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Heiner Rank

Die Hexylschmuggler

ISBN 978-3-95655-394-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien unter dem Pseudonym Heiner Heindorf erstmals 1959 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin (Kleine Jugendreihe, 10. Jahrgang, 1. Augustheft).

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

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1. Kapitel

Die Ostsee wiegt sich in einer langen weichen Dünung. Der Sturm ist vorüber. Auf dem steinigen Strand liegen in dicken Schichten die angespülten Braunalgen. Ein Schaumstreifen schimmert wie ein weißes Band durch das Gewirr von dunklen Steinen und Seetang. Müde rollen die Wellen heran, lecken vergeblich nach den rundgeschliffenen Kieseln und gleiten dann kraftlos zurück.

Aus den Wolkenlücken schauen Sterne hernieder. Der Mond ist noch nicht aufgegangen. In der Ferne glänzen die Lichter der kleinen Küstenstadt Poltershagen. Die Fischkonservenfabrik arbeitet Tag und Nacht. Auch im Hafen herrscht noch reger Betrieb. Lastkähne werden mit roten mecklenburgischen Backsteinen beladen. Weit klingen die Arbeitsgeräusche durch die Dunkelheit: das Kreischen der Kräne, das Poltern der Loren, das harte Hämmern der Dieselmotoren.

Von See her tauchen jetzt zwei Positionslichter auf, ein grünes und ein rotes. Der plumpe schwarze Rumpf eines Kutters schiebt sich schwerfällig voran, am Bug eine schaumgekrönte Welle. Vorn an der Bordwand schimmert in weißen Buchstaben das Kennzeichen POL-113. Eifrig tuckert der Motor und schleudert mit den Abgasen Funken aus dem Schornstein. Der Kutter macht einen Bogen. Das Motorengeräusch wird leiser und erstirbt. Klatschend fällt der Anker ins Wasser: Max Ellermann, ein vierschrötiger älterer Mann, Besitzer des Kutters und der einzigen Schrotthandlung in Poltershagen, verlässt das verglaste Steuerhaus. Er trägt eine zerdrückte Schiffermütze und unter der Lederjacke nur ein schmutziges Turnhemd, das die Speckfalten seines Bauches kaum überspannen kann. Mit weitem Schwung wirft er die erst halb gerauchte Zigarre über Bord und starrt prüfend zu der etwa fünfhundert Meter entfernten Küste hinüber. Obwohl ihm die Lage der Sandbank, über der sich sein Kutter jetzt befindet, schon von mehreren Fahrten her genau bekannt ist, kontrolliert er noch einmal sorgfältig seine Position. Eine riesige, sturmzerzauste Kiefer, die sich dicht hinter den Dünen aufreckt, das Dach eines einsamen Strandhotels und die roten Warnlampen eines weiter landeinwärts liegenden Sendemastes des Küstenfunks dienen ihm als Orientierungspunkte. Der Dicke scheint mit dem Ergebnis seiner Prüfung zufrieden. Er nickt mehrmals vor sich hin und geht mit wiegenden Schritten nach vorn zu seinem Sohn, der an einer Winde mit schwenkbarem Lastarm beschäftigt ist. Dem Jungen hängen bei der Arbeit die schwarzen Haare in die Stirn, mit einer ruckartigen Kopfbewegung wirft er sie immer wieder zurück. Kaum älter als zwanzig Jahre mag er sein. Er hat ein breites Gesicht, die gleichen unruhigen, lauernden, eng zusammenstehenden Augen, die gleichen dichten, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen wie der Alte. Auch im Körperbau ist die Ähnlichkeit nicht zu verkennen.

Gemeinschaftlich montieren nun Vater und Sohn die Winde. Ihre Handgriffe verraten Übung. Trotz der Dunkelheit verläuft die Arbeit fast geräuschlos und ohne Stocken. Bald reckt sich der Tragarm über Bord. Eine Stahltrosse, deren Ende gegabelt ist und in zwei kräftigen Haken ausläuft, gleitet nun über eine Rolle ins Meer. Der Junge zieht sich das Hemd über den Kopf, lässt die Hose fallen und schüttelt sie und die Schuhe von den Beinen. Dann schlüpft er in ein eng anliegendes Wolltrikot und zieht darüber einen schwarzen, den ganzen Körper und auch den Kopf mit einer Art Kapuze einhüllenden Gummianzug, der ihn gegen die Kälte des Meerwassers schützen soll. Ellermann klappt eine Kiste auf und nimmt ein Tauchgerät heraus. Inzwischen hat sich Alfred einen Gürtel mit Bleigewichten umgeschnallt, Schwimmflossen an den Füßen befestigt und eine mit Gummidichtungen versehene Brille über die Augen geschoben, die auch die Nase vor dem Wasser abschließt. Der Alte hängt ihm die Sauerstoffflaschen auf den Rücken, schließt die Gurte und hilft seinem Sprössling beim Übersteigen der Bordwand. Dann drückt er ihm eine wasserdichte Handlampe und eine kurze, mit einem kräftigen Haken bewehrte Eisenstange in die Hand. Einen Augenblick später verschwindet Alfred glucksend in der Tiefe

Ellermann lässt die Stahltrosse nicht aus den Augen, er setzt sich auf eine Kiste an der Bordwand und wartet. Einige Minuten vergehen. Doch das erwartete Zeichen bleibt aus. Ellermann wird unruhig. Er steht auf, brennt sich eine Pfeife an und nimmt die Windenkurbel erwartungsvoll in beide Hände. Doch nichts geschieht; nur eine dicke Luftblase stößt blubbernd nach oben. Kurz darauf erscheint Alfreds Kopf über Wasser. Der Junge zieht sich das Atemgerät vom Mund und lässt sich an Bord helfen. Er sieht erschöpft aus. Sein Atem geht stoßweise.

„Was ist denn passiert?“, fragt der Alte beunruhigt. Alfred schüttelt unwillig den Kopf. „Ich schaff es nicht allein. Die Torpedoköpfe hab ich auf Anhieb gefunden, aber sie haben sich in den Grund gebohrt, ohne Hilfe krieg ich sie nicht heraus. Wir brauchen noch ein oder zwei Mann, die auf der anderen Seite den Haken ansetzen, sonst kannst du dir dein Hexyl in den Schornstein schreiben.“ Er nimmt sein Sauerstoffgerät herunter und stellt es auf die Planken. „Für heute können wir Schluss machen. Ich hab doch gleich gewusst, ohne die Reinickes ist es sinnlos. Glatte Zeitverschwendung. Wär’ ich lieber zum Schwof gegangen.“ Ellermann kratzt sich den Specknacken. „Red keinen Quatsch. Wir müssen die restlichen fünftausendvierhundert Kilo haben. Das sind nur noch neun Sprengköpfe. Wenn wir die sechs dazurechnen, die schon eingebracht sind, ergibt das neuntausend Kilo. Das Kilo sieben Westmark, insgesamt also dreiundsechzigtausend, genau die Summe, die wir brauchen, um die Firma Heise und Co. wieder flottzumachen.“

Der Junge zuckt mit den Schultern. „Wieso müssen wir uns eigentlich auf den Kopf stellen, um das Geld heranzuschaffen? Soll doch der alte Heise selbst sehen, wie er sein dämliches Schifffahrtsunternehmen wieder auf die Beine bringt. Er hat doch alles versaut. Wenn ich rübergehe, will ich von meinen Mäusen was sehen: anständige Klamotten, ein Auto, Reisen. Und dann mal wirklich leben, in Hotels und so.“

„Blödsinn! brummt der Alte und spuckt verächtlich in die See. „Alles verjubeln und versaufen! Das ist die heutige Jugend! Früher, als ich ein Junge war, hab ich Alteisen gesammelt und jeden Pfennig auf die hohe Kante gelegt. In deinem Alter hatte ich schon ein paar Tausend Mark gespart. Eine eigene Reederei, das war mein Traum, denn das hat goldenen Boden. Und jetzt, wo das Ziel fast erreicht ist, soll ich aufgeben. Nie und nimmer! In acht Tagen haben wir die neun Köpfe gehoben und sind in Lübeck. Der Heise tut, was er kann, das weiß ich genau.“

Ellermann hockt sich auf die Kiste nieder. Seine versoffene Stimme bekommt einen fast wehmütigen Klang.

„Einen alten Kameraden lässt man nicht im Stich. Du weißt genau, dass ich mit Heise in Kiel zusammen war, im Marinearsenal. Junge, das waren noch Zeiten!“

Alfred zuckt mit den Schultern. Das sentimentale Geschwätz des Alten langweilt ihn. Er reibt sich mit einem Frottiertuch das Gesicht trocken, während Ellermann weiterredet.

„Solch einen Vorgesetzten wie den Heise findest du nicht noch einmal. Der hat dafür gesorgt, dass ich den ganzen Krieg über Magazinverwalter blieb. Hochanständig war das!“

Verächtlich stößt Alfred die Luft durch die.Nase. „Hochanständig! Deine Fresspakete hatten es ihm angetan!“

Den Alten kann dieser sarkastische Einwand nicht aus der Fassung bringen. Er runzelt nur leicht die Brauen, weil er sich über die Kaltschnäuzigkeit seines Sohnes ärgert.