Stefanie Gerstenberger
Marta Martin

ZWEI WIE

ZUCKER
UND
ZIMT

ZURÜCK IN DIE SÜSSE ZUKUNFT

 

 

 

 

Stefanie Gerstenberger und Marta Martin
sind Mutter und Tochter und legen mit Zwei wie Zucker und
Zimt
ihren ersten gemeinsamen Roman vor.
Stefanie Gerstenberger wurde 1965 in Osnabrück geboren
und studierte Deutsch und Sport. Nach Stationen in der
Hotelbranche und beim Film und Fernsehen begann sie,
selbst zu schreiben. Ihre Italienromane sind hoch erfolgreich.
Marta Martin, geboren 1999 in Köln, ist eine junge
Nachwuchsschauspielerin und wurde durch ihre Hauptrolle
in »Die Vampirschwestern« bekannt.
Die beiden leben in Köln.

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas
Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Umschlaggestaltung: Petra Hämmerleinova
ISBN 978-3-401-80515-3

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

1. KAPITEL

4. Mai 2015, nach der Schule

Ich hasste es, wenn Mama so guckte. Diese großen Rehaugen und diese zusammengepressten Lippen. Und wie sie wieder dastand: den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Voll daneben! Wie ein Kind, das ausgeschimpft wird.

Geräuschlos zog ich die Tür hinter mir zu und ging weiter in das Café hinein, um besser zuhören zu können. Die Stimme von DDD war leise, aber durchdringend. Wie eine Kreissäge, gegen deren penetrantes Sirren nicht mal Ohrstöpsel halfen. DDD war übrigens die Abkürzung für Die Doofe Dagmar. Den Namen hatte ich für sie erfunden, als ich acht war. Mittlerweile war ich fünfzehn, aber Mama fand es immer noch nicht gut, wenn ich ihre Schwester so nannte.

»Ich denke nicht, dass das für uns interessant ist«, sagte DDD in diesem Moment.

»Aber es wäre ja nur für ein, zwei Tage … meinst du nicht?«

Wow! Meine Mutter gab DDD tatsächlich mal Widerworte.

Dagmar war nicht nur meine Tante, sondern auch Bestimmerin, Richterin und Herrscherin. Auch über die ewig knappen Finanzen. Kurz: DDD war Gott. In diesem Haus jedenfalls.

Und Mama? War nichts. Dass sie überhaupt protestiert hatte, grenzte schon an ein Wunder.

Ob es an dem Typen lag, der vor den beiden stand, in diesem Moment enttäuscht mit den Schultern zuckte und die Arme ausbreitete? Groß, breites Kreuz und für einen Mitteluralt-Mann noch ziemlich viele blonde Haare auf dem Kopf. So viel konnte ich von hinten erkennen. Und Mamas Augen, die ihn anflehten: Ja! Rette mich, mein cooler Ritter, ich bin’s, die gefangene Prinzessin, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest, wenn du sie hier rausholst …! Typisch Mama. Wenn ihr einer gefiel, machte sie einen auf scheues Reh. Zu allen anderen war sie frech. Und manchmal witzig und … ach … Ich hatte keine Ahnung, was sie machte, keine Ahnung, wie dieses ganze Ding mit der Liebe funktionierte. In diesem Haus hatte niemand Ahnung davon.

Mama hatte schon seit Jahren keinen festen Freund, sie brachte jedenfalls keinen mit nach Hause. DDD interessierte sich nicht für Männer, aber auch nicht für Frauen, und ich? Ich war seit Januar in Timo verliebt. Jetzt war es schon Anfang Mai, doch er schaute mich nicht mal richtig an. Wie brachte man einen Jungen dazu, zurückzuschauen, zurückzulieben? K. A. Keine Ahnung. Wir waren in diesem alten Café gefangen, eine Ansammlung von Loserinnen, und ich die allergrößte.

»Wir würden pro Tag richtig viel Geld verdienen, Dagmar! Nicht wahr, Herr …«

»Nennen Sie mich Fynn!«

Er sprach mit tiefer Stimme und einem komischen Dialekt. Irgendwie süß klang das. Selbst aus ein paar Metern Entfernung konnte ich sehen, wie sich Mamas Wangen rosarot verfärbten. Sie merkte es wohl auch, es war ihr wahrscheinlich peinlich, denn sie blickte schnell nach unten. Manchmal war sie so tough und dann wieder gar nicht. Ich verstand das einfach nicht.

Nennen-Sie-mich-Fynn redete weiter: »Wir würden Ihr Café nur für zwei Tage für unsere Spielfilm zum Drehen benutzen, ja? Es hat ja immer noch so eine ganz heimeligge Charakter. Wir müssen es mit unsere eigene Möbelen einrichten, ja?«

Unsere eigene Möbelen … Ich wusste, jetzt schmolz meine Mutter endgültig dahin. DDD nicht. Sie war die Unbarmherzige, die Harte, die ständig recht haben musste. Ich schaute mich um.

Café Zimt stand immer noch spiegelverkehrt in geschwungenen Buchstaben auf der Glastür zwischen den beiden Schaufenstervitrinen, die in den flachen Anbau eingefügt waren. Manchmal blieben Leute stehen, um sich diesen Anbau anzusehen, der wie eine Shell-Muschel aus unserem Haus herauswuchs. Die Front war rund und die Scheiben natürlich auch. Echt 50er-Jahre eben. Doch das Café gab es schon lange nicht mehr.

Dort, wo früher ovale Tische, kleine Sesselchen und Stühle mit geflochtenen Rückenlehnen gestanden hatten, hatte DDD Plastikregale aufgestellt. Hinter einem von ihnen versteckte ich mich gerade. Sie hatte eine Reste-Rampe aus dem Café gemacht, in der man außer blassen Brötchen und Croissants auch Toaster, Thermoskannen und Strandhandtücher für den kommenden Sommer erstehen konnte, der dann doch immer verregnet war. Und dann gab es noch die Sechserpacks der platten Schokoladenhasen am Stiel, auf die ich es in diesem Moment abgesehen hatte. Die so herrlich im Mund schmolzen und mich zwar nicht glücklicher, aber dicker machen würden. Das alles hatte Tante DDD uns eingebrockt. Und sie war auch noch stolz auf ihr Werk.

»Nein, Herr Fynn«, sagte sie gerade laut, »wir können unseren Betrieb nicht schließen, wir müssen auch an unsere Kunden denken. Das ist viel zu viel Aufwand für uns. Die paar Hundert Euro behalten Sie mal schön für sich!«

Kunden? Wen meint sie denn? Die gehen doch sowieso schon alle in den Supermarkt, um Brot zu kaufen.

»Äh … tja …« Mama lächelte den Blonden entschuldigend an, »wir können ja noch einmal darüber nachdenken.«

»Nein. Ich glaube kaum, dass wir darüber nachdenken«, fuhr Dagmar dazwischen, während ihr angewiderter Blick der Visitenkarte folgte, die der Mann gerade in Mamas Hand wandern ließ. Als ob das kleine Stück Papier eine giftige Kröte wäre. »Und du schon mal gar nicht, Marion!«

Ich hatte größte Lust, meiner Tante eine reinzuhauen. Der Wunsch wiederholte sich in letzter Zeit sehr oft. Ich wurde schon aggressiv, wenn ich nur sah, wie sie morgens um sieben mit Aktentasche und Tee in der Thermoskanne in ihre AVG-Versicherung abzog. Dort lehnte sie den ganzen Tag lang Versicherungsansprüche ab. Bis nachmittags um vier klatschte sie den Menschen am Telefon übelste Sprüche um die Ohren und abends machte sie dann mit Mama und mir weiter.

Apropos Mama: Die drehte sich in diesem Moment wortlos um und verschwand im Durchgang zur Backstube. Das kannte ich schon. Wenn es schwierig wurde, verkroch sie sich dort.

Ich biss die Zähne aufeinander, bis ich meinen Kiefer knacken hörte. Warum landete meine Wut auf Tante Dagmar in letzter Zeit so oft bei Mama? Ich wollte ihr nicht wehtun. Und dann wieder doch. Ich atmete hinter meinem Regal tief durch, aber die Wut blieb und plötzlich wurde ich unheimlich traurig. Ich musste an die roten Bänke denken, auf denen ich als kleines Kind herumgeklettert war, und an das glatte Leder, mit dem sie bespannt waren und auf das ich meine Wange gelegt hatte. Vielleicht kamen diese Erinnerungen aber auch nur von den Fotos … wo war Mamas altes Album eigentlich? Das musste ich unbedingt mal wieder anschauen! Am besten gleich, noch vor den Hausaufgaben.

Ich hasse dich, Dagmar, und sorry … dich auch, Mama. Dann schlich ich genauso unbemerkt, wie ich gekommen war, rückwärts zur Tür und hinaus.

Ich ging einmal um das Haus und schloss die Haustür auf. Die Scharniere quietschten laut auf, wie immer. Solange ich denken konnte, wohnten wir schon über dem Café – oder über dem, was davon übrig war. Es lag am Ende einer Straße, die auf einem Platz endete. Dem Goetheplatz. Ein großartiger Name für einen von Häusern umstellten Wendekreis, auf dem genervte Autofahrer eine Runde drehten, weil sie sich verfahren hatten. Nicht gerade eine tolle Lage für vorbeilaufende Kunden, die zufällig einen Toaster kaufen wollten.

Ich machte einen kurzen Besuch in der Küche, stand planlos vor dem Kühlschrank und las zum tausendsten Mal die schlauen Magnetsprüche, die Mama an seine Tür gepappt hatte. »Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren? (Vincent van Gogh)«. Na toll, Mama. Keine einzige dieser Weisheiten hast du jemals befolgt. Dann öffnete ich den Kühlschrank und starrte hinein, schön kalt kam es da raus. Schließlich ging ich nach nebenan ins Wohnzimmer. Warum war Dagmar heute überhaupt so früh dran, fragte ich mich, gab mir aber selbst sofort die Antwort. Es war Montag, da machte sie immer den Papierkram vom Café und nervte uns bereits am frühen Nachmittag mit ihrer Anwesenheit.

Das Zimmer meiner Mutter war nur durch eine Tür vom Wohnzimmer getrennt, eine Schiebetür, die man noch nicht einmal abschließen konnte. Warum quetschten wir uns hier auf dieser Etage zusammen – und Dagmar hatte den ganzen zweiten Stock? Noch so eine ungerechte Scheiße. Ich machte ein kleines Pupsgeräusch mit meinen Lippen. Wie wollte Mama denn jemals einen Typen nach Hause bringen, wenn jeder sie überraschen konnte? Aber das war ihr Problem. Und das mit den Typen wollte ich mir lieber gar nicht näher vorstellen. Das mit meinem Vater hatte sie ja auch nicht hinbekommen. Aber so was von überhaupt nicht! Es gab ihn einfach nicht in meinem Leben. Noch nicht mal besuchen konnte ich ihn. Echt mies.

Wo war das Fotoalbum?

Ich fand es in einem Schrank neben Mamas Ordnern, auf denen Versicherung, Bank und lauter langweiliges Zeug stand, und klemmte es mir unter den Arm.

In meinem Zimmer warf ich das Album auf das Bett, das noch genauso unordentlich aussah, wie ich es heute Morgen verlassen hatte. Rucksack und Jacke ließ ich auf den Boden fallen, ich war viel zu warm angezogen für das Sommerwetter da draußen. Schnell zog ich den Rest der Schuluniform aus. Warum trug ich eine Schuluniform, mitten in Deutschland? Dunkelblauer Rock, hellbraune Bluse. Im Winter gehörte noch ein blauer Pullover dazu. Die tollste Farbkombination der Welt, um Teenager in Depressionen zu treiben.

Ohne auch nur einen Blick in den Spiegel schlüpfte ich in meine dünne graue Schlabberhose und ein ebenso graues T-Shirt. Ich biss in das erste von drei Croissants, die ich nebenan in der Küche gefunden hatte. Von gestern. Machte nichts, Hauptsache, mein Mund war schön voll. Ich nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, stellte MTV so leise, dass es gerade noch zu hören war, klappte den Laptop auf und loggte mich bei Facebook ein. Wenn Timo meine Freundschaftsanfrage von gestern beantwortet hätte, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt!

Die Seite baute sich auf, mach schon, mach schon …!

Yes! Er hatte es tatsächlich getan, ich musste an mich halten, um nicht vor Freude aufzuschreien. Timo, der Schwimmer, der Coole, der hübscheste, süßeste Junge der Edstone Boarding School, war jetzt mit mir befreundet! Sein Profilfoto war der Hammer. Auf dem sah er fast noch besser aus als in echt … Seine hellblauen Augen bohrten sich in meine, als ob er mir etwas sagen wollte, und er hatte mich auch gleich eingeladen, DungeonCity zu spielen.

Als mein Blick auf die Anzahl seiner Freunde fiel, sank meine Laune schlagartig. 732. Wie konnte man 732 Freunde haben? Ich hatte 26 und sieben von denen kannte ich kaum.

Eifersucht zog wie ein Schwarm Piranhas durch meine Eingeweide. Ich war nur irgendein Mädchen vom Schulhof für ihn. Wie würde er mich seinen 732 Freunden beschreiben, wenn sie nach mir fragten? Nur mal angenommen, sie fragten nach mir. Charlotte Zimt, meinen Namen musste er jetzt ja kennen. Genannt Charles. Kupferrote, ziemlich tolle Haare, richtiger Busen und auch sonst ordentlich was dran. Würde er das wirklich über mich sagen? Jungs teilten uns in andere Kategorien ein als wir Mädchen uns selbst, so viel hatte ich auch schon kapiert. Aber Timo nicht, der war bestimmt nicht so.

Immerhin konnte ich nun ausführlich seine Profilseite durchstöbern, seine Fotos anschauen, seine zahlreichen weiblichen Freunde begutachten, seine letzten Postings durchlesen. Er fand Greenday gut? Und How I Met Your Mother? Wie witzig war das denn? Aber wer war das Mädchen mit den blonden langen Haaren auf seiner Seite, das sein duckface in die Kamera hielt. Sollte wohl verführerisch wirken … Bei mir sähe die schmollige Schnute, die sie zog, absolut bescheuert aus.

Ich seufzte mit vollen Backen und wischte einige Brösel von der Tastatur, die von meinem Kinn gefallen waren. Timo war so cool, niemals würde ich ihn ansprechen können. In der Pause schlenderte ich immer auf die Rückseite des Schlosses, ja, unsere Angeberschule war in einem ehemaligen Schloss untergebracht. Da, wo der Park anfing, hing er mit den Jungs aus seiner Stufe manchmal auf den Bänken rum. Ab und zu schaute er zu mir hinüber … und durch mich hindurch. Obwohl ich doch gar nicht so leicht zu übersehen war, mit meinen breiten Schultern, den kräftigen Beinen und dem nicht gerade schlanken Restkörper.

Timo war Stadtmeister über 100 Meter Rücken und Schul-Landesmeister über 200 Meter Butterfly. Er hatte für das Edstone, an dem alle Fächer auf Englisch unterrichtet wurden, schon viele Titel gewonnen. Sogar ins Landeskader wollten sie ihn holen. Ich zog den Bauch ein und strich mir über die verbleibende Speckrolle unter meinem Sweatshirt. Hey, ich hatte gerade auf die Schokoladenhasen verzichtet, ganz sicher würde ich das morgen früh auf der Waage schon merken. Ich grinste einen Moment, erst dann fielen mir die Croissants wieder ein … Wenn ich doch wenigstens sportlich wäre, eine Taille, einen flachen Bauch und durchtrainierte Arme und Beine hätte!

Ich zog meinen kleinen Skizzenblock aus den Tiefen meiner Schreibtischschublade und begann, mit einem sehr dünnen schwarzen Filzstift Linien zu ziehen. Mehrere Quadrate, die zu Kacheln wurden. Der Rand eines Schwimmbeckens. Nach nur wenigen Strichen hockte dort eine Charlotte mit einem super Körper. Ihr Kopf wirkte fein und grazil, ein kleiner Schwan, denn ihre großen Ohren hatte ich unter einer Badekappe aus dünnem Gummi verborgen, so wie Leistungsschwimmer sie trugen. Das war ich. Und ich sah toll aus! Nun kam Timo dran. Schön dicht neben Super-Charlotte. Ob er vom Bauchnabel abwärts so eine Linie aus Haaren hatte? Ich zeichnete sie ihm. Aber keine Badekappe. Ich malte ihm nasse Locken. Achtung, nicht zu kringelig. Jungs mit zu kringeligen Locken sahen scheiße aus. Wie er mich wohl nennen würde? »Charlott’«, wisperte ich. Da mein Vater Franzose war, hätte alle Welt mich sehr elegant Charlott’ rufen können. Was für eine Chance! Doch angeblich hatte mein Opa behauptet, dass ich dem englischen Thronfolger so ähnlich sähe, und so war Charles daraus geworden. Ich hatte meinen Opa geliebt, aber bitte … Doch nicht Charles! Meine Ohren waren längst unter den Haaren versteckt, Opa war gestorben, als ich vier war, der Name aber war geblieben.

Ich zwang meine Fantasie von dem immer so vertrocknet wirkenden Prinz Charles zurück auf das Papier. Timo und ich lachten miteinander, ich zeichnete seinen Arm um meine Schulter. Arme waren schwierig. Hände auch. Aber ich war gut. Es sah ganz echt aus. Nächstes Bild. Die beiden sollten sich umarmen. In Bild Nummer drei dann knutschen. Die Figuren mussten sich immer sehr ähnlich sehen. Den Trick hatte ich raus. Der ganze Block war schon voller Comic-Zeichnungen, die kein Mensch je gesehen hatte. Besser so. Besser für dich, DDD, besser für die meisten Lehrer und auch die meisten Mädchen aus meiner Klasse. Aber hier, Timo, der sah echt süß aus!

Wenn ich doch bloß irgendwann mit ihm so sitzen könnte! Ich würde die nasse Haut seines nackten Brustkorbs spüren und meine Lippen daraufpressen. Er würde nach Haut und ein bisschen nach Chlor schmecken, perfekt! Er würde mein Kinn mit einem Finger anheben und mit seinem Mund immer näher kommen … So wie auf diesem Bild jetzt …

»Zeichnest du schön? Störe ich?«

Vor Schreck zuckte mein rechtes Knie nach oben und schlug unter die Platte des Schreibtischs, der einmal meiner Mutter gehört hatte. Der Stift flog aus meiner Hand und ich klappte den Block zu. »Spinnst du? Du hast mich total erschreckt!«

Mama lächelte und ihr Kopf mit den kurzen dunklen Haaren schob sich weiter durch den Türspalt. »Wollte ich nicht! Na, war’s anstrengend in der Schule?«

Warum musste Mama immer so nett sein, obwohl sie von mir doch gerade angeschrien worden war? Ich schüttelte den Kopf hin und her, das konnte alles bedeuten: ja, nein, frag nicht!

»Willst du nicht ein bisschen rausgehen, ist doch so schönes Wetter!« Ich schnaubte nur durch die Nase. Was sollte ich denn draußen? Ich hatte nichts zum Anziehen und meine Beine hatten am Anfang des Sommers die Farbe von zu hell gebackenen Baguette-Stangen.

»Ach, hast du dir das Album geholt?« Mama schlüpfte ins Zimmer, trat an mein Bett, nahm das Fotoalbum von der Steppdecke und setzte sich damit hin. Ich stand auf und nahm wortlos neben ihr Platz. Wenn ich auch ziemlich oft sauer auf sie war, die alten Bilder angucken ging immer.

Vorsichtig und ohne zu reden, blätterten wir abwechselnd die Seiten aus schwarzem Fotokarton um. Das Café. Omi und Opa davor. Opa noch mit dunklem Haar unter seiner weißen Bäckerhaube und seinem breiten Schnauzer, auf den er immer so stolz war. Er drehte sich ein wenig zur Seite, damit man es nicht gleich sah, doch ihm fehlte der linke Arm. Der war an der Ostfront geblieben, hatte Mama mir erzählt. Obwohl wir den Zweiten Weltkrieg in Geschichte schon durchgenommen hatten, stellte ich mir die Ostfront seitdem als kleinen Graben vor, der endlose Getreidefelder durchschnitt. Der Graben war leer, nur ein einsamer nackter Arm lag darin. Aber er hatte sich nie beklagt, sondern mich mit dem rechten oft wie einen kleinen Sack Mehl über die Schulter geworfen und durch die Backstube getragen. Daran erinnerte ich mich noch.

»Das war früher dein Lieblingsfoto.« Mama tippte mit dem Finger auf die kleine Dagmar und ihren Roller und auf sich selbst, die noch kleinere Marion. Beide mit identischen, minikurzen Kleidchen, beide in die Sonne blinzelnd. Ja wirklich, ich mochte das Foto immer noch ganz besonders; Dagmar sah noch nicht aus wie DDD und bei Mama konnte man die wollene Unterhose sehen. Vor dem Café Zimt stand ein uraltes Auto. Besuch von Tante Irmgard, hatte jemand daruntergeschrieben. Wahrscheinlich Omi. Auf dem nächsten Bild sah man einen Tannenbaum, davor Marion, kurz vor dem Losheulen. Dagmar dagegen lächelte, ganz die große Schwester. »Da hat sie dich vorher ganz doll gekniffen.«

Mama nickte und las die Bildunterschrift vor: »Fröhliche Weihnachten – 1969.« Sie blätterte weiter. »Und hier, unser Hund, Zucker! Ach, das waren noch Zeiten …«

Ich lächelte über den Golden Retriever, der im Hauseingang lag. Mama wollte keinen Hund mehr. Das sind Familientiere, sagte sie manchmal. Und? Waren wir eine Familie? Eben nicht.

Mama stand auf. »Na ja, ich muss wieder runter. Gab’s heute was Besonderes in der Schule?«

»Nö.«

»Hast du viel zu tun, meine Maus?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte echt noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen. Und später musste ich noch mal in die Schule. Um fünf fing dieser blöde Kurs an, zu dem mich die Mansky verdonnert hatte.

»Wer war der Typ da unten?«, fragte ich statt einer Antwort. »Wer kommt denn auf die blöde Idee, in Godesbach einen Film zu drehen? Und dann ausgerechnet bei uns …« Ich griff nach dem dritten Croissant, ließ es dann aber zurück auf den Teller fallen. Wenn ich so weiterfraß, würde das nie was mit Timo.

»Das war ein Finne, der hieß Fynn. Also er heißt immer noch so. Ein Finne, der Fynn heißt.« Sie kicherte leise.

»Toll, Mama, das habe ich auch kapiert.« Es machte mich wahnsinnig, wenn sie so albern und umständlich sprach.

»Er wollte das Café wieder als Café herrichten, ich habe ihm gesagt, dass im Schuppen noch die alten Tische und Sessel stehen.«

»Die sind doch längst verschimmelt …« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass irgendwer mir eine WhatsApp geschrieben hatte. Timo konnte es nicht sein, der hatte meine Nummer nicht. Noch nicht. Pfff. Träum weiter, kleine Charlott’. Als ob! Als ob er dich Charlott’ nennen würde … Als ob er dich küssen würde …

»Ja, aber trotzdem. Es wäre schön gewesen, das Café noch einmal so einzurichten wie früher. Der war nett. Findest du nicht auch?«

»Wer?«, fragte ich, stand auf und trat ans offen stehende Fenster. Von hier aus konnte man in den Garten sehen. Früher war er größer gewesen, doch nun hatte sich von rechts die grau verschalte Halle der Metzgerei Hein auf unser Grundstück geschoben und alle verbliebenen Birnenbäume plattgemacht. Auch der hintere Teil war von Dagmar verkauft worden. An die Spedition Hammermann, die daraufhin ihren Hof vergrößert hatte. Tag und Nacht fuhren nun die großen Laster donnernd an dem Maschendrahtzaun vorbei.

Der alte Holzschuppen, den Mama erwähnt hatte, stand wie eine verrottete Kiste unter dem Kirschbaum. Früher hatte der Baum massig Früchte getragen, ich war im Sommer oft hineingeklettert, um mir den Bauch mit den dunkelroten, herzförmigen Kirschen vollzuschlagen. Doch damit war es schon lange vorbei. Der Baum starrte zu mir herüber. Total mies drauf. Kein Wunder, er war schließlich der letzte Baum im Garten.

»Der Garten sieht so was von scheiße aus, Mama. Nur weil wir angeblich Geld brauchen.«

»Du hast den Fernseher bekommen und den Laptop hat sie dir auch spendiert.«

Jaja, musste sie mich gerade jetzt daran erinnern? Ich merkte, wie ich rot wurde. »Aber nur, weil mein Zeugnis so gut war. Und ohne vernünftigen Laptop kann ich doch in meiner Schule der Reichen und der Schönen nicht auftauchen. Das weiß mittlerweile sogar DDD.«

»Nenn sie nicht so.«

»Oh Mama, chill mal!« Doch eigentlich hatte Mama mal wieder recht. DDD machte mir ab und zu Überraschungsgeschenke, von denen ich mich, schwach und gierig, wie ich nun mal war, bestechen ließ. Die armen Birnenbäume waren von mir verraten worden. Für einen dummen Flachbildschirm, auf dem gerade ein paar Mädels ihre halb nackten, perfekten Hintern zu dem letzten Song von Pharrell Williams schüttelten.

»Also, ist ja auch egal, aber ich fand den echt nett!«

»Wen?« Von wem redete meine Mutter eigentlich?

»Den Finnen! Ich hatte einen Finnen in der Parallelklasse, Matti hieß der. Wenn er redete, klang es auch so wie bei Fynn. In den war ich mal …«

»Dieser Finne hier weiß jetzt, dass du gegen deine beknackte Schwester keine Chance hast«, unterbrach ich sie. Ich konnte nichts gegen diesen Drang tun, gemein zu ihr zu sein. Wann ging sie endlich wieder nach unten? Musste sie nicht noch aus alten Brötchen Paniermehl herstellen oder hässliche Regale auswischen? Ich wollte endlich wieder auf Facebook und Timos Seite nach seinen Vorlieben durchsuchen. Ob er das blonde Mädchen cool fand? Bestimmt … sie war hübsch!

»Ach, Dagmar hat ja recht, wir können eben nicht einfach mal so zwei Tage schließen, das hat der schon verstanden.«

Ob ich je eine Chance bei Timo hätte? Ich war eigentlich gar nicht so hässlich. Immer nur bisschen zu dick. Gerade so viel, dass es unmöglich war, die richtigen Klamotten zu finden.

Ich drehte mich um und sah an meiner Mutter hinab. Manche Leute verglichen sie mit Audrey Hepburn. Sie war in eine makellos weiße Konditorjacke gehüllt und ihre schmale Taille wurde von den Bändern einer weißen Schürze betont, die ihr bis zu den Fußknöcheln reichte. Sie sah so fragil und zart aus, neben ihr hätte sich jede Frau pummelig gefühlt. Dennoch ärgerte ich mich über ihre Eitelkeit; zum Brötchenverkaufen brauchte sie diese Kluft nun wirklich nicht, da die Dinger im Café Zimt noch nicht einmal selbst gebacken wurden, sondern frühmorgens zusammen mit ein paar Brotlaiben angeliefert wurden. Mit Opa waren die Mokkaschneckchen, die Creme-Igel und auch die hellen und dunklen Krokantpilze ausgestorben. Nicht einmal die »Zauberhaften« gab es noch: in feinem Zucker gewälzte Schokoladenkugeln, von denen meine Mutter so herrlich erzählen konnte, dass man dachte, sie würden einem auf der Zunge liegen.

Mein Gott, schon wieder dachte ich ans Essen. »Wann bist du eigentlich so zum Kotzen feige geworden«, blaffte ich Mama an. Ich wusste, das war fies und ungerecht, aber weil ich gegen Dagmar keine Chance hatte, bekam immer öfter Mama ab, was eigentlich für DDD bestimmt war.

»Was sagst du denn da, Charlie?« Mamas Augen sahen auf einmal ganz anders aus. Füllten die sich etwa gerade mit Tränen? »Ich wollte doch nur …«

»Und du schon mal gar nicht«, erwiderte ich scharf, indem ich Dagmars Stimme imitierte. »Du merkst nicht mal, wie sie dich vor allen Leuten runtermacht«, schnaubte ich und wandte mich dabei demonstrativ wieder meinem Laptop zu. Ich hörte, wie meine Mutter nach Luft schnappte, dann aber, ohne etwas zu sagen, die Tür hinter sich schloss. Ich schluckte.

Das machte ich in letzter Zeit ständig, Leute beleidigen, weil ich mich selber unausstehlich fand. Und Leute – das war ziemlich oft Mama. Sollte ich runterlaufen, um mich zu entschuldigen? Ich musste runterlaufen, um mich zu entschuldigen, und wollte gerade aufspringen, da sah ich mein Englischheft aus meiner Schultasche hervorgucken. Seufzend zog ich es heraus und begann mit der Inhaltsangabe einer Kurzgeschichte. Doch schon nach zwei Sätzen kaute ich ratlos auf meinem Stift. Ich fühlte mich schlecht, weil ich so gemein zu Mama gewesen war, das hatte sie nicht verdient … Um nicht mehr daran denken zu müssen, klickte ich das Videofilmchen an, das Holly-Marie gerade auf Facebook gepostet hatte. Zwei Katzen saßen auf ihren Hinterpfoten vor einem Spiegel, klatschten sich gegenseitig mit den Pfoten ab und sangen dazu ein französisches Liedchen. Ich lächelte. Gefällt mir, ließ ich Holly-Marie wissen. Holly-Marie war ganz nett. Ja, vielleicht war sie sogar so etwas wie eine Freundin für mich. Meine richtigen Freundinnen aus der vierten Klasse waren damals alle auf das coole Schiller-Gymnasium gegangen, während Dagmar meinte, mich in die Edstone-Wüste schicken zu müssen. Innerhalb von drei Jahren hatte ich Flora, Hella und Marú leider immer mehr aus den Augen verloren. Wir sahen uns selten, und wenn, dann bei Facebook oder Instagram. In meiner neuen Klasse waren die Mädchen dünn und komisch. Ich meine, ich hatte es wirklich probiert! Hatte versucht, mich nicht an diesem verdammten Reichtum zu stören, an ihren Pferden und Hausangestellten, von denen sie erzählten, an ihren Adelstiteln, hässlichen Markenhandtaschen oder ihren ultimativ gepflegten, auf französische Art manikürten Fingernägeln.

Holly-Marie knabberte an ihren Fingernägeln, so wie ich, das war schon mal sympathisch. Allerdings kannte auch sie kein anderes Thema als ihren reichen Vater und wie viel Geld er ihr jeden Monat gab.

Ich musste an meinen Vater denken, den meine Mutter hier in Godesbach kennengelernt hatte. Ganz spießig, auf der Maiwoche. War sogar in sein Atelier gezogen, dann mit ihm zurück in die Bretagne gegangen, um ihn zu unterstützen. Wobei? Etwa beim Bildermalen? Sie fand dort zunächst keine Arbeit, stand dann kurze Zeit in einer Brotfabrik am Band und als sie schwanger wurde, rastete er aus. Muss ein toller Typ gewesen sein. Ich hatte ihn schon oft gegoogelt, aber unter seinem Namen war er nicht aufzufinden. Irgendwie vermisste ich ihn und hätte ihn echt gerne getroffen und mit ihm geredet, nur mal so, obwohl ich das Mama natürlich nie sagte. Wie konnte man jemanden vermissen, den man gar nicht kannte und der wahrscheinlich auch noch, sorry, ein ziemlicher Idiot war? Sie war also mit dickem Bauch nach Godesbach zurückgekommen und tat seitdem so, als habe sie ihn vergessen. Doch das seltsame Bild mit den verschlungenen blauen Gestalten, das er für sie gemalt hatte, hing immer noch über ihrem Bett. Tja. Vergessen sah anders aus.

Ich schickte Mama eine Sprachnachricht auf ihr Handy: »Tut mir leid wegen eben. Kannst du mich gleich zur Schule bringen? Muss da noch mal hin.« Keine Antwort. Sie vergaß manchmal stundenlang, auf ihr Handy zu schauen. Aber wehe, ich hörte ihre Anrufe nicht oder beantwortete nicht sofort ihre SMS, dann wurde sie nervös.

Was machte Timo? Mein Herz klopfte schneller, wenn ich bloß an ihn dachte. Hatte er etwas Neues gepostet? Nein, er war nicht online, aber ich likte ein Klamottenfoto von Culotté, das Sydney-Aurelia gepostet hatte. Sydney-Aurelia gefällt das, meldete mein Computer und ich freute mich. Doch dann schrieb Stella-Europa etwas unter den Post. »Da willst du reinpassen, Charles? Hallo? Das sind französische Maße!« Und Stella-Europa fügte hinzu: »Sorry, Charlie, aber daraus wird wohl nix.« Immerhin ein Smiley dahinter. Ich spürte, wie sich unter meinem Zwerchfell ein sehr vertrautes schwarzes Loch auftat, das nicht gestopft werden konnte, selbst wenn ich hundert Croissants essen würde.

Ich stopfte den Skizzenblock wieder tief in die Schublade und öffnete stattdessen mein Tagebuch. Nein, mein Tagebuch war kein romantisches Büchlein mit rosa Stoffüberzug, sondern eine ganz normale Datei auf meinem Computer. Mit der Hand schreiben war mir zu anstrengend. Mathekram hieß die Datei, da würde ganz bestimmt keiner nachschauen.

Was für ein blöder Tag. Heute hab ich wieder mal einsehen müssen, wie dick ich eigentlich bin und wie perfekt Timo. Wir sind meilenweit voneinander entfernt. Er spielt in einer ganz anderen Liga! Wenn ich nicht so verfressen wäre, könnte ich ja ganz gut aussehen, aber so … Muss mich ab morgen wieder jeden Tag wiegen und endlich eine Tabelle anlegen. Ach Scheiße!!! Kriege ich sowieso nicht hin …

Es klopfte an meiner Tür. Schnell klappte ich den Laptop zu und griff wieder nach meinem Stift. Genervt schaute ich auf, wie sollte man diese blöde Inhaltsangabe schaffen, wenn man dauernd gestört wurde?

»Es gibt gleich Essen, ich habe Hühnerfrikassee für dich aufgetaut und dazu einen schönen Salat gemacht«, flüsterte meine Mutter durch den Türspalt.

»Jetzt schon?«, murmelte ich, obwohl wir nie zu einer festen Zeit aßen.

»Es ist schon Viertel nach vier.«

Na toll. Eine Stunde auf Facebook und YouTube verplempert.

»Hühnerfrikassee? Ich habe gar keinen Hunger«, log ich, obwohl mein Magen schon wieder knurrte. Ich wollte abnehmen, doch ich sehnte mich nach einem sahnigen Milchshake von McDonald’s und Mama sollte gehen. Langsam klappte ich den Laptop auf.

»Das … das mit eben tut mir leid«, wisperte meine Mutter und streckte den Kopf ins Zimmer.

»Mama!« Meine schlechte Laune kochte erneut in mir hoch. Warum entschuldigte sie sich dauernd? Oh, was war das? Timo war gerade online auf Facebook! Ich drehte mich widerwillig zu Mama, deren Augen aussahen, als hätte sie geweint.

»Ich weiß, ich bin nicht gerade gut darin, Dagmar zu widersprechen. Doch heute hat sie es übertrieben.«

»Der Finne?« Jetzt hatte ich doch ziemlich Mitleid mit ihr.

»Sie hat die Karte weggeworfen, die er mir gegeben hatte. Ich kann ihn noch nicht mal anrufen.«

Mein Mitleid verdünnisierte sich und ich verdrehte die Augen. Das hättest du doch sowieso nicht getan. Mama schlich herein und setzte sich auf das Bett. Sie legte sich das Album auf den Schoß und hielt sich daran fest. »Wir werden gehen! Weg aus Godesbach. Es reicht mir. Ich meine es ernst, Charlott’!«

Nur manchmal sprach Mama meinen Namen französisch aus, und zwar dann, wenn sie etwas super-, superernst meinte. So wie jetzt. Ich wollte teilnahmsvoll klingen, doch ich brachte nur ein Krächzen zustande. »Nee, oder?«

»Doch! In Köln gibt es bei Lidl noch Jobs. An der Kasse.«

»Lidl

»Ja, ich weiß, das hört sich nicht besonders toll an. Aber find mal was als ungelernte Kraft! Trotzdem: Das kann alles nur besser als hier sein!«

»Köln!« Köln war über achtzig Kilometer weg!

»Also nicht direkt Köln. Köln-Porz. Da sind wir ganz nah beim Flughafen, das ist doch praktisch, oder …«

Doch ich hörte schon gar nicht mehr hin. Porz oder Schnorz, völlig egal, was sollte ich da? Was würde aus Timo und mir? Etwas legte sich auf meine Brust, schwerer als ein nasser Teppich.

»Fällt dir nichts anderes ein, als vor Tante Dagmar abzuhauen? Nur weil sie eine dumme Visitenkarte zerrissen hat?«

»Zerrissen und im Klo runtergespült!« Mama schnappte sich ein Kissen und vergrub ihr Gesicht darin. Oh Gott, wer war hier eigentlich die Pubertierende? Ich? Oder diese zwei reifen Frauen, mit denen ich zusammenwohnen musste? Jedenfalls stand das neuerdings auf Mamas Gesichtscreme: für reife Haut. Na gut, meine Mutter war erst neunundvierzig, darauf legte sie Wert. Wie auch darauf, dass das glänzende Zartbitter-Schokoladenbraun ihrer Haare immer noch ungefärbt und ohne einen Schimmer von Grau war. Sie hob ihren Kopf . »Welcher normale Mensch macht denn so etwas …«

Ich fand Mama in diesem Moment wunderschön, sagte aber stattdessen: »Das ist doch bescheuert. Ich möchte echt mal gerne wissen, was in eurer Kindheit abgegangen ist, dass du so ängstlich geworden bist.«

Mama warf mir einen anklagenden Blick zu. Gelegentlich behauptete sie, das Einzige, was sie je in ihrem Leben richtig gemacht habe, sei, mich bekommen zu haben. Doch im Augenblick schien sie eher das Gegenteil zu denken. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich muss hier weg! Hilfst du mir, Charlott’? Zusammen schaffen wir das.« Natürlich, jetzt war ich wieder Charlott’. »Oh nee, Mama. Echt nich’. Sorry, hab zu tun. Es ist schließlich deine Schwester, die will, dass ich auf diese scheiß Snobby-Schule gehe!«

»Sag das nicht immer. Dagmar bezahlt alles!«

»Ja. Und sie sorgt dafür, dass wir es keinen Tag vergessen!«

2. KAPITEL

immer noch 4. Mai, nachmittags

Der Bus hatte Verspätung, na super, das wäre ein guter Start, zu diesem blöden Kurs auch noch zu spät zu kommen, sodass alle mich beim Eintreten anstarren würden. Vielleicht hätte ich Mama doch überreden sollen, mich zu bringen. Manchmal träumte ich von einem Roller, den man mit sechzehn fahren durfte, so einem pastellfarbenen Ding, wie die meisten Mädchen aus den höheren Klassen sie besaßen. In drei Monaten, Ende Juli, würde ich sechzehn. Aber wir hatten sowieso nicht so viel Geld. Und wenn Tante Dagmar …? Die hatte mir immerhin gleich das neueste iPhone geschenkt, sobald es raus war. »Damit du mithalten kannst. Ich weiß doch, wie das ist.« DDD anbetteln? Pfff. Ein bisschen Stolz hatte ich ja nun doch. Ich musste wieder an den traurigen Kirschbaum denken, durch Tante Dagmars Geldgier seiner Baumkollegen beraubt …

Endlich bog der Bus um die Ecke, gondelte durch ganz Godesbach und erklomm dann die lange Auffahrt zum Internat. Edstone is your Future! und für die ganz Dummen auch auf Deutsch: Edstone ist Deine Zukunft! Die Sprüche hingen noch vom letzten Infotag auf goldenen Werbebannern über der Straße, um den Eltern, die ihre Kinder hier parkten, das schlechte Gewissen zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, was meine Zukunft war. Vielleicht die zweite Portion Hühnerfrikassee, die ich heute Abend in mich hineinschlingen würde?

Die Schule war in einem alten Schlossgemäuer untergebracht. Akkurat getrimmte Hecken und Lorbeerbäumchen in der Auffahrt, ein imposanter Torbogen zu einem romantischen Innenhof mit Tischtennisplatten. Hinter dem Schloss hatten sie eine moderne Schwimmhalle gebaut und einen Hockey-platz angelegt. Außerdem gab es den Park mit den Bänken, die nur interessant wurden, wenn Timo darauf saß.

Ich fand den Kurs auf Anhieb. Mit mir drückten sich noch zehn andere Schüler auf dem Flur vor der Tür zu Raum A202 herum. Ich sprach mit keinem von ihnen, ich kannte die meisten zwar vom Sehen, aber was hätte ich denn mit ihnen reden sollen?

»Willkommen zum Streitschlichter-Kurs«, begrüßte uns Frau Mansky auf Englisch, nachdem wir uns in einem Sitzkreis niedergelassen hatten. Ich hasste Sitzkreise, die waren aus dem Kindergarten und außerdem konnte man sich darin so verdammt schlecht verstecken.

»Ich habe euch ausgewählt und eingeladen, weil ich der Meinung bin, dass ihr besonders geeignet seid, um auf unserer Schule bei kleineren Konflikten unter Schülern zu vermitteln. Oder Mobbingopfer zu unterstützen.« Ihr Blick verharrte auf mir, nun nickte sie mir sogar zu. Na danke, jetzt wissen alle, dass ich auch schon mal fertiggemacht worden bin. Ich versuchte, meine Füße ruhig zu halten, die unbedingt wie Hühnerkrallen auf dem Boden scharren wollten.

Der Kurs war öde. Wir mussten uns schlecht gezeichnete, sehr schlecht gezeichnete, Comic-Bilder anschauen, entscheiden, ob es sich um eine Konfliktsituation handelte, und spontan sagen, ob und wie wir eingreifen würden. Ich hätte die Comics besser hinbekommen, aber für das, was die Mansky von mir wollte, war ich bestimmt nicht geeignet. Wer würde schon auf mich hören? »Nein, Sydney-Aurelia, Stella-Europas Schuhe kosten vielleicht nicht 600 Euro, so wie deine, aber es ist kein Grund, deswegen nicht mehr mit ihr zu sprechen …« Mit einem falschen Lächeln auf dem Gesicht überstand ich die Stunde.

Draußen vor dem Torbogen hielt ich Ausschau nach Timo. Er wohnte hier, war also einer von den Internen. Aber ich traf nur Laura, eines der wenigen Mädchen in meiner Klasse, das keinen Doppelnamen oder Adelstitel trug. »Heiiiiiiijjjiii«, rief sie mir entgegen und riss dabei übertrieben Augen und Mund auf. »Was machst du denn hier?« Laura wohnte wie Timo im Internat. Ihr Vater war mit Lebkuchen steinreich geworden. Wir küssten uns rechts und links, das gehörte einfach dazu. Dabei bohrte sich ihre riesige Handtasche in meine Rippen. Gucci. Über tausend Euro. Leider nicht mal schön, für den Preis. Laura erwartete keine Antwort auf ihre Frage, wie auch für den nächsten Satz nicht: »Und? Irgendwas los bei dir?«

»Nee. Nichts Besonderes. Ach, na ja, die wollen bei uns im Café einen Film drehen.«

»Echt? Krass. Ist das so groß oder was?«

Laura war noch nie bei mir gewesen. Besser so. Mama, DDD und die Reste-Rampe eigneten sich nun wirklich nicht zum Herzeigen. »Nein. Aber sie wollen es wieder einrichten wie in den 50er-Jahren.«

»Cool. Amerikanische Produktion?«

»Nein. Finnische.« Shit, was erzähle ich denn da?

»Echt? Krass. Ist bestimmt ’ne coole Location für ’ne Party.«

»Klar. Vielleicht mache ich mal eine …«

»Mmmh«, machte Laura, doch ihr Blick meinte eher: Niemals. »Kommst du am Samstag mit shoppen?«

Ich dankte dem Universum für Lauras schnelles Vergessen.

»Äh, ich weiß nicht …« Ich konnte nicht shoppen, denn ich hatte keine Ahnung, was mir stand, hatte nicht mal eine Idee, welcher Stil mir gefiel. Schon wenn es darum ging, etwas ganz Banales, irgendetwas, für mich auszusuchen, fühlte ich mich wie gelähmt. Wollte ich Erdbeer oder Vanille? Den Platz am Fenster oder am Gang? Pferdeschwanz oder offenes Haar? Woher wussten die anderen das immer so genau?

»Ganz ehrlich, Charles? Du könntest schon mal einen anderen Look gebrauchen«, sagte Laura jetzt und nahm mich dabei mit zusammengekniffenen Augen ins Visier. »Ich hole mir auf jeden Fall die neuen Hosen, diese … ach wie heißen die, die oben so …? Weißt du nicht? Die hatte Kiesza in ihrem letzten Video an! Total geil!«

Ich schüttelte den Kopf. Die Hosen von Kiesza interessierten mich kein bisschen. Trotzdem fühlte ich mich unwissend und blöd. »Ich hatte meiner Mum versprochen, am Samstag mit ihr …«

Doch Laura hörte mir gar nicht zu, sondern tippte mit beiden Daumen etwas in ihr Handy, um den Markennamen der Hose herauszufinden.

»Ich sage meiner Mum ab und schick dir gleich ’ne SMS.« Wieder hauchten wir uns gegenseitig Küsschen neben die Wangen. Nie im Leben würde ich freiwillig vor einer Umkleidekabine stehen und Lauras Auswahl an hautengen T-Shirts, stretchigen Hosen und Dessous begutachten, geschweige denn selbst etwas anprobieren. Natürlich war das verlogen, aber ich freute mich, dass ich nicht mehr ausgeschlossen war, wie noch vor ein paar Monaten, als mir keins von den Mädchen die Wange hingehalten hätte.

Im Bus schaute mich niemand an, als ich mich durch den Mittelgang schob; alle hatten ihre Blicke auf ihre Handys gerichtet und tippten darauf herum. Ich setzte mich auf einen freien Platz und tippte ebenfalls. »Sorry, meine Mum hat mich schon für Samstag fest eingeplant. Keller ausräumen und so …«, lautete die Nachricht an Laura. Daneben ein Smiley mit heruntergezogenem Mund. »Für den Dreh«, schickte ich noch hinterher und hätte mich gleich dafür schlagen können. Es war so peinlich, dass ich vor Leuten wie Laura versuchte, etwas Besonderes zu sein.

Am Neumarkt musste ich umsteigen. Direkt an der Haltestelle lag das Schiller-Gymnasium. Ich schaute über den leeren Schulhof zu dem aus flachen Quadern zusammengesetzten Schulgebäude. Manchmal traf ich hier Flora und Marú, wenn sie spät nach ihrer Theater-AG herauskamen. Der Bau sah typisch nach 70er-Jahre aus, doch irgendwie cool. Es schien, als ob jemand ein paar unterschiedlich große Pakete nachlässig zu einem Turm gestapelt hätte. Die Fassade bestand aus braunen Betonplatten mit dicken Kieseln an der Oberfläche, die großen Fenster waren von roten Rahmen umgeben. Am Schiller hatten sie neben vielen Theaterprojekten auch einen Musikzweig. Wie gerne wäre ich dort hingegangen! Vielleicht hätte ich ja sogar die Aufnahmeprüfung dafür geschafft. Auf dem Edstone gab es ja nur Volleyball, Hockey und den völlig überflüssigen Debattierklub. Und Schwimmen … Timo fiel mir wieder ein und machte sich als warme Welle in meinem Magen breit. Wo der wohl gerade war? Ich wünschte mir ganz fest, dass er die Straße entlanggelaufen käme, jetzt! Ich machte sogar die Augen zu. Drei, zwei, eins … Aber das nützte nichts. Nur ein Zehnjähriger mit einem knallgelben Kopfhörer um den Hals kam mir entgegen. Du wärst sowieso zu feige gewesen, ihn anzusprechen, sei doch ehrlich. Weder Flora noch die anderen waren zu sehen, nur mein Gesicht, das sich in der Glaswand des Haltestellenhäuschens spiegelte. Du bist fünfzehn und hast noch nie in deinem Leben jemanden geküsst. Und wer würde das schon wollen? Mein Bus kam.

Später, ich lag schon im Bett, fiel mir auf, dass mein Computer noch an war. Ich schlich zum Schreibtisch, schaute schnell auf Facebook vorbei und unterdrückte einen Freudensprung. Timo hatte Stella-Europas fiesen Kommentar kommentiert!

»Hey Mädels, seid doch nicht so gemein! :-D«

Er hatte mich verteidigt! Wow! Der coolste Typ der Schule hatte mich verteidigt! Ich war doch nicht nur Luft für ihn! Und er hatte mich zu diesem Spiel eingeladen, das war ja schon fast, fast … fast wie ein Date! Ich grinste glücklich vor mich hin und schaltete den Laptop aus. Ab morgen würde ich abnehmen! Und mit dem Fingernägelkauen aufhören! Ganz bestimmt. Und dann …

Ich kroch zurück ins Bett, starrte durch das offen stehende Fenster in den Nachthimmel, vor dem sich die gelichtete Krone des Kirschbaums wie ein Scherenschnitt abhob, und versuchte, den Timo-und-ich-im-Schwimmbad-Tagtraum von diesem Nachmittag noch einmal aufleben zu lassen. Wir standen nicht mehr am Beckenrand, sondern superschlank (ich) und mit breiten Schultern (er) eng umschlungen (wir beide) auf der Schulparty, als plötzlich Dagmars Kreissägen-Stimme durch den Flur schnarrte: »Dein Benehmen finde ich unmöglich, Marion!«

»Ist mir egal! Hier ist doch sowieso nichts mehr für mich zu tun«, rief meine Mutter zurück. »Ich gehe weg, nach Köln. Dann bist du mich los und kannst den Laden endlich schließen!«

Ich presste den Kopf auf das Kissen. Oh shit, Mama hatte immer noch diese bescheuerte Köln-Idee im Kopf! Draußen ging die Streiterei weiter: »Ich kann den Laden auch mit dir schließen! Und weißt du, was? Auch mir reicht es. Wir verkaufen. Wir verscherbeln alles an Dümpelmann, dann kannst du gehen, wohin du willst!«

»Dümpelmann? Aber …« Mamas Stimme wurde klein. »… haben wir uns Jahre gegen den gewehrt, um nun …?«

»Tja. Haben wir. Aber weißt du, was? Es ist mir scheißegal! Der liegt mir ja schon dauernd in den Ohren. Der hat seine Cafés ja nur gegründet, um mir eins auszuwischen.« Meine Tante schien direkt vor meiner Tür zu stehen, so deutlich hörte ich sie.

»Das glaubst du schon seit dreißig Jahren …«

»Es ist so!«

»Na klar, du hast wie immer recht, Dagmar. Dann ist es so.«

Mama holte wieder auf, sie drehte hoch. »Aber um mit deinen Worten zu reden: Es ist auch mir scheißegal!«

»Das war es ja schon immer.«

DDD, hör verdammt noch mal auf zu kreischen. Alle beide sollt ihr aufhören!

»Vati und Mutti haben sich bucklig geschuftet für uns!«

»Und wennschon. Du glaubst, ich schaffe das nicht, aber ich werde es tun! Ich kann sehr wohl für Charles und mich sorgen …«

»Ha!« So gemein lachen wie Dagmar konnte niemand sonst, den ich kannte. »Du hast doch noch nie etwas durchgezogen, Marion! Schule abgebrochen, Lehre gar nicht erst angefangen, dabei hat Vati dir einen so schönen Platz bei Dietmar Schauenberg besorgt.«

»Dietmar Schauenberg, dieser Widerling, hat mich gleich am ersten Tag am Teigmischkessel angegrapscht. Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Nichts hast du zu Ende geführt. Und dann musstest du ja unbedingt diesem Kerl nach Frankreich folgen.«

»Sag nichts gegen Alain! Du kennst ihn nicht!«

Ja, und ich auch nicht, Mama. Danke für ein Leben ohne einen Vater! Alle anderen haben einen, wenigstens ab und zu, nur ich nicht.

»Du bist eben nicht besonders schlau, und wenn ich Charlottes Schule nicht zahlen würde, wäre sie schon längst auf demselben Weg wie du!«

Was für eine Unverschämtheit! Die spinnt doch.

»Du hast dein Studium doch auch nicht zu Ende gebracht …« Mamas Stimme klang kläglich und schon fiel Dagmar ihr schrill ins Wort:

»Ich bin wegen euch zurückgekommen!«

»Was?«, schrie jetzt Mama. Ich zuckte zusammen, denn so laut wurde sie sonst nie: »Du hast heulend in deinem Studentenzimmer gelegen! Vati musste dich nach Hause holen.«

»Das ist eine Lüge! Ich hätte das erste Staatsexamen garantiert beim zweiten Anlauf geschafft. Dann wäre ich heute ganz woanders, nicht bei der AVG, sondern … Ich hab das für euch und das Café getan!«

Nach diesem Satz war es auf einmal still. Ich spürte, wie verkrampft ich auf meiner Matratze lag. War’s das jetzt? Gib dich doch jetzt nicht geschlagen, Mama. Und als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagte sie auf einmal: »Ich habe dich nicht darum gebeten.« Wieder Stille. Bevor Mama anfügte: »Egal. Wen interessieren diese alten Kamellen schon. Wir verkaufen und ich werde gehen! So schnell wie möglich. Am besten schon nächsten Monat.«

Was? Ich sprang aus dem Bett. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Wie stellte sie sich das vor? Godesbach verlassen? Nur um in einem Supermarkt an der Kasse zu sitzen, während die Flugzeuge über ihren Kopf hinwegdonnerten? Ich riss die Tür auf, um einfach irgendwas zu tun.

»Vergiss es, Mama, ich gehe nirgendwo mit hin!« Ich knallte die Tür wieder zu. Mein Herz klopfte. Die ganze Welt war so ungerecht!

Wütend schaute ich mich um und griff nach der alten Armbanduhr auf dem Schreibtisch, die Mama mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die kam noch aus ihrer eigenen Kindheit und sie hing sehr daran. Die kleine Uhr war alt, das sah man, das runde Zifferblatt war gelblich angelaufen, die Zahlen darauf winzig und kaum erkennbar. Mit dem blauen Lederarmband wirkte sie unspektakulär und nicht gerade wertvoll. In meiner Schule würde sie nicht einmal unter den angesagten Vintage-Style fallen. Darum trug ich sie auch nie. Mama hatte mich gebeten, vorsichtig mit der Uhr umzugehen, aber das konnte sie vergessen, ich war immer noch sauer auf sie, sehr sauer. Ich drehte grob an dem Aufzieh-Rädchen an der Seite, vielleicht ging das blöde alte Ding dadurch ja endlich kaputt. Fuck you! Schon fühlte ich mich besser, ich knallte die Uhr zurück auf den Schreibtisch, schlüpfte ins Bett und zog mir die Steppdecke über den Kopf und hörte meinem heftigen Atem zu.

Ich musste einige Stunden geschlafen haben, als ich mit einem Ruck aufwachte. Es war dunkel. Was hatte mich geweckt? Ich lauschte. Nichts. Selbst auf dem Hof der Spedition war noch Ruhe und die fingen schon um sechs Uhr an, ihre Lastwagen hin und her zu rangieren. Ich setzte mich auf. 05.04 Uhr zeigte die Digitalanzeige meines Weckers. Ohne Licht zu machen, schaute ich aus dem offenen Fenster. Es war immer noch sommerlich warm, selbst jetzt, kurz vor Sonnenaufgang. Der Kirschbaum trug keine einzige Kirsche dieses Jahr. Sogar die Blätter waren ihm alle ausgegangen – wie einem alten Mann die Haare. Fast hatte ich Mitleid mit ihm.

Ich schlurfte in die Küche, trank im Dunkeln einen Schluck Wasser und tapste wieder zurück in mein Zimmer. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich sah die Uhr auf dem Schreibtisch neben meinem Handy liegen und nahm sie in die Hand. Mamas bescheuerter Plan, nach Köln-Schnorz oder -Porz oder wie das hieß, zu ziehen, fiel mir wieder ein. Niemals! In hohem Bogen warf ich die Uhr aus dem Fenster. Sie landete ohne ein Geräusch irgendwo auf dem kurz geschorenen Rasen vor dem Kirschbaum. Sollte sie dort unten doch vergammeln!

3. KAPITEL

5. Mai, morgens