Schmetterlingsschrei
1. Auflage 2015
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2015
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80516-0
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1. Kapitel
Papa!«
Ihr Schrei scheint die Wände des Hauses erzittern zu lassen. Ihre Kehle fühlt sich rau an und ein Blick in das Gesicht ihrer Mutter zeigt ihr, wie laut sie ist. Dagmar hält die Hände auf die Ohren gepresst und die Augen geschlossen. Gelungene Vorstellung! Alice achtet nicht weiter auf sie und stürzt sich in die Arme ihres Vaters.
»Danke«, sagt sie. Ganz leise nun. »Vielen, vielen Dank! Du bist der beste Papa der Welt.«
Hardy schmunzelt. »Das am 17. Geburtstag seiner Tochter zu hören, kann nur bedeuten, in ihrer Erziehung doch nicht alles falsch gemacht zu haben. Oder, Dagmar? Was meinst du?«
Ihre Mutter setzt sich an den Frühstückstisch, auf dem die Kerzen der Geburtstagstorte Käse, Wurst, Marmelade, frisch gepressten Orangensaft und warme Brötchen beleuchten.
»Kommt ihr?«, fragt sie.
Alice hakt sich bei ihrem Vater ein und gemeinsam gehen sie zum Tisch. Sie legt den dicken Umschlag neben ihren Teller, um den Rosenblüten verstreut liegen. Dieses Jahr sind sie vanillegelb-rosé.
Alice ahnt, dass ihre Wangen glutrot leuchten, wie immer, wenn sie aufgeregt ist. Und verlegen.
»Das ist das tollste Geschenk, das ich je bekommen habe.« Sie streichelt die Hand ihres Vaters und strahlt ihn glücklich an. Hoffentlich glaubt er ihr. Er sieht so stolz aus. Stolz auf sie, sein einziges Kind. Das genauso abenteuerlustig, wagemutig und unabhängig sein soll wie er selbst. Dabei aber bitte schön das kleine, anschmiegsame Papakind bleibt. Sie kann ihm unmöglich sagen, dass sie sich viel mehr über Karten für das Coldplay-Konzert im September in München freuen würde. Ein Fallschirmsprung – auweia! Aber wie immer wird sie ihn nicht enttäuschen. Ihre Reaktion auf das Geschenk scheint zumindest schon mal ziemlich überzeugend zu sein. Sie räuspert sich und trinkt einen Schluck Orangensaft.
»Danke, Mama«, zieht sie dann Dagmar ins Gespräch und fasst auch nach der Hand ihrer Mutter. Diese seufzt. Wieder einmal.
»Ich war ja dagegen, aber dein Vater …«
»Bitte, Dagmar«, unterbricht Hardy. »Das Kind ist beinahe volljährig. In exakt einem Jahr können wir ihr sowieso nichts mehr verbieten. Wird Zeit, uns daran zu gewöhnen.«
»Ausgerechnet mit einem Fallschirmsprung? Komm, Alice, puste die Kerzen aus, das Wachs tropft schon auf den Kuchen.«
»Gleich«, erwidert Alice und holt den Gutschein erneut aus seinem Umschlag. Sie fährt mit dem Finger über das glatte Papier, als sei es ein kostbares Schmuckstück. »Geil, einfach nur geil! Ein Tandemsprung – echt mega!« Dann holt sie tief Luft und bläst die Kerzen aus. Alle 17. Ein Wunsch wird in Erfüllung gehen. Sie wird den Sprung überleben! Hoffentlich!
Sie steht vom Stuhl auf, legt die Arme um den Hals ihres Vaters und übersät sein Gesicht mit kleinen Küssen.
Seit Hardy vor einem Dreivierteljahr seinen ersten Sprung absolviert hat, hat er Alice immer wieder mitnehmen wollen, damit sie es ebenfalls ausprobieren kann. Aber Dagmar hat es kategorisch abgelehnt. Viel zu gefährlich, ist sie der Meinung.
»Wenn du einmal dabei wärst«, wird Hardy nicht müde, ihr zu erklären, »würdest du sehen, dass es eben nicht gefährlich ist. Die Sicherheitsvorkehrungen sind so umfassend, dass gar nichts passieren kann. Da gibt es Sportarten, die viel waghalsiger sind. Selbst Auto fahren ist unsicherer. Selbst fliegen!«
Aber Dagmar will sich nicht überzeugen lassen. Bei jedem seiner Versuche erinnert sie an den von ihm initiierten Surfkurs an der portugiesischen Atlantikküste vor drei Jahren, der damit endete, dass Alice, blutige Anfängerin, mit dem Board zu weit aufs Meer hinausgetrieben worden war. Ein Fischerboot musste sie einsammeln.
»Da war sie doch noch viel jünger«, hält Hardy Dagmar dann immer entgegen.
Wie es ihm jetzt gelungen ist, sich durchzusetzen, kann Alice nur ahnen. Wahrscheinlich hat er einfach Fakten geschaffen.
Es ist schon immer so gewesen. Dagmar sieht die Welt als gefährlichen Ort an, vor dem sie ihr kleines Mädchen beschützen muss, so gut es geht. Hardy dagegen begreift das Dasein als Abenteuerspielplatz, den es zu erkunden gilt. Vielleicht liegt es an seinem Beruf, dass er Risiken ausloten will, ist Alice irgendwann zu der Einschätzung gekommen. Als Pilot einer großen Passagiermaschine übernimmt er ständig immense Verantwortung und ist es gewohnt, dass man sich auf ihn verlässt. Wenn er sich auf eine Gefahr einlässt, dann nur, wenn er das Gefühl hat, sie im Griff zu haben – wie beim Fallschirmspringen.
Alice selbst fühlt sich noch lange nicht so weit. Weder bereit zum Fallschirmspringen noch dazu, sich mit Haut und Haaren auf die Welt da draußen einzulassen. Sie ist kein Alphamädchen, wie ihr Vater es gerne in ihr sehen will. Will sie auch gar nicht sein. Und Fallschirm springen steht nicht auf ihrem Plan.
Bisher hat sie nicht so deutlich gesagt, was sie von einem Sprung hält, ihren Vater aber gerne berichten lassen, was das Springen in ihm auslöst, und ihn dabei fasziniert angelächelt. Offensichtlich so überzeugend, dass er glaubt, ihr mit diesem Geschenk den größten Wunsch zu erfüllen.
»Du musst los«, erinnert Dagmar Alice und weist auf die Uhr über dem Backofen.
»Einmal noch«, antwortet Alice. »Morgen um die Zeit schlafe ich einfach weiter. Und träume von meinem ersten Sprung.«
Wie gut sie ihre Rolle spielt!
Irgendwie ist es cool, am letzten Schultag vor den Sommerferien Geburtstag zu haben. Richtigen Unterricht gibt es schon seit ein paar Tagen nicht mehr, auch wenn jeder Lehrer meint, ihnen sagen zu müssen, dass sie über die Ferien lernen sollen, weil das Abitur im kommenden Frühjahr kein Spaziergang wird. Heute nimmt sich Herr Schmitz Zeit, Alice gemeinsam mit dem Geschichtskurs ein Geburtstagsständchen zu singen, und sogar Hendrik, bemerkt Alice aus den Augenwinkeln, brummt verdruckst mit. Mit großer Ausdauer werden dann die Schokomuffins vertilgt, die Alice am Vorabend gebacken hat. Jeder erzählt ein bisschen, was er in den Sommerferien so vorhat, und irgendwann ist es elf und die Zeugnisse werden ausgeteilt.
Als sie vor dem Eingang stehen, schlingt Alice ihre Arme um Tessa, ihre beste Freundin, und drückt sie fest an sich. Sie werden sich fast sechs Wochen nicht sehen.
»Tut mir leid, dass wir schon heute nach Frankreich starten«, sagt Tessa. »Ich hätte gerne mit dir gefeiert. Und noch lieber hätte ich dir beim Springen zugeschaut. Das würde ich mich nie trauen! Ich hoffe, du kommst am Stück unten an!«
»Schauen wir mal!« Alice lacht und küsst ihre Freundin auf die Wange, bevor sie sich von ihr losmacht. »Wir feiern nach, wenn du zurück bist. Mir ist eh nicht so arg danach zumute. Ich wüsste gar nicht, wen ich außer dir einladen sollte …«
»Ach, komm«, unterbricht Tessa sie. »Der hat es nicht verdient, dass du ihm nachtrauerst, der Depp.«
Sie beobachten den Typen in den knallengen Röhrenjeans und dem tief ausgeschnittenen, ärmellosen Shirt in Olivgrün, der auf dem Parkplatz sein Fahrrad aufschließt. Alice kann sich ein Seufzen nicht verkneifen.
»Süße«, Tessa streicht ihr sanft über den Arm. »Ich weiß, dass du ihn nicht betrogen hast. Wenn Hendrik dir nicht glaubt, heißt das, er hat kein Vertrauen – und ohne Vertrauen keine Beziehung. Also scheiß drauf!«
»Du hast ja recht. Aber trotzdem.« Alice muss die Tränen runterschlucken. Nicht heute. Heute ist ihr Geburtstag. Da wird sie nicht wieder weinen. Sie wird sehr bald über sich hinauswachsen und mit dem Fallschirm abspringen. Dann wird alles andere unwichtig sein, das liest man doch immer. Nur sie und der Himmel und die Freiheit.
»Dass er mir nicht glaubt, tut mehr weh, als dass er nicht mehr mit mir zusammen sein will«, stellt sie fest.
»Versteh schon.« Tessa hakt sie unter und sie gehen in Richtung des Fahrradparkplatzes. Hendrik ist irgendwo in dem kleinen Wäldchen, das an die Schule grenzt, verschwunden.
»Lass uns bei Rosa noch einen Kaffee trinken, ja? Ich schreib meiner Ma, dass es später wird«, schlägt sie vor. »Schließlich sehen wir uns jetzt ewig nicht – ich weiß gar nicht, wie ich das überstehen soll.«
»Ich auch nicht.«
Fast wirft Alice das Stück Papier aus ihrem Fahrradkorb achtlos beiseite, aber Tessa hält sie auf.
»Da steht was drauf – ein Geburtstagsgruß?«
Alice streicht das zerknitterte Blatt glatt. Die roten, krakeligen Buchstaben springen ihr beinahe ins Gesicht.
Happy Deathday, Schlampe! Verreck endlich!, steht da breit und fett und es sieht aus, als ob Blutstropfen aus den Worten herauslaufen. Tessa reißt Alice den Zettel aus der Hand, knüllt ihn zusammen und wirft ihn in hohem Bogen ins Gebüsch.
»Arschloch«, schreit sie, aber außer Alice hört sie niemand.
»Ich glaub, ich fahr doch lieber heim«, hört sich Alice sagen. Sie will allein sein. Ihre Knie zittern, was ihr furchtbar peinlich ist. Jetzt mit Tessa im Café zu sitzen und sich anzuhören, wie sich ihre Freundin auf den Tenniskurs in Biarritz freut, kann sie nicht ertragen. Und von Tessa gesagt zu bekommen, dass sie Hendrik einfach vergessen soll, ist noch schlimmer.
»Versteh schon«, sagt Tessa glücklicherweise und nach einer langen Umarmung machen sich die zwei Freundinnen in entgegengesetzte Richtungen auf den Heimweg.
Im Haus ist es ganz still. Ihre Mutter ist vermutlich einkaufen oder beim Friseur oder sie sitzt bei Conny, ihrer besten Freundin, und heult sich darüber aus, dass Hardy ohne Rücksprache einfach diesen Tandemsprung-Gutschein besorgt hat.
Alice ist froh, dass sie mit niemandem reden muss, am allerwenigsten mit ihrer Mutter. Aus dem Briefkasten zieht sie einige Geburtstagskarten und setzt sich mit den Umschlägen auf die Terrasse, ein Glas Eistee neben sich. Sie nimmt einen großen Schluck und starrt gedankenverloren in den Garten. Im sanften Wind schwingt die alte Schaukel hin und her, als ob ein Kindergeist sie in Besitz genommen habe. Wann wird Hardy sie endlich abbauen, wie er es schon so oft versprochen hat?
Hendrik, denkt sie, Hendrik, wie konnte das passieren?
Vor drei Wochen erst tobten sie wie die Grundschüler durch den Garten, benutzten die Schaukel als Klettergerüst (was einen entsetzten Aufschrei ihrer Mutter provozierte) und Alice saß auf Hendriks Schoß und küsste ihn, während die Schaukel quietschend höher und höher schwang. Nur zwei Tage später machte Hendrik mit ihr Schluss. Er hatte ein Foto auf seinem Smartphone, das Alice zeigte. Alice in den Armen von Marvin, diesem Streber. Eine Fälschung – was sonst? Als ob sie den je küssen würde! Sie hat noch immer keine Ahnung, wie dieses Bild zustande gekommen ist. Sie beschwor Hendrik, ihr zu glauben, dass da jemand gebastelt, die Realität verfälscht, etwas erfunden hatte. Aber Hendrik vertraute ihr nicht. Er war sowieso eifersüchtig, weil Marvin ihr gelegentlich in Physik half.
»Der starrt dich immer so an«, sagte er. »Das ist garantiert ein Perverser.« Alice ist klar, dass Marvin auf sie steht, aber genauso klar ist, dass sie nie im Leben auch nur Händchen mit ihm halten würde.
»Bestimmt hat er das Bild manipuliert, um uns auseinanderzubringen«, versuchte Alice, Hendrik zu überzeugen. »Du weißt ja noch nicht mal, wer dir das Foto geschickt hat.«
»Das muss ich gar nicht wissen«, antwortete er und blickte sie mit einem bisher unbekannten Ausdruck von Abscheu an. Dann löschte er vor ihren Augen ihre Kontaktdaten auf seinem Handy, drehte sich einfach um und ging. Und Alice stürzte in ein Meer der Trauer. Aß tagelang fast nichts, schrieb Seiten voller Klagen in ihr Tagebuch, weinte sich stundenlang bei Tessa aus und schlief nur mithilfe von Baldriantabletten, die sie aus der Nachttischschublade ihrer Mutter klaute. Sie sagte ihren Eltern nicht, warum sie sich nicht mehr mit Hendrik traf. Sie stellte es so hin, als wäre sie es, die Schluss gemacht hätte – was Hardy zu einer bewundernden Bemerkung über die erstaunliche Reife seiner Tochter verleitete. Keiner der beiden wollte ansonsten Genaueres wissen. Somit reiht sich Hendrik nun in die Reihe der bisherigen drei Freunde ein, die ihr Vater ebenfalls nicht mag, da er sie allesamt für unpassend hält und als seinem Mädchen hoffnungslos unterlegen ansieht.
Bald darauf gingen die Schmähungen und Beleidigungen durch Hendriks Freunde los. So eine Bitch, postete Pascal auf Facebook und veröffentlichte das gefälschte Bild gleich dazu. Einmal stellte ihr Matthias im Gang vor dem Klassenzimmer ein Bein und lachte sich halb tot, als sie mitsamt ihrer Schultasche der Länge nach hinknallte. Ihr Fahrrad war mehrmals platt gewesen und dieser fiese Zettel heute in ihrem Korb passt genau zu den Aktionen der letzten Zeit. Wie gut, dass jetzt erst einmal sechs Wochen Ruhe sind. Nach den Ferien gibt es bestimmt neue Skandale, andere Aufreger und bessere Opfer als sie. Hofft sie.
Sie spürt, wie sich ihre Halsmuskulatur zusammenzieht und der Schmerz die Hirnschale hinaufzuklettern beginnt. Keine Kopfschmerzen am Geburtstag, fleht sie und trinkt den Rest Eistee. Sie beschließt, den Druck zu ignorieren, und öffnet die erste Geburtstagskarte. Ihre Patentante schickt ihr 20 Euro, wie lieb. Ihre kleinen Cousinen haben ein sehr süßes Bild gemalt und Großonkel Konrad schenkt ihr wie jedes Jahr einen Blumenscheck von Fleurop. Ihre Mutter hat ihr verboten, sich darüber lustig zu machen, und sie muss sich immer schriftlich für das langweilige Geschenk bedanken.
Auf dem letzten Umschlag klebt ein maschinengeschriebener Adressaufkleber. Wo der Brief aufgegeben ist, kann man nicht erkennen und ein Absender fehlt. Vielleicht eine Werbesendung?
Die Karte schlicht zu nennen, wäre übertrieben. Sie ist ganz einfach weiß, nichts steht darauf. Alice klappt sie auf. Und blickt auf ein Foto. Ein Foto von sich und ihren Eltern. Eigentlich. Sie will dieses Stück Papier von sich werfen, es davonflattern, irgendwo in der Tiefe des Gartens verschwinden sehen, als habe es nie existiert. Aber so angeekelt sie ist, sie kann den Blick nicht abwenden. Denn sie kennt dieses Bild, sie weiß sogar, wo im Fotoalbum es klebt. Alice ist darauf ein Jahr alt, es ist an ihrem ersten Geburtstag aufgenommen worden. Sie sitzt auf dem Ehebett ihrer Eltern, ein buntes Klämmerchen im spärlichen Haar, strahlt in die Linse, streckt die Arme in Richtung des Fotografen und hat genau die gleichen roten Bäckchen wie heute, wenn sie aufgeregt ist. Links neben ihr liegt ihre Mutter, rechts daneben ihr Vater. Auch sie strahlen vor Glück. Doch auf diesem Abzug des Fotos ist alles anders. Dagmars Gesicht ist durch ein anderes, fremdes Frauengesicht ersetzt. Ein Gesicht, das zwar wunderschön ist, jedoch eine große Traurigkeit ausstrahlt, sehr abwesend wirkt. Und das ihres Vaters ist zerkratzt und wie mit Blutstropfen bespritzt.
»Schatz, bist du schon da?«, hört sie Dagmar aus dem Flur rufen. Instinktiv schiebt sie die Karte unter ihr T-Shirt. Es ekelt sie beinahe, das Bild mit dem blutverschmierten Gesicht auf ihrer nackten Haut zu spüren.
Es ist ja nur ein Foto, nur ein Foto, beschwört sie sich.
»Bin hier draußen«, ruft sie zurück. »Onkel Konrad hat wieder seinen Fleurop-Scheck geschickt.«
»Wie schön«, sagt ihre Mutter völlig ironiefrei und tritt auf die Terrasse. Für eine Sekunde hat Alice die Vision, Dagmars Gesicht sei auch im echten Leben durch das der Unbekannten ersetzt worden.
Den Nachmittag verbringt sie damit, im Schatten zu liegen und auf dem Tablet YouTube-Videos von Fallschirmsprüngen anzuschauen. Die Leute sehen nach der Landung alle sehr glücklich aus, macht sie sich Mut. Zum Feiern ist ihr noch immer nicht zumute. Nur beunruhigende Gedanken drehen in ihrem Hirn eine Runde nach der anderen. Gelegentlich schickt sie eine sehnsüchtige WhatsApp-Nachricht an Tessa, die aber bald schon die französische Grenze passiert haben wird und dann erst mal auf die teure Auslands-Internetverbindung verzichten muss. Wer weiß, wann sie sich wieder in einem kostenlosen WLAN-Netzwerk einloggen kann.
Dagmar hat beim Mittagessen versucht, Alices Laune mit deren Lieblingsessen etwas anzukurbeln, scheiterte aber kläglich. Alice stocherte in den Nudeln mit Gambas rum und bemühte sich, ihrer Mutter klarzumachen, dass sie unmöglich Pasta mit so viel Sahnesoße daran essen konnte. Nicht mal am Geburtstag. Und wie immer war Dagmar beleidigt und Alice hatte ein schlechtes Gewissen, wusste aber nicht, wie sie ihre Mutter besänftigen sollte. Wieso ist ihr Vater ausgerechnet heute zu einem Langstreckenflug aufgebrochen? Er wollte es vermeiden, aber ein Kollege ist krank geworden und Hardy musste übernehmen. Erst am Freitagabend wird er aus Mumbai zurückkommen.
»Am Samstag, Schatz«, hat er ihr versprochen. »Am Samstag kannst du deinen Sprung machen. Ich habe dich schon angemeldet! Und danach gehen wir essen und feiern deinen Geburtstag nach.«
Drei Tage also noch, in denen sie hauptsächlich grübeln wird – darüber, wie sie endlich mit Hendrik abschließen kann, wie sie den Fallschirmsprung abbiegt, aber vor allem darüber, wer ihr diese gruselige Geburtstagskarte geschickt hat.
Als sich ihre Mutter zu einem kleinen Mittagsschlaf hinlegt, schleicht Alice zu den Fotoalben im Wohnzimmer und zieht das rosafarbene mit den Schmetterlingen darauf hervor. Es ist furchtbar kitschig, wohl ein Geschenk zu ihrer Taufe. Hastig blättert sie es durch – überzeugt davon, dass das Foto ihres ersten Geburtstages fehlen wird. Ob es Hendrik bei einem seiner Besuche heimlich herausgerissen hat? Sie hat mit ihm einen ganzen Nachmittag lang in ihren Kinderbildern geblättert, weil sie irgendwann feststellten, dass sie in denselben Kindergarten gegangen waren. Die Vorstellung, als Dreijährige gemeinsam auf einem Bild zu erscheinen, hatte sie sehr amüsiert. Aber anscheinend gab es keines. Hendrik hatte sich bei ihren Babybildern halb totgelacht. Beinahe glatzköpfig und voller prächtiger Speckröllchen war sie, während er, behauptete er, schon als Baby einen Lockenkopf und stramme Muskeln besaß.
Sie zuckt zusammen, als ihr Handy klingelt, so versunken ist sie in das Betrachten der Bilder. Eine unterdrückte Rufnummer – ein geheimnisvoller Gratulant?
»Hallo?«
Stille.
»Hallo?«, fragt sie nach. Keine Reaktion.
Doch ehe sie das Handy vom Ohr nimmt, um aufzulegen, dröhnt die Musik los. Beinahe unmenschliche Schreie, schrille Gitarrenriffs und Schlagzeugbeats, als ob ein Psychopath von einem Teufel angestiftet wird, die Welt akustisch in die Luft zu sprengen. Mit zitternden Fingern schafft sie es, die Leitung abzuwürgen.
Hendrik? Ist es nicht langsam genug mit den Demütigungen?
Sie massiert sich die Schläfen und spürt, dass sie den aufwallenden Schmerz nur knapp bändigen kann. Ihr fällt es schwer, den Anruf zu verdrängen und sich wieder auf das Fotoalbum zu konzentrieren. Mit einem Mal fühlt sie sich so erschöpft. Vielleicht alles nur Zufall, gelangweilte Viertklässler, die einen Telefonstreich spielen. So ganz kann sie nicht daran glauben. Ein Rest Schmerz bleibt zwischen Schädel und Hals zurück, eine Warnung: Du kannst nie sicher sein. Sie gibt sich einen Ruck und blättert fahrig im Fotoalbum weiter.
Beinahe übersieht sie das gesuchte Bild. Aber da ist es. Und ihre Eltern sehen ganz normal aus. Keine ausgetauschten Köpfe, keine zerkratzten Gesichter, kein Blut. Hat er es einfach abfotografiert? Sie nimmt das Album mit in ihr Zimmer und zieht widerstrebend die Karte heraus, die sie ganz unten in ihrer Schreibtischschublade unter Unmengen von Kabeln, CD-Hüllen und vollgeschriebenen Notizbüchern versteckt hat. Instinktiv hat sie beschlossen, ihren Eltern die Karte nicht zu zeigen. Ihre Mutter würde sich sicher tierisch aufregen und ihr Vater Hendrik die Hölle heißmachen.
Das Foto ist direkt auf die Karte gedruckt worden und die Qualität ist erstaunlich gut. Aber wer sich heutzutage nur ein bisschen mit einem Bildbearbeitungsprogramm auskennt, der kann so etwas leicht herstellen. Was bezweckt der Absender mit diesem fiesen Bild? Ihr einfach den Geburtstag zu versauen? Sie zu verunsichern? Ihre Eltern in ein schlechtes Licht zu rücken? Wer mag nur diese fremde Frau sein?
»Was hast du da?«, hört sie plötzlich die Stimme ihrer Mutter dicht neben sich. Sie klappt die Karte zu und steckt sie zurück in den Umschlag.
»Hab nur meine Geburtstagskarten angeschaut.«
Glücklicherweise fragt Dagmar nicht weiter nach.
»Und jetzt zum Mutter-Tochter-Teil des Geburtstages«, sagt sie. »Wie wäre es mit einem Stadtbummel? Inklusive H & M, Desigual, Eisdiele und was immer du willst.«
Alice spürt ein Zucken um die Mundwinkel. Sie ist froh über jede Ablenkung.
»Okay.« Sie steht auf und schiebt die Karte zwischen die anderen. »Coole Idee.« Allemal besser, als hier vor lauter Grübeln in Depressionen zu verfallen.
2. Kapitel
Mehr als drei oder vier Stunden hat sie heute Nacht bestimmt nicht geschlafen. Aber als der Wecker – trotz Sommerferien – um sieben klingelt, steht sie blitzschnell auf. Unten in der Küche hört sie schon das Zischen der Kaffeemaschine. Hardy ist erst gestern Nachmittag aus Indien zurückgekommen, und auch wenn er mit Jetlags besser zurechtkommt als Normalsterbliche, ist ihr klar, dass er seit vier, fünf Uhr früh wach ist. In Indien ist man immerhin fünfeinhalb Stunden weiter als hier.
»Na, Große«, begrüßt er sie, als sie die Küche betritt. »Munter?«
Sie streicht sich die verwuschelten braunen Locken aus dem Gesicht und versucht, so fröhlich wie möglich dreinzublicken. »Absolut!«, sagt sie.
»Aufgeregt?«
»Nö, gar nicht.«
Er legt den Kopf schief. Sie hat zu dick aufgetragen.
»Na ja, ein bisschen.« Sie mopst sich die Cappuccinotasse, die gerade fertig gefüllt ist, und setzt sich damit an den Küchentresen.
»Ich finde es großartig, dass du dich traust.« Hardy grinst sein spitzbübischstes Lachen. »Du bist halt meine Tochter.«
»Für wann ist der Sprung gebucht?«, lenkt sie ab und rührt im Kaffee. Irgendwie verursacht ihr der Duft Übelkeit. Sie versucht, es zu ignorieren.
»Zehn, wir haben noch Zeit. Am besten, du ziehst bequeme Klamotten an. Ich schmiere uns ein paar Brote für später.«
Sie ist ihm dankbar, dass er sie nicht auffordert, jetzt etwas zu essen. Sie brächte keinen Bissen herunter. Keep cool, denkt sie, aber das Poltern in ihrem Herzen wird immer stärker.
»Wie ging’s dem Kopf die letzten Tage?«, fragt er. Sie nickt. Den kleinen Anfall von gestern wird sie nicht erwähnen, sonst macht er sich wieder Sorgen, wird den Sprung für heute absagen wollen und ist dann gleichzeitig enttäuscht. Ach, es ist kompliziert.
Alice hat mit 14 die ersten Migräneanfälle erlitten und von Nachmittagen in dunklen Zimmern mit Entspannungsübungen über Homöopathie und Biofeedback bis hin zu Hypnose alles versucht, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Phasenweise geht es ihr wochenlang gut – dann, wie aus heiterem Himmel, prasselt ein Anfall nach dem anderen auf sie nieder. Oft sogar eher, wenn der Stress nachlässt. Ferien sind ihre klassische Zeit für Migräneanfälle. Heute allerdings nicht!
Sie schiebt die Kaffeetasse von sich und greift nach ihrem Handy, das zum Aufladen auf der Küchentheke liegt. Sie checkt, ob irgendwelche Nachrichten gekommen sind. Keine. Zum Glück. Seit ihrem Geburtstag hat es noch vier, fünf Anrufe gegeben, bei denen die Nummern unterdrückt waren. Sie konnte auf weitere infernalische Musikattentate verzichten und war nicht drangegangen. Nur einmal hat sie mehr aus Versehen ein Gespräch angenommen, aber es hat sich niemand gemeldet. Sie schiebt das Handy in ihren Rucksack, der neben der Theke liegt.
»Ich mach mich mal fertig.« Sie steht auf und lächelt tapfer. Es kostet sie große Anstrengung, so zu tun, als freue sie sich auf den Sprung. Jetzt erscheint ihre Mutter mit grauem Gesicht im Türrahmen.
»Lass dich noch mal drücken!«, sagt Dagmar beinahe theatralisch, als sei es ein Abschied für immer. Sie klammert sich regelrecht an ihre Tochter. Alice macht sich schnell von ihr los, nicht ohne Hardys spöttischen Gesichtsausdruck zu bemerken. Den sie auch etwas übertrieben findet.
»Willst du nicht doch mit?«, fragt Hardy.
»Das schaue ich mir sicher nicht an«, sagt Dagmar tonlos und geht zurück Richtung Schlafzimmer.
»Komm, Alice, mach«, drängt ihr Vater nun und deutet Richtung Bad. Als sie sich in der Tür zu ihm umdreht, tippt er eine SMS in sein Handy und lächelt dabei mit diesem milden, generösen Blick, den sie manchmal liebt, manchmal hasst. Wen – außer ihr – bedenkt er mit diesem Ausdruck?
Im Flur stolpert Alice über die coolen Bikerboots, die sie mit Mama an ihrem Geburtstag in der Stadt gekauft hat. Die wird sie anziehen. Die werden ihr Halt geben. Ganz bestimmt.
∗
Querida Mamá,
ich hoffe, es geht dir gut. Ich denke jeden Tag an dich und vermisse dich noch immer sehr. Aber mach dir keine Sorgen um mich, ich komme schon klar. Du würdest dich freuen zu sehen, wie schön der Ginkgobaum an Omas und Opas Grab wächst. Ich gehe sie oft besuchen, wenn es die Zeit erlaubt. Ich arbeite sehr viel, aber es macht mir Spaß. Die Leute sind nett zu mir. Keiner lacht mich aus. Und stell dir vor: Das Mädchen wird auftauchen! Ich glaube, es wird mich mögen. Ich werde mich darum bemühen. Liebste Mama, ich werde Vater von dir grüßen, ganz bestimmt. Und ich schreibe dir bald wieder.
In Liebe
dein einziges Kind
PS: Das Foto habe ich aus seinem Album abfotografiert. Es war ganz einfach, niemand hat es bemerkt. Ich will dich damit nicht kränken, aber du sollst sehen, dass ich recht habe mit dem, was ich tue.
∗
Das Gelände der Sprungschule liegt mit dem Auto etwa 20 Minuten von der Stadt entfernt. Sie passieren kleine Dörfer, die Alice allesamt nichts sagen. Ihr Vater scheint sich auszukennen, er benutzt kein Navi und zögert trotzdem an keiner der vielen Abzweigungen. Ist er nicht erst drei oder vier Mal hier gewesen? Da seine freien Tage nicht an das Wochenende gebunden sind, ist er unter der Woche zum Springen gegangen.
Alice war ganz froh, dass sie ihn wegen der Schule nicht begleiten konnte.
Von Weitem sieht sie über den wogenden Weizenfeldern nur den weißen Buckel einer hässlichen Industriehalle aufragen. Unter diesem Blechdach soll eine Fallschirmsprungschule sein?
Je näher sie kommen, umso mehr Gebäude entdeckt sie. Sicher sind dort die Flugzeuge untergebracht, wenn sie nicht benötigt werden. Auf einem unbefestigten Parkplatz stehen schon eine ganze Menge Autos, manche von ziemlich weit her. Himmelstaucher – Skydiven ohne Limit prangt in einer wolkig-blauen Schrift auf einem großen Schild, das an einer der Hallen hängt. Daneben das überdimensionale Foto eines grinsenden, bärtigen Mannes, dessen Augen beinahe komplett hinter einer Sprungbrille verborgen sind und der neben seinem Gesicht einen ausgestreckten Daumen in die Kamera hält.
»Das ist Jürgen, der Chef«, erklärt Hardy und steuert einen der letzten freien Parkplätze an. »Der hat schon über 7.000 Sprünge auf dem Buckel.«
Sie steigen aus und Alice läuft zögerlich hinter ihrem Vater her, der genau zu wissen scheint, wohin es geht. Soll sie nicht doch darum bitten, umzukehren und heimzufahren? In der Luft hängt der schwere Geruch von Kerosin. Schlimmer als an einer Tankstelle. Ihr wird beinahe etwas schwindelig. Echter Kopfschmerzgeruch! Vor der zur Landebahn hin komplett offenen Halle stehen auf einem schmalen, geteerten Streifen ein paar niedrige anthrazitfarbene Loungesessel aus Plastik. Daneben ein umgebauter Wohnwagen, in dem jemand eine Imbissküche eingebaut hat. ¡Viva el paracaidismo! steht in großen grünen Lettern darüber. »Es lebe das Fallschirmspringen«, reimt sich Alice mit ihren geringen Spanischkenntnissen zusammen.
Über die erstaunlich kurze Landebahn – die aus nichts als einer langen, ebenen Grasfläche besteht – rattert gerade ein Flugzeug. Oder das, was sie hier so nennen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Der lächerlich winzige Propeller dreht sich rasend schnell und nach wenigen Metern steigt die kleine Maschine leicht schwankend auf in die Luft. In so was soll sie sich reinsetzen? Alice ist oft mit ihrem Vater in einer großen Chartermaschine geflogen und es kommt ihr vor wie Bus fahren. Aber das hier? Never. Ever.
Etwa 30 Menschen stehen in der Halle herum. Manche noch in Alltagsklamotten, andere schon in der Springermontur. Auf dem Boden hocken zwei Jungs, kaum älter als sie selbst, schätzt Alice, die riesige Fallschirme sehr konzentriert zu handlichen Päckchen zusammenrollen.
»Hi, Hardy«, ruft eine junge Frau mit streng nach hinten gebundenen Haaren ihrem Vater zu und begrüßt ihn mit einem Kuss auf die Wange. »Ist es endlich so weit?«
Hardy grinst und schiebt seine Tochter ein wenig vor sich. »Alice, das ist Luna. Meine Kollegin, ich hab dir von ihr erzählt. Sie arbeitet hier nebenbei als Sprunglehrerin.«
»Hi«, sagt Luna und hält Alice die Hand hin. Schnell ergreift sie sie.
»Alice brennt darauf zu springen. Sie kommt ganz nach ihrem Vater«, sagt Hardy mit beinahe vor Stolz geschwellter Brust. Megapeinlich!
»Schön, dass du dich traust. Finde ich super!« Luna scheint keine Zweifel zu haben. »Du wirst es nicht bereuen. Es ist einfach … das Geilste, was es gibt.«
Lunas Name kommt Alice tatsächlich bekannt vor. Ist Luna nicht Flugbegleiterin? Sie sieht noch so jung aus und trotzdem gibt sie hier schon Unterricht. Sie muss früh mit dem Fallschirmspringen angefangen haben.
»Komm erst mal mit zum Manifest, da melden wir dich an.« Sie dirigiert Alice und Hardy zu einem Tresen, auf dem diverse Computer aufgebaut sind. Darüber hängt eine riesige Videoleinwand, auf der stumm Filme von Fallschirmsprüngen und begeisterten Menschen laufen. Ein Hoffnungsschimmer keimt in Alice auf.
Hardy ist bei einem mittelalten Mann hängen geblieben und begrüßt ihn ausgiebig. Vermutlich Jürgen, der Chef. Zumindest ähnelt er dem Menschen auf dem Plakat draußen sehr. Alice stellt sich neben Luna an den Tresen, gleich an der rückwärtigen Wand der Halle, wo ein weiterer Mitarbeiter sich an einem der Computer zu schaffen macht. Was wird jetzt passieren? Ängstlich stopft Alice ihre Hände in die Hosentaschen. Sie hat gar nicht gemerkt, wie sie vor lauter Nervosität ihre Finger durchgeknetet hat.
Der Typ hinter dem Monitor hebt endlich den Kopf, wobei er sich seine dunklen Locken zurückstreicht, und Alice spürt, wie ihre Knie zu zittern anfangen. Nicht nur, weil es jetzt ernst wird. Der Typ hat die unglaublichsten braunen Augen, die sie je gesehen hat. Groß und intensiv und das Lächeln seines Mundes schafft es auf eine aberwitzige Weise, sich in ihnen zu spiegeln.
»Hallo«, sagt er freundlich. »Du bist Alice, oder? Ich habe deine Daten hier schon auf dem Schirm.« Er dreht den Monitor so, dass sie etwas erkennen kann. Da – tatsächlich: Lift 4 steht dort, Platz 7: Alice Bohrmann. Alice bringt keinen Ton über die Lippen und starrt zwischen dem Typen und dem Bildschirm hin und her. Alles Blut sackt aus ihrem Hirn in die Wangenpartie ab und färbt sie krebsrot. Zumindest fühlt es sich so an.
»Aufgeregt?«, fragt er. Jetzt fällt ihr auf, dass seine dunkle Stimme perfekt mit der warmen Farbe seiner Augen harmoniert.
»Geht so«, stammelt sie.
»Ich war vor meinen ersten Sprüngen auch megaaufgeregt«, erzählt Luna. »Die ersten beiden Male bin ich mit dem Absetzflugzeug wieder runtergekommen – ich hab’s einfach nicht über mich gebracht. Im Gegensatz zu Sky …« Sie weist auf den Typen hinter dem Tresen. »Der hat am ersten Tag schon gleich fünf Sprünge gemacht, weil er gar nicht genug bekommen konnte.«
»Vier«, korrigiert Sky sie und grinst weiter Alice an. »Du wirst es mögen. Ich bin total sicher.«
Sky – der Name passt ja super. Sie muss sich zwingen, ihn nicht völlig bescheuert anzustarren.
»Bist du mein Tandem … äh, Partner?«, hört sie sich fragen, und wenn sie gedacht hat, ihr Kopf könne nicht noch röter werden, dann wird sie jetzt eines Besseren belehrt.
»Dein Master«, lacht er. »Aber nicht heute.«
»Ich werde mit dir springen«, antwortet Luna lächelnd. Für eine Sekunde hat Alice den Eindruck, Skys Augen verfinstern sich ein wenig.
»Na, alles klar?« Ihr Vater tritt ebenfalls an den Tresen und hebt die Hand grüßend in Richtung Sky. Der fixiert Hardy durchdringend.
»Deine Tochter sieht dir ganz schön ähnlich«, sagt er und wendet sich wieder dem Computer zu.
»Gute Gene«, antwortet Hardy und klopft Alice auf den Rücken. Sie macht sich los.
»Komm!« Luna führt Alice in eine Art Garderobenbereich, wo an Haken eine ganze Reihe hässlich-beigefarbener Fallschirmoveralls hängen. Sie sehen riesig aus. Sie wird glatt darin ertrinken. Daneben steht ein Regal voller Helme, Sprungbrillen und Höhenmesser sowie ein Gestell, an dem das Gurtzeug aufgereiht ist. Ein orangefarbenes Schild springt Alice ins Auge: Danger! ist sehr dick und knallorange darauf geschrieben. Auweia!
Mit kurzen, prüfenden Seitenblicken auf Alice sucht Luna die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände zusammen und drückt Alice ein Teil nach dem anderen in die Arme. Puh, ganz schön schwer. Sie finden einen freien Platz auf einem der schäbigen Sessel, die an den Längsseiten der Halle aufgereiht stehen, wo sie alles zwischenlagern. Alice sieht sich nach ihrem Vater um, aber der ist schon wieder ins Gespräch mit diesem Jürgen vertieft. Als sie zum Tresen blickt, meint sie, ein Lächeln in Skys Gesicht zu erkennen. Ob das ihr gilt? Sie hat sich fest vorgenommen, nach der Pleite mit Hendrik erst mal Abstand von männlichen Wesen zu halten. Doch dieser Sky … Wow!
»Alice?«, reißt Luna sie aus den Gedanken. »Schau, da drüben guckst du dir jetzt ein kurzes Video über die Sicherheitsvorkehrungen und den Ablauf des Tandemsprungs an. Bevor es ernst wird, üben wir noch auf dem Trockenen. Alles klar? Ich bin da, wenn was ist.« Sie zeigt in Richtung Manifest, wie der Empfangstresen wohl genannt wird.
Alice nickt nur ergeben und lässt sich auf einen Klappstuhl vor der Videoleinwand fallen. Von dem etwa zehnminütigen Film bekommt sie allerdings nicht allzu viel mit. Immer wieder wandert ihr Blick zu Sky, der mit Luna lacht, freundlich neu ankommende Springer begrüßt und sich am Computer zu schaffen macht. Herrje, was für ein gut aussehender Typ. Sie überlegt, ob sie heimlich ein Foto von ihm machen kann, um es an Tessa zu schicken. Doch das Handy liegt mit den übrigen Sachen am anderen Ende der Halle in ihrem Rucksack. Na ja, vielleicht wird es sich später ergeben.
Alice ist froh, dass ihr Luna kurz nach dem Film hilft, den riesigen Overall – »wir sagen Kombi« – anzuziehen. Wenn sie es richtig verstanden hat, kann beim Springen wirklich nichts passieren. Es gibt sogar einen Sicherheitsfallschirm, der sich ab einer bestimmten Höhe von alleine öffnet – falls der Springer sich beim Ausstieg den Kopf am Flugzeug stößt und ohnmächtig vom Himmel fällt. Aber das würde ja eh nicht geschehen … Und wenn doch?
»Hey, meine Hübsche, cool siehst du aus«, ruft Hardy und macht einige Fotos mit dem Handy. »Dann kann’s ja jetzt losgehen. Ich bin so stolz auf dich!«
Alice nickt tapfer. Wie gerne würde sie sich die fremden, kratzigen Klamotten vom Leib reißen. Aber sie ist es gewohnt, ihren Vater nicht zu enttäuschen. Unter keinen Umständen!
»Wir sehen uns am Landeplatz«, sagt Hardy völlig ruhig.
Sie holt tief Luft, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und dann fasst Luna sie schon am Ärmel und zieht sie hinaus aus der Halle, auf dieses winzige Flugzeug zu, das beim ersten Windhauch sicher ins Trudeln gerät, auseinanderfällt, abstürzt. Wie kann Luna nur so lässig und locker in die Sportmaschine einsteigen? Irgendwie sieht die Kiste aus, als habe sie jemand aus einem Stecksatz zusammengebaut. Das Cockpit wirkt verlottert, die Hebel, Schalter und Anzeigen vermitteln den Eindruck, als seien sie nur Attrappen, der Pilotensitz zerschlissen.
Luna, die dicht bei ihr bleibt, sagt irgendetwas, was Alice in dem Lärm nicht versteht. Auf der schmalen Bank sitzen schon drei andere Paare. Man kann genau sehen, wer der Master und wer der – Alice muss lächeln, obwohl ihr gar nicht danach zumute ist –, wer der Sklave ist. Die Master wirken entspannt, ja vorfreudig, selbstsicher. Die Sprungschüler dagegen wie völlig neben sich stehend. Ein Typ wirkt versteinert, eine Frau redet, ohne Luft zu holen, und Nummer drei schüttelt unentwegt den Kopf, die Lippen zusammengepresst. Wie sie selbst wohl aussieht?
Als das Flugzeug nach sehr kurzem Anlauf abhebt, fühlt sich Alice, als bekomme sie einen Schlag in den Magen. Sie starrt panisch aus dem Fenster, sieht ihren Vater winken und dort, neben dem Küchenwagen, steht da nicht Sky und sieht ihr nach? Es ruckelt und schwankt, die Maschine steigt steil in die Luft und sie wird an ihren Nebenmann gepresst, der so blass ist, als würde er sich gleich übergeben. Luna fummelt an irgendwelchen Leinen und Gurten herum, schließt hier einen Karabiner, dreht dort an einem Verschluss. Dann fordert sie Alice auf, die Brille aufzusetzen, die altmodisch anmutende Lederkappe unterm Kinn zu schließen, die Handschuhe überzustreifen und sich bereit zu machen.
»Tief atmen«, rät sie.
Auf einmal drosselt der Pilot den Schub und die Motorengeräusche werden merkwürdig leise. Alice klammert sich an ihr Gurtzeug. Sie werden abstürzen, ganz bestimmt. Aber der Pilot dreht sich fröhlich zu ihnen um und ruft: »Exit!«