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Hunter S. Thompson

Angst und Schrecken
im Wahlkampf

Aus dem Amerikanischen
von Teja Schwaner

Biografie von Hunter
S. Thompson

»Höchst ungern empfehle ich Drogen, Alkohol, Gewalttätigkeit oder Wahnsinn, aber mir haben sie immer was gebracht.«

– Hunter S. Thompson

 

»Nixon repräsentiert in seiner Person jene düstere, korrupte und unheilbar gewalttätige Seite des Amerikaners, die man inzwischen in fast allen anderen Ländern der Welt zu fürchten und verachten gelernt hat.«

– Hunter S. Thompson

 

Hunter Stockton Thompson, alias Raoul Duke, Sohn eines Versicherungsingenieurs, wurde am 18. Juli 1937 in Kentucky geboren. Laut seiner Mutter, Virginia Ray Thompson, die nach dem Tod ihres Mannes 1952 als Bibliothekarin arbeitete, war Hunter »von Geburt an schwierig«. Obwohl er ein gescheiter Schüler war und ein fähiger, leidenschaftlicher Sportler – er besuchte die Louisville Male High School und wurde zudem in die angesehene Athenaeum Literary Association aufgenommen –, war er den lokalen Behörden stets ein Dorn im Auge. Nur ein paar Wochen vor seinem Schulabschluss wurde er wegen einer Jugendstraftat in Gewahrsam genommen und zu 60 Tagen Jugendgefängnis verurteilt, aber wegen guter Führung nach 30 Tagen entlassen. Gleich darauf trat er in die Air Force ein.

Bereits im Alter von zehn Jahren hatte Thompson Sportberichte für seine eigene, hektographierte Vier-Cent-Zeitung The Southern Star verfasst. Während seiner Stationierung auf der Eglin Air Force Base in Florida machte man ihn zum Sportredakteur der Zeitung der Militärbasis, und er stürzte sich mit großem Elan in diese Aufgabe. (Bis zu seinem Lebensende widmete sich Thompson immer wieder dem Sportjournalismus.) Nach zwei Jahren wurde er ehrenhaft entlassen und begann eine Laufbahn als freier Journalist. Getrieben wurde er jedoch von dem brennenden Ehrgeiz, Romanautor vom Format seiner Idole zu werden: F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Jack London und Henry Miller. Dazu sagte Paul Theroux in seiner Besprechung der Thompson-Memoiren Kingdom Of Fear (2003) (Königreich der Angst, 2006): »Die Schriftsteller-Helden in Thompsons Jugend waren berüchtigte Einzelgänger und zwielichtige Heroen … gesetzlose Randexistenzen«. Charaktere dieser Art prägten den jungen Hunter, der sämtlichen Ausprägungen von Autorität von vornherein mit Argwohn begegnete. In Leben und Werk ergriff Thompson wieder und wieder Partei für Außenseiter und Bilderstürmer.

Nicht fähig, in einer New Yorker Zeitungsredaktion sein rebellisches Wesen unter Kontrolle zu halten, wurde Thompson 1959 beim Middletown Daily Record gefeuert, weil er einen Süßwarenautomaten mit Fußtritten attackiert hatte. Kompromisslos schwor er sich, »verdammt noch mal … weiterhin so zu leben, wie ich es für richtig halte«. Zwischen 1959 und 1964 verbrachte Thompson viel Zeit in Südamerika. Kurzzeitig schrieb er auf Puerto Rico für ein Bowling-Magazin mit dem Titel Sportivo, stellte den Roman Prince Jellyfish fertig (unveröffentlicht) und begann einen weiteren, The Rum Diary, der schließlich 1997 erschien (The Rum Diary, 2004). Anschließend schrieb er immer häufiger Artikel für die New York Herald Tribune und den National Observer über Schattenseiten des Lebens in der Karibik und in Lateinamerika – über Schmuggler, Prostituierte usw. Seine knallharten Korrespondentenberichte fielen Cary McWilliams von The Nation auf, der ihn beauftragte, über das Free Speech Movement auf dem Berkeley Campus der University of California zu berichten. McWilliams gab ihm 1965 auch den Auftrag, einen Artikel über Motorradgangs in Kalifornien zu verfassen. Daraus ergab sich ein gut dotierter Buchvertrag; und Hell’s Angels: A Strange and Terrible Saga (Hell’s Angels, 2004), das 1966 erschien, wurde sehr bald zum Bestseller.

Zwei Jahre zuvor hatte sich Thompson in San Francisco niedergelassen und sich in die »Hippie«-Szene der erwachenden Gegenkultur gestürzt: Er begegnete unter anderem Allen Ginsberg, freundete sich mit Musikern an, zum Beispiel den Mitgliedern von Jefferson Airplane, und nahm an Ken Keseys ersten LSD-Tests teil. (Tom Wolfe verfasste sein Buch The Electric Kool-Aid Acid Test mithilfe von Bandaufnahmen, die Thompson in Keseys Zirkel gemacht hatte.) Thompsons nächstes Buch, sein Genre sprengendes Meisterwerk Fear & Loathing in Las Vegas (Angst und Schrecken in Las Vegas, 1977), ursprünglich in zwei Teilen 1971 im Rolling Stone-Magazin veröffentlicht, spürte der Auflösung des Hippietraums nach, die sich andeutete, als Unschuld und Optimismus der 60er Jahre eine Kehrtwendung zur Gewalt, zur Drogensucht und in den Zynismus vollzogen.

Das Jahr 1971 kann durchaus als der »kritische Wendepunkt« angesehen werden: In einem Interview mit dem Rolling Stone Anfang des Jahres vertrat John Lennon desillusioniert die Ansicht: »Der Traum ist vorüber. Es ist wie immer, nur bin ich inzwischen 30 und viele Leute tragen lange Haare; das ist alles.« Thompson nannte sein Buch »ein schnödes Epitaph auf die Drogenkultur der Sechziger« und seinen »widerwilligen Salut auf jenes Jahrzehnt«. Mit seiner subjektiven und von Drogen beflügelten Darstellung eines wilden Wochenendes in Las Vegas, mit einer Mischung aus Fiktion, Fakten und Fantasie, in der Ich-Form erzählt, wurde dieses Buch zum Inbegriff dessen, was in der Folge als »Gonzo«-Stil des Guerilla-Journalismus berühmt wurde. Gary Trudeaus Comicstrip Doonesbury präsentierte frei nach Thompson einen Protagonisten namens Uncle Duke – zum großen Verdruss des Autors. The Curse of Lono (1983) war eine hawaiianische Odyssee im Stil von Fear & Loathing, und es sind drei weitere Sammlungen von Thompsons Gonzo Papers erschienen: The Great Shark Hunt (1979) (Die große Haifischjagd, Gonzo Schriften I,1 und I,2); Generation of Swine (1988) sowie Songs of the Doomed (1990).

Seinen Ruf und die Anerkennung bei der Kritik mag sich Thompson durch die zentralen Werke erworben haben, die er Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre verfasste, aber seine scharfen satirischen Krallen wurden auch im Alter absolut nicht stumpf. Er bezeichnete George W. Bushs »Sieg« im Jahr 2000 als »die brutalste Machtergreifung, seit Hitler 1933 den Deutschen Reichstag niederbrennen ließ und sich zum neuen Boss von Deutschland ausrief«, und er nutzte seine Sportkolumne Hey Rube im Internet häufig dazu, gegen die Bush-Regierung und die Verlogenheit unserer Zeit zu wettern. »Wer stimmt denn nur für diese verlogenen Arschlöcher?«, schrieb er 2003 und bezog sich dabei auf diejenigen, die wieder im Weißen Haus das Sagen hatten. »Es sind Rassisten, die Hass zwischen uns säen – der Ku-Klux-Klan sind sie. In die Fresse kotze ich diesen elenden Nazis.«

2004 mager zwar Kerrys Sieg prophezeit haben, aber Thompson blieb immer ein politischer Kommentator mit Weitblick und ein wahrhaft innovativer Stilist, dessen Werk Schriftsteller, Journalisten und Dokumentarfilmer auf der ganzen Welt inspiriert hat (Hätte es ohne Hunter jemals einen Michael Moore geben können?). »Thompsons zügellose und überdrehte Prosa«, schrieb der Kriminalautor und Koch Anthony Bourdain, »hat mir nicht nur eine völlig neue Weise zu sehen und zu denken eröffnet … nein, ich habe eine ganz neue Lebensweise entdeckt. Ich habe den Doktor mit offenen Armen empfangen und in mein Herz geschlossen, eine lebenslange Liebe fürs Melodram entwickelt, für Übertreibungen, für schaurig grelle Bildhaftigkeit und lädierte Emotionen – wie meinen Sätzen immer noch anzumerken ist.«

Eine kolossale atomare Pilzwolke: Wie Thompsons Schriftstellerleben begann

»Hunter S. Thompsons beste Bücher, Fear & Loathing in Las Vegas und Fear & Loathing on the Campaign Trail ’72, trafen exakter als die von Tom Wolfe oder sonst jemandem den Puls jener Zeit. Schlägt man sie heute auf, spürt man immer noch den Herzschlag.«

– Salon.com

 

Sein erstes Buch Hell’s Angels: A Strange and Terrible Saga schrieb Hunter S. Thompson, nachdem er ein ganzes Jahr lang Kaliforniens härteste Motorradgang begleitet hatte. (Der Untertitel gemahnt an eine Formulierung von F. Scott Fitzgerald: Als hoffnungsvoller junger Romanautor tippte Thompson wieder und wieder Seiten aus The Great Gatsby ab, weil er hoffte, dadurch die Sprachmelodie seines Idols zu verinnerlichen.) Das Buch wurde ein Riesenerfolg, und allein im ersten Jahr nach seiner Veröffentlichung im Dezember 1966 wurden eine halbe Million Exemplare ausgeliefert. Als Nachfolgeprojekt schlug Thompson vor, eine gnadenlose Anklage gegen Amerikas Generalsstabschef als Ausgangsbasis für weitgreifende Reflexionen zum seiner Meinung nach drohenden Tod des amerikanischen Traums zu nutzen. Er unterschrieb 1968 einen Vertrag bei Random House und Ballantine. Von Jim Silberman, der Hell’s Angels redigiert hatte, mit viel Geduld unterstützt, verbrachte Thompson die nächsten beiden Jahre mit dem Versuch, diese zweifellos unausgegorene, wenn auch gefühlsgeladene Buchidee zu verfolgen. Letztendlich kam er damit so richtig nicht zu Rande, aber das übergeordnete Thema, diese »Sache vom Tod des amerikanischen Traums«, wie er es nannte, bildete die Grundlage seiner Artikel. Damals wurde er beim Parteitag der Demokraten in Chicago persönlich Opfer eines polizeilichen Übergriffs und musste erleben, dass der Vietnamkrieg unvermindert fortgeführt, der Hippie-Idealismus ausradiert wurde und Richard Nixon ins Weiße Haus einzog.

Wenn seine persönliche Präsenz auch bei weitem nicht so im Vordergrund steht wie in Fear & Loathing in Las Vegas, sondern sublimer in Erscheinung tritt, sah Thompson in der Ich-Form des Erzählers – seine Subjektivität im Gegensatz zu dem, was er die »Scheinobjektivität« des konventionellen Journalismus nannte – die prägende stilistische Eigenheit von Hell’s Angels. Während der Recherche und in dem Bemühen, für das geplante Buch zum American Dream eine Struktur zu entwickeln, nahm Thompsons »Gonzo«-Schreibstil allmählich Form an. Besonders in seinen Artikeln für Warren Hinckle bei Scanlan’s Monthly konnte er seine Methode verwirklichen. (Tom Wolfe beschrieb im Februar 1971 in einem Brief an den Autor dessen Arbeit für Scanlan’s als »so zum Brüllen, Mann, dass mir die Worte fehlen«.) Die Schilderung des Derbys in seiner Heimat Kentucky im Auftrag von Scanlan’s brachte Thompson mit dem englischen Illustrator Ralph Steadman zusammen. Ursprünglich wollte er mit dem Cartoonisten Pat Oliphant zusammenarbeiten, doch der sagte ab, und an seiner Stelle schickte das Magazin Steadman, dessen Arbeiten in Private Eye erschienen waren. Der Zeichner erwies sich als kongenial kreative Kontrastfigur, und in dem Artikel »Das Kentucky-Derby ist dekadent und degeneriert«, den er aus seinen rudimentären Notizen zusammenstellte, beschreibt Thompson in Ich-Form seinen Partner Steadman als alkoholisierten Diener Passepartout neben dem von ihm selbst verkörperten Phileas Fogg, der Mint Juleps in sich hineinschüttet. (»Unter Zwang geschrieben von Hunter S. Thompson« und »gezeichnet mit Augenbrauenstift und Lippenstift von Ralph Steadman« behaupteten, glaubwürdig genug, die Verfasserzeilen.) Und als Thompson die Chance bekam, Fear & Loathing im Rolling Stone zu veröffentlichen, bestand er darauf, dass Steadman Illustrationen beitrug, und sagte später seinem Lektor Jim Silberman, Steadman sei der »einzige Illustrator, von dem ich sicher bin, dass er die Idee des Gonzo-Journalimus verstanden hat«.

Scanlan’s ging jedoch Pleite, und Thompson blieb auf einem Schuldenberg sitzen, den er mit seiner American-Express-Karte angehäuft hatte, und zudem hatte er die Steuer im Nacken. Zum Zeitpunkt des Bankrotts hatte er einen Artikel vorbereitet, der sich mit dem angeblichen »Unfalltod« beschäftigte, den Ruben Salazar im Gewahrsam der Polizei von Los Angeles erlitten hatte. Salazar, ein Chicano, war Journalist und Mitstreiter von Thompsons Freund Oscar »Zeta« Acosta, einem Anwalt, Bühnenautor, Aktivisten und geselligen Drogenfreund. (Acosta starb unter ebenfalls mysteriösen Umständen 1977 irgendwo in Mexiko.) Der Artikel wurde schließlich vom Rolling Stone angenommen, für den zu schreiben Hunter im Juli 1970 begonnen hatte. Jan Wenner, Gründer und Chefredakteur, erinnerte sich am 20. Geburtstag des Magazins, dass Hunter sich bei seinem ersten Besuch in den Büroräumen des Rolling Stone eine Perücke mit Minipli-Dauerwellen über den Kopf gestülpt hatte und ein Sechserpack Bier in der Hand trug.

Während er im Frühling 1971 den Salazar-Artikel für den Rolling Stone zu Ende brachte, nahm der um Bargeld verlegene Autor von Sports Illustrated den 250-Dollar-Auftrag an, über das Motorradrennen Mint 400 zu berichten. Er lud Acosta ein, ihn zu begleiten. Man erwartete von Thompson ungefähr 1500 Wörter – die genaue Zahl variierte im Laufe der Jahre mal nach oben und mal nach unten. Thompson jedenfalls lieferte fast 15 000 Wörter ab, und seine Story wurde von Sports Illustrated abgeschmettert. »Früher oder später«, schrieb der empörte Thompson an den Redakteur Tom Vanderschmidt, »werden Sie feststellen, dass (Ihr Anruf bei mir) eine kolossale atomare Pilzwolke ausgelöst hat … Und wenn Sie zum Schluss den Feuerball erblicken, dann vergessen Sie nicht, dass es alles Ihre Schuld war.« Und so war es in der Tat, denn in Las Vegas war Thompson endlich auf seinen amerikanischen Traum gestoßen.

Er schickte einen Entwurf seines ersten Vegas-Reports an Tom Wolfe und informierte seinen Kollegen, er habe die Zeilen »berauscht von Drogen und Alkohol in einer einzigen Nacht« runtergehauen und später dann in einem Motel in Pasadena wortgetreu abgetippt. Einem Brief an Silberman im Juni 1971 ist jedoch zu entnehmen, dass Thompson nicht unter Drogen stand, als er den Einstieg von Fear & Loathing schrieb. Es handelte sich stattdessen um »den ganz bewussten Versuch, einen Horrortrip zu simulieren«. Er protestierte: »Ich habe mir nichts ausgedacht – sondern nur ab und zu in die unmittelbare Realität Situationen und Empfindungen eingebracht, die mir aus anderen Zusammenhängen lebhaft präsent waren.« Er bat Silberman, nichts über seinen Drogenkonsum an jenem Wochenende verlauten zu lassen. Schließlich behauptete er später in The Great Shark Hunt, »nur ein gottverdammter Irrer würde so etwas schreiben und behaupten, es sei die Wahrheit«. (»Bis jetzt«, sollte Thompson 1989 bemerken, »habe ich noch keine Droge gefunden, von der man auch nur annähernd so high würde wie von der Arbeit am Schreibtisch.«)

Wahrheit oder Dichtung, unter Drogen oder nicht, das Ergebnis war jedenfalls »eine biestige Tirade aus 15 000 Wörtern«. Wenner beim Rolling Stone gefielen »die ersten ungefähr 20 chaotischen Seiten« von Thompsons »grotesker Vegas-Vision« so gut, dass er sie veröffentlichen wollte. Am 25. April 1971 kehrte Thompson zusammen mit Acosta nach Las Vegas zurück, um die Drogen-Tagung der Bezirksstaatsanwälte zu besuchen und Material für einen ins Auge gefassten Artikel im Rolling Stone und ein kurzes Buch zu sammeln. »Fear & Loathing in Las Vegas« von einem gewissen Raoul Duke und illustriert von Ralph Steadman erschien zum allerersten Mal in den Ausgaben des Rolling Stone vom 11. und 25. November 1971. Trotz juristischer Einsprüche Acostas gegen seine fiktive Darstellung als »300 Pfund schwerer samoanischer Anwalt« wurde das Buch im folgenden Jahr veröffentlicht und ist seither nicht einmal vergriffen gewesen. Hunters Freund, der Romanautor William Kennedy, schrieb 1998, es sei »eines der komischsten und originellsten Bücher der vergangenen drei Jahrzehnte«.

Thompsons politisches Engagement war im Februar 1968 durch eine kuriose Begegnung mit dem damaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon ausgelöst worden. Thompson wurde während des Wahlkampfs in New England eingeladen, ein Stück mit Nixon in dessen Limousine mitzufahren, und zwar unter der Bedingung, dass er »über nichts anderes als Football« sprach. Im August 1968 besuchte er den Nominierungsparteitag der Demokraten in Chicago, bei dem es zu schlimmen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei, Vietnamkriegsgegnern und Bürgerrechtsdemonstranten kam. Trotz seines Presseausweises wurde Thompson von Knüppel schwingenden Polizisten durch eine Schaufensterscheibe gestoßen, als er versuchte, eine Absperrung zu durchbrechen. Dieser Zwischenfall, sagte er später, habe ihn vom Journalisten in einen »kaltblütigen Revolutionär« verwandelt. Als politischer Korrespondent des Rolling Stone berichtete er anschließend direkt aus dem Zentrum des demokratischen Wahlkampfteams über das Rennen zwischen Nixon und McGovern: Ergebnis war Fear & Loathing: on the Campaign Trail ’72, von McGovern als das »wertvollste Buch über den Wahlkampf« bezeichnet und von der New York Times als das »beste Wahlkampfbuch, das je erschienen ist«, gelobt. Nach Nixons Abdankung wegen des Watergate-Skandals widmete Thompson seine Anthologie The Great Shark Hunt ausdrücklich »Richard Milhous Nixon, der mich niemals im Stich gelassen hat«.

20 Jahre später nahm er aktiven Anteil an Clintons Präsidentschaftskandidatur, ohne je aus dem Haus zu gehen. Seine Kommentare veröffentlichte er in dem Sammelband Better Than Sex, in dem sich auch »Er war ein mieser Gauner« findet, sein galliger Nachruf auf Nixon. »Er hat unsere Brunnen auf alle Zeiten vergiftet«, schreibt er. »Nixon wird man als den klassischen Fall eines smarten Mannes, der das eigene Nest beschmutzte, für immer im Gedächtnis behalten. Aber er beschmutzte auch unsere Nester, und dieses Verbrechen wird in der Geschichte als Schandmal für immer unvergessen bleiben. Indem er das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten schändete und entehrte, indem er aus dem Weißen Haus flüchtete wie ein räudiger Köter, hat Richard Nixon dem amerikanischen Traum das Herz gebrochen.«

Der »Gute Doktor« sagt: »Wenn die Sache irre wird, werden die Irren zu Profis«, und so griff auch Thompson 1970 nach der politischen Macht und bewarb sich im Pitkin County, Colorado, um den Posten als Sheriff. Als Kandidat der Freak-Power-Bewegung trat er für die Entkriminalisierung von Drogen ein und empfahl, die Bezirksstadt Aspen in »Fat City« umzutaufen. Der amtierende Sheriff war ein Republikaner mit Bürstenhaarschnitt, was Thompson dazu veranlasste, sich den Kopf kahl zu scheren und den Rivalen als »meinen langhaarigen Gegner« zu bezeichnen. Er verlor, blieb aber zum Unmut der lokalen Bürger, mit denen er seither in Fehde lag, auf der Owl Farm Ranch wohnen, seinem befestigten Landbesitz in der Nähe von Aspen. Der Besitz war als »Rod and Gun Club« ausgewiesen, und Jimmy Carter und Keith Richards zählen zu denjenigen, die dort auf Tontauben geschossen haben. Thompson sagt man nach, im Keller ein Fass mit Schießpulver gelagert zu haben.

Thompson nahm sich im Februar 2005 im eigenen Haus das Leben.

Was ist Gonzo?

Wer Gonzo ist? Oder was? Gonzo ist – eben Gonzo: ein Mischwesen, teils Geier, teils Kleiderhaken, teils blaues Plüschtier mit einem Faible für Hühnchen. Ausgebrütet wurde er in Jim Hensons Fabeltierwerkstatt, um in der Muppet Show aufzutreten. Und wenn man nicht einmal dort herausbekam, wer oder was er eigentlich war, wie, zum Teufel, sollte es uns gelingen? Aber wir erkennen ihn sofort, wenn wir ihn sehen: Er ist Gonzo der Große, der hektische blaue Muppet mit dem wirren Blick. Er ist derjenige, der die Stunts übernimmt, wenn auch ziemlich unbeholfen. Die nächste Frage, bitte …

Für seinen »Gonzo«-Journalismus ist Hunter S. Thompson seit Fear & Loathing in Las Vegas berühmt. Wie unser blauer Freund, der plüschige Muppet, ist auch dieses Gonzo ein Mischprodukt. »Ist es Reportage, ist es Dichtung … Was ist es denn nun? Es ist Gonzo!« Oder auch nicht, denn Dr. Gonzo persönlich bezeichnete sein berühmtestes Werk Fear & Loathing in Las Vegas als ein misslungenes Experiment des »Gonzo«-Journalismus. Und Frank Mankiewicz, George McGoverns Pressesprecher, sollte über Fear & Loathing: On the Campaign Trail ’72 sagen, es sei der »wahrheitsgetreuste und unsachlichste« Bericht über die Wahl. Wie auch immer. In dem Wörterbuch, das am schnellsten zur Hand ist, wird der »Gonzo«-Stil als »eigenwillig subjektiver Journalismus … im späten 20. Jahrhundert, mit ungeklärtem Ursprung« definiert. Überraschenderweise finden sich keine Eintragungen zu Gonzo der Große oder Muppets.

Thompson selbst hat die Bezeichnung ganz gewiss nicht erfunden, aber sein Artikel »Das Kentucky-Derby ist dekadent und degeneriert« im Jahr 1970 für das Scanlan’s Magazine soll Bill Cardoso vom Boston Globe angeblich inspiriert haben, den Begriff zum ersten Mal im literarischen Sinn zu benutzen. Cardoso, in Journalistenkreisen ein Hippie-Bruder im Geiste, sah mit seinem Stetson und dem herabhängenden Oberlippenbart haargenau aus wie Sgt. Floyd Pepper, der Bassist in Dr. Teeth’s Electric Mayhem Muppet Band. Mit dem Satz »Hey, du bist doch der Knabe, der das Buch über die Hell’s Angels geschrieben hat«, sprach Cardoso 1968 Thompson an. Er las den Artikel über das Kentucky-Derby, schrieb lobend darüber und empfahl ihn als »total Gonzo« – eine Formulierung, die seiner Ansicht nach zurückging auf das frankokanadische gonzeaux, was »leuchtender Pfad« bedeutete. Cardoso stand, wie man sagte, mit gewissen Rauschmitteln der milderen Sorte auf freundschaftlichem Fuß. Prompt, aber »ohne besonderen Grund« übernahm Thompson den Ausdruck und benutzte ihn für den an »Method-Acting« und »Stream-of-Consciousness« orientierten Schreibstil, den er seit längerem anstrebte.

In seiner Einführung zur Anthologie des New Journalism von 1975 erinnerte Tom Wolfe daran, dass in den frühen 60er Jahren die eigenartige neue Ansicht aufgekommen war, »dass es möglich sein könne, einen journalistischen Text so abzufassen, dass er sich lesen würde wie … ein Roman«. Vorreiter der Bewegung New Journalism waren Autoren wie Gay Talese, George Plimpton und später auch Wolfe selbst; sowie Thompson, nach dessen Überzeugung der große Durchbruch bereits mit Jack Kerouacs On the Road eingeleitet worden war. Als er an Fear & Loathing schrieb, behauptete er, zweifellos auch im Hinblick auf seine eigene »Zwei-Männer-in-einem-Auto«-Erzählung, Kerouacs Werk sei ein »langes ausschweifendes Stück persönlicher Journalismus«.

Vielleicht ist das Charakteristische die Abschweifung. Oder das Autobiographische. Man nutze, wie Wolfe es tat, Interpunktion und Typographie, die »ungenutzt vor sich hingedämmert hatten«. Das Bindeglied in dieser literarischen Schule, in der stets unterschiedlichste Auffassungen herrschen sollten – im Laufe der Zeit gesellten sich Romanautoren wie James Baldwin, Norman Mailer und Truman Capote dazu, die sich auf dem Sektor der Sachliteratur breitmachten –, war jedoch die gemeinsame Absicht, »die Trennungslinie zwischen Fiktion und Journalismus nicht mehr anzuerkennen«. Man wollte sich von dem Anspruch der Objektivität lösen, um überzeugende Schilderungen der irritierenden Realität des aktuellen Lebens zu bieten, um eine Gesellschaft zu beschreiben, in der immer mehr Menschen zu Drogen griffen und Rockmusik hörten, und die nicht mehr repräsentiert wurde von den konservativen Typen in Filzhut und Trenchcoat, die an der Tür aufkreuzten und Fragen stellten.

Bei »Gonzo« ging es also darum, sich der Wahrheit zu nähern, auch wenn das nur mit der Technik der Lüge zu erreichen war. Wie Thompson in The Great Shark Hunt schrieb, gründete er sein Konzept auf »William Faulkners Vorstellung, dass die beste Fiktion weitaus wahrer ist als jede Art von Journalismus – und die besten Journalisten haben das schon immer gewusst«. Während er meinte, Wolfe sei »viel zu zappelig, um an seinen eigenen Geschichten teilzuhaben«, warf sich der hedonistische Thompson mit Verve auf eine ausgewachsene literarische Variation von Heisenbergs Unschärfeprinzip und machte sowohl den Akt der Beobachtung als auch den eigenen Einfluss auf die Ereignisse, die er beobachtete, auf dem Papier kenntlich.

So wie der Autor zum Mittelpunkt seiner Geschichte wurde, erging auch an den Gonzo-Leser die Einladung zur Teilnahme. In seinen »Instruktionen für die Lektüre des Gonzo-Journalismus« vom November 1971 riet der »Gute Doktor«, nicht ganz ernsthaft, »einen halben Liter Rum, Tequila oder Wild Turkey direkt in den Magen zu injizieren, um die Saga unter angemessenen Bedingungen zu erleben« und wies zudem darauf hin, dass »Körper & Geist extrem stimuliert werden müssten, und zwar durch Drogen und Musik«. Dieser Gonzo, hatte es den Anschein, hatte wirklich das Zeug, »der Große« zu sein. Das mit den Hühnchen aber bleibt eine andere Sache.

Links zu weiteren Informationen

www.ralphsteadman.com

Die umfassende Website des Illustrators von Fear & Loathing in Las Vegas

 

www.gonzo.org

Eine erstklassige Fansite mit einer Reihe von Bildern, Textauszügen, Interviews und Artikeln

 

www.doodah.com

Gonzo-Artikel aller Art

 

www.mcgovernlibrary.com

Die Site des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten