Saskia Rehäußer
VEGAN FAMILY
Veganes Leben für die ganze Familie
VEGAN FAMILY
Veganes Leben für die ganze Familie
Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH
Frankfurter Ring 150
80807 München
info@cbx-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Ulla Bucarey
Umschlaggestaltung: Nina Knollhuber
Umschlagabbildung: iStockphoto Maxrale / Depositphotos roxanabalint
Layoutgestaltung und Satz: Julia Swiersy
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-945794-02-9
Wichtiger Hinweis:
Methoden, Anregungen und Hinweise in diesem Buch beruhen auf Erfahrung sowie sorgfältiger Recherche und Prüfung durch die Autorin. Keinesfalls ist das Buch jedoch Ersatz für ärztliche oder therapeutische Untersuchung und Beratung, daher liegt die Anwendung allein in der Verantwortung des Lesers. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Schäden oder Nachteile, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, Haftung übernehmen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort | |
1. | Wie alles begann |
2. | Erste Erfahrungen |
3. | Unser erster veganer Urlaub |
4. | Der Alltag kehrt ein |
5. | Die Milch macht’s … oder doch nicht? |
6. | Ammenmärchen, Mythen und Vorurteile aus der Steinzeit |
7. | Vegan und schwanger – geht das? |
8. | Die Zeiten ändern sich |
9. | Superfoods – neumodischer Schnickschnack oder Allheilmittel? |
Nachwort | |
Anhang | |
Weiterführende Lektüre und nützliche Links | |
E-Nummern-Verzeichnis | |
Quellenverzeichnis |
»Die Zukunft beginnt auf deinem Teller.«
Marc Pierschel
Vor einigen Jahren saß ich noch völlig ahnungslos vor meinem komplett omnivoren (sowohl tierisch als auch pflanzlichen) Frühstück und fragte mich, ob ich bzw. wir es schaffen könnten uns völlig vegan zu ernähren. Was das für wohl unser Leben bedeuten würde? Auf was würden wir alles »verzichten« müssen? Würden wir unser Kind auch so ernähren können und was wäre, wenn ich nochmal schwanger werden würde? Vegan und schwanger, ginge das überhaupt? Wie würden meine Eltern, unsere Freunde, Bekannten und Kollegen reagieren? Ist vegan nicht eigentlich verdammt schwierig? Und vor allem:
Was bedeutet eigentlich »vegan«?
Laut Duden wird Veganismus wie folgt definiert: »[ethisch motivierter] völliger Verzicht auf tierische Produkte bei der Ernährung u. a.« Veganer essen kein Fleisch oder Fisch. Sie verzichten auf Milchprodukte (wie z.B. Käse, Joghurt, Quark), Eier und Honig. Sie tragen keine Kleidung aus Wolle, Daunen, Seide oder Leder. Veganer nutzen nur Hygieneartikel (wie Zahnpasta, Kosmetik und Waschmittel), die frei von tierischen Inhaltsstoffen sind und auch ohne Tierversuche hergestellt wurden. Zudem gehen sie nicht in den Zoo und besuchen keine Zirkusvorstellungen mit Tieren. Veganer wollen jegliches Leid von Tieren vermeiden. Nicht jeder wird allerdings aus ethischen Gründen vegan. Manche entscheiden sich aus gesundheitlichen Gründen für vegane Ernährung, andere verzichten auf tierische Produkte, um die Umwelt vor den Gefahren der Massentierhaltung zu schützen. Die Grenzen verschwimmen hier oft etwas, da irgendwie jeder Veganismus für sich selbst definiert. Gemeinsam ist das Ergebnis: eine Ernährung ohne tierische Inhaltsstoffe.
Am Anfang taten wir uns recht schwer mit der Umstellung und es tauchten immer wieder Fragen auf. Ich hoffe, dass durch dieses Buch diese Fragen weitestgehend beantwortet werden. Denn eins ist sicher, wenn wir auf diesem Planeten weiter leben wollen und auch unsere Kindeskinder noch eine lebenswerte Zukunft haben sollen, müssen wir dringend umdenken. Jeder von uns kann dazu beitragen, und ein Aspekt dabei ist der Verzicht auf tierische Produkte.
Abschließend möchte ich Herrn Dr. Keller, Ernährungswissenschaftler und Autor, zitieren: »Insgesamt hat eine gut geplante vegane Ernährung (bei Beachtung der potentiell kritischen Nährstoffe und in Verbindung mit einer Vitamin-B12-Supplementierung) nicht nur positive Auswirkung auf die eigene Gesundheit, sondern auch auf globale Aspekte und kann zu einer nachhaltigen und klimafreundlichen Lebensweise beitragen.«
Mein Dank gilt all denen, die mich bei diesem Buchprojekt bedingungslos unterstützt haben, vor allem aber meinem Mann Oli und meinen Kindern Cosmo und Nova, ohne die es dieses Buch nicht geben würde.
Kleinsendelbach im März 2015
Saskia Rehäußer
»Zwei Dinge sind unendlich:
Das Universum und die Dummheit der Menschen.
Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.«
Albert Einstein
Ohne es zu ahnen begann mein veganes Leben mit der Geburt meines Sohnes Cosmo. Niemals hätte irgendwer von mir gedacht, dass ich je auf Fleisch verzichten würde oder könnte, geschweige denn auf Milchprodukte und Eier. Ich selbst hätte es zu diesem Zeitpunkt auch nicht für möglich gehalten. Wie gerne mochte ich doch Lachsschinken, »Drei im Weckla« (die berühmten Nürnberger Rostbratwürstchen im Brötchen – eine fränkische Spezialität), gebratenen Speck, Rühreier, Frischkäse und Cappuccino mit extra viel Milchschaum. Vegetarier waren für mich eher wunderlich. Wer verzichtet schon freiwillig auf Fleisch?
Gerade in der 33. Schwangerschaftswoche angekommen, fuhren wir zu meiner Schwester Ninja zu Besuch nach Heidelberg. Sie ist Hebamme, und ich wollte mein Kind unbedingt in ihrem Geburtshaus zur Welt bringen. Dort bekam ich dann schnell die erste Lektion des Elterndaseins erteilt: Die Geburt eines Kindes lässt sich nicht planen.
Meine Frauenärztin in Franken hatte ein Kontroll-CTG (Diagnoseverfahren zur Überprüfung der Wehentätigkeit wie auch der Herzfrequenz beim ungeborenen Kind) angeordnet, da ein CTG vom Vortag nicht besonders gut war. Kurz nach unserer Ankunft schrieb meine Schwester in ihrem Geburtshaus bereits ein neues CTG, leider war es genauso schlecht. Wir beschlossen spazieren zu gehen, um meinen Kreislauf etwas in Schwung zu bringen. Wir verweilten noch einige Zeit auf dem Weihnachtsmarkt, aßen und tranken etwas. Die Stimmung blieb allerdings angespannt. Besorgt und bedröppelt liefen wir wieder zum Geburtshaus zurück, um erneut ein CTG zu schreiben. Obwohl meine Schwester versuchte, ihre Sorgen zu verbergen, sah ich sie ihr deutlich an. Ich wusste in diesem Moment, dass irgendetwas mit meinem Baby nicht stimmte. Ninja zog ihre erfahrenere Kollegin zurate. Diese starrte wie gebannt auf mein CTG und sagte kurz darauf: »Der wird heute noch geholt.« In mir brach eine Welt zusammen. Ich war doch erst in der 33. Schwangerschaftswoche und noch nicht einmal in Mutterschutz. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut – und was hatte ich nicht alles in der Zeit geplant! Nun sah ich mich auf einmal mit einem Kaiserschnitt konfrontiert. Eine Operation war das letzte was ich wollte. Dann kam mir plötzlich der verstörende Gedanke: »Es sind noch acht Wochen bis zum errechneten Termin, und mein Kind wird eine Frühgeburt.« Vor lauter Panik versuchte ich mir alles schönzureden. Vielleicht würden die Ärzte es ja doch irgendwie hinbekommen, wenn ich einfach ein paar Wochen langsam mache.
Nachdem ich ins nahegelegene Krankenhaus gebracht wurde und die unterschiedlichsten Untersuchungen hinter mich gebracht hatte, wurde beschlossen, das CTG, was nun seit ungefähr 6 Stunden an mir hing, abzuschalten. Es begannen die längsten Stunden meines Lebens, zweieinhalb Stunden voller Angst und Panik, in denen ich nicht wusste, ob mein Baby noch lebt. Die Tränen liefen mir über die Wangen, und ich war völlig verzweifelt. Niemand kam, um nach mir zu schauen. Ich bettelte Oli an, wenigstens wieder die Musik anzumachen, aber er bestand darauf, dass ich ausruhen sollte. Ich versuchte, mich zu beruhigen, mir einzureden, dass alles gut wird. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich endlich Stimmen auf dem Flur. Draußen war gerade Schichtwechsel. Endlich wurde ich wieder ans CTG angeschlossen. Mein Kind lebte zum Glück noch! Erleichterung. Etwa eine Stunde später erschien der Arzt, schaut kurz aufs CTG und meinte: »So Frau Rehäußer, es bessert sich nichts, wir machen jetzt einen Kaiserschnitt. Sie sind bei 32+1, das ist kein Problem. Absolute Routine, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir aber sowieso nicht. Wieder wurde ich über den Flur gerollt, und schließlich auf einen OP-Tisch umgebettet.
In meiner Erinnerung laufen die folgenden Stunden wie in einem Film noch einmal ab: Mir ist beklommen zumute, der Anästhesist wird gleich mit einer großen Nadel in die Nähe meines Rückenmarks stechen. Was, wenn er daneben sticht? Bin ich dann gelähmt? Mir ist schlecht. Schließlich geht es in den grellen Operationsraum. Meine Arme werden festgeschnallt, EKG-Elektroden werden aufgeklebt, ein Zugang für Injektionen gelegt. Ich fühle mich hilflos, ausgeliefert. Zum Glück sehe ich jetzt endlich meinen Mann wieder. Ninja ist auch da, beide tragen Grün. Der Anästhesist sagt, wenn mir schlecht wird, soll ich mich rühren. Mir ist schlecht – richtig schlecht! Irgendwas in meinen Zugang gespritzt. Die Übelkeit lässt nach, die Beklommenheit nicht. Vor mir sehe ich nur noch einen grünen Vorhang. Oli ist rechts neben mir, auf der anderen Seite sitzt der Anästhesist. Hinter dem Vorhang stehen Ärzte, Schwestern und Ninja. Ich merke, wie mein Körper mit etwas Feuchtem abgewischt wird. Danach spüre ich einen dumpfen Druck – es wird geschnitten. An mir wird hin und her gezogen, herumgedrückt, und plötzlich bin ich absolut leer. Die Stille im Raum ist erdrückend. Leise höre ich mein EKG. Dann plötzlich – wie aus dem Nichts – ein Schrei, so zart und doch so stark. Mir laufen vor Erleichterung die Tränen herunter. Ich will aufstehen und zu meinem Kind, aber ich bin immer noch festgeschnallt und mein Bauch noch offen. Mein kleiner Cosmo wird kurz begutachtet, und Ninja zeigt ihn mir für ein paar Sekunden. Er ist dunkelrot, die Haut nahezu durchsichtig. Zudem ist er so klein, dass bei mir gleich wieder Panik ausbricht. Nein, so hatte ich mir das alles nicht vorgestellt! Ich wollte ein kleines, speckiges, rosafarbenes Baby.
An mir wird weitergearbeitet. Ich will weg, ich fühle mich fremdbestimmt. Mir wird mitgeteilt, dass Cosmo die Nabelschnur dreimal straff um seinen Hals gehabt hatte und deshalb schon mindestens eine Woche lang unterversorgt gewesen sei. Einen weiteren Tag hätte er wahrscheinlich nicht überlebt. Meine Gedanken sind ein einziges Chaos. Beinahe hätte ich mein Kind verloren!
Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich endlich auf mein Zimmer, Oli und Ninja haben ein Familienzimmer organisiert. Ich will aber am liebsten niemanden sehen. Voller Hormone und ständiger Angst um mein Baby liege ich im Bett und starre an die Decke. Irgendwann kommt eine Krankenschwester und sagt, ich kann zu meinem Baby, sobald meine Beine nicht mehr taub sind. Oli darf gleich mit auf die Frühgeborenen-Intensivpflegestation. Mir wird eine Milchpumpe hingestellt und gesagt, dass gleich eine Stillberaterin kommt. Wozu beraten und warum pumpen? Kann mein Baby denn nicht selber trinken?
Die Stillberaterin ist recht nett und erklärt mir bis ins kleinste Detail, wie ich die Milchproduktion am besten sicherstellen kann und wie viele Minuten ich an jeder Brust pumpen muss. Ich empfinde dies aber als absolut unnatürlich. Meine Eltern treffen schließlich ein. Wieso kann ich meine Beine denn immer noch nicht bewegen? Wie lange es wohl dauern wird? Alle unterhalten sich, und obwohl ich versuche, der Konversation zu folgen, schweifen meine Gedanken immer wieder ab. Ich frage mich, wie es meinem Kleinen wohl gehen mag. Ob er Schmerzen hat? Oli kommt wieder zurück und erzählt mir, wie hübsch Cosmo ist und dass es ihm gut geht.
Nach zwei Stunden spüre ich meine Beine wieder und Oli bringt mich mit dem Rollstuhl endlich zu meinem Baby. Cosmo liegt in einem Raum mit circa zehn anderen Frühchen. Er ist der Einzige, der in einem Wärmebett und nicht in einem Inkubator liegt. An jedem Kind hängen massenhaft Geräte, und überall piepst es. Der Raum ist eng und erdrückend, man hat kaum Platz. In den Inkubatoren liegen die kleinen Babies, eines winziger als das andere. Ärzte und Schwestern hetzen durch den stickigen Raum, es riecht nach Desinfektionsmittel. Ich werde angewiesen, mein Kind nicht aus dem Bettchen zu nehmen; ich darf höchstens mal kurz meinen Finger reinhalten. Wieder laufen mir die Tränen runter. »Warum nur, warum?«, frage ich mich. Es ist doch mein Kind und es gehört zu mir.
Cosmo bleibt also im Wärmebettchen liegen und hält meinen Daumen. Seine Hand ist nicht größer als das obere Glied meines Daumens. Eine Weile schaue ich ihn noch an. Dann gehe ich wieder auf mein Zimmer und bin traurig. Ich fühle mich unendlich allein. Die Schmerzmittel beginnen nachzulassen. Am liebsten würde ich mich verkriechen, aber ich muss abpumpen. Es fühlt sich befremdlich an, aber ich bin stolz, als wenigstens einige Millimeter Milch in die Plastikflasche fließen.
Die nächsten drei Tage verliefen gleich. Alle drei Stunden musste ich pumpen und dabei immer wieder viel Stilltee trinken. Dazwischen versuchte ich, bei meinen Sohn zu sein, soweit es zugelassen wurde. Wenn ich dort war, saß ich auf einem Stuhl oder Hocker und starrte mein Kind an, das mir irgendwie immer fremder wurde. Ich erzählte meinem Arzt, dass es mir schlecht ginge, damit er mich dabehielt. Ich wollte doch bei meinem Kind bleiben. Kaum drei Stunden später erfuhr ich, dass mein Sohn verlegt werden sollte. Er würde per Rettungswagen von der Frühgeborenenintensivstation in die Kinderklinik gefahren werden – also drängte ich doch auf Entlassung.
Dort angekommen, mussten wir uns erst mal zurechtfinden. Die Klinik war hell, groß und schön, soweit man das von einem Krankenhaus sagen kann. Als wir endlich unser Zimmer auf der Frühgeborenenstation fanden, erfuhren wir, dass Cosmo die Fahrt sehr zugesetzt hatte. Die Sauerstoffsättigung seines Blutes war extrem abgefallen, und er trug nun eine Sauerstoffbrille, zudem noch eine Sonde in der Nase. Über sie bekam er die von mir abgepumpte Milch. Um selbst zu trinken wäre er noch zu schwach gewesen. Inzwischen hingen also sechs Kabel an meinem Kind. Trotz allem schien er sehr friedlich in seiner »Giraffe« zu liegen, so nannten sie den Inkubator hier. Endlich – nach vier schier endlosen Tagen – bekam ich meinen kleinen Cosmo in den Arm!
Bald holte uns der Klinikalltag ein. Wir schliefen zu zweit auf dem 90 cm breiten Bett, »feierten« sowohl Weihnachten als auch Silvester im Krankenhaus und verfolgten jeden Fortschritt von Cosmo mit Freude. So weit war alles gut – bis auf die Tatsache, dass ich immer wieder Milchstaus bekam. Diese waren extrem schmerzhaft und traten immer wieder – meist beidseitig – auf. Oft bekam ich durch diese Entzündung auch hohes Fieber. Aufgeben und abstillen wollte ich aber nicht. Mein Kind brauchte doch seine Muttermilch, man weiß ja, dass diese das Wichtigste und Beste für ein Baby ist. Es wurde genauestens überprüft, wie oft Cosmo trank und wie viel, wie und wann sein Stuhlgang war und wie er zunahm. Obwohl ich mich viel um mein Kind kümmerte, konnte ich keine richtige Bindung aufbauen. Die vier Tage auf der Frühgeborenenintensivstation hatten viel zerstört.
Nach fünf schier endlosen Wochen durften wir endlich wieder nach Hause. Ich war sehr erleichtert, wieder in meiner gewohnten Umgebung zu sein, mein eigenes Bett und Bad zu haben. Doch ohne die ständige Überwachung im Krankenhaus machten wir uns Sorgen. Was, wenn irgendwas nicht stimmt? Kriegen wir das überhaupt mit? Vielleicht vergisst er zu atmen oder er verschluckt sich so schlimm, dass er ersticken könnte – was dann?
Die erste Zeit zu Hause war schrecklich. Das Abpumpen nahm inzwischen noch mehr Zeit in Anspruch, da ich nun noch alle Aufsätze, Flaschen etc. spülen und desinfizieren musste. Die Milchstaus wurden so schlimm, dass ich die Schmerzen nicht mehr aushielt. Jedes Kuscheln, Tragen oder In-den-Schlaf-Wiegen schmerzte. Ich verband immer weniger positive Gefühle mit meinem Kind. Alles bestand aus Schmerz; so entschied ich, die Notbremse zu ziehen, und stillte ab. Zwei Tabletten sollte ich nehmen, und dann wäre der Spuk zu Ende; allerdings hatte ich danach einen schmerzhaften Abszess in der Brust, der sogar in der Klinik durch einen operativen Eingriff behandelt werden musste.
In der folgenden Woche kam meine Schwester Larissa zu Besuch und blieb eine Woche bei uns, um zu helfen. Oli konnte wieder zur Arbeit gehen, und Larissa begleitete mich alle zwei Tage in die Klinik zum Verbandswechsel. Nach einer Weile wurde endlich die Lasche in meiner Brust gezogen, eine Art Schlauch, durch den das Wundsekret nach dem Eingriff abfließen sollte. Die Schmerzen wurden weniger, und zum ersten Mal seit Cosmos Geburt konnte ich endlich mit ihm kuscheln, ihn liebhaben und positive Gefühle mit ihm verbinden. Nach all der Zeit verliebte ich mich endlich in meinen kleinen, hübschen Sohn.
Cosmo war nun knapp ein halbes Jahr alt, und nach damaligem Wissensstand war es nun Zeit für Beikost. Natürlich wollte ich selber kochen. Karotten fand er zwar noch ganz toll, aber sobald Kartoffeln dazu kamen, machte er nicht mehr mit. Ich fragte mich also, was ich ihm denn nun zu Essen geben sollte, wenn er mein selbst Gekochtes verschmähte. Gläschen sind natürlich eine einfache Alternative, aber woher weiß ich, was da so alles drin ist? Selbstverständlich hat alles Bioqualität, und in den meisten ist angeblich nur reines Gemüse, Fleisch und Wasser enthalten. Woher kommt aber dieses Gemüse und dieses Obst? Kommt es aus Deutschland? Wenn nicht, ist nämlich bio nicht gleich bio. Da hat wohl jedes Land andere Maßstäbe. Wo sollen die ganzen Vitamine und Mineralstoffe herkommen, die auf der Verpackung der Anfangsmilch (Pre-Milch) in einer langen Tabelle angepriesen werden, wenn ich selber koche? Werden diese meinem Kind dann nicht fehlen? Wie werden die Gläschen wirklich hergestellt? Ob wohl jeder die Hygienestandards einhält, der dort arbeitet? Omega-3-Fettsäuren werden zwar angepriesen, aber woher kommen die? Was ist das für ein Fleisch in diesen Gläschen? Nach all den Skandalen der letzten Jahre sollte man doch vorsichtig sein. Nur weil einer seit Jahrzehnten Babynahrung herstellt, bedeutet dies nicht automatisch, dass sie auch gut ist. Als frisch gebackene Mutter stellt man plötzlich so einiges infrage. Merkwürdig, dass ich mich das nie bei meinem eigenen Essen gefragt habe.
Ich beschloss, noch einige Zeit mit der Beikost zu warten und zu sehen, ob er dann mein Selbstgekochtes essen würde.
Einige Wochen später lief eine Reportage über extremen Körperkult im Fernsehen: »Piercings, Tattoos, Implantate – wenn Körperschmuck zur Sucht wird«, hieß der Beitrag, und da Oli selber ziemlich viele Tattoos hat, haben wir uns den Bericht angeschaut. Einer der Protagonisten war der damals 26-jährige Daniel Gun aus Hannover. Er ist Rapper, von Kopf bis Fuß tätowiert, vor allem aber straight edge und vegan. Straight edge ist eine Jugendbewegung der 1980er-Jahre aus der Hardcore-Punk-Szene. Die Anhänger verzichten auf Alkohol, Nikotin und sonstige Drogen sowie auf Sex mit wechselnden Geschlechtspartnern; manche lehnen auch Koffein und Teein ab – nichts soll ihr Bewusstsein verändern.
Man sieht Daniel Gun und seinen besten Freund in seinem Lieblingscafé. Er erzählt, dass er aus Tierliebe kein Fleisch, keinen Fisch, keinen Käse, Joghurt oder Ähnliches isst. Sein Freund pflichtet ihm bei und sagt, dass sie zudem auf Leder und Wolle bei Kleidung verzichten und bei Hygieneartikeln darauf achten, dass diese ohne Tierversuche hergestellt worden sind. Die beiden jungen Männer interessieren uns. Wie kommt es, dass man in seinen Mittzwanzigern so gradlinig ist? Wie funktioniert überhaupt dieser Veganismus? Hat er irgendwelche Vorteile?
Am nächsten Tag recherchiere ich im Internet und bestelle bei PeTA eine sogenannte »Veggie-Broschüre«. Dort wurde gesagt, dass vegane Ernährung ideal sei zum Abnehmen. Wie fast jede Frau bin ich seit ich denken kann unzufrieden mit meiner Figur. Also dachte ich mir, wenn die Broschüre ankommt, erfahre ich bestimmt noch andere positive Aspekte und kann Oli vielleicht doch von einem Versuch mit veganer Ernährung überzeugen.
Als endlich der Brief kam, hielt ich zwei Hefte in der Hand. »Einfach Vegetarisch, Einfach Vegan! – Alles, was Sie für ihre Gesundheit, die Tiere und die Erde tun können« und von Ernst Walter Heinrich »Vegan – eine kurze Information über die gesündeste Ernährung und ihre positiven Auswirkungen auf Klima- und Umweltschutz, Tier- und Menschenrechte«.
Der Autor des zweiten Hefts, Ernst Walter Heinrich, selbst seit vielen Jahren Veganer, ist spezialisiert auf Gesundheitsvorsorge, insbesondere auf gesunde Ernährung und Hautpflege. Jedes der sechs Kapitel führt einen Grund an, warum man sich für Veganismus entscheiden sollte. Gesundheit, Menschenrechte, Moral, Tierschutz, Klima- und Umweltschutz und auch Religion finden sich hier wieder. Ich interessiere mich vor allem für die Gesundheit und Oli für Klima- und Umweltschutz.
Wir sind schockiert, was für erhebliche Auswirkungen der Fleisch-, Milch- und Eierkonsum auf unseren Planeten hat. Keiner denkt doch, dass man für die Produktion von 1 kg Rindfleisch 10.000 bis 20.000 l Wasser verbraucht; hinzukommen noch Massen an Gülle, die unser Trinkwasser verunreinigen. Der dadurch verursachte hohe Nitratgehalt im Grundwasser überschreitet vielerorts bereits die gesetzlichen Grenzwerte. Ist denn Trinkwasser nicht unser höchstes Gut? Sollten wir nicht besser darauf achten, dass das, was uns am Leben hält, nicht verunreinigt wird? Können sich nicht Epidemien explosionsartig ausbreiten, wenn unser Trinkwasser zunehmend verschmutzt? Ich stelle mir diese Fragen und bin schockiert und verunsichert. Hab ich also die letzten Jahre alles falsch gemacht?
In der Broschüre erfahre ich auch, dass die Nutztierindustrie mit der Produktion von Fleisch und Milch durch die dabei entstehenden Treibhausgase der Hauptverursacher der globalen Erwärmung und somit der sich abzeichnenden Klimakatastrophe ist – noch weit vor dem Autoverkehr. Dass die Regenwälder abgeholzt werden, um Weideflächen zu schaffen hatte ich schon gehört. Über die daraus resultierenden Konsequenzen hatte ich mir aber noch nie Gedanken gemacht. Wieso habe ich all das ignoriert? Langsam wird mir unbehaglich. Ich bin also mit Schuld an der Zerstörung unseres Planeten. Will ich wirklich noch mehr wissen oder lege ich die Broschüre einfach wieder weg?
Etwas beklommen lese ich das Kapitel über die Gesundheit. Mir wird klar: So kann ich, so können wir nicht weiterleben. Ich möchte keine Herzerkrankungen, Alzheimer, Diabetes Typ 1 und 2, Übergewicht, Osteoporose, Multiple Sklerose, Parkinson, andere chronischen Krankheiten oder gar Krebs, ausgelöst durch massive Fehlernährung, insbesondere durch Fleisch, Milch, Milchprodukte, Eier, tierische Fette und Proteine. Vor allem will ich das nicht für Cosmo. Im Hinterkopf höre ich mich selber fragen: »Was hat es dir denn geschadet? Warst du jemals ernsthaft krank?« – »Nein«, denke ich, und »ein bisschen Heuschnupfen hat ja heutzutage fast jeder.« Dann fällt mir ein: »Moment mal, ich bin ja gerade erst 32 geworden. Ich will schließlich mein Kind aufwachsen sehen. Meine Enkel auch. Vielleicht sollten wir wirklich zusehen, dass wir uns gesünder ernähren. Ist vegan aber auch wirklich gesünder?«
In den nächsten Tagen lese und recherchiere ich alles, was ich über vegane Ernährung finden kann. Ich sollte schon wissen, worauf ich mich da einlasse. Natürlich stoße ich wieder auf PeTA und ihren Bericht »Meet your meat«, untertitelt mit »Dieses Video könnte ihr Leben grundlegend verändern«. Und genau das passiert. Oli und ich sind total schockiert, es fällt uns wie Schuppen von den Augen: Teil dieser Maschinerie, Teil des Leidens und der Qual so vieler Lebewesen nur aus eigennützigen Gründen wollen wir nicht mehr sein!
Wir beschließen, uns in Zukunft vegan zu ernähren und folglich alle tierischen Lebensmittel von unseren Tellern zu verbannen. Wir räumen Kühlschrank, Gefrierschrank und Speisekammer aus. Alles, was irgendwelche tierischen Bestandteile enthält, wird rigoros weggeschmissen. Im Nachhinein hätten wir es wohl doch besser verschenken sollen. Eigentlich wollten wir auch erst noch alles aufessen, aber allein bei dem Gedanken an tierische Produkte wird uns nun schlecht. Alles muss sofort aus dem Haus. Irgendwie ist jetzt der Kühlschrank ziemlich leer. Darin befindet sich noch einiges Gemüse, Ketchup, Marmelade und Senf. Auch der Gefrierschrank gleicht einer Einöde. Unbewusst denke ich wieder an mein leckeres Vanilleeis, hatte ich es doch gerade erst für meinen Eiskaffee gekauft. Aber nein, wir bleiben jetzt stark.
Im Sommer 2012 läuft dann die Reportage »Die Milchlüge« im NDR. Irgendwie habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, warum eine Kuh überhaupt Milch gibt. Im Film wird gezeigt, wie ihr das Kälbchen in den ersten 24 Stunden nach der Geburt entrissen wird, beide schreien die ganze Zeit nach einander. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie es mir mit Cosmo nach dem Kaiserschnitt ergangen war. Am liebsten hätte ich damals auch geschrien. Der Film zeigt auch, dass Kühe ebenfalls oft an schrecklichen Euterentzündungen leiden, und auch sie bekommen Abszesse, verursacht durch die Praktiken in der Nutztierindustrie. Solche Schmerzen möchte ich keinem Lebewesen zumuten, zumal diese Milch nicht für mich bestimmt ist.
Dieser Beitrag bestätigt uns sehr in unserem Vorhaben. Wir wollen versuchen, vegan zu leben, und so werden wir Anfang August 2012 »offiziell« vegan und machen uns voller Vorfreude an unsere ersten veganen Einkäufe.
»Fortschritt ist ohne Veränderung nicht möglich,
und wer seine Denkweise nicht ändert,
kann nichts verändern.«
George Bernard Shaw
Bevor ich weitererzähle, möchte ich noch etwas anmerken: Fast niemand kommt als Veganer zur Welt. Jeder bestimmt seinen eigenen Weg, seine Reise, seine Schritte. Nichts ist fataler, als sich selbst unter Druck zu setzen. Es kann immer wieder Rückschläge geben. Da sollte man einfach entspannt bleiben und vielleicht auch mit etwas Humor an die Sache gehen.
Ich gehöre nicht zu den »Vegansten«, wie ich sie gerne bezeichne. Auch ich mache Fehler und lerne daraus. Einige Beispiele werden folgen. Es liegt nicht in meiner Natur, jemanden mit erhobenem Zeigefinger zu belehren. Welches Gegenüber möchte das schon gerne? Ich glaube auch nicht, dass man damit Erfolg hat. Jeder muss und darf seinen Veganismus selber definieren. Wo beginnt vegan und wo hört es auf?
Ich verzichte natürlich auf Fleisch, Fisch, Milch, Joghurt, Quark, Käse und Honig. Ich achte auch darauf, dass unsere Kleidung weder aus Leder noch aus Wolle ist. Zudem schaue ich, dass unsere Hygieneartikel und meine Schminke ohne Tierversuche hergestellt werden und auch frei von tierischen Inhaltsstoffen sind. Es ist mir wichtig, dass Säfte und Essig möglichst nicht durch Gelatine geklärt sind.
Ich gehe aber weiterhin joggen und Fahrrad fahren, auch wenn ich vielleicht eine Fliege verschlucke, sie an meiner Brille zerschellt, in meiner Tränenflüssigkeit ertrinkt oder wenn ich eventuell auf eine Ameise trete. Aber was ich umgehen kann, versuche ich auch zu vermeiden. Aber wenn z.B. eine Mücke in unserer Wohnung ist, erschlage ich sie. Mein Sohn reagiert recht allergisch darauf, also fackele ich da nicht lange rum. Manche Veganer würden mich dafür steinigen. Bevor ich vegan wurde, habe ich sogar alle Spinnen, die auch nur in meine Nähe kamen, getötet. Inzwischen dürfen sie aber bei uns wohnen.
Unser Auto, ein Gebrauchtwagen, hat leider eine Volllederausstattung. Daran stört mich nicht nur der vegane Aspekt. Leder im Auto ist für mich absoluter Mist! Im Winter sind die Sitze eisig, und im Sommer verbrennt man sich oder klebt daran fest. Ich wäre also dankbar gewesen, wenn wir einen Wagen ohne Leder bekommen hätten. Es gab aber keine Alternative. Ich will mich damit nicht rechtfertigen. Ich will nur sagen, dass man alles etwas entspannt angehen sollte. Der Wagen wurde nicht für uns mit Leder ausgestattet.
Ich habe auch für Cosmo gebrauchte Lederpuschen geschenkt bekommen. Ich finde es sinnvoller, diese aufzutragen, anstatt sie wegzuschmeißen. Mein Mann und ich haben auch noch unsere alten Lederschuhe und Oli noch einige Ledergürtel. Diese wegzuwerfen, bringt keinem etwas, vor allem nicht dem Tier, das dafür sein Leben lassen musste. Wir werden die Dinge anziehen, bis sie nicht mehr tragbar sind und dann durch vegane Produkte ersetzen.
In einer Gruppe in einem sozialen Netzwerk wurde sogar mal ein Streit vom Zaun gebrochen, weil ein Foto von einer Bierflasche gepostet wurde, deren Label wohl mit Knochenleim befestigt war. Solche Diskussionen verstehe ich nicht. Ich werde nicht an jeden Hersteller eine Produktanfrage schicken, in der ich mich danach erkundige, womit das Etikett befestigt wurde. Soll ich dann auch alle Bücher entsorgen, die ich besitze? Ich bin mir sicher, dass der Großteil davon mit Knochenleim gebunden ist, vielleicht sogar einige vegane Sach- und Kochbücher.
Es gibt auch unterschiedliche Meinungen darüber, ob man die Kekse eines bestimmten Herstellers kaufen sollte, der ansonsten nicht vegan ist und auch tierische Produkte führt. Ich finde es eher gut, diese Produkte zu kaufen und damit den Herstellern zu zeigen: »Ihr könnt auch Dinge ohne tierische Inhaltsstoffe verkaufen. Die Nachfrage ist da.« Dadurch werden auf Dauer vielleicht sogar mehr vegane Produkte angeboten. Es steht jedem frei, sich seine eigenen Grenzen zu setzen; man sollte aber nicht päpstlicher als der Papst werden.
Ich zum Beispiel freue mich, wenn ich nach meinen Rezepten gefragt werde und weiß: »Heute wird diese Familie ein veganes Gericht kochen.« Ist das nicht toll? Ich finde schon. Die größte Bestätigung bekomme ich bei unseren Festen. Wir feiern recht gerne und laden oft Freunde und Bekannte ein. Manchmal werde ich ganz skeptisch gefragt: »Hast du jetzt extra für uns normale Milch gekauft?« Oder: »Da ist doch Fleisch drin?« – Wenn ich dann höre, wie lecker es schmeckt, ist das das beste Lob und gleichzeitig wohl die beste Werbung für ein veganes Leben.
Wir wollen also zum ersten Mal vegan einkaufen und fahren deshalb extra bis nach Nürnberg zum größten Supermarkt weit und breit. Hier gibt es bestimmt sehr viele Produkte für Veganer. Etwas ziellos und von der Größe erschlagen schieben wir unseren Einkaufswagen durch die Gänge. Cosmo ist bereits von der Autofahrt genervt und will aus seiner Babyschale raus. Ich nehme ihn auf den Arm und schaue weiter durch die Regale ohne genau zu wissen, wonach ich suche. Oli sagt plötzlich: »Perlgraupen sind bestimmt vegan!« Die Perlgraupen landen im Einkaufswagen, ebenso eine Schachtel Sonnenweizen (ein vorgegarter Hartweizen). Endlich stoßen wir auf ein Regal mit einigen vegetarischen Produkten. Davon sind bestimmt die meisten vegan. Ich beginne, die Inhaltsstoffe durchzulesen. Gleich die fünfte Zutat der vegetarischen Frikadellen ist Hühnereiweißpulver. Die bleiben dann wohl im Regal. Vegetarisches Schnitzel hört sich gut an. Fast am Ende der Inhaltsstoffe angelangt, entdecke ich Eiklar, und was um Himmels Willen ist Inulin oder Rauchmalz? Ich schaue alle Artikel in dem kleinen Abteil im Regal ganz unten durch. Alles enthält irgendeinen tierischen Inhaltsstoff. Das einzig Vegane ist eine Packung Gemüsefrikadellen und Tofu. Die kann ich woanders aber auch günstiger kaufen. Völlig frustriert und entnervt gehen wir zur Kasse und bezahlen ganze 13,35 € für unseren ziemlich übersichtlichen »Großeinkauf«. Wir fragen uns: »Was können wir überhaupt noch essen?«
Zwei Tage später versuchen wir es beim Discounter im Nachbarort. Wir kaufen Nüsse, Reis, Nudeln ohne Ei, jede Menge Obst und Gemüse und zu unserer Überraschung sogar Sojamilch. Klingt schon besser. Ein kleiner Erfolg, obwohl ich noch nie so viel Zeit in einem Discounter verbracht habe. Es dauert ewig, bis wir alle Inhaltsstoffe des jeweiligen Artikels studiert haben. Im Supermarkt gegenüber bekommen wir noch Tofu und Sojapudding.
Was ist eigentlich Tofu? Ich lese in Wikipedia nach: »Tofu wird aus einem weißen Sojabohnenteig hergestellt, der bei der Denaturierung und Koagulation von Proteinen in der Sojamilch entsteht. Der Quark, der daraus hervorgeht, wird entwässert und anschließend zu Blöcken gepresst.« Was ist denn nun wieder Koagulation? Lecker hört sich das nicht gerade an. Hört sich eher nach Käseherstellung an, und Käse mochte ich schon als »Omni«, also Allesesser, nicht. Aber Vegetarier essen den Tofu und Veganer eben auch. Vielleicht finde ich ja gute Rezepte, denn pur schmeckt Tofu fast nach nichts.
Abends gebe ich »Tofu zubereiten« in die Suchmaschine ein und erfahre, dass es drei Hauptsorten von Tofu gibt: Natur-, Räucher- und Seidentofu. Zusätzlich noch marinierten Tofu in vielen Geschmacksrichtungen. Zudem scheint Tofu ein optimaler Eiweißlieferant zu sein. Ich lese, dass es besonders wichtig ist, den Tofu richtig auszupressen. Das Wasser ist aus der Plastikfolie abzugießen, der Tofu abzutupfen und in ein Küchenpapier einzuwickeln. Danach wird er beschwert, zum Beispiel zwischen zwei Teller gelegt, und auf den oberen wird so viel Druck ausgeübt, dass das restliche Wasser herausgedrückt und vom Küchenpapier aufgesaugt wird. Je gründlicher der Tofu ausgepresst ist, umso besser lässt er sich verarbeiten. Naturtofu eignet sich durch seine Geschmacksneutralität besonders gut zum Marinieren; Seidentofu ist super, um zum Beispiel Käsekuchen herzustellen. Auch als Zutat für Pudding oder Smoothies kann er verwendet werden. Räuchertofu hat ein rauchiges Aroma, das an Speck erinnert. Gerade deswegen wird er auch oft als Speckersatz eingesetzt. Eingekauft hatte ich nur den Naturtofu. Das reicht auch für den Anfang, dachte ich mir und beschloss, mich erst mal an Makkaroni mit Cashew-Ricotta-Soße zu versuchen.
Das Rezept hört sich wirklich lecker an, aber bei mir da geht so einiges schief. Ich versuche, mit meinem Pürierstab die Cashews »staubfein« zu zerkleinern, dabei fliegen erst einmal einige Cashewnüsse durch die Gegend. Oli brummt: »ob es heute wohl noch was zu Essen gibt?«. Beim Enthäuten der Tomaten verbrenne ich mich gefühlte hundertmal, und mein Basilikum sieht leider nicht besonders frisch aus. Trotz allem kommt ein Gericht zustande und es schmeckt erstaunlicherweise richtig gut.
Ich habe das Gefühl, ich habe zum ersten Mal richtig »selbst gekocht«. Zwar ganz schön Arbeit, aber dafür ganz ohne Beutel, Tüten, Geschmacksverstärker, Verdickungsmittel oder Ähnliches. Wahnsinn, gesund und lecker! Cosmo würde das bestimmt auch schmecken. In ein paar Monaten könnte er da sicher schon mitessen. Aber Moment – da war doch irgendwas mit Soja und Hormonen? Ich muss mich unbedingt genauer informieren.
Richtig zufrieden mit meinen neuen Kochkünsten bin ich aber immer noch nicht. Das muss doch alles auch einfacher gehen. Ich blättere durch das »Starter Kit« von PeTA und finde zum einen eine Buchempfehlung für den Titel »Anständig essen« von Karen Duve und dazu einen Hinweis auf die Internetadresse www.goveggie.de
Auf der Internetseite angekommen, finde ich dann den Service »Vegan Start«. 30 Tage lang bekomme ich nun jeden Tag eine E-Mail mit Infos, Tipps und Tricks. Das Buch bestelle ich uns auch. Am nächsten Morgen erhalte ich meine erste E-Mail. Ich bin begeistert. Hier finde ich »Die besten 10 Milchersatzprodukte« und »Eifreie Rezepte«. Außerdem erhalte ich eine vegane Ernährungspyramide und eine Nährwerttabelle. Die Ernährungspyramide schaue ich mir genauer an. Auf der untersten Stufe steht das Wasser: Etwa 2,5 l ungesüßte Getränke soll ich am Tag trinken? Ich bin froh, wenn ich zusätzlich zum Kaffee auch noch ein Glas Wasser herunterbekomme; da besteht wohl Handlungsbedarf. Mit den empfohlenen drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Obst täglich habe ich keine Probleme, und auch die Kohlenhydratvorgaben sind kein Problem. Davon esse ich eher zu viel. Auf der nächsten Stufe folgt das Eiweiß. Das wird bestimmt schwieriger. Das meiste Eiweiß steckt doch in Fleisch oder nicht? Laut der Pyramide liefern allerdings Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen, Linsen, Kichererbsen und auch Tofu genügend Protein, sprich Eiweiß.
Ich gehe die Pyramide durch: Weiter oben stehen Öle, Fette und Salz und an der Spitze Fertigprodukte, Süßigkeiten und Alkohol. Salz zu reduzieren, dürfte bestimmt schwierig werden. Wir mögen es beide gut gewürzt. Fertigprodukte haben wir keine mehr. Alkohol trinke ich seit der Schwangerschaft sowieso nicht mehr – wenn überhaupt, dann höchstens mal ein Radler in einem halben Jahr. Aber ich liebe Süßigkeiten. Das wird bestimmt noch ein Kampf werden. Aber zum Glück haben wir jetzt schon einiges umgesetzt.
Als Randbemerkung steht noch ein Hinweis, dass Sport und Bewegung bei Tageslicht neben der Ernährung die wichtigste Rolle für unsere Gesundheit spielen. Ich gehe fast täglich mit Cosmo spazieren. Seit einigen Wochen gehe ich auch wieder joggen. Der Sport hilft mir persönlich, endlich mal abzuschalten, und Zeit für mich selbst zu haben. Nicht dass ich die Zeit mit meinem Kind nicht genieße würde, aber jeder braucht mal eine Pause.
Die Nährwerttabelle schreckt mich in dem Moment eher ab, ich fühle mich von den Informationen erschlagen. Wie soll ich denn bitte alle Vitamine und Mineralstoffe abdecken?
Im zweiten Newsletter finde ich schließlich Einkaufstipps. Bioläden und Reformhäuser sind gute Anlaufstellen. Auch Drogeriemärkte sollen eine Auswahl an veganen Produkten haben. Und genau hier macht auch zum ersten Mal das Einkaufen Spaß. Ich bekomme mehrere Aufstriche (Champignon-, Ratatouille- und Paprika-Chili-Pastete), sogar eine Zartbittercreme, Räuchertofu und einige Knabbereien.
Leider enthalten viele der tollen Drogeriemarkt-Produkte, die mich interessieren würden, Honig, Süßmolke, Süßmolkepulver, Vollmilchpulver, Magermilchpulver, Magermilchjoghurtpulver, Milchzucker, Milcheiweiß, Sahne, Butterreinfett, Ei, Hühnervollei, Hühnereiweiß, Volleipulver oder Schweinegelatine. Ich frage mich, was diese ganzen Inhaltsstoffe in den Lebensmitteln zu suchen haben. Früher hab ich nie auf die Angaben geachtet. Entweder war es lecker oder eben nicht. Neue Sachen habe ich eher selten probiert. Meine neuen Favoriten werden die Cashew-krokant- und die Erdnusskrokant-Riegel, die SesamkrokantRiegel und die Dinkelcracker Natur und Sesam. Das ist doch schon einmal eine gute Ausbeute. Alles super für unterwegs, und Cosmo liebt die Cracker.
In der nächsten E-Mail erfahre ich endlich, was es mit »Kann Spuren von … enthalten« auf sich hat. Eigentlich handelt es sich hierbei nur um einen Allergikerhinweis. Ein normaler Betrieb produziert meist mehrere Produkte in denselben Maschinen. Es könnte jedoch trotz gründlicher Reinigung möglich sein, dass eventuell Reste allergener Zutaten in diesen Maschinen zurückbleiben. Das sind dann die sogenannten Spuren. Ich habe also einige Dinge entsorgt, die ich überhaupt nicht hätte wegschmeißen müssen. Wieder etwas dazugelernt. Manche Veganer meiden diese Produkte, wir nicht.
Ein paar Tage später wird mein Patenkind Jesse eingeschult, und Oli bringt Cosmo und mich für eine Woche in meine Heimatstadt Gießen. Ich bin ziemlich aufgeregt. Wie werden meine Freunde und Bekannten und vor allem meine Familie reagieren? Eine Packung Sojamilch und einen Aufstrich für den ersten Tag packen wir lieber vorsichtshalber ein. Allein möchte ich nicht in der Küche meiner Eltern sitzen und verkünden, dass wir Veganer sind. Ich weiß jetzt schon, dass mich lauter doofe Kommentare erwarten.
Dort angekommen fragt meine Mutter, ob wir einen Kaffee wollen. Wenn ich jetzt einfach »Nein« sage, muss ich nichts erklären, das wäre am einfachsten. Oder ich trinke den Kaffee eben ohne Milch. Bei der Vorstellung allein zieht sich mein Mund zusammen. Irgendwie muss ich bei dem Gedanken komisch geschaut haben, denn ich werde direkt gefragt, ob alles in Ordnung ist. »Alles bestens«, antworte ich schnell »ich hätte gerne einen Kaffee.« Ich glaube, wir müssen da jetzt einfach durch. Ich nehme meinen Kaffee entgegen und die Sojamilch aus meinem Korb und sage: »Wir sind jetzt Veganer.« Plötzlich ist es still im Raum, und alle scheinen einigermaßen verwirrt zu sein.
Meine Eltern tun unser neues, veganes Leben ziemlich schnell als vorübergehende Phase ab und scherzen, dass es an Weihnachten aber trotzdem, wie jedes Jahr, Fondue gebe. Sie wollen wissen, wie wir es mit Cosmo handhaben wollen. Wir antworten ehrlich, dass wir uns noch nicht genug mit Veganismus auskennen, um eine ausgewogene Ernährung, die den kompletten Nährstoffbedarf abdeckt, sicherstellen zu können. Meine Eltern meinen, das sei auch besser so. Fleisch sei schließlich essenziell für die Entwicklung eines Kindes. Ohne Fleisch würde sich sein Gehirn nicht richtig entwickeln. Das erschreckt uns ein wenig. Vielleicht sollten wir Cosmo dann doch lieber mit Gläschen füttern – damit sollte sich sein Vitamin- und Mineralstoffbedarf sicher decken lässt? Als Neuveganer lässt man sich leider schnell verunsichern.
Meine Schwestern reagieren ebenfalls eher mit Unverständnis. Immerhin hatte ich mich vor zig Jahren über ihren Ausflug in die Vegetarier-Welt lustig gemacht. Der dauerte damals vielleicht zwei Wochen, und es gab öfter Grünkernfrikadellen. Ich fand die schrecklich und aß damals stattdessen genussvoll mein Wurstbrot. Zeiten ändern sich, Menschen eben auch!
Nachdem wir unseren Kaffee mit Sojamilch getrunken haben, lassen wir meine Familie mit den Neuigkeiten allein. Sie werden sicher einige Zeit brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Wir ziehen uns auf unser Zimmer zurück und finden, dass es ganz gut gelaufen ist.
Ich hoffe nur, dass ich auf all die Fragen und Kommentare meiner Mitmenschen in Zukunft schlagfertig genug reagieren kann. Man kennt doch so einige Sprüche. »Du isst meinem Essen das Essen weg« ist natürlich besonders originell. Das ist aber auch nicht richtig. Eigentlich »isst dein Essen mir mein Essen weg«. Es werden immerhin 50 % der Weltgetreideernte und 90 % der Weltsojaernte zum Füttern oder besser gesagt zum Mästen der sogenannten Nutztiere verwendet. Besonders gut finde ich auch: »Was würde denn passieren, wenn nun alle vegan würden? Die Tiere müssen ja auch irgendwo hin?« Aber es gibt die Masse an »Nutztieren« ja gerade, weil die Nachfrage existiert. Ohne Massenzucht wäre die Anzahl dieser Tiere nämlich erheblich geringer. Den Tieren, die in der Massentierhaltung künstlich schnell auf Größe und Gewicht gezüchtet worden sind, steht in aller Regel nicht mal ein langes Leben bevor. Der Prozess ist so ausgelegt, dass die Tiere nicht annähernd ihr normales biologisches Alter erreichen. Wozu auch? Ab einem gewissen Alter sind Tiere nicht mehr »produktiv«; bei Hühnern lässt zum Beispiel die Legeleistung nach. Die älteste Kuh der Welt wurde 48 Jahre alt und lebte in Irland. Eine Milchkuh wird heute nur noch fünf, höchstens sechs Jahre alt. Da spricht man dann von »Nutzungsdauer« und »Lebenseffektivität«. Also, was würde passieren? Da eine Änderung nicht von heute auf morgen stattfindet, sprich, da nicht die ganze Menschheit auf einmal vegan werden würde, würde sich die Anzahl der Tiere auf natürliche Art peu á peu auf ein gesundes Maß reduzieren.
Eine Frage kommt immer wieder: »Was könnt ihr denn dann überhaupt noch essen?« Darauf würde ich am liebsten mit »nur Gräser und Steine« antworten. Aber das wäre wohl nicht zweckdienlich. Also zähle ich immer gerade das auf, was mir in dem Moment so einfällt. Darin werde ich im Lauf der Zeit immer geübter. Ich berichte davon, wie vielfältig mein Essverhalten geworden ist. Dass es Spaß macht, täglich neue Rezepte auszuprobieren, neue Zutaten kennenzulernen und die eigenen Geschmacksnerven in ganz neue Gefilde zu schicken. Früher hatte ich ein Repertoire von nur einigen wenigen Gerichten, die ich dann immer wieder rauf und runter »gekocht« habe. Das Einzige, was man dabei allerdings als Kochen bezeichnen konnte, war das Garen von Nudeln, Reis oder Kartoffeln. Alles andere kam als Fertigprodukt aus einer Tüte, egal, ob es sich um eine Soße, ein Gratin oder Zürcher Geschnetzeltes handelte. Ein neues Gericht gab es nur, wenn ein neues Fertigprodukt in die Regale kam. Ich bin wirklich froh, so nicht mehr zu kochen und essen zu müssen.
Statt positiven Feedbacks bekomme ich einmal die Bemerkung zu hören, dass diese ganze Kocherei doch viel zu viel Zeit in Anspruch nehme. Wenn ich wieder arbeiten würde, hätte ich keine Zeit mehr für solche Experimente. Dass ich es gerne mache und Kochen wirklich für mich entdeckt habe, scheint niemanden zu interessieren. Ich antworte – vielleicht etwas zu patzig –, dass ich mir auch deshalb die Zeit (zwischen 40 Minuten und einer Stunde) nehmen würde, um für mich und meine Familie ein gutes, gesundes und reichhaltiges Essen zu kochen. Es dürfte ja auch bei einem nicht veganen, sprich omnivoren oder vegetarischen Gericht nicht weniger Zeit in Anspruch nehmen, wenn man frisch kocht.