BERNBUCH
Herausgegeben von David Wagner,
Johannes Brunnschweiler, Martina Frnka,
Luc Oggier und Delia Imboden
Illustriert von Martina Frnka
Wir laufen los, wir wollen uns verlaufen. Alle paar Schritte wechselt der Blick, jede Treppenstufe und jeder Höhenmeter verwandeln die Stadt. Die Ansichten müssen wir mit Auf- und Abstiegen bezahlen.
Einmal kommen wir aus dem Haus und sind schockiert über eine Zigarettenkippe auf dem Gehweg. Wie sie uns anleuchtet, diese Asphaltblüte. Filtergelb.
Erst da fällt uns auf, wie sauber es überall ist.
Aus dem Bus Nummer 12 bemerkst du das Pissoir an der Zytglogge – und dass die Schuhe der Nutzer zu sehen sind. Einer von ihnen kommt gerade aus der Vespasienne, er hat eine Pfeife im Mund und lässt Rauch Richtung Turmuhr steigen. Dort oben gibt es ein Taubenwohnheim, betreut von einer Taubenmutter. Nein, keine Hörbehindertenheim. Die Taubenmutter kümmert sich um Vögel.
Dann steigst du die schmale Eisentreppe an der Brunnensäule ohne Figur in der Postgasse hinauf. »Keine Brunnenfigur« heisst diese Skulptur. Du hältst eine kurze Rede, leider verstehe ich kein Wort, das Wasser rauscht zu laut. Wie viele Brunnen gibt es in Bern?
Wir spazieren zur Luftstation über dem Friedhof Schlosshalde, ein Turm zu Babel aus Erde aufgeschüttet, eine spiralförmige, von Buchenhecken gesäumte Rampe führt hinauf. Und wieder eine Aussicht: Eiger, Mönch und Jungfrau sind nicht auszumachen, der Gurten aber ist da. Von dem einen Aussichtspunkt sind fast immer andere Aussichtspunkte zu sehen. Unter uns drehen sich kleine Windräder auf einem Kindergrab, Kuscheltiere, regendurchnässt, ruhen sich aus. Vögel singen.
Im Tiefenmösli riecht’s nach Holz. Schwalbenkästen hängen an einer offenen Lagerhalle, und obwohl wir uns Mühe geben, verlaufen wir uns nicht, nicht einmal im Robinsonweg. Wir versuchen’s in Ostermundigen, im Dählhölzli, Richtung Lorraine.
Einmal ziehen wir hinaus nach Neufeld ins Stadion und setzen uns auf die alte Holztribüne. Ein Mädchen trainiert, läuft, dreht seine Runden, beschleunigt, bremst ab. Zwei Kräne bewegen sich im Hintergrund. Was wird dort gebaut? Wieder wundere ich mich, dass die Ausleger sich nicht in die Quere kommen. Flutlichtmasten stehen nur da und warten auf Dunkelheit, der Wald ist nah, die Schweizer Fahne weht am Mast, der Tartan leuchtet. Die weissen Wolkengebirge nehmen in diesem Bild von Stadtlandschaft den grössten Platz ein.
Später schauen wir von einer Dachterrasse auf andere Dachterrassen. Und gleich, sie bleibt nicht aus, die James-Bond-Idee: Könnte er nicht über diese Dächer springen? Die Stadt hier oben überqueren? Wir lauschen einer Wespe, hörbar knabbert sie an einem Stückchen Holz.
Unten auf der Strasse liest du die Namen fremder Städte auf vielen Kanal- und Kabelschachtdeckeln: KHK-Karlsruhe, GAV Boppard und COLT, letztere Abkürzung steht für City of London Telecommunications. Wir wissen’s zum Glück: Wir sind in Bern.
Im Regen zum Rosengarten hinauf, unter einem Schirm, Geh-Zelt sagst du dazu. Auf der Plattform in der Sonne eine Schale trinken, Kleine Schanze, Grosse Schanze, Nydeggbrücke, Kirchenfeldbrücke (die von der so viele springen, trotz der Netze). Ein andermal marschieren wir bis nach Bümpliz, unter der gepflegten Autobahn hindurch. Der Beton sieht so frisch aus. Er glänzt.
Wir steigen den Münsterturm hinauf, sehr viele Stufen, immer im Kreis. So lange gibt es die Münsterturmspitze noch nicht, vor bald hundertzwanzig Jahren hätten wir nicht so hoch hinauf gekonnt. Von oben der Blick auf die Agglo und die Berge (der Gurten, zum Greifen nah), die Altstadt liegt gleich unter uns, die Kramgasse, wie sie sich windet.
Wir wandern durch Bern und verlaufen uns nicht, es will nicht gelingen, schade, wir wissen immer wo wir sind. Den Plattformlift hinab, durch die Matte, über die Untertorbrücke, an der Aare entlang, neben den Pfeilern der Kornhausbrücke hinauf, die vielen Treppenstufen, am Botanischen Garten vorbei. Einige Häuser stehen unter dem Fahrbahnhimmel halb im Trockenen. Sie standen wohl schon vor der Brücke dort.
Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de
© Verbrecher Verlag 2015
Lektorat: Kristina Wengorz
E-Book-Herstellung und Satz: Christian Walter
ISBN Printausgabe: 978-3-95732-080-3
ISBN Epub: 9783957321305
ISBN Mobipocket: 9783957321312
Der Verlag dankt Winnie Bennedsen, Sophie Lichtenstein und ganz besonders Meike Jansen.
Der Traum des Bären (Eigentlich kein Vorwort)
Der Legende nach heisst Bern nach einem Bären, der vom Stadtgründer Berchtold im Jahr 1191 nahe des damaligen Siedlungskerns erlegt wurde.
Und wenn dieser Bär der Volketymologie auferstehen würde und heute diese Stadt durchstreifen würde, das nach ihm benannte Bern?
Nahe der Altstadt könnte er Witterung aufnehmen und in Richtung Bärengarten springen, um seine entfernte Verwandtschaft zu besuchen, die drei Bären, die seit dem Jahr 2009 nicht mehr in einem runden Bärenzwinger eingesperrt sind, sondern in einem Paradiesbärengarten am Aareufer leben. Sie sonnen sich oft, fressen, scharren und buddeln in der Erde, schwimmen hin und wieder und belustigen so, wichtige Aufgabe, das internationale Publikum.
Der revenante Bär würde bemerken: Die Stadt ist gross geworden, gross, bedeutend und prächtig. Irgendwo würde er das Stadtwappen erblicken und denken: Ach, da bin ich ja abgebildet! Und vielleicht finden: Die Tatzen sind etwas gross geraten, so breit sind sie doch gar nicht!
Sein Bärenblick würde registrieren: Diese Stadt hat nicht nur eine Ansicht, nein, von jedem Aussichtspunkt, wo er auch hinspringt, immer bietet sich ein anderes Bern. Sei es vom Rosengarten, von der Plattform, der Kleinen oder Grossen Schanze aus – immer sieht seine Stadt ein bisschen anders aus.
Auf vier oder sogar auf nur zwei Beinen stünde der Bär staunend vor den barocken Bürgerhäusern, ihren Lauben und den offen stehenden Kellerluken. Siehe da, könnte er brummen: Überall Bärenhöhlen, es muss meine Stadt sein, hier bin ich richtig!
Der Bär könnte sich weiter umtun, den Bahnhof besichtigen oder bis nach Bümpliz schnuppern. Er könnte sich auf eine Stange Bier in die Bar 3 Eidgenossen begeben oder, taps, taps, taps, auf ein Berner Rösti ins Restaurant Harmonie. Er könnte sich in die Strassenbahn setzen oder Bus fahren, würde er sich sogar über eine der hohen Brücken trauen? Er könnte auch in der Aare baden, Berner und Besucher baden ja auch, zumindest im Sommer. Er könnte den Berg Richtung Schokoladenuniversität hinaufhüpfen, im ehemaligen Tobler-Gebäude würde er sicherlich noch Kakao zwischen all den Büchern riechen.
Vielleicht würde der wiedergekehrte Bär sich sogar ins Bundeshaus verirren? Und erfahren, dass sein Bern, die frühere Stadtrepublik, nun Bundesstadt geworden ist – die Bezeichnung Hauptstadt in der Schweiz jedoch vermieden wird.
Durstig geworden vom Herumstreunen, Schnuppern und Betrachten könnte er oder sie (der Bär könnte ja auch eine Bärin sein) am offenen Bach in der Altstadt trinken. Ob Herr oder Frau Bär ein Auge für die vielen Brunnenfiguren hätte? Bär oder Bärin müsste sich spätestens in diesem Moment fragen, ob er oder sie diese Stadt nun tatsächlich erlebt oder träumt.
Wir, die Autoren und Herausgeber dieses Bandes, wissen zum Glück, dass es sie gibt, diese Stadt. Wir wissen es, weil wir Bern betreten, besichtigt, bewundert und dann beschrieben haben – und dabei manchmal ein bisschen mit den Bären geträumt haben. Herausgekommen ist dieses Bernbuch. Sie halten es in den Händen, liebe Leserin, lieber Leser! Viel Vergnügen damit!
Bern, Mai 2015
David Wagner
Wieso sollte denn ein Spaziergang ideal sein? Oder vielleicht noch konkreter – was hat Spazierengehen mit einem Ideal zu tun?
So wenig ich mir bis jetzt diese Frage gestellt habe, so naheliegend erscheint mir eine mögliche Antwort. Denn für mich haben Ideale und Spazieren eines gemeinsam: Ich übe mich wenig darin. Doch möchte ich diesbezüglich auf einen feinen Unterschied hinweisen. Denn wo ich einerseits wohl kaum einem Ideal zu entsprechen vermag, ist es andererseits das Spazieren, das mir recht wenig zuspricht. Demnach wäre ich ein störendes, sich verweigerndes Hindernis auf dem sinnstiftenden Weg. Woher rührt wohl diese Verweigerung? Vielleicht liegt es gerade an dieser Vorstellung vom idealen Wandeln, da sich doch gerade Ideale in der gesellschaftlichen Dynamik stetig zu wandeln scheinen. Utopien sind womöglich der einzige Ort, an dem ein solcher Wandel seinen idealen Endpunkt findet. Doch sind es nicht gerade diese, einen Idealzustand darstellenden Utopien, die durch ihre Verwirklichung nur allzu oft zu einer zerstörerischen Wirklichkeit führten oder noch immer führen? Diese lineare Vorstellung, die der Erreichbarkeit eines Ideals zugrunde liegt, ist womöglich die zentrale Motivation, die so viele nach einem Ideal streben und mitunter daran verzweifeln lässt.
Wenn nun also das Erlangen eines Ideals in die Zerstörung der Wirklichkeit führt und somit das Streben danach absurd und sinnlos wird, könnte der Spaziergang, gerade in seiner zeitvergessenen Ziellosigkeit, die sowohl komfortabelste wie auch ungefährlichste Form eines Idealzustands darstellen, einen Zustand, in dem ich durch Bewegung zur Ruhe komme. Somit ist der Spaziergang für mich lediglich ein kinetisches Phänomen der Kontemplation, des Sich-bewusst-Werdens oder –Bleibens, und findet idealer Weise in meinem Kopf und vorzugsweise am Küchentisch bei dampfendem Kaffee statt.
Zwei Monate lang hatte sie den schönen Lucien im Regen stehen lassen. Er war gealtert, noch ein klein wenig rostiger an den einst glänzenden Bremsen, aber immer noch wunderschön.
Nun trat sie in die Pedale, und die Kette schrammte sanft an der schwarzen Schutzvorrichtung entlang. Vorbei am kleinen Egelsee, der eigentlich zu klein war, um diesen Namen verdient zu haben, und doch mit einem Meer mithalten konnte, wenn bisweilen zwei Schildkröten über den aus dem Wasser ragenden Baumstamm krochen. Auf zwei Rädern rollte sie durch die Quartiersstrassen. Warum auch zu Fuss, Paul Klee? Ein Gefühl von Freiheit zwischen den Schulterblättern. Vorbei an gut bewachten Botschaften, Diplomatenhäusern, gestutzten Vorgärten und Villen aus alter Zeit.
Autoreifen quietschten. Ein lautes Fluchen flog ihr um die Ohren. Mit einem eleganten Schlenker wich sie dem silberfarbenen Fahrzeug mit getönten Scheiben aus, das sie in der Kurve von der Strasse abdrängte. Kein Kuss mit der Bordsteinkante, aber doch ein wenig Herzklopfen.
Hier begann ein Fahrradweg. Offiziell gekennzeichnet. Mit einem kleinen, weissen Fahrrad, das durch eine kleine, weinrote Gegend fuhr. Klein und unauffällig, aber da und offiziell. Ein C und ein D grinsten ihr von dem sich entfernenden Nummernschild entgegen, und auf dem vorbeiziehenden Asphalt unter sich hielt sie vergeblich Ausschau nach der gelben Linie aus Strichen, die eigentlich parallel zum Trottoir hätte verlaufen müssen. Doch sie erblickte nichts ausser grauer Teerwüste.
Ohne Schwung und leicht ausser Atem erklomm sie die Kirchenfeldbrücke und fragte sich ernsthaft, ob wohl beim Bau der Brücke die Wasserwaage in die Aare gefallen war. Ein Rauschen. Ein Luftzug. Ganz nah. Und links an ihrer Schulter ratterte eine Tram vorbei und rechts streifte die Absperrplanke, hinter der es promenierte, lächelte und knipste, leicht ihr Bein.
Beim Bundeshaus fuhr sie wie jedes Mal um den Platz herum. Zwischen den aus dem Boden schiessenden Wasserfontänen hüpften schreiend kleine Kinder umher. Die Tropfen in ihren Haaren glitzerten in der Sonne. Sie sahen glücklich aus, obwohl einige von ihnen leuchtend orangefarbene Schwimmflügel trugen. Andere lagen mitten auf dem Weg, unter ihnen ein Meer aus bunten Badetüchern und daneben Mütter und Väter, die Apfelschnitze schnitzten, die Hände voller Sonnencreme, in ihren aufgeblähten Gesichtern etwas, das vielleicht mal ein Wasserball werden könnte. Ein Freibad auf der Strasse. Sie hätte es vielleicht schön finden können. Sie hätte es schöner gefunden, in diesem Freibad freier Fahrrad fahren zu können.
Mit gezogenen Bremsen bog sie rechts in die Bundesgasse ein. Und auf dem Asphalt erblickte sie endlich die ersehnte gelbe Linie. Unendlicher Freiraum zwischen einer begrenzenden Markierung und der Bordsteinkante. Sie atmete auf, und in ihr Blickfeld schob sich von der Seite langsam ein schwarzer Männerschuh aus Leder, dem ein graues Hosenbein folgte. Sie bewegten sich ebenfalls über gelbe, noch breitere Streifen, die parallel zueinander quer über die Strasse verliefen. Ein anderer Freiraum.
Hastig trat sie in die Pedale, anstatt das Tempo zu drosseln, und weniger als fünfzig Meter und ein Hosenbein später stellten sich ihr ein weiteres Mal dicke Streifen in den Weg. Sie bremste und fuhr in ihrem Freiraum die nächsten fünfzig Meter bis zum nächsten Hosenbein. Rotes Licht regierte, und Frauenwaden hatten Vorrang. Sie wartete. Auf der anderen Seite der Kreuzung erblickte sie entsetzt den nächsten Streifenhaufen. Und in der Ferne erhob sich in der Sommerhitze eine verschwommene Fata Morgana. Eine Stadt, umhüllt von breiten, gelben Streifen, ein rot leuchtender Sternenhimmel darüber. Und die Fussgänger schritten an ihr vorbei, und die Autos glitten neben ihr her.
Es war grüner geworden, und auf der Hirschengraben-Insel hatte jemand ein gelbes Fahrrad auf den Boden gemalt, kaum sichtbar verschwand ein Pfeil zwischen unzähligen Menschenbeinen. Sich stetig kreuzende Trams von beiden Seiten. Dahinter eine noch kleinere Insel, auf der ihr ein winziges, rot leuchtendes Fahrrad Gesellschaft leistete. Autos brausten vorüber. Sie wartete. Sie fuhr auf die andere Seite der Kreuzung. Und wartete. Zwei Minuten später war der Moment gekommen, in die Schanzenstrasse einzubiegen, wo sie noch in der Kurve von einem gelben Zebra gestoppt wurde. Sie schaltete in den kleinsten Gang. Lucien hatte drei und sie Schweissperlen auf der Stirn.
Die Schanzenstrasse wusste, wieso sie so hiess, wie sie hiess. Und manchmal fragte sie sich, warum sich an diesem Hang ein Lichtsignal befand, und erkannte, dass das Parkhaus die Stadtautomobilisten aus seiner Tiefe ausspucken musste. Und manchmal fragte sie sich, wieso es so viele dicke, gelbe Streifen gab, und fast keine dünnen. Und sie sah, dass darauf die unzähligen Wellenreiter davon geschwemmt werden mussten.
Und manchmal verstand sie, warum Paul Klee beim Egelsee lieber zu Fuss ging, und sie wusste, dass sie es liebte, fluchend auf zwei Rädern den Wind in den Haaren zu spüren und mehr Zeit zu haben, als sie zu haben dachte.
Zentrum Paul Klee, für die meisten wohl ein Ziel, für mich heute der Startpunkt. Die Buslinie bildet hier die Trennlinie zwischen weitläufigen grünen Feldern und der Verstädterung in extremis. In Fahrtrichtung Stadt erstreckt sich auf der linken Seite das Zentrum Paul Klee in Form von drei Wellen über die grüne Wiese, auf der rechten Seite eine immense Überbauung, die Platz bieten soll für Grün liebende Wohneigentümer, falls bei Bauschluss überhaupt noch grüne Flächen existieren werden. Diese unnatürlich wirkende Linie zwischen Stadt und Land zieht sich weiter die Schosshaldenstrasse hinunter bis zur Tagesschule Laubegg, wo auf der linken Seite der letzte Bauernhof der Verstädterung weichen muss. Der grosse Wiesenteppich kapituliert vor den farbigen Fussabtretern der Mehrfamilienhäuser in der Muristrasse, der weite Raum ergibt sich den eingezäunten Vorgärten.