alle mussten alles wissen. Das Wichtigste war, dass alle Mitarbeiter genügend Informationen besaßen, um ihren Teil der Arbeit ausführen zu können. Normalerweise hätte ich jetzt den Autopiloten eingeschaltet. Aber in diesem Fall war ich gezwungen, ein paar Schritte im Voraus zu bedenken.
Denn ich wurde beobachtet.
Von Claes. Und den höheren Chefs.
Von den Medien.
»Für diejenigen, die mich noch nicht kennen, ich heiße Leona Lindberg. Ich sitze im DGV und leite den Raubüberfall, der heute Vormittag von einem kleinen Mädchen verübt worden ist. Ich habe dieses Meeting einberufen, um kurz gemeinsam durchzugehen, auf was wir uns als Erstes konzentrieren müssen. Und außerdem ist mir wichtig, dass jeder von uns die Gesichter der Kollegen kennt, mit denen er zusammenarbeitet. Ferner würde ich vorschlagen, wir duzen uns.«
Mir persönlich lagen die Gesichter der Leute zwar nicht besonders am Herzen, aber jeder, der jemals innerhalb einer Polizeibehörde gearbeitet hat, weiß um die Bedeutung persönlicher Kontakte. Alle Angestellten besaßen ihr eigenes kleines Telefonbuch mit Namen von Kollegen, mit denen sie gut zusammenarbeiten konnten. Denn nicht mit allen lief es reibungslos.
Ich richtete zwei Stifte, die vor mir auf dem Tisch lagen, parallel zueinander aus. Ich mochte es nicht, wenn spitze Gegenstände in meine Richtung zeigten. Außerdem lagen sie asymmetrisch da. Als ich nach den Stiften griff, sah ich, dass die Spitze meines Daumennagels am Rand eingerissen war. Erst vor Kurzem hatte ich mir die Fingernägel bei Madeleine an der Ecke machen lassen. Normalerweise arbeitete sie sorgfältig. Aber diesmal hatte sie offenbar geschludert.
»Ich gehe mal davon aus, dass euch das massive Medienaufgebot im Zusammenhang mit dem Fall nicht entgangen ist«, begann ich. »Es sind bereits wilde Spekulationen im Umlauf. Wie gewöhnlich werdet ihr den Medien keine Auskünfte geben, sondern auf die Geheimhaltungspflicht während der Ermittlungen hinweisen. Die Leute sollen sich an unseren Pressesprecher wenden. Die ganz Hartnäckigen verweist an mich. Ist bereits jemand von den Medien angesprochen worden?«
Drei von ihnen nickten.
»Es dürfen keinerlei Auskünfte nach draußen gelangen. Absolut keine.«
Es spielte keine Rolle, wie oft und wie nachdrücklich man darauf hinwies. Irgendwas sickerte immer durch. Höchstwahrscheinlich ließen sich diverse Polizisten dafür bezahlen, geheime Informationen preiszugeben.
»Nur damit uns das allen klar ist: Wer gegen die Geheimhaltungspflicht verstößt, muss mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen.«
Keiner sagte etwas.
Mein Handy summte in der Handtasche, ich holte es heraus. Ich registrierte die in Englisch verfasste SMS auf dem Display. Tauchte für einen kurzen Moment gedanklich ab, bevor ich wieder präsent war. Mit der Antwort musste ich bis zum Ende des Meetings warten.
»Ich möchte, dass ihr mir über die Ergebnisse eurer Arbeit persönlich Bericht erstattet. Selbstverständlich immer schriftlich. In dringenden Fällen ruft mich an oder schickt mir eine Mail. Wenn es nicht zu vermeiden ist, könnt ihr auch ein Fax schicken, aber nur dann und wenn es nichts Wichtiges ist. Mit diesem alten Klapperkasten will ich am liebsten nichts zu tun haben.«
Einige lächelten. Ich deutete es als gutes Zeichen. Sie waren auf meiner Seite.
»Wir werden mit einer abgespeckten Form der OFA arbeiten. Sagt allen diese Arbeitsweise etwas?«
Einige nickten, andere nicht. Claes hatte diverse Leute aus anderen Abteilungen ausgeliehen. Obwohl die meisten von ihnen erfahrene Ermittler waren, wusste ich um die Wichtigkeit, die Rahmenbedingungen für die anstehende Arbeit festzulegen. Ich hasste es, wenn gestresste Ermittler hysterisch durch die Korridore rannten, weil sie wichtige Details nicht mitbekommen hatten. Oder wenn bestimmte Ermittlungsaufgaben gar nicht oder zum falschen Zeitpunkt durchgeführt wurden. Typische strukturelle Probleme, die nicht vorkommen durften. Außerdem musste ich meine Rolle innerhalb der Ermittlungen von vornherein klar und eindeutig definieren.
»OFA steht für Operative Fallanalyse. Eine zeitgemäßere Form der alten Mordbibel, an die ihr euch bestimmt erinnert. Wie gesagt, ich leite die Ermittlungen, fungiere als Spinne im Netz und werde diverse Vernehmungen durchführen.«
Das war eher untypisch. Denn derjenige, der in einem OFA-gestützten Fall die Funktion der »Spinne« innehatte, beteiligte sich nur selten direkt an den Ermittlungsmaßnahmen, sondern delegierte die Aufgaben an andere. So hatte auch ich bisher die Ermittlungen geleitet.
Aber nicht diese.
Denn diese war anders.
Ich nahm den schwarzen Marker zur Hand und schrieb aufs Whiteboard die Frage: Wer ist das Mädchen?
»Lasse, hast du eine Theorie?«
Lasses Gesicht hellte sich auf. Er war ein kluger Kopf und schien im Unterschied zu vielen anderen seine Arbeit beim Nachrichtendienst der Kripo wirklich zu lieben. Dafür, dass er Vater zweier schulpflichtiger Kinder und eines kleinen Babys war, sah er verdammt frisch und ausgeschlafen aus.
»Hej zusammen, Lars Nyman vom KND. Bislang haben wir leider noch nicht besonders viel. Die Zeugen hatten Mühe, das Aussehen des Kindes zu beschreiben, alle haben nur übereinstimmend die Anzeichen von schlimmen Misshandlungen erwähnt, das viele Blut und die blauen Flecken, mit denen das Kind übersät war …«
Er wurde von einem leisen Klopfen unterbrochen. Die Tür wurde geöffnet.
»Entschuldigung, ist das hier der Banküberfall am Östermalmstorg?«
»Nina!«, rief ich aus. »Ja, komm rein!«
Sie war es also, die zur Leiterin des Falls ernannt worden war. Nina kam von der Staatsanwaltschaft City und war innerhalb der Polizei dafür berüchtigt, niemals lockerzulassen. Claes bezeichnete sie als sehr gewissenhaft, während Ermittler sie oftmals als überpenibel einstuften. Meistens war sie mit einer Ermittlung erst dann zufrieden, wenn man jeden Stein mindestens fünf Mal umgedreht hatte.
Sie trat ein und legte ihren schwarzen Trenchcoat ab. Ihr schwarzes Haar wirkte frisch geschnitten. Eine asymmetrische Pagenfrisur. In Verbindung mit ihrer ovalen Gesichtsform, der hellen Haut, ihrer stilvollen Brille und ihrer Kleidung, die aus einem knielangen engen Rock, einer Bluse und einem Blazer bestand, wirkte sie, als wäre sie gerade einem Businessmagazin entstiegen.
»Nina Wallin«, stellte sie sich vor, »Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft City. Ich bin ab sofort zuständig in diesem Fall.«
»Setz dich doch«, sagte ich. »Wir haben eben erst angefangen. Lars Nyman vom KND war gerade dabei, uns über das Mädchen in Kenntnis zu setzen.«
Nina setzte sich auf einen freien Stuhl auf der anderen Seite des Konferenztisches, während Lasse fortfuhr.
»Da das Mädchen während des Raubüberfalls kein Wort sprach, wissen wir nichts über seine Nationalität. Kein schwedisches Mädchen mit dieser Personenbeschreibung gilt als vermisst. Vermutlich handelt es sich um das Opfer von Menschenhändlern aus dem Ausland. Womöglich aus den baltischen Ländern. Ich habe bereits Europol kontaktiert, die sich der Sache annehmen werden.«
»Laut den Zeugenaussagen soll sie ungefähr sieben Jahre alt sein«, warf ich ein. »Was meinst du dazu, Lasse?«
»Dass meine Kids sicherlich keine Bank überfallen könnten. Die können ja kaum ihr eigenes Bett machen.«
Ich musste innerlich grinsen, ließ mir aber nichts anmerken. Die anderen warfen sich unsichere Blicke zu. Keiner traute sich zu lachen.
»Tja, man muss sich in der Tat fragen, wie man ein kleines Mädchen dazu bringen kann, so etwas zu tun, nicht wahr?«, sagte ich. Obwohl ich es wusste. Wenn man in anderen Erdteilen Kinder zu Soldaten ausbilden und dazu verleiten konnte, die eigenen Eltern umzubringen, konnte man natürlich auch ein Kind so manipulieren, dass es einen Raubüberfall verübte.
»Danke, Lasse. Sag Bescheid, sobald du mehr weißt. Johan, kannst du uns schon einen Überblick über das Material der Überwachungskameras geben?«
Johan warf einen Blick auf die anderen am Tisch.
»Johan Östberg, Bild- und Tonanalysegruppe. Wir sind gerade dabei, sämtliches Bildmaterial durchzugehen, und zwar das der letzten zwei Wochen. U-Bahn-Stationen, Rolltreppen, Geschäfte in der näheren Umgebung, Geldautomaten sowie das Innere der Filiale. Ich melde mich, sobald wir mehr wissen.«
»Danke, Johan. Robban, wie haben die Hunde reagiert?«
»Hallo. Robert Granlund, Hundeführer. Den Hunden ist es bislang nicht gelungen, irgendeine Spur aufzunehmen. Der zuerst eingetroffene Hundeführer rief mich an, weil sein Hund sich merkwürdig benahm. Als ich zwanzig Minuten später hinzukam, war mein Hund ebenfalls nicht in den Griff zu bekommen. Erstaunlich, denn das Mädchen soll blutverschmiert gewesen sein. Ich habe den Verdacht, dass …«
»Das können wir später unter vier Augen besprechen, Robban. Machen wir weiter.«
Ich hielt es für besser, die persönlichen Theorien der einzelnen Kollegen gesondert zu erörtern. Ich wollte verhindern, dass bereits in diesem frühen Stadium der Ermittlungen wilde Theorien ins Kraut schossen.
»Die Schuhspuren müssen so bald wie möglich analysiert werden. Gunnar?«
Ich sah Gunnar Månsson an. Er wirkte, als hätte er Mühe, die Augen offen zu halten. Seine buschigen Augenbrauen standen in alle Richtungen ab, und seine Augenlider hingen weit herunter. Er räusperte sich.
»Ähm … Månsson. Das Mädchen hat nichts angefasst, sodass wir keine Fingerabdrücke gefunden haben. Dafür haben wir einige Schuhspuren, die wir gerade analysieren. Ich melde mich diesbezüglich. Ansonsten keine weiteren technischen Beweismittel. Wir haben einige Proben genommen, aber es ist zweifelhaft, ob sie uns weiterbringen. Faszinierend, muss ich sagen …«