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Gunter Gerlach

Stellvertreter der Wut

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Der Mensch denkt

Gunter Gerlach wurde 1941 in Leipzig geboren. Er absolvierte eine Ausbildung an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, arbeitete als Texter und Fotograf. In Hamburg wohnt er noch heute, mit dem Blick über die Dächer St. Paulis. Er veröffentlichte mehrere Romane und Krimis und gewann einige Literaturpreise – unter anderem den Deutschen Krimi Preis und mehrmals den Friedrich-Glauser-Preis. Er ist Mitbegründer des »Hamburger Dogmas« und veranstaltet die wöchentlichen Literatur-Quickies in Hamburg. www.gunter-gerlach.de

GUNTER GERLACH

STELLVERTRETER
DER
WUT

KRIMINALROMAN

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Originalausgabe

»Kapitalismus ist für mich
die ökonomische Spielart des Sadismus.«
Santiago Sierra

»Ich tu das, was ich tue, weil ich es tun muss,
nicht, weil ich denke, ich werde gewinnen.«
Arundhati Roy

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

1. Kapitel

Ich schwenkte meinen Hintern, um den Mann von meinem Dasein als Frau zu überzeugen.

Am Himmel die dunkelblaue Tinte des Tiefschlafs. 3.10 Uhr, die richtige Zeit, die Welt zu verbessern.

Vor zwei Nächten hätte ich schon unterwegs sein müssen, mein kleines Verbrechen zu begehen, aber ich brauchte immer einen Anstoß. Heute Mittag beobachtete ich eine blonde Frau, die ihr orangefarbenes Kleid wie ein Fahne um den Mast ihres Körpers trug, mal flatterte es, mal wickelte es sich um sie. Mehr Stoff als notwendig. Dieses Bild blieb den Rest des Tages in meinem Kopf – und am Abend wurde es Anstoß, in der Nacht loszulegen.

Wenn ich Limette, die ich bei allem um Rat fragte, diese Beobachtung erzählt hätte, hätte sie wieder behauptet, ich hätte mich in diesem Moment verliebt, könnte dieses Gefühl nur nicht zulassen oder weigerte mich, es so zu benennen. Wir diskutierten oft darüber, was Liebe ausmachte. Ich wusste es nicht.

Vielleicht lag es daran, dass es mir – wie jetzt – immer wieder gelang, meine Emotionen einfach abzustellen. Ich legte einen Schalter um, er trennte eine Seite meines Gehirns von der anderen. Natürlich hatte ich das schon als Jugendlicher trainiert, keine Gefühle mehr zuzulassen. Ich hatte festgestellt, dass es immer zu meinem Nachteil war, in der Schule, auch zu Hause, wenn ich mich meinen Gefühlen überließ. Ich spielte sie stattdessen, wie ein Schauspieler mit regulierbarer Intensität.

Ich parkte an der Hauptstraße gleich nach der großen Kreuzung, legte den Schalter um, der meine Gehirnhälften trennte, und stieg aus. Ich kontrollierte erneut, ob mein Handy wirklich ausgeschaltet war. Obwohl ich das gleich zu Beginn der Fahrt getan hatte. Nicht nur wegen möglicher Anrufe, mehr noch, damit man mich nicht anpeilen oder nachträglich meinen Weg rekonstruieren konnte. Die digitale Welt schränkt die Freiheit ein.

Hinter mir ließ der Wagen seine Gelenke knacken. Auf der Ausfallstraße lieferten sich zwei schwarze Wagen ein Rennen, und als Vorsichtsmaßnahme klappte ich den Seitenspiegel ein, dann marschierte ich in Richtung des Vorstadthotels, die Sporttasche über der Schulter. Möglicherweise hatten die beiden Rennfahrer jemanden aus dem Schlaf geholt, und er war jetzt auf dem Weg zur Toilette, schaute kurz aus dem Fenster. Ich ließ mich von ihm als Hotelgast einordnen. Schon verlor er das Interesse an mir. Meine dünnen Latexhandschuhe konnte er nicht gesehen haben. Jedenfalls stellte ich mir das so vor.

Das Blau des Himmels nahm die Farbe von Polizeiuniformen an.

Ich nutzte den Torweg zum Parkplatz des Hotels zum Umkleiden. Aus der Tasche zog ich meine Langhaarperücke; echtes, schwarzes Haar aus China. Ich erfreute mich immer an dem Gedanken an eine DNA-Analyse des Haares durch die Spurensicherung. Beim Gehen ließ ich den unter meiner Jacke hochgerollten, schwarzen Rock über meine Jeans herab. Aus der Entfernung, hoffte ich doch, verließ ich den Torweg als Frau.

Natürlich wusste ich, wem ich ähnlich sehen wollte. Almut, die mich vor fünf Jahren mit der Aufforderung verlassen hatte, endlich etwas zu tun, politisch aktiv zu werden. Immer trug sie zu schwarzem Haar schwarze Kleidung und oft eine Jeans unterm Rock. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Nun musste ich mich in manchen Nächten in sie verwandeln.

Hinter dem kleinen Vorstadthotel führte eine Sackgasse fast wieder zur großen Kreuzung. In meiner Sporttasche tastete ich nach den Bomben. Sie waren sehr empfindlich, und immer befürchtete ich, dass Farbe auslaufen könnte, dann müsste ich die Aktion sofort abbrechen. Ich benutzte gewöhnliche, schwarze Farbe, die es in mehreren Baumärkten gab, aber mit ihr unter den Fingernägeln wollte ich nicht in der Nähe meines Zielobjektes erwischt werden.

Den Weg hatte ich genau erkundet, um immer wieder aus dem Blickwinkel möglicher Beobachter verschwinden zu können. Ich blieb stehen, lauschte. Drei Autos querten die Kreuzung, ich sah sie nicht, hörte nur das Schlürfen ihrer Reifen. Ab einer bestimmten Preisklasse hörte man den Motor nicht mehr. Der wahre Luxus ist, nicht daran erinnert zu werden, womit man die Welt zerstört. Ein Zitat von Almut.

Ich vermisste Almut. Ich hätte sie heiraten sollen. Liebe oder nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich keine Verwandten mehr besaß. Mein Vater hatte sich nie offenbart, meine Mutter lebte seit Jahren in einem Heim. Es war zwecklos, sie zu besuchen. Sie erkannte mich nicht, wusste nicht einmal, dass sie einen Sohn hatte.

Es war kein Mensch außer mir unterwegs. Manchmal dachte ich, wenn ich wirklich dem Bild einer Frau entsprach, die so spät in der Nacht unterwegs war, könnte ich auch mal Objekt verbrecherischer Begierden werden. Die Welt war voller Krimineller, das unmoralische Wirtschaftssystem produzierte sie. Denn um des eigenen Vorteils willen ging man so weit, die Existenz des Geschäftspartners zu vernichten. So ein geschäftliches Verhalten übertrug sich aufs Privatleben, prägte unsere Kultur.

Der potentielle Vergewaltiger aber, der sich gerade in die Schwärze eines Hauseingangs drückte, sah wohl doch, dass unter dem Rock keine Frau steckte, hielt mich vielleicht für einen Lockvogel der Polizei. Sie war dafür bekannt, das Verbrechen, das sie bekämpfte, durch V-Leute zu provozieren. Es bestätigte ihre Existenz und erhöhte die Quote der Aufklärung.

In dem mehrstöckigen Mietshaus an der Straßenecke leuchtete ein Fenster weit oben. Das war auch schon zwei Nächte zuvor so gewesen. Wahrscheinlich lag dort der tote Mieter der Wohnung, von einem Einbrecher vor Tagen mit der Bratpfanne erschlagen. Niemand vermisste ihn, weil ihn keiner gekannt hatte. Das kam davon, wenn man immer an der Wohnungstür lauschte und erst dann das Treppenhaus betrat, wenn kein anderer zu hören war. Dann blieb man ein Unbekannter. Man würde ihn erst finden, wenn sein Briefkasten mit der Supermarktreklame überquoll und der Verwesungsgeruch unter seiner Tür durchzog.

Ich bog in die nächste kleine Straße ein. Hier mischten sich Einfamilienhäuser aus zwei Jahrhunderten. Stuck- und rote Backsteinfassaden, dazwischen brüsteten sich Wintergärten mit großen Stahlfenstern moderner Villen. Vorgärten mit Büschen wie Tiere, die sich aufrichteten oder duckten. Das dritte Haus aus rotem Klinker war mein Ziel. Ich griff in die Tasche und warf im Vorbeigehen mit einer lang geübten Bewegung drei meiner Farbbomben gegen die Fassade. Ich sah nicht hin. Am Geräusch des platzenden Gummis erkannte ich, dass ich getroffen hatte.

Wer nicht so genau hinsah, so hoffte ich immer, bemerkte meine Würfe gar nicht. Der gründlichere Beobachter sah eine Frau, die Farbbomben warf. Aha, die heimliche Geliebte wollte sich rächen. Immer hatte er geschworen, seine Frau zu verlassen, und war dann doch zu ihr zurückgekehrt. Er konnte froh sein, dass sie sich für die Farbbomben und nicht für das Gift im Kaffee entschieden hatte.

Ich marschierte noch ein paar Häuser weiter, dann wendete ich und bemerkte eine Bewegung und hörte einen Atemzug an rauen Bronchien entlang. Am Nachbarhaus stand ein Fenster weit offen. Jemand lauerte dort in der dunklen Höhle.

»So spät noch unterwegs?« Die tiefe Stimme eines Mannes. Ich zuckte zusammen. Es musste einmal geschehen, dass man mich beobachtete.

Ich war vorbereitet: »Ich komme vom Training.« Mit der Stimme einer Frau.

»Schönes Training.«

»Gute Nacht«, zwitscherte ich. Das Spiel bereitete mir Vergnügen, obwohl ein Beobachter höchste Gefahr bedeutete.

Ich schwenkte meinen Hintern, um den Mann von meinem Dasein als Frau zu überzeugen.

2. Kapitel

Der Gedanke befiel mich wie eine flüsternde Stimme am Ende eines Revolverlaufs, der sich in meinen Rücken bohrte.

Am nächsten Morgen auf dem Weg zu Clarissas Café, das sich abends in eine Bar verwandelte, befiel mich ein Gedanke wie eine flüsternde Stimme am Ende eines Revolverlaufs, der sich in meinen Rücken bohrte. Ich würde nachholen, was ich bei Almut versäumt hatte, und Clarissa jetzt einen Heiratsantrag machen. Die Waffe in meinem Rücken drückte mir den Bauch heraus. So geformt betrat ich die Bar, fest entschlossen, Clarissa zu heiraten, wenn sie Ja sagen würde.

Liebe würde sich schon einstellen.

Clarissa lehnte hinter dem Tresen an dem Flaschenregal und lüftete mit den Fingern ihre dunkelroten Locken. Vor ihr saß Daniel, hatte die Pfoten auf den Tresen gelegt als Zeichen ehrlicher Absichten. Kein Schwarz unter den Nägeln, aber die Gesellschaft Clarissas hatte sie ihm gekrümmt. Er hechelte leicht, um seiner Bewunderung etwas Ausdruck zu verleihen.

Clarissa stieß sich mit den Ellbogen vom Regal ab, der Tropfen am Wasserhahn über der Spüle nickte mir zu und ließ sich fallen. Die Flaschen im Regal hinter Clarissa stießen einander an. Sie trugen einen heimlichen Wettbewerb um ihre Beliebtheit aus, Sieger war, wessen Flüssigkeit am niedrigsten stand. Manchmal griff ich zugunsten selten verlangter Flüssigkeiten ein, um einen Gleichstand herzustellen. Ich war der Spezialist für Gerechtigkeit.

Alkohol, die letzte legale Droge zum Überleben, die gleichzeitig das Leben verkürzte. Das Leben war – im Gegensatz zu den Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen – jederzeit tödlich und nicht erst nach Ausprägung eines Lungenkarzinoms!

Clarissa drehte den Kopf in Richtung Kaffeemaschine und verschickte jenes Lächeln gratis, für das alle Gäste kamen. Als Bonus zu jedem Glas.

»Du siehst müde aus, Holm.«

»Ich habe wenig geschlafen.« Ich betrachtete meine Fingernägel. Eine ständige Geste. Immer dachte ich, sie wären schwarz von der Farbe.

»Wie wär es mit einem doppelten Espresso?«

»Nein, wie immer einen Milchkaffee.«

Daniel, heute aufrechter Deutscher Schäferhund – eine seiner Lieblingsrollen – knurrte leicht, würde mich wohl gern wegbeißen. Aus der Tiefe seiner Kehle kam auch ein »Holm« als Begrüßung und Drohung.

Almut hatte mich so genannt. Aus Christian Holmeier einfach Holm gemacht. Man brauche einen Kampfnamen, hatte sie gesagt.

Vielleicht ahnte Daniel meine Absicht, Clarissa einen Antrag zu machen, um ihr Lächeln für den Rest meines Lebens für mich zu reservieren. Er wusste zwar, dass ich so tun konnte, als wäre ich verliebt – und es doch nie war. Was war schon Liebe? Etwas, das nachließ, sich veränderte und nur Schwierigkeiten brachte. Manchmal sogar zu Mord, Totschlag oder früher zu Kriegen führte. Ein rationaler Entschluss, mit jemandem zusammenzuleben, sollte dagegen gleichmäßiger und dauerhafter funktionieren.

Clarissa hüpfte die drei Schritte zur Kaffeemaschine. Ein Kind mit Springseil. Es war eine Show für uns beide, die einzigen Gäste.

Daniel drehte sich auf dem Hocker, sank etwas zusammen, und ich befürchtete schon, er verwandle sich in den Glöckner von Notre Dame, eine andere seiner Lieblingsrollen, um Clarissas Aufmerksamkeit zu behalten. Er blieb Hund, bleckte die Zähne.

»Ich brauche dich übermorgen.« Ich zog zwei Konzertkarten aus der Tasche und gab ihm eine. Wenn ich mich mit einem Auftraggeber traf, nahm ich manchmal Daniel mit. Außer meinem Sicherheitsbedürfnis gab es keinen Grund dafür.

»Danke. Aber ist die Band nicht zu laut, zu chaotisch?«, kommentierte er die Eintrittskarten.

»Musst du durch.«

Obwohl ich Daniel nie vollständig gesagt hatte, wie ich mein Geld verdiente, ahnte er wohl das Meiste, aber er fragte nie. Anfangs ließ ich ihn sogar anonyme E-Mail-Adressen für mich anlegen, auf die er dann natürlich auch Zugriff hatte. Ich nutzte die Adressen als fiktive Absender von Briefen voller Empörung und Groll bis hin zur Beschimpfung. Daniel wollte wohl von meiner Arbeit offiziell lieber nichts wissen, um bei einer möglichen Befragung durch die Polizei mit überzeugender Ehrlichkeit antworten zu können, er habe keine Ahnung.

»Holm, warum nimmst du mich nie mit in ein Konzert?«, fragte Clarissa und schob den Milchkaffee über den Tisch.

»Damit deine Ohren geschont werden, ihre hübsche Form nicht verlieren oder vorzeitig welken.«

»Was weißt du von meinen Ohren?«

»Ich weiß alles darüber, welche Vorlieben sie haben und wie man sie behandeln und pflegen muss.«

Daniel hüpfte von Hocker zu Hocker, machte die Arme lang und stieß Affenlaute aus. »Und gleich laust ihr euch!«, schnauzte er.

Clarissa war schon dabei, eines ihrer Ohren freizulegen, damit ich etwas, dass ihr gut tun würde, hineinflüstern konnte, ließ das Haar aber zurückfallen. Es wäre mein Heiratsantrag gewesen. Daniel duldete keinen Mann an Clarissas Ohren, obwohl er von ihr immer eine Abfuhr erhielt. Fasste er seine Bewunderung in Wörter, hob sie den Kopf weit zurück und betrachte ihn von dort oben mit geschlitzten Augen und herabgezogenen Mundwinkeln, so wie sie auf eine Horde schleimiger Monster herabsehen würde, die sich erlaubt hatte, sich an ihrem Tresen niederzulassen, um sie dann mit den Worten »Ihr kriegt hier nix« zu verscheuchen.

Daniel liebte diese Demütigungen wie viele Männer, die es für ein notwendiges Ritual der Eroberung hielten. Er zog dann die Beine auf die Hockerfläche hoch, umarmte sich und tat so, als würde er weinen, bis Clarissa eine Hand ausstreckte, ihm über die langen Haare fuhr und sagte: »Nimm es nicht so.«

Natürlich erwartete er, dass sie mit ihm schlief. Eines Tages. Wahrscheinlich stellte er es sich gerade vor. Ich stellte es mir auch vor.

»Themenwechsel«, befahl Clarissa unseren Gehirnen. Sie wusste einfach, was in den Köpfen ihrer Gäste vorging. Sie schob mir ein Schild hin, das John, der Mitbesitzer der Bar, an der Eingangstür befestigen wollte. Es erlaubte nur Gästen die Toilettenbenutzung.

»Freiheit nur, wenn du bezahlt hast. So ist es seit dem Sieg des Kapitalismus«, kommentierte Daniel.

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist viel schlimmer. Man will eine bestimmte Gruppe vom Vergnügen ausschließen. Wenn du nicht genug Geld hast, um dein Bier in der Bar zu trinken, du es nebenan im Kiosk billiger kaufst und es auf der Straße vor der Bar trinkst, will man dich hier als Pisser nicht haben.«

Clarissa legte die Stirn in drei kleine, parallele Falten. »Ich habe einfach ein dummes Gefühl dabei, wenn ich es an der Tür befestige.«

»Natürlich, es könnte ja sein, dass einer kommt und gegen Tür und Schild uriniert, du ihn verjagen willst, woraufhin sich die vom Urinal ausgeschlossenen Männer versammeln, sich gewaltsam Zutritt zur Toilette verschaffen, und da sie den Schwanz schon mal draußen haben …«

»Hör auf.«

Ich schob ihr das Schild wieder zu. »Diese Gesellschaft fördert es, dass manche zum Leben nicht genug verdienen. Wirtschaft und Kultur schöpfen Gewinn aus den Unterschieden zwischen Arm und Reich, Klug und Dumm. Und dieses Schild ist eine Methode, den Ärmeren bewusst zu machen, dass sie zu den Verlierern gehören. Hinsichtlich einer kommenden Revolution ist das gut. Andererseits ist es Ausdruck des triumphierenden Unmenschen.«

Clarissa grinste. »Ja, Herr Professor, wir sollten das unten auf das Schild schreiben.«

Ein weiterer Gast, ein blonder Riese, öffnete die Tür weiter als notwendig, um mit Bedeutung einzutreten, kam mit der Brust einer Taube und stählernen Schuhabsätzen herein, marschierte mit ausgestreckter Hand auf Clarissa zu und sagte: »Ich glaube, ich werde diese Bar zu meiner Lieblingsbar machen. Dann stellte er sich ihr als Gandalf vor.

»Wie der Zauberer?«, fragte ich leise. Aber laut sagte ich: »Angenehm, Dolph Lundgren.« Als hätte er sich mir vorgestellt.

Ich hatte eine geringe Ähnlichkeit mit diesem Bösewicht aus zahlreichen Hollywoodfilmen – nur, dass ich sehr viel kleiner war.

Es irritierte ihn tatsächlich. Ich bekam einen Blick. Er verriet, Gandalf hatte seine Augen nicht vollends unter Kontrolle, eines blickte geringfügig in eine andere Richtung als das andere. Er stützte sich auf den Tresen, auch Clarissa tat es und ihre Köpfe kamen sich näher als erlaubt. Sie hatte diese Geste perfekt drauf. Alle dachten, sie könnten sie haben, aber das war ein Irrtum. Vielleicht würde ich nach meinem Heiratsantrag auch nur getätschelt und bekäme zur Antwort: »Nun lass mal gut sein.«

Clarissa befeuchtete sich die Lippen, dann fragte sie den Neuen: »Was darf es sein?«

»Alles«, antwortete er und hob das Kinn, um seine Kehle wehrlos zu zeigen und dann fuhr er fort: »Aber ich beginne mit einem Aperitif.« Dann nannte er die Zutaten, Mengen und die Reihenfolge der Zubereitung. Etwas Neues. Clarissa vergrößerte ihre Augen.

»Es heißt Green Gandalf

Ich legte das Geld für den Kaffee auf den Tresen und bekam einen Blick von Clarissa, der vor mir auf der Flucht war. Sie wusste, dass ich wusste, welches Spiel sie gerade trieb. Es beeinflusste mich trotzdem. Denn vielleicht funktionierte bei ihr der Mitleidseffekt für Männer, deren Körper mit kleinen Fehlern ausgestattet waren. Und hier stand ein großartiges Exemplar mit Silberblick.

Ich öffnete die Tür, hinter mir der Klang von Eiswürfeln, die sich in einem Glas drängelten. Warum hatte ich mit meinem Heiratsantrag gezögert? Ich wünschte mir, auf der Straße von einem Auto überfahren zu werden. Wie oft geschahen Unfälle, die keine waren? Wahrscheinlich ziemlich häufig. Neulich las ich, dass zum ersten Mal mehr US-Soldaten Selbstmord begangen hatten, als bei Kriegshandlungen getötet wurden. Nicht gerechnet jene vielen, die sich beim Reinigen der Waffe mal kurz in den Kopf schossen. Etwas, das den Unglücksfällen zugerechnet wurde.

Ich musste mich beeilen, mein Material war aufgebraucht, um auf Hausfassaden Spuren zu hinterlassen. Keine Farbe mehr, keine Latexhandschuhe, keine Luftballons. Meine kleine Sporttasche wechselte ich auch jedes Mal. Ich musste sie vernichten und eine neue kaufen. Mit den Farbbomben vertrat ich sehr effektiv die Meinungen meiner Auftraggeber gegenüber Behörden, Politikern oder Vorgesetzten und Privatpersonen. Die Farbe auf Fassaden oder Autos machten sich auf den Fotos in der Presse sehr gut. Natürlich nahm ich meinen Kunden schon durch das Gespräch mit mir viel ab. Aber sie erwarteten auch, dass ich ihre Wut stellvertretend auslebte, Briefe, eher anonyme Mails der Empörung schrieb, Farbbeutel auf die Häuser der Politiker warf, die Autos der Ungerechten und Ausbeuter anzündete – oder auch mal ein paar Scheiben einwarf. Aber das war mir meist zu laut. Ich arbeitete noch an einer Technik, die eine Schaufensterscheibe erst dann zerspringen ließ, wenn ich mindestens hundert Meter weitergegangen war.

Ich wünschte, Almut wüsste, was ich machte. Es hätte ihr gefallen. Zwei Jahre waren wir zusammen, in denen sie mich bedrängte, endlich aktiv zu werden. Sie machte mich auf alle Ungerechtigkeiten aufmerksam, zeigte mir Gegensätze, die die Gesellschaft zusammenhielt und doch sprengen müsste.

»Es kommt auf jeden einzelnen an«, hatte sie gepredigt. »Und du bist gut geeignet für Aktionen, weil man dich nicht bemerkt. Du bist der unauffälligste Mensch, den ich kenne, du bist von Natur aus unsichtbar.«

Hätte ich Limette, meiner Ratgeberin, von meinen Aktionen erzählen können, hätte sie gesagt, sie seien Ausdruck meiner erst spät entdeckten Liebe zu Almut.

Ich wusste nicht, was Almut jetzt machte, seit über fünf Jahren hatte ich sie nicht gesehen. Vielleicht war sie in den Untergrund abgetaucht, dafür war meine Unsichtbarkeit verschwunden, denn letzte Nacht hatte ich einen Beobachter gehabt.

Ich wünschte, Almut wäre es gewesen. Dann wäre alles gut, so aber war ich in Gefahr.

3. Kapitel

Die Chinesen unter den Tieren.

Herzinfarkt«, sagte einer der Zuschauer.

Das Blaulicht des Rettungswagens zuckte über die roten Backsteine der Fassade des Einfamilienhauses gegenüber. Vor meinen Füßen kletterten zwei Marienkäfer über den Rollsplitt des Fußweges. Ihr müsst fliegen, versuchte ich es per Gedankenübertragung, um sie zu retten. Auch ihre glänzenden Panzer und meine Schuhspitzen reflektierten das blaue Licht. Es hätte sie warnen müssen, aber ich glaubte, immer mehr Käfer gingen lieber zu Fuß, sie wussten, welch plumpe Flieger sie waren und wie viel Gift die Luft enthielt, die sie beim Fliegen einatmeten. Auf der Erde zu leben führte meist früher als später zum Tod. Aber ohne ihn wäre das Leben auch nichts wert.

Wussten das Marienkäfer?

Ich stellte mich dicht vor sie, meine Schuhe als Schutzwall, damit keiner der Zuschauer sie versehentlich zertrat.

Ich betrachtete hinter dem Rettungswagen die Spuren meiner Farbbeutel der letzten Nacht. Harmlos gegen die blauen Blitze. Drei schwarze Farbkleckse, ein bisschen wie Meteoriten, deren Strahlen noch etwa einen halben Meter an der Wand heruntergelaufen waren. Planetenwerfen. Vielleicht würde ich auch zum Weltuntergang die Erde gegen die Fassade eines Hauses schleudern, in dem Gott wohnte. Sie würde aufplatzen und der Inhalt herunterrinnen, bis er antrocknete. Am nächsten Morgen trat Gott vor die Tür, entdeckte diese Form der Meinungsäußerung und bekam einen Herzinfarkt.

Dann müssten alle jene, die mit ihrer Religion das Denken über ihr Dasein eingestellt hatten, die Verantwortung für ihr Leben wieder selbst übernehmen.

Ich stand mit drei älteren Männern und einer Frau auf der anderen Straßenseite, die mit kleinen Schritten zu mir aufrückten. Eine Wagenburg gegen den Tod von gegenüber. Einer von ihnen bewegte seine Beine aus den Hüften heraus. Seine Füße hoben sich nur wenige Millimeter über den Boden.

Auf der anderen Straßenseite öffnete sich die Haustür. Zwei Sanitäter mit einer Trage. Sie mussten einmal vor- und zurückrangieren, fast ein Tangoschritt, dann hatten sie es geschafft und waren draußen. Das Haus war im Eingangsbereich eng, aber hinten hatte es einen flachen Anbau mit viel Glas bekommen. Vorn scheinbare Armut und hinten Luxus.

Neben mir wuchsen die Hälse der Beobachter aus den Krägen ihrer Kleidung für einen Blick auf den Mann auf der Trage. Ich erkannte ihn, er war seit drei Wochen meine Zielperson.

»Herzinfarkt?«, fragte ich den neben mir stehenden Rentner.

Er zog die Schultern hoch, gab ein Glucksen von sich, als wäre es die Methode, sein eigenes Herz wieder in Schwung zu bringen. »Man weiß es nicht«, setzte er, ins Leben zurückgekommen, hinzu. »Vielleicht ist ihm auch nur die schwarze Farbe in den offenen Mund getropft.«

»Kennen Sie ihn?«

»Der hat eine große Firma. Weine und Spirituosen. Mehrere Läden und einen Versandhandel.«

»Es ist also Alkohol im Spiel.«

Jetzt sah er mich zum ersten Mal richtig an. Er würde sich nur meinen Schnauzbart merken. Den hatte ich mir im Auto auf der Fahrt hierher angeklebt. »Wohnen Sie hier?«, fragte er mich.

»Nein. Ich bin Klavierstimmer.« Ich bückte mich, um die kleinen Marienkäfer zu retten. Es war nur noch einer zu sehen. Er kletterte auf meinen Finger.

»Ah ja?«, sagte der alte Mann. Es war eine Frage.

Ich zeigte ihm den Käfer. »Ich habe hier einen Kunden, der legt Wert darauf, dass sein Piano einmal im Monat … Dabei ist es schon ziemlich alt … Und ich versuche, der Familie ein neues zu verkaufen. Die vierjährige Tochter soll Pianistin werden. Ein Wunderkind.« Eine Lüge ist glaubwürdig, wenn man sie mit ein, zwei Details auffüllt und mit der Sorge um einen Käfer begleitet. Der Käfer suchte die Flucht. Er kletterte an meinem ausgestreckten Finger empor. Ich sah dem alten Mann an, dass er überlegte, wer mein Kunde in der Vorstadtsiedlung sein könnte. Der Zweifel kräuselte seine Lippen.

Ich dachte an meine eigenen Klavierstunden als Kind. Meine Mutter hatte Fortschritte sehen wollen in der Beherrschung bestimmter Klavierstücke. Um diese schnell zu erreichen, trieb der Lehrer mir mit Schlägen jedes improvisierte Spiel aus. Nie durfte ich einmal wahllos auf die Tasten hämmern. Noch heute würde ich es nicht können, ohne das Gefühl einer Ohrfeige auf der Wange.

Der Käfer startete von der Fingerkuppe. »Fliegen ist gefährlich«, gab ich ihm mit auf die Reise.

»Sie sind ein guter Mensch, was?«, sagte der Alte. »Aber das sind nur asiatische Marienkäfer, die haben die heimischen verdrängt. Die Gelbe Gefahr, Sie verstehen, die Chinesen unter den Tieren.« Jetzt erkannte ich die Stimme aus der vergangenen Nacht, der Atemzug, der über raue Bronchien fegte.

Die Sanitäter schoben den Mann mit der Trage in den Wagen. Ein dritter im weißen Kittel kam aus der Haustür, wahrscheinlich der Notarzt, hinter ihm war für einen kurzen Moment die Frau zu sehen. Rote Flecken im Gesicht, die blonden Locken hingen herab. Sie versuchte, ihr Gesicht zu verstecken. Der Arzt drehte sich um, griff nach ihrer Schulter, dann lief er zum Auto und stieg hinten ein, die Sanitäter schlossen die Tür hinter ihm und gingen nach vorn.

Aus allem schloss ich, dass der Mann immerhin noch nicht tot war, sonst müsste ich mir Sorgen machen, es könnte das Ergebnis meiner Arbeit gewesen sein.

»Herzinfarkt«, sagte der Alte, der seine Füße kaum heben konnte und doch jetzt nah bei mir stand. »Sie könnten recht haben.« Er schnüffelte in meine Richtung. Er trug eine grüne Schirmmütze und hatte sich ein Seil um die Schultern gelegt. »Und geschieht ihm recht«, ergänzte er. »Kein guter Mensch.«

»Nicht?«

»Das ist ein Schinder. Die Leute aus seinem Laden sagen das auch. Und ich wohne neben ihm. Zaun an Zaun. Da merkt man schnell, was läuft. Wissen Sie, ich habe mir die Knie versteifen lassen. Die Gelenke waren hinüber. Normalerweise werden die dann in sitzender Position versteift. Dann ist nur noch Rollstuhl. Ich wollte aber die stehende Variante. Aufrecht sterben. Das hat den Nachteil, ich schlafe im Stehen auf einem schrägen Polster mit Fußrasten. Ich habe es mir bauen lassen. Und beim Sitzen muss ich die Beine ausstrecken und ich komme allein nicht hoch. Ich benutze deshalb eine Vorrichtung für Einbrecher.« Er schob das Seil über die Schulter, sodass am Ende ein Kreuzanker sichtbar wurde. »Den werfe ich und dann ziehe ich mich dran hoch. Und wenn ich das an seinem Gartenzaun machte …«, er drehte den Daumen Richtung Krankenwagen, »dann schimpfte der. Kein Erbarmen für Krüppel. Kein Mitleid. Dabei kämpfe ich seit dreißig Jahren mit meinem Garten gegen seinen. Ich habe ein Biotop geschaffen. Bei mir gibt es kein Unkraut, nichts, das ungeplant wächst. Das wird sofort erbarmungslos vernichtet.« Er streckte seine Hände vor, voller Wunden. »Von den Pflanzengiften!«

»Gifte? Sie nennen Ihren Garten Biotop?«

»Kennen Sie die Geschichte, wo im Körper eines Menschen eine Pflanze wächst und ihn umbringt? Und nun schauen Sie übern Zaun. Bei ihm wächst alles wie im Urwald. Davon kommt so was! Hol ihn der Teufel. Ich werde nicht für ihn aussagen.«

»Sie sollen für ihn aussagen?«

»Vor dem Jüngsten Gericht.«

»Ach so.« Ich wendete mich zum Gehen.

»Sie arbeiten doch auch für den?«

Ich blieb stehen, schickte ein Schnaufen über die Schulter. »Nein.«

Er kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Sein Gesicht war plötzlich voller Falten. Er grinste mit zusammengepressten Lippen. »Wie auch immer. Haben Sie gut gemacht.«

»Was?«

»Na, das da.« Er deutet auf die Fassade.

»Und würden Sie das vor dem Jüngsten Gericht …«

»Die wissen das schon – wirkt sich zu Ihren Gunsten aus.« Er löste sich aus unserer kleinen Gruppe, die sich gegen den Tod stemmte – und sei es mit Pflanzengiften – und rutschte bis zur Bordsteinkante. Ein Teleskopspazierstock verlängerte sich aus seinem Ärmel, mit ihm schaffte er es, mit einem leichten Schwanken die Kante zur Straße zu überwinden. Er brauchte lange bis zur Mitte der Straße. Ein Auto hupte ihn an. Es brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Warum überfuhr es ihn nicht? Autos waren eine technische Fehlentwicklung. Sie waren die Lemminge der Überbevölkerung. Ohne sie wäre die rasche wirtschaftliche Entwicklung in vielen Ländern nicht möglich gewesen, aber mit ihrem Ressourcenverbrauch schoben sie die Menschheit vor sich her auf den Abgrund zu.

In der letzten Nacht bei meinem Farbbeutelwurf hatte ich einen Beobachter mit steifen Knien gehabt, einen, der nicht schlafen konnte und mich trotz Mädchenverkleidung wiedererkannt hatte. Stand wahrscheinlich wie eine Statue die ganze Nacht in seinem Zimmer am offenen Fenster und bekam vor Schmerzen die Augen nicht zu. Ein guter Beobachter konnte jemanden natürlich auch an der Haltung, an Bewegung und Gestik wiedererkennen.

Nun gut, ein Zeuge. Einer der schrägen Sorte. Wenn er die Geschichte seiner Knie erzählte, oder weshalb er Pflanzengift einsetzte, verlor er bestimmt an Glaubwürdigkeit. Offensichtlich hielt er mich für einen der Angestellten des Weinhandels, der aus Rache Farbbeutel gegen das Haus seines Chefs warf.

Ich ging ihm nach, holte ihn ein. »Ich war das aber nicht.«

»Kommen Sie schon. Ich habe da einen Auftrag für Sie.« Sein Gesicht so unbeweglich wie seine Knie.

4. Kapitel

Er ist schwul, man wird ihn im Iran hinrichten. Sie müssen sich beeilen.

Der alte Mann ging um das Haus herum. Sein Gang erinnerte mich an einen Film mit einem Monster, ein ins Riesige vergrößertes Tier, das ebenfalls aus der Hüfte heraus die Beine hob. Am Ende fraß es den Wissenschaftler, der es gezüchtet hatte.