Das goldene Zeichen

Historischer Roman

Albrecht Gralle


ISBN: 978-3-95764-107-6
1. Auflage 2015, Altenau (Deutschland)
© 2015 Hallenberger Media GmbH

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Umschlagabbildung: Unter Verwendung des Bildes 188845103 von Shutterstock (© Pinkyone).

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

Die Liebe, mein Freund, ist eine

unheilbare Krankheit, deren Besserung

von der Behandlung abhängt.

Sie ist ein angenehm empfundenes Leiden

und eine ersehnte Qual.

Jedoch, wie mag es einem ergehen,

der im Herzen diese Liebe geborgen hat,

die heißer war als Tamariskenkohle

und seine Seele gegen ihren Willen von dem

abgekehrt hat, was sie ersehnte, weil das,

was sie wünschte, verboten war?

Wahrlich, er verdient am Tage der

Auferstehung Freude zu erleben!

 

Ibn Hazm Alandalusi, Cordoba 1030 n. Chr.

Historische und heutige Namen

Angelland – England

Babenberch – Bamberg

Bonna – Bonn

Coln – Köln

Confluenze – Koblenz

Duizum – Köln-Deutz

Haestingas – Hastings/Südengland

Megunze oder Magenza – Mainz

Lundene – London

Rhin – Rhein

Treveris – Trier

Welschnuss – Walnuss

Wormez – Worms

Kapitel 1

Coln, Anno Domini 1105

Als es Anfang November schneite, tanzten die Kinder barfuß auf der Gasse herum und fingen die dicken Flocken mit ihren rosa Zungen auf.

Am nächsten Tag banden sie sich alte Lumpen um die Füße und trugen Holzbündel auf dem Rücken.

Halb Coln war auf den Beinen, um jedes verfügbare Brennholz aufzusammeln. Denn allen war klar: Die üblichen Holzvorräte würden dieses Jahr nicht reichen, wenn man schon im November heizen musste. Wer nicht frieren wollte, musste sich sputen, solange noch etwas Brennbares zu finden war. Jedes Stück Holz war gut, auch das Treibholz auf den Flussauen.

Es hatte Winter gegeben, die so mild waren, dass die Kochfeuer ausreichten, um die Kälte zu überstehen, aber dieses Jahr schien anders zu werden. Nur die reichen Bürger würden in ihren Häusern sitzen und gutes colnisches Kupfer für einen Sack Holzkohle bezahlen.

Eben trat Fiona aus einem Haus, zusammen mit zwei anderen Frauen. In der rechten Hand hielt sie ein paar Lederriemen, um Holzbündel zu schnüren. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Schnee war in den schattigen Gassen zu einem festen Teppich getrampelt worden. Nur auf den Dächern, die nach Süden zeigten, bildeten sich Risse in der weißen Decke. Über Nacht waren Eiszapfen gewachsen.

Fiona blieb stehen und atmete die kühle Luft ein. Über ihr spannte sich ein weißer Himmel, der ein paar blaue Löcher erkennen ließ. Sie zog ihren Mantel enger um die Schultern, bückte sich und band ihre Holztrippen um die Schuhe. Da sah sie aus den Augenwinkeln, wie jemand auf sie zukam, der ein Pferd hinter sich herführte. Sie erblickte unter einem wollenen Mantel Lederstiefel, die an der Spitze weiße Schneeränder zeigten. Langsam richtete sie sich auf.

Vor ihr stand ein Mann, ungefähr einen Kopf größer als sie selbst, der sie offen und direkt anschaute, sodass sie ihre Augen niederschlug.

„Seid gegrüßt, edle Frau“, hörte sie eine angenehme Männerstimme. „Ihr müsst Fiona sein, die Frau des Herrn Audoin nach der Beschreibung, die ich habe. Und mein Name ist Berward von Trossingen.“

Fiona riskierte einen kurzen Blick, sah ein glatt rasiertes Gesicht, eine schwarze Haarsträhne unter der Mütze. Sie ärgerte sich, dass sie so schnell ihren Kopf gesenkt hatte, obwohl es durchaus üblich war, dass Frauen als Erste die Augen niederschlugen, wenn ein Mann sie betrachtete.

„Ich grüße Euch ebenfalls. Bin ich schon so berühmt, dass man mich an meinem Aussehen erkennt, trotz der engen Haube, die meine Haare verdeckt?“ Der leichte Spott in ihrem Tonfall war nicht zu überhören.

„Ich weiß nicht. Ich kenne Euch nur durch die Erzählung, die mir Audoin gab. Und als ich Euch nicht in seinem Haus antraf, wurde ich hier her gewiesen. Ich habe Nachrichten von ihm und wäre dankbar, wenn ich ein paar Worte in Ruhe mit Euch wechseln könnte.“

Fiona wandte sich um und sah, dass ihre beiden Begleiterinnen neugierig stehen geblieben waren.

„Nun, eigentlich wollte ich gerade das Haus verlassen, aber – das ist wohl ein Grund die Trippen wieder auszuziehen.“

Sie warf einer der Frauen die Lederriemen zu und sagte bestimmend: „Ihr müsst ohne mich gehen!“

Die beiden nickten, riskierten noch einen schnellen, neugierigen Blick auf den Fremden und sein Pferd und setzten sich langsam in Bewegung.

Ohne ein Wort zu sagen, bückte sich Fiona und band ihre Holztrippen wieder ab.

„Folgt mir!“, sagte sie zu dem Mann. „Ich zeige Euch zuerst den Weg zum Stall.“

Der Fremde nickte und wurde zu einer Holztür geführt, die nach dreimaligem Klopfen von einem Jungen geöffnet wurde.

„Dieser Mann“, sagte Fiona zu ihm, „ist heute unser Gast. Versorge sein Tier!“

Nachdem das Pferd über einen Innenhof zum Stall gebracht wurde und Berward einen größeren Lederbeutel vom Sattel genommen hatte, ging Fiona weiter und führte ihren Gast zu einem Raum, der nur mäßig geheizt war. Ein paar Bänke und Tische standen darin.

„Habt Ihr keine Magd, die Euch die Trippen auszieht und Euch bedient, wie es der Frau eines Herrn Audoin zusteht?“, fragte der Fremde erstaunt.

„Ich hatte früher eine Magd. Aber jetzt regeln wir alles unter uns Frauen. Ich bitte Euch, nehmt in der Nähe des Feuers Platz. Es ist zwar schon heruntergebrannt, aber ich hoffe, es macht Euch nichts aus, mit Euren eigenen Händen ein paar neue Holzscheite aufzulegen. Eure Stiefelspitzen brauchen dringend Schweinefett. Beides kann ich Euch nicht bieten. Aber einen Becher Bier, den werde ich für Euch holen.“

„Ist das hier … eine Art Nonnenkloster?“, fragte er.

„Nein.“ Fiona blieb stehen und blickte ihn kurz an. „Wir sind nur eine Gemeinschaft von Frauen, die sich selbst Regeln gegeben haben: Gebetszeiten, gemeinsame Arbeit. Wir sind …“, sie schien zu überlegen, „… genau in der Mitte zwischen Nonnen und Ehefrauen. Jede von uns bleibt in der Gemeinschaft, solange sie will. Ich bin gleich zurück.“

Als Fiona kurz darauf mit einem Brett zurückkam, auf dem je ein Krug mit Bier und Wasser stand sowie eine Schale mit Brot und geräuchertem Fisch, da sah sie, dass ihr Gast gerade dabei war, das Feuer neu zu entfachen. Seinen Umhang und seine Mütze hatte er ohne Diener selbst ausziehen müssen und über eine Bank gelegt. Wahrscheinlich eine Zumutung für so einen vornehmen Herrn, aber er hatte es immerhin getan.

Sie stutzte. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Ob das mit diesem Mann zusammenhing?

Fiona nickte anerkennend, als sie sah, dass der Gast einen kleinen Tisch schon vorsorglich neben das Feuer platziert hatte. Sie stellte das Brett dort ab.

„Ich sehe, Herr, Ihr macht Euch nützlich.“

Berward richtete sich auf und ließ sich auf der Bank neben dem Feuer nieder. „Nun, es gab zwei Möglichkeiten: entweder auf einen Diener zu warten, den es anscheinend hier nicht gibt, und im Mantel hier sitzen zu bleiben und irgendwann zu frieren, oder den Mantel auszuziehen und das Feuer selbst zu entfachen.“

 

Fiona lächelte. Der Mann gefiel ihr.

Sie sprach einen lateinischen Tischsegen und lud Berward mit einer Geste ein, es sich schmecken zu lassen.

„Gott segne Eure Ankunft in Coln, und er möge Euch durch das bescheidene Mahl stärken“, sagte sie.

„Habt Dank.“

Zunächst war außer dem Knistern des Feuers und den Essgeräuschen nichts zu hören. Fiona hütete sich, die Unterhaltung als Erste zu beginnen. Sie lockerte das Gebinde am Kinn etwas, weil es allzu stramm saß und das Reden erschwerte. Schließlich wischte sich Berward mit einem Stück Brot die Fischkrümel von den Händen, warf es auf den Boden und fuhr sich mit dem linken Handrücken über den Mund.

„Audoin erzählte mir auch“, sagte er, noch kauend, „dass Ihr einmal mit dem jetzigen Erzbischof verlobt gewesen seid.“

Fiona schüttelte den Kopf. „Nein, so kann man es nicht sagen. Unser Erzbischof Friedrich und ich … Nun, wir kannten uns schon als Kinder, und es war beschlossene Sache, dass wir eines Tages heiraten sollten. Erst nach der Verlobung entschloss er sich, ein geistliches Amt zu wählen und wir … entlobten uns.“

„Audoin sagte mir aber, Ihr wart noch verlobt, als er zum Diakon geweiht wurde.“

Auf Fionas Stirn entstand ein Unmutsfalte.

Audoin, dieser Schwätzer!

„Es gab gewisse Überschneidungen“, sagte sie mit betont ruhiger Stimme. „Alle hielten mich damals für tot, und es schien nicht nötig zu sein, sich von einer Toten zu entloben.“

„Also seid ihr keine Bischofsbraut“, sagte Berward halb im Scherz.

Fiona zögerte, weil sie daran dachte, dass sie sich auch nach der Entlobung durchaus als Braut Friedrichs gefühlt hatte. Aber das ging niemanden etwas an.

„Nein. Ich bin keine Bischofsbraut, sondern eine verheiratete Frau. Audoin ist mein Mann, auch wenn er es vorgezogen hat, in Basileia zu wohnen.“

Sie schwieg und nippte an ihrem Becher mit Wasser.

Was will er eigentlich von mir? Nur ein paar Grüße des weit entfernten Gatten überbringen?

„Eure neue Gemeinschaft hier hat dann wahrscheinlich die Unterstützung des Erzbischofs, nehme ich an?“

„Ja, das hat sie allerdings, sonst könnten wir uns nicht so frei bewegen. Obwohl …“ Sie zögerte.

„Obwohl?“, half Berward nach, weil er neugierig geworden war.

„Obwohl es einigen Bürgern Colns nicht passt, dass sich Frauen zu einem neuen Orden zusammenfinden, ohne richtige Nonnen zu sein. Es macht sie … unruhig.“

Berward sagte nichts darauf, schien sich aber seinen Teil zu denken. Er trank noch einen kräftigen Schluck, rülpste und kam nun mit seinem eigentlichen Anliegen.

„Nun“, begann er und fuhr sich durch seine dunklen Haare. „Wie gesagt, ich bin gekommen, um Nachrichten über Euren Mann weiterzugeben, die …“, bei diesen Worte blickte er an Fiona vorbei zur gegenüberliegenden Wand, „die … nicht angenehm für Euch sein werden.“

„Ich erwarte keine angenehmen Nachrichten von Audoin“, sagte sie und presste ihre Lippen zusammen. „Wenn Ihr Audoin angeblich so gut kennt, müsstet Ihr auch wissen, dass wir nicht im Frieden auseinandergegangen sind, sondern dass er sich von mir getrennt hatte, mir aber den verheirateten Stand weiterhin gewährte. Ich vermute, dass er dort, wo er wohnt, sicher ein oder zwei, vielleicht auch drei oder vier Damen um sich hat, die

ihn bewundern.“

Ganz konnte Fiona die Schärfe aus Ihren Worten nicht herausnehmen, sodass ihr Gast verwundert aufblickte.

„Ja. Eure … ähm … Trennung ist mir bekannt“, sagte er. „Dennoch redete Audoin immer mit großem Respekt von Euch.“

„So? Tat er das? Immerhin eine gute Eigenschaft von ihm. Was hat er denn noch von mir erzählt?“, forschte sie weiter.

Hoffentlich nicht, dass ich die Gabe habe, gelegentlich die Gedanken anderer zu erkennen.

„Hauptsächlich, wie er Euch kennengelernt hat.“

„Es wäre sicher sehr erbaulich, es einmal aus seiner Sicht zu hören.“

Fiona zögerte und fuhr dann fort: „Es sind also Grüße, die Ihr mitgebracht habt?“

Berward schüttelte den Kopf. „Nicht nur. Wie gesagt: traurige Nachrichten.“

„Ich höre.“

„Um es kurz zu sagen: Audoin ist tot.“

Das war nun doch überraschend für Fiona. Erschrocken starrte sie ihren Gast an. Die Unterhaltung war bis zu diesem Zeitpunkt in einem Ton gehalten worden, der den Eindruck erweckt hatte, Audoin lebte noch.

„Er ist … er ist tot?“, fragte sie zur Sicherheit nach.

„Ja, tot und ordnungsgemäß begraben.“

Berward bückte sich und holte aus dem ledernen Reisesack ein Dokument heraus, das zusammengerollt und versiegelt war. Auf der Außenseite des Pergaments stand Fionas Name.

Sie nahm die Rolle in die Hand, brach das Siegel und entrollte das Schriftstück. Auf Latein stand schwarz auf weiß der Todestag ihres Mannes und dass er infolge einer schweren Krankheit verstorben sei und seine Seele im Paradies weilen möge. Unterschrieben hatte die Rolle der Bischof von Basileia.

Fiona las mehrmals die Worte auf dem Pergament und bewegte die Lippen dabei.

„Mit diesem Schriftstück seid Ihr nun die Besitzerin des Grundstücks und des Hauses von Audoin hier in Coln.“

Fiona blickte auf. „Hatte er sonst keine männlichen Verwandten?“

Berward schüttelte den Kopf. „Niemand. Und er hat ausdrücklich mit Brief und Siegel verfügt, dass Ihr Alleinerbin sein solltet, um mögliche Verwandte auszuschließen, von denen er nichts wusste.“

„Und sein Besitz in Basileia?“

„Ja, er hatte dort Besitz und Ländereien“, sagte Berward. „Aber durch seinen großzügigen Lebenswandel war er vielen Geld schuldig geblieben. Der Erlös der Ländereien und seines Hauses in Basileia diente dazu, die Schulden zu begleichen.“

Wieder griff Berward in den Lederbeutel und gab ihr ein anderes Pergament, das eine genaue Auflistung der nicht unbedeutenden Ländereien enthielt und als Gegenrechnung die Forderungen seiner Gläubiger.

Fiona ließ das Blatt sinken und sagte: „Das sind allerdings … weitreichende Neuigkeiten. Ich bin nun also … Witwe.“

„Richtig“, nickte ihr Gast und sagte mit einem charmanten Lächeln: „Und keine hässliche Witwe.“

Fiona blickte Berward überrascht an, weil sie mit seiner Bemerkung nicht gerechnet hatte, sagte aber nichts dazu.

Die üblichen Höflichkeitsfloskeln, die Männer so machen.

„Also, meine aufrichtige Anteilnahme“, fing Berward an. „Möge der Verstorbene in Gottes Armen ruhen.“

„Amen“, sagte sie.

„Und noch etwas.“ Noch einmal griff er in seinen Reisesack und holte eine runde, silberne Dose heraus, die am Rand verziert war. Er stellte sie neben den Bierkrug.

„In dieser Silberdose“, sagte Berward, „liegt Audoins Herz. Er wollte, dass es in Coln bestattet würde und bat mich, Euch das zu überbringen. Ich war sein bester Freund.“

Deshalb der süßliche Geruch, der wahrscheinlich von den Salben und Kräutern kommt!

Fiona schüttelte den Kopf. „Bisher habe ich nur von Königen und Bischöfen gehört, dass ihr Herz an einem anderen Ort bestattet wurde, aber nicht von … von gemeinen Adligen.“

Berward hob die Schultern. „Er bat mich darum, also habe ich …“

Er ließ den Satz offen und überließ es Fiona sich vorzustellen, ob er selbst das Herz herausgeschnitten hatte oder die Leichenwäscherin.

Sie sah die Silberdose mit gemischten Gefühlen an.

Das ist also alles, was von Audoin übrig geblieben ist.

Berward stand auf. „Es ziemt sich, Euch in Eurer Trauer allein zu lassen. Ich werde mich zurückziehen und morgen noch einmal bei Euch vorsprechen, wenn es Euch recht ist.“

Fiona blickte den Gast fragend an. „Gibt es denn noch mehr Nachrichten?“

„In gewissem Sinne, ja. Aber, ich denke, Ihr habt für heute genug gehört.“

Er nahm seinen Mantel und seinen Reisesack, warf ihn sich über die Schulter und schloss umständlich die Fibel, die den Stoff an der Schulter zusammenhielt. Wahrscheinlich war er es nicht gewohnt. Dann murmelte er einen Gruß und verließ den Raum, um sein Pferd zu holen.

 

Fiona, die Berward verabschiedet und zum Tor begleitet hatte, setzte sich wieder neben das Feuer und starrte in die Flammen. Diese Nachricht von Audoins Tod ging ihr nach. Sie hätte nicht gedacht, dass es sie so erschütterte, denn es gab Zeiten, in denen sie Audoin nur gehasst hatte. Seine überhebliche, spöttische Stimme, die Art, wie er sie behandelt hatte, und seine Enttäuschung, dass Fiona nie schwanger geworden war. Aber das war ihr ganz recht gewesen. Von ihm wollte sie kein Kind haben. Es hätte sie doch nur ständig an ihn erinnert.

Sie schielte nach der runden Silberdose, in denen sich die Flammen spiegelten. Zögernd nahm sie die Dose in die Hand und kräuselte ihre Nase. Eine seltsame Idee, das Herz ihres Mannes in Coln begraben zu lassen!

Vorsichtig drehte sie an dem Deckel, der teilweise mit Wachs verschlossen war, und versuchte, nicht einzuatmen. Mit einem Ruck öffnete sich die Dose. Etwas Weißes flog heraus. Fiona erschrak und starrte auf das Ding, das neben einem Tischbein lag: etwas, das in Leinen eingewickelt war und diesen unangenehmen süßlichen Duft verströmte.

„Das soll also ein Herz sein?“, murmelte sie. „Ein Fleischklumpen, in ein Tuch gehüllt!“

Sie griff schnell mit der Rechten nach dem irdischen Überrest ihres Mannes, er entglitt ihr und fiel wieder auf den Boden. Beim zweiten Versuch packte sie fester zu, legte das Herz auf den Tisch, öffnete die Lederriemen, mit denen das Tuch verschnürt war, und sah ein fahles Stück Fleisch, von dem Adern herabhingen. Unter dem süßlichen Geruch, nahm sie jetzt einen leichten Duft wahr, der sie an verfaultes Fleisch erinnerte.

Schnell schlug sie das Tuch über das Herz, umwand das Ganze mit dem Lederriemen, tat es in die Silberdose und presste den Deckel darauf. Einen Augenblick verharrte sie, dann schlug sie das Kreuzeszeichen über Audoins totes Herz und griff zu dem Wasserkrug. Hastig ließ sie das restliche Wasser über ihre Hände rinnen. Sie hatte diesen Brauch oft bei den Juden in Coln gesehen, und er hatte ihr gefallen. Es sah so aus, als könnte man sich von unangenehmen Dingen reinigen und freimachen.

Nein, sie würde keine großen Umstände machen. Ein Priester würde ein Requiem lesen, und mit ein paar feierlichen Worten würden sie Audoins Herz in ein Grab senken, möglichst weit weg am Rande des Grundstücks. Vielleicht könnte man einen Baum auf die Stelle pflanzen.

Fiona stellte die Herzdose mit den anderen Dingen auf das Tablett zurück. Im Haus wollte sie das silberne Gefäß jedenfalls nicht aufbewahren. Sie würde im Garten ein vorläufiges Grab machen und einen schweren Stein darauflegen, damit Audoins Herz nicht von Tieren gefressen wurde.

Was aber wollte Berward noch von ihr? Hatte Audoin vielleicht eine letzte Bitte geäußert, die erfüllt werden musste? Und wo wohnte Berward überhaupt? Im Bischofspalast? Oder bei den Mönchen in Duizum, jenseits des Rhins?

 

*

 

Der nächste Morgen hing grau und schwer über der Stadt. Rauch aus den Kaminen und Feuerstellen hatte sich wie ein zusätzliches Tuch darübergebreitet. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, lag noch auf den Gassen und zeigte die Spuren der Frühaufsteher.

Nach der Andacht wurde Fiona gemeldet, der Herr, der gestern hier gewesen sei, wolle sie wieder sprechen.

Diesmal erschien er ohne Pferd. Seine Unterkunft musste also nicht weit von dem kleinen Anwesen der Schwestern liegen. Berwards Begrüßung bestand aus einem Husten. Offenbar war er solch einen Rauch nicht gewöhnt.

Fiona führte ihn in den Raum, der ihr und den Frauen als Versammlungsraum diente. Von der Morgenandacht her war noch etwas Wärme zurückgeblieben; die Pergamenthäute vor den Fenstern hielten sie eine Weile fest.

Fiona fiel auf, dass Berward bessere Kleidung angelegt hatte. Wollte er einen guten Eindruck machen? Ein Blick auf seine Schuhe zeigte ihr, dass jemand, womöglich sogar er selbst, die Schneeränder beseitigt hatte. Sie musste unwillkürlich lächeln.

Als er sich auf eine Bank in der Nähe des erloschenen Kamins setzte und einen Begrüßungstrunk ablehnte, sagte er gleich, fast entschuldigend: „Ihr werdet Euch wahrscheinlich wundern, warum ich Euch zweimal aufsuche…“

Er wartete auf eine Antwort, aber als Fiona schwieg, fuhr er fort: „Mein Anliegen heute hätte sich nicht mit der Botschaft vertragen, die ich Euch gestern überbrachte.“

„Nun“, sagte Fiona aufmunternd. „Ihr macht mich neugierig.“

Er blickte sie an und redete gleich weiter: „Audoin hat des Öfteren von Euch gesprochen und, wie ich schon gestern sagte, erwähnte er nichts Nachteiliges. Im Gegenteil, er hat Eure Schönheit gepriesen.“

„Das muss wohl ein anderer Audoin sein, den Ihr mir beschreibt „, sagte Fiona spitz. „Ich kann mir, ehrlich gesagt, diesen edelmütigen Audoin nicht so richtig vorstellen.“

Berward räusperte sich, merkte wohl, dass seine Schmeicheleien eher Misstrauen erregten und fügte hinzu: „Ein- oder zweimal, das muss ich zugeben, hat er auch eine abfällige Bemerkung fallenlassen, aber – wie soll ich es sagen – ich war auf jeden Fall gespannt, Euch zu begegnen. Ja, mein Herz, neigte sich sogar Euch zu, obwohl ich Euch noch nie gesehen hatte.“

O nein, ich ahne schon, was jetzt kommt!

„Herr Berward! Das Herz ist ein wankelmütiges und … wie ich seit gestern weiß, ein stinkendes Etwas“, sagte Fiona. „Man sollte sich nicht zu sehr darauf verlassen.“

Berward lachte laut auf. „Ja, genauso hat Audoin Euch zuweilen beschrieben: eine Frau, die manchmal unmittelbare Äußerungen wagt. Wo waren wir stehengeblieben? Nun, wie gesagt, ich hatte durch Audoins Bemerkungen eine gute Meinung von Euch, und als ich gestern hier war und Euch mit eigenen Augen sah, wurde mir eine Sache deutlich …“

Dass du um meine Hand anhalten willst, weil deine Liebe zu mir unfassbar groß ist …

Berward räusperte sich und blickte Fiona mit seinem strahlendsten Lächeln an. „Um es kurz zu sagen: Meine Liebe zu Euch ist … unendlich groß, und ich möchte nach einer angemessenen Trauerzeit um Eure Hand anhalten. Ich weiß, dass dieses Ansinnen so kurz nach der furchtbaren Todesnachricht überraschend für Euch sein muss …“

Nun, so überraschend auch wieder nicht, mein Lieber. Ich bin nicht dumm, allerdings verstehe ich nicht, warum du dich an mich binden willst …

„Deshalb“, sagte Berward, „erwarte ich auch gar nicht, dass Ihr mir in diesem Augenblick Eure Meinung sagt, sondern ich möchte, dass Ihr mit Eurer Familie mein Anliegen besprecht. Schließlich muss Euer Vater die Zustimmung geben. Ich selbst war noch nie verheiratet und sehe in Euch meine zukünftige Frau. Denkt also darüber nach.“

„Darüber muss ich nicht nachdenken!“ Fiona sagte den Satz laut und impulsiv. „Ich bin nicht bereit für eine Ehe. Unsere Gemeinschaft braucht mich. Ich werde meine Frauen nicht im Stich lassen, um selbst ein bequemes Leben zu führen.“

Berward stand auf und sagte: „Ich werde Coln für ein paar Wochen verlassen und in Basileia sein. Dann könnt Ihr in Ruhe über mein Ansinnen nachdenken. Es ist immer gut, über solche Entscheidungen ein paar Nächte zu schlafen. Er neigte den Kopf, murmelte einen Gruß und verließ den Raum.

„Auch wenn ich tausend Nächte darüber schlafe, werde ich zu keinem anderen Ergebnis kommen. Sucht Euch eine Andere! „, rief sie ihm hinterher, war sich aber nicht sicher, ob er sie noch gehört hatte.

 

Fiona hörte die Tür zufallen und spürte ihren Ärger noch nachklingen. Gleichzeitig breitete sich eine leichte Röte über ihr Gesicht und ihre Schultern. Immerhin hielt ein Mann um ihre Hand an und wäre bereit, sie nach der Trauerzeit zu heiraten. Er hatte keine Vorteile bei dieser Heirat. Sie war keine reiche Witwe. Und er war ein gut aussehender Mann, der aufmerksam und bereit war, Neues zu lernen. Das hatte sie gestern beobachtet.

Und – was beachtenswert war – er hatte sie zuerst gefragt, bevor er mit ihrem Vater verhandelte. Es war ihm also wichtig, ihre Zustimmung zu haben. Das würde nicht jeder Bewerber machen.

Sie könnte Coln verlassen, müsste Friedrich nicht dauernd begegnen und wäre eine geachtete Frau in Basileia. Nachdenklich blickte sie auf ihre rechte Hand und drehte sie hin und her.

So alt sieht meine Hand nicht aus und es wäre ein zweiter Versuch, Kinder zu bekommen. Aber nein! Es ist unmöglich. Ich will nicht!

Kapitel 2

Nach dem Abendläuten, das in der winterlich verschneiten Stadt gedämpfter, dichter und näher klang, fast als säße man in einer Halle mit Wandbehängen, sah man die Frauen aus dem neuen Orden ihr Anwesen verlassen und auf die nächste Kirche zugehen.

Sie trugen keine einheitliche Tracht. Aber da die Mäntel dunkelbraun oder dunkelblau waren, sah es doch so aus, als kämen sie aus einem Kloster.

Der Abend war früh hereingebrochen und hatte zudem feuchtkalte Luft mitgebracht. Es fing wieder an zu schneien.

Fiona, die den Tag über mit Nähen beschäftigt gewesen war und den weniger gebildeten Frauen beim Lesen und Schreiben geholfen hatte, ließ jetzt ihren Gedanken freien Lauf. Sogleich kamen ihr Berward und sein Antrag in den Sinn.

Er hatte doch nur, so überlegte sie, von Audoin etwas über sie erfahren. Sie hatten sich gestern eine Zeit lang gesehen und ein paar Worte gewechselt. Wie konnte er nach so kurzer Zeit sicher sein, dass sie seine Frau sein sollte? Offenbar hatte Audoin auch erzählt, dass sie sich nicht alles gefallen ließ und alles andere als ein zahmes Lämmchen war. Trotzdem hatte ihn das nicht abgeschreckt. Merkwürdig.

Welche Vorteile erhoffte er sich denn von einer Ehe mit ihr? Es war fraglich, ob sie noch Kinder bekommen würde. Sie war nicht mehr ganz jung und bisher nicht schwanger geworden. Außerdem fand sie sich selbst nicht schön.

 

Die Gruppe hatte die Kirche St. Georg erreicht, und alle klopften den Schnee sorgfältig ab. Mit feuchten Mänteln in einer kalten Kirche zu sitzen, war nicht angenehm.

Am Eingang drängten sich die Leute aus der Umgebung, die zur Abendandacht kamen. Fiona erkannte das eine oder andere vertraute Gesicht.

Es hatte sich so eingespielt, dass dieses Gotteshaus die Kirche ihres kleinen Ordens geworden war. Die meisten wussten das und blickten die Frauen freundlich an. Gelegentlich gab es zwar Sticheleien, aber da die Frauen sich im Dienst für andere einsetzten, Kranke besuchten und Unterricht erteilten, hatten sie wenig Feinde. Es gab allerdings Männer, die ihren Unmut offen äußerten. Sie sagten, es sei besser, wenn Frauen heirateten, als dass sie sich zusammenschlössen, ohne eine richtige Äbtissin zu haben und ohne einem bekannten Orden anzugehören. Wenn das geduldet würde, käme nur Ungutes dabei heraus.

Normalerweise saßen Fiona und ihre Frauen auf der rechten Seite in der Mitte. Und auch jetzt hatte man ihnen ein paar Plätze frei gehalten.

Die Abendliturgie begann. Fiona ließ sich in den Rhythmus der lateinischen Psalmgebete fallen:

„… nec dormitet qui custodit te – er schläft nicht, der dich behütet“, sang der Priester. Und die Gemeinde antwortete: „Ecce non dormitabit neque dormiet qui custodiet Israhel – siehe, weder schläft noch schlummert er, der Israel behütet…“

Es war wohltuend, die altbekannten Worte zu hören, die wie ein murmelnder Bach aus ihrem Mund strömten und sie beruhigten. Fiona beobachtete, wie eine ihrer Schwestern sich zur Sitznachbarin beugte und etwas flüsterte.

Langsam schritt der Priester zum Ambo und las die vorgeschriebenen Worte aus der Heiligen Schrift. Fiona kannte den Mann nur zu gut. Pater Conrad war nicht gerade ihr Lieblingspriester. Groß und dürr wirkte er, und seine Augenbrauen verliehen den dunklen Pupillen einen bedrohlichen Ausdruck. Wenn er eine Abendandacht zelebrierte, dann blickte er die Frauen des neuen Ordens nie direkt an. Es war fast, als ob sie für ihn nicht existierten. Ab und an hörte Fiona nach der Andacht auch spitze Bemerkungen aus seinem Mund.

Von einem Kaufmann, mit dem ihre Familie befreundet war, wusste sie, dass Pater Conrad sich einmal darüber beschwert hatte, er solle Frauen betreuen, die sich offen gegen Gottes Gesetze stellten – und das auch noch mit Genehmigung des Erzbischofs. Frauen hätten kein Recht, sich einfach so zusammenzutun, meinte er. Das müsste in Rom geprüft werden. Und erst dann sollte ihnen ein klosterähnliches Leben erlaubt werden. Denn was war von einem frommen Leben zu halten, wenn man nicht der Welt entsagte, sondern mitten im Alltag Gott dienen wollte? Und überhaupt: Warum konnten sich die Frauen nicht einem bekannten Orden anschließen?

Anfangs hörte Fiona deshalb nur mit halbem Ohr hin, als die Schriftlesung begann. Aber dann fesselte sie der lateinische Text. Sie bekam nicht alle Feinheiten mit, aber den groben Inhalt. Es ging um Mose, der auf dem Berg Sinai war, der herunterstieg und dann passierte etwas, das sie nicht verstand. Vielleicht würde es der Priester in seiner Auslegung erwähnen.

Zum Glück redete er nach der Lesung fränkisch, was nicht selbstverständlich war. Aber es war eine Bitte, die Fiona geäußert und die sie mit Friedrichs Unterstützung durchgesetzt hatte, dass bei der Abendandacht eine kleine Auslegung auf Fränkisch erfolgte, damit die Frauen, die kein Latein verstanden, wenigstens etwas mitbekamen. Sehr zum Ärger von Pater Conrad, der sich dafür Zeit nehmen musste, um den lateinischen Text auszulegen. Er tat es mit knirschenden Zähnen.

„Als Mose vom Berg herabstieg“, sagte er und wandte sich an die Zuhörer, wobei er, wie üblich, an den Ordensfrauen vorbeisah, „so haben wir eben im vierunddreißigsten Kapitel gelesen, passierte etwas Seltsames mit ihm.“

Fiona war jetzt ganz Ohr, denn das wollte sie unbedingt wissen.

„Moses Gesichtshaut glänzte“, fuhr der Priester fort, „weil er mit Gott geredet hatte. In manchen Übersetzungen steht hier, dass ihm sogar Hörner gewachsen seien, aber das scheint eine Wortverwechslung zu sein.“

Conrad räusperte sich. „Es wird übrigens nicht berichtet, dass Miriam, die Schwester des Mose, oder irgendeine andere Frau von Gottes Glanz berührt wurde. Ist doch die Frau nur der Spiegel für den Glanz ihres Mannes …“

Du hast wohl noch nie den Heiligenschein über der Statue der Maria gesehen, dachte Fiona erbost.

„Der Glanz“, fuhr Pater Conrad fort, „der vom Gesicht des Mose ausging, leuchtete so stark, dass man ein Tuch nehmen musste, um seinen Kopf zu verhüllen. Es kam den Israeliten so vor“, sagte der Priester, „als hätte Mose ein Gesicht, aus dem die goldenen Strahlen der Sonne schienen. Es war ein Heiligenschein, das Zeichen der Gegenwart Gottes.“

Ein Raunen ging durch die Menge und aus einer Ecke sagte jemand: „Ein goldenes Zeichen!“

Das Wort wurde aufgegriffen und flüsternd weitergegeben: „Ein goldenes Zeichen … ein goldenes Zeichen …“

Conrad, der das störende Flüstern mitbekommen hatte, beugte sich vor.

„Was wird da geflüstert?“, rief er ins Kirchenschiff, während sich seine Augenbrauen in der Mitte zusammenzogen.

„Mose trug ein goldenes Zeichen auf seinem Gesicht!“, rief ein Mann.

„Wer hat das gesagt?“, fragte der Priester zurück.

Die Zuhörer blickten sich an. Schließlich drehten sich ein paar Köpfe zu den Frauen des neuen Ordens um.

Conrad sagte nichts dazu, nur sein Mund wurde schmal. Er wartete, bis sich die Leute wieder beruhigt hatten und fuhr fort: „Wie ich schon gesagt hatte: Das Leuchten war das Zeichen der Gegenwart Gottes. Wie nah muss Gott dort oben auf dem Berg gewesen sein, dass man es im Gesicht des Mose ablesen konnte.

Würde ein Fremder, der durch unsere Stadt geht, auch an unseren Gesichtern ablesen können, ob wir in der Gegenwart Gottes leben oder nur an unsere täglichen Geschäfte denken? Sicher gibt es einige unter uns, deren Gesichter niemals leuchten würden.“

Diesmal streifte Pater Conrad Fiona und ihre Frauen mit einem kurzen Blick und Fiona dachte: Vielleicht ist es doch nicht so gut, wenn der Bibeltext von Pater Conrad ausgelegt wird.

Ein leises Gemurmel erhob sich.

„Ja, ich weiß“, sagte Conrad mit erhobener Stimme, „einigen werden diese Worte nicht gefallen, aber so ist es nun einmal. Von manchen Menschen geht ein Glanz aus, von anderen nicht. Manche tragen das goldene Zeichen unsichtbar, manche nicht.“

Von dir wird sicher niemals ein Glanz ausgehen!

„Auch in unserer Stadt gibt es Berge“, sagte Pater Conrad, „die vom göttlichen Glanz umgeben sind. Es sind keine sichtbaren Berge, sondern diese Berge zeigen sich nur denen, die Gott lieben. Es sind erhabene Momente der Glückseligkeit, wenn Gott uns in der Eucharistie begegnet. Mögen dann wenigstens unsere Augen leuchten, wenn wir mit dem Herrn im Gebet verbunden sind. Amen.“

Es folgte ein weiteres Psalmgebet und das Vaterunser.

 

Als der Pater in der Sakristei verschwunden war, standen die Besucher auf und gingen zum Ausgang. Einige steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Fiona und ihre Schwestern verließen schweigend die Kirche und traten auf den Vorplatz, der in der Zwischenzeit von einer fingerdicken Schicht aus Neuschnee bedeckt war. Ein schwacher Lichtschein, der aus einem der Kirchenfenster fiel, brachte den Schnee zum Glänzen.

Fiona dachte an das Gesicht des Mose, das geglänzt hatte, nur weil er mit Gott zusammen gewesen war.

„Das leuchtende Gesicht, ein Zeichen aus Gold“, murmelte sie. „Und Mose selbst schien es nicht bemerkt zu haben, sodass andere ein Tuch über seinen Kopf warfen.“

Sie zog ihren Schleier über die Haube und blickte nach oben in den dunklen Himmel, während sie den Fußstapfen ihrer Schwestern folgte. Dabei spürte sie, wie die Nässe durch die dünnen Lederschuhe drang. Allmählich schob sich wieder Berwards Gesicht in ihre Gedanken hinein und verdrängte die Ereignisse in der Abendandacht.

„In zwei oder drei Wochen“, flüsterte sie weiter, „wird Berward wahrscheinlich wissen wollen, was ich über seinen Antrag denke. Ich werde eine Nacht darüber schlafen und mit meinem Bruder und meinem Vater reden. Mein Vater wird begeistert sein, wenn seine verwitwete Tochter so schnell einen angenehmen Mann gefunden hat. Und mein Bruder Walter?

Ach, die beiden sind doch nur froh, wenn die alleinstehende Fiona mit dem Unsinn eines neuen Ordens aufhört, ordnungsgemäß verheiratet ist, keinen Ärger macht und viele Kinder zur Welt bringt! Und was ist mit Friedrich? Wie viel bedeutet er mir wirklich?“

Als Fiona mit den anderen das Haus betrat, hörte sie Stimmen aus dem Versammlungsraum. Sie öffnete die Tür und sah, dass die meisten Frauen, die bei der Andacht gewesen waren, vor dem Feuer saßen und sich unterhielten. Jemand hatte wohl noch Holz auf die Glut gelegt.

Als die Frauen merkten, dass Fiona im Türrahmen stand, wurden sie still.

„Nun, worüber habt ihr gerade geredet?“, fragte sie.

Die Frauen blickten betreten zu Boden.

„Über mich vielleicht?“ Da niemand etwas sagte, fuhr Fiona fort, während sie sich auf einen freien Platz setzte: „Also habt ihr über mich geredet. Stimmt es, Angelika?“

Eine junge Frau, die sich gerne im Hintergrund hielt, blickte Fiona erschrocken an. Schließlich nickte sie wortlos.

„Und was habt ihr denn so Wichtiges zu bereden?“

Neben Fiona raschelte es und eine Frau, die klein und dick war und auf den Namen Ariana hörte, sagte in etwas barschem Tonfall: „Wenn eine Frau zweimal Besuch von einem fremden, gut aussehenden Mann bekommt, ist es wohl nicht verwunderlich, wenn wir uns darüber unterhalten, oder nicht?“

Fiona lächelte.

„Ja, das habe ich mir gedacht. Und was vermutet ihr?“

„Wir vermuten das Übliche“, sagte die Dicke.

„Und das wäre?“

„Dass dein Mann gestorben ist, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Und deshalb vermuten wir, dass der Fremde nach einer angemessenen Zeit dich heiraten will. Aber was soll dann aus uns werden?“

„Ach“, sagte Fiona. „So weit seid ihr schon?“

„Ja, man muss die notwendigen Dinge schon einmal vorbesprechen.“

„Und wenn ich nun gar keine Absicht habe, das Angebot von Berward anzunehmen?“

Die Frauen blickten sie überrascht an.

„Ein wohlhabender Mann will dich heiraten und du lehnst ab?“

„Warum nicht?“, fragte Fiona zurück. „Meine Erfahrungen mit der Ehe waren nicht gerade überzeugend.“

„Das hast du aber nicht allein zu entscheiden“, fing eine andere Frau an. „Wenn du Witwe bist, hat dein Vater wieder die Vollmacht über dich. Und er wird nur froh sein, dich versorgt zu sehen.“

„O ja, er wird sich die Hände reiben und sich freuen, dass seine alte Tochter in geordnete Verhältnisse kommt und nicht in so einem Frauenhaufen endet.“

Ein paar der Frauen lachten. Jemand legte Holz nach und es wurde heller, als die Flammen an den Scheiten leckten.

„Glaubt mir“, fing Fiona an. „Ich habe keine Absichten zu heiraten. Und mein Vater wird mich nicht zwingen. Ihr kennt ihn nicht. Sicher, er hätte das Recht dazu. Aber – er liebt mich zu sehr, als dass er mich zwingen würde …“

„Oh“, sagte Angelika mit leiser Stimme. „Bei diesem Mann, der euch besucht hat, muss man nicht unbedingt unglücklich werden.“

Von den Bänken kicherte es.

„Genug!“, rief Fiona. „So schnell wird nicht geheiratet. Jetzt, wo wir unseren Orden gegründet haben, wäre es doch unsinnig, zu heiraten. Es gibt noch so viel zu tun …“

„Wir haben ja noch nicht einmal einen Namen!“

„Wie wär’s mit: Der Orden vom goldenen Zeichen?“, schlug die Dicke vor.

„Man müsste es lateinisch ausdrücken …“, sagte Fiona und überlegte. Schließlich fuhr sie fort: „Signum aurum – Das goldene Zeichen. Klingt nicht schlecht. Und wir könnten gleichzeitig Pater Conrad eins auswischen, der doch tatsächlich den dummen Ausspruch gemacht hat, dass nur männliche Gesichter glänzen können, wenn sie …“

„Wenn sie auf dem Abort sitzen und es kommt nichts“, sagte Thekla, eine pausbäckige Frau, die sich bisher an der Unterhaltung nicht beteiligt hatte.

Die Frauen prusteten los.

„Oder … oder wenn sie …“, rief eine dünne Stimme, und überschlug sich dabei, „wenn sie im Schweiße ihres Angesichtes Nachkommen zeugen!“

Das Lachen steigerte sich.

Fiona klatschte in die Hände. „Genug!“, rief sie. „Lasst uns zu Bett gehen.“

„Kannst du uns nicht noch eine Geschichte erzählen von deiner Sammlung heiliger Menschen?“

„Ja, Fiona! Bitte!“, kam es von allen Seiten.

Fiona überlegte. „Gut. Eine Geschichte.“

Die Frauen setzten sich zurecht. Eine legte ihren Kopf in den Schoß der anderen. Das Feuer war so weit heruntergebrannt, dass es sich nicht lohnte, noch ein Stück Holz daraufzulegen.

 

„Also hört her!“, sagte Fiona und fuhr fort: „Die Mägde der heiligen Anastasia waren drei Schwestern und sehr schön. Sie hießen: Agapete, Thionia und Irenia. Da sie durch die heilige Anastasia zu Christinnen geworden waren und von ihrem Glauben nicht abwichen, sperrte der römische Statthalter die Mädchen in einen Raum, in dem Küchengeräte aufbewahrt waren: Töpfe, Pfannen, Schöpfkellen, Kessel und andere Dinge.

Er hatte mit ihnen aber noch anderes vor. Er war ein sinnlicher Mann und wollte sich an den Mädchen vergreifen, denn sie waren, wie gesagt, sehr schön und anmutig. Tag und Nacht begehrte er sie. Endlich hielt er es nicht mehr länger aus, ließ die Tür aufschließen und betrat den Raum. Da standen die drei in ihrer unschuldigen Schönheit und starrten ihn an, in der Hoffnung, die Freiheit zu erlangen. Aber er versuchte mit süßen Worten sie zu überreden, damit sie ihn küssten und umarmten.

Sie wichen zurück, denn sie dachten, dass es beim Küssen und Umarmen nicht bleiben würde. Außerdem war der Statthalter klein und dick und schwitzte vor Aufregung …“

„Und wenn er groß und schön gewesen wäre … so wie Berward?“, rief eine vorwitzige Stimme dazwischen.

„Ruhe, Thekla“, zischten die anderen.

Jemand gluckste, aber Fiona ließ sich nicht beirren und fuhr fort:

„Wo war ich nur? Man verliert den Faden, wenn man unterbrochen wird.“

„Der Statthalter wollte sich auf die Mädchen stürzen!“

„Ja, richtig. Die Jungfrauen beteten, aber der Statthalter sah in ihnen weiterhin nur Objekte zur Befriedigung seiner eigenen Lust.

Da passierte etwas Ungeheures. In seiner blinden Begehrlichkeit griff er nach einem Besen und den Töpfen und dachte, die Küchengeräte seien die Jungfrauen. Er fing an, den Besen zu umarmen und die rußigen Töpfe zu küssen.

Wie erstarrrt standen die Mädchen in einer Ecke und schauten dem seltsamen Schauspiel zu und wie Gott ihr Flehen nach Schutz so seltsam erhört hatte.

Als der Statthalter seine Lust an den Küchengeräten gestillt hatte, stürmte er hinaus, ganz schwarz vor Ruß, mit zerrissenen Kleidern.

Die Diener, die draußen gewartet hatten und ihren Herrn in dieser seltsamen Aufmachung sahen, erkannten ihn nicht und glaubten nichts anderes, es sei ein Dämon, der aus der Kammer geflohen war. Sie griffen ihn, verprügelten ihn und ließen ihn draußen auf der Straße liegen.

So erhörte Gott, der Herr, das Gebet der seligen Mägde der heiligen Anastasia!“

Fiona stand auf: „Und nun, meine Schwestern. Eine gute Nacht!“