Kein Land für alte Männer
No Country for Old Men
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
DIE STILLE VOR DEM SCHUSS
Bei einem morgendlichen Ausflug in die texanische Wüste findet Hobbyjäger Llewellyn Moss eine gespenstische Szenerie vor: mehrere Leichen, eine Pick-up-Ladefläche voller Heroin und am Ende einer Blutspur einen Koffer mit 2,4 Millionen Dollar. Er behält das Geld – sein erster Fehler. Der zweite: In der Nacht kehrt er zum Tatort zurück, um seine Spuren zu verwischen. Und gerät ins Visier des eiskalten Killers Chigurh.
«Ein minimaler Western mit maximaler sprachlicher Präzision. Atemberaubend.» STERN
Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee, auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer-Preis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco.
Weitere Veröffentlichungen
Die Abendröte im Westen
All die schönen Pferde
Border-Trilogie
Grenzgänger
Die Straße
Draußen im Dunkel
Verlorene
Der Anwalt
Ein Kind Gottes
Land der Freien
Der Autor möchte dem Santa Fe Institute seinen Dank für die lange
Verbundenheit und den vierjährigen Aufenthalt dort aussprechen.
Ebenfalls danken möchte er Amanda Urban.
Einen Jungen hab ich in die Gaskammer von Huntsville geschickt. Nur einen einzigen. Meine Verhaftung, meine Zeugenaussage. Ich bin zwei-, dreimal hingefahren und hab ihn im Gefängnis besucht. Dreimal. Das letzte Mal war am Tag seiner Hinrichtung. Keiner hat mich dazu gezwungen, aber ich hab’s trotzdem getan. Gewollt hab ich’s ganz bestimmt nicht. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen umgebracht, und ich kann Ihnen gleich sagen, ich hab nie groß das Bedürfnis gehabt, ihn zu besuchen, geschweige denn zu seiner Hinrichtung zu gehen, aber ich hab’s trotzdem getan. In der Zeitung hieß es, es wär ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen, aber mir hat er gesagt, mit Leidenschaft hätte das nichts zu tun gehabt. Das Mädchen war seine Freundin, obwohl sie noch so jung war. Er war neunzehn. Und er hat mir gesagt, er hätte schon ungefähr so lange, wie er zurückdenken kann, vorgehabt, jemand umzubringen. Hat gesagt, er würd’s wieder tun, wenn sie ihn rausließen. Und er wüsste, dass er zur Hölle fährt. Hat er mir wortwörtlich gesagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab gedacht, so einen Menschen würd ich nie zu Gesicht kriegen, und ich hab mich gefragt, ob sich’s vielleicht um eine neue Art handelt. Ich hab zugesehen, wie sie ihn auf dem Stuhl festgeschnallt und die Tür zugemacht haben. Er hat vielleicht ein bisschen nervös gewirkt, aber das war auch schon so ungefähr alles. Ich glaub wirklich, er hat gewusst, dass er in fünfzehn Minuten in der Hölle sein wird. Das glaube ich. Und darüber hab ich viel nachgedacht. Mit ihm zu reden war nicht schwierig. Hat mich Sheriff genannt. Aber ich hab nicht gewusst, was ich zu ihm sagen soll. Was sagt man zu einem, der nach eigenem Eingeständnis keine Seele hat? Warum soll man überhaupt was zu ihm sagen? Darüber hab ich ziemlich viel nachgedacht. Dabei war er noch gar nichts im Vergleich mit dem, was da auf uns zugekommen ist.
Es heißt, die Augen sind die Fenster der Seele. Ich weiß nicht, von was dem seine Augen die Fenster waren, und ich will’s auch gar nicht wissen. Aber da draußen gibt’s einen anderen Blick auf die Welt und andere Augen, die sie sehen, und darauf läuft es raus. Mich hat das in meinem Leben an einen Punkt gebracht, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich je dort hinkommen würde. Irgendwo da draußen gibt’s einen wahrhaftigen, lebendigen Propheten der Vernichtung, und dem will ich mich nicht stellen. Ich weiß, es gibt ihn wirklich. Ich hab seine Werke gesehen. Ich bin ein einziges Mal vor diese Augen hingetreten. Das tu ich nie wieder. Ich werd’s nicht drauf ankommen lassen und aufstehen und losziehen, um ihm entgegenzutreten. Das hat nicht bloß mit dem Älterwerden zu tun. Wenn’s nur so wär. Und damit, was man bereit ist zu tun, hat das auch nichts zu schaffen. Ich hab nämlich immer gewusst, dass man bereit sein muss zu sterben, wenn man diesen Job machen will. Das war schon immer so. Nicht, dass ich damit angeben will, überhaupt nicht, aber so ist es eben. Die merken es, wenn man’s nicht ist. Kriegen es ruck, zuck spitz. Ich glaub, es hat eher damit zu tun, was man bereit ist zu werden. Und ich glaub, dafür müsste man seine Seele aufs Spiel setzen. Und das tu ich nicht. Heute glaub ich, dass ich das vielleicht nie getan hätte.
Der Deputy ließ Chigurh mit auf den Rücken gefesselten Händen in der Ecke des Büros stehen, während er selbst sich auf den Drehstuhl setzte, seinen Hut abnahm, die Füße hochlegte und mit dem Funktelefon Lamar anrief.
Bin gerade zur Tür reingekommen. Sheriff, der hatte so ein Ding auf dem Rücken, das sieht aus wie eine Sauerstoffflasche für einen Lungenkranken oder so. Und dann war da noch ein Schlauch, der hat durch seinen Ärmel zu so einem Bolzenschussgerät geführt, wie sie’s im Schlachthaus benutzen. Ja, Sir. So hat’s jedenfalls ausgesehen. Sie können es sich anschauen, wenn Sie kommen. Ja, Sir. Ich hab alles im Griff. Ja, Sir.
Als er vom Stuhl aufstand, hakte er den Schlüsselbund von seinem Gürtel und schloss die Schreibtischschublade auf, um die Schlüssel zum Zellenblock herauszunehmen. Er war leicht vornübergebeugt, als Chigurh in die Hocke ging und die Hände in den Handschellen unter dem Gesäß hindurch bis in die Kniekehlen gleiten ließ. In derselben Bewegung wiegte er sich auf dem gekrümmten Rücken zurück, schob die Kette unter den Füßen hindurch und stand augenblicklich und mühelos auf den Beinen. Es sah aus wie häufig geübt und war es vermutlich auch. Er warf dem Deputy die gefesselten Hände über den Kopf, sprang hoch, rammte ihm beide Knie in den Nacken und riss an der Kette nach hinten.
Sie gingen zu Boden. Der Deputy versuchte, die Hände zwischen seinen Hals und die Kette zu zwängen, schaffte es aber nicht. Im Liegen, die Knie zwischen den Armen und das Gesicht abgewandt, zog Chigurh an den Handfesseln. Der Deputy fuchtelte wild herum und hatte begonnen, sich wie seitwärtsgehend im Kreis über den Boden zu bewegen, trat den Papierkorb um und den Stuhl durchs Zimmer. Er trat die Tür zu und knäuelte den Läufer um sich und den Angreifer. Er röchelte und blutete aus dem Mund. Er erstickte an seinem eigenen Blut. Chigurh zog nur umso fester. Die vernickelten Handschellen schnitten bis auf den Knochen. Die rechte Schlagader des Deputys platzte, ein Blutstrahl schoss durch den Raum, klatschte an die Wand und rann daran herunter. Die Beine des Deputys erlahmten und standen still. Er zuckte. Dann rührte er sich gar nicht mehr. Chigurh lag ruhig atmend da und hielt ihn fest. Als er aufstand, hakte er den Schlüsselbund vom Gürtel des Deputys, schloss die Handschellen auf, steckte sich den Revolver des Deputys in den Hosenbund und ging auf die Toilette.
Er ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, bis sie zu bluten aufhörten, riss dann mit den Zähnen Streifen von einem Handtuch ab, die er sich um die Gelenke schlang, und ging ins Büro zurück. Er setzte sich an den Schreibtisch, befestigte die Handtuchstreifen mit Klebeband aus einem Spender und musterte dabei den Toten, der vom Boden zu ihm aufstarrte. Als er fertig war, zog er dem Toten die Brieftasche aus der Hosentasche, nahm das Geld heraus, steckte es in seine Hemdtasche und ließ die Brieftasche auf den Boden fallen. Dann hob er den Druckluftbehälter und das Bolzenschussgerät auf, ging zur Tür hinaus, stieg in den Wagen des Deputys, ließ den Motor an, stieß im Bogen zurück und fuhr auf die Straße hinaus.
Auf der Interstate griff er eine Ford-Limousine neueren Modells mit nur einem Insassen heraus, schaltete die Signallichter ein und ließ kurz die Sirene aufheulen. Der Wagen fuhr auf den Standstreifen. Chigurh hielt hinter ihm an, stellte den Motor ab, hängte sich den Druckluftbehälter über die Schulter und stieg aus. Der Mann beobachtete ihn im Rückspiegel, während er näher kam.
Was ist denn, Officer?, fragte er.
Würden Sie bitte aussteigen, Sir?
Der Mann machte die Tür auf und stieg aus. Worum geht es denn?, fragte er.
Würden Sie bitte vom Fahrzeug wegtreten.
Der Mann trat vom Fahrzeug weg. Chigurh sah, wie sich angesichts der blutbefleckten Gestalt vor ihm Zweifel in seinen Blick stahlen, aber es war zu spät. Wie ein Wunderheiler legte er ihm die Hand auf den Kopf. Das pneumatische Zischen und Klicken des Bolzens klang wie das Geräusch einer sich schließenden Tür. Der Mann glitt geräuschlos zu Boden, in der Stirn ein rundes Loch, aus dem Blut sprudelte, ihm in die Augen rann und mit sich nahm, was er von seiner langsam zerfallenden Welt noch wahrnehmen konnte. Chigurh wischte sich mit seinem Taschentuch die Hand ab. Ich wollte bloß nicht, dass Sie den Wagen vollbluten, sagte er.