Winfried Thamm

Harras

Alles wird böse

© 2015

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1. Auflage Juni 2015

© 2015 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund

Verlag:
OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-gmbh.de

ISBN 978-3-942672-35-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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„Es ist schlimm, erst dann zu merken, dass man keine Freunde hat, wenn man Freunde nötig hat.“

Plutarch

(gr. Schriftsteller 45 – 125 n. Chr.)

Prolog

Henning Wennemann zog sich an, packte seine Tasche und ging vorsichtig, auf Krücken, auf den Flur. Das Laufen fiel ihm immer noch schwer. Seine Beine schmerzten.

Im Besucherraum, wo er auf seine Frau Helen warten wollte, sprach ihn ein Pfleger an, die Klinik habe aus Holland seine Segelhose nachgeschickt bekommen, leider völlig zerschnitten. Ob er sie trotzdem mitnehmen wolle. Er bejahte, bekam eine Plastiktüte ausgehändigt, nahm den Hosenfetzen heraus und durchsuchte die Taschen. Aus einer zog er eine zerknitterte und aufgequollene Visitenkarte heraus:

Anastasia Wirkunowa

Berliner Straße 6

45123 Essen

Telefon: 0201 – 73 72 71

E-Mail: stasia@t-online.de

Plötzlich wurden seine Knie weich. Er setzte sich und starrte auf die Karte. Dann ließ er sie in seiner Hosentasche verschwinden. In diesem Augenblick betrat Helen den Raum.

„Henning, ich bin so glücklich, dass du endlich nach Hause kommst.“

Sie hielten einander und küssten sich. Es sah sehr innig aus.

„Wo ist Karl? Wollte er mich nicht abholen?“, fragte er sie.

„Doch, eigentlich ja, aber ... es ist ... frag nicht. Dich erwartet eine Überraschung, okay?“, erklärte sie freudig.

„Da bin ich aber gespannt“, antwortete er gut gelaunt.

Sie verließen die Klinik, nicht ohne sich von der Stationsschwester Sabine, dem Pfleger Heinrich und dem behandelnden Arzt Dr. Dassler zu verabschieden und sich ausdrücklich zu bedanken. Sie setzten sich in den Passat Kombi und fuhren nach Hause.

Auf dem Weg schauten sie sich immer wieder an und lächelten sich zu, wechselten jedoch kaum ein Wort.

Henning brannte die Visitenkarte ein Loch in den Oberschenkel.

Helen parkte vor dem Haus, nicht in der Garage, zu eng für ihn und seine Krücken. Sie gingen auf die Haustür zu.

„Du wirst staunen, Henning!“, strahlte sie und schloss die Haustür auf. Karl kam den Flur entlanggelaufen. Henning ließ die Krücken fallen. Sein Sohn sprang ihm in die Arme, er konnte ihn halten ohne zu fallen und drückte ihn fest an sich.

„Papa, ich bin so froh, dass du wieder da bist!“, sagte Karl freudestrahlend.

„Ach Karl, ich auch. Nichts habe ich mir mehr gewünscht.“ Henning war ehrlich gerührt.

„Und jetzt die Überraschung!“, sagte Helen hinter ihm. „Rate mal, wer da ist?“

„Keine Ahnung. Dein Vater?“, war seine Antwort auf dem Weg zum Wohnzimmer. Seine Frau überholte ihn und stand in stolzer Haltung neben dem Sofa.

„Schau, dein Freund Harras. Ich habe ihn eingeladen. Und er hat seine Freundin mitgebracht. Darf ich vorstellen: Henning, mein Mann! Anna, Harras Freundin.“

Auf seiner Couch saßen: Harras und Stasia

Teil I

Alles wird gut

„Freundschaft ist wie Heimat“

Kurt Tucholsky

Kapitel 1

Misslungene Überraschung

Wie einen arktischen Strom spürte er die Angst durch seinen Körper fluten, als er Harras und Stasia erblickte. Sie schwemmte jede Farbe aus seinem Gesicht und sog ihm alle Kraft aus den Knochen, sodass er seitlich wegknickte und zu fallen drohte. Jegliche Empfindung war vereist. Nur seine Angst strahlte kalt.

Harras fing ihn auf, bevor er fiel. Auch Stasia war aufgesprungen. Henning machte sich von Harras los und ließ sich von Helen zu seinem großen Lesesessel führen. Vorsichtig setzte er sich hin und atmete hörbar aus.

„Ja, so ganz der Alte bin ich noch nicht, wie man sieht“, sagte er ernst.

„Das wird schon wieder, Schatz, Hauptsache, du bist erst mal zu Hause. Alles wird gut!“, lächelte Helen und spürte sofort, welchen Schwachsinn sie da von sich gab. Sie wandte sich ab vor Scham.

Harras und Stasia standen verloren im Raum und wussten nicht, wohin mit ihren Blicken. Nur Karl war bei sich, lief zu seinem Vater und sagte: „Papa, wir haben dich sooo viel vermisst“, und breitete seine Arme so weit aus, wie er nur konnte.

„Ja, ich euch auch. Na, komm mal her, kleiner Mann“, sagte er und nahm ihn vorsichtig auf den Schoß. Karl legte den Kopf an seine Brust und spielte mit den Knöpfen an seinem Hemd. Seine Nähe taute Hennings Angst mit jedem Atemzug.

„Nehmt Platz, meine Lieben, willkommen in meinem Haus. Steht der Champagner hier auf dem Tisch nur zur Dekoration?“, versuchte Henning einen schalen Scherz.

Stasia setzte sich auf die Sofakante, wie eine Novizin zur Beichte bei der strengen Mutter Oberin. Helen und Harras stießen peinlich zusammen, als sie beide zum Champagner griffen. Sie überließ ihm schließlich das Einschenken und sagte: „Entschuldige Henning, ich bin ein bisschen durcheinander. Dein …, ja, was war es, … Schwächeanfall hat mich ein bisschen erschreckt. Also, es ist schön, dass du wieder da bist, ich finde keine Worte dafür.“

Sie ging zu ihm, setzte sich auf die Sessellehne, ihr Gesicht ganz nah an seinem. Sie fuhr ihm durchs Haar, über die Schläfe und Wange und küsste ihn ganz zart, ganz warm, ganz sacht. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr dumm. Henning nahm sie in die Arme, roch ihr Haar, spürte ihre Wärme und einen Hauch von Glück.

„Wenn ihr jetzt hier rumknutscht, gehe ich besser auf mein Zimmer, darf ich?“, fragte Karl.

„Klar. Du musst eh von meinen Beinen runter, die halten noch nicht so viel aus.“

Harras hatte die Gläser gefüllt und reichte sie den anderen.

„Auf dich, mein Freund, dass du bald wieder der Alte bist.“

Sie prosteten sich zu und tranken.

„Du hast dich bestimmt gewundert, uns beide hier anzutreffen“, fuhr Harras fort.

„Das kannst du wohl sagen“, unterbrach ihn Henning. „Was wollt ihr eigentlich hier? Einen Asylantrag stellen. Oder Familienanschluss? Soll ich euch adoptieren?“ Hennings Tonfall war weit davon entfernt zu scherzen.

„Du wolltest nicht, dass ich dich im Krankenhaus besuche. Deshalb bin ich jetzt hier. Ich wollte dich sehen. Ich wollte dir sagen, wie unendlich leid mir das alles tut. Und ich wollte dich bitten, mir noch eine Chance zu geben“, erklärte sich Harras. Seine Bitte lag auch in seinem Blick. Seine Finger rangen miteinander.

„Ich höre immer nur: Ich wollte, ich wollte, ich wollte ... Ich wollte dich nicht mehr sehen. Das zählt wohl gar nicht?! Bitte geht jetzt. Harras, lass uns später darüber reden. Ja, ich glaube, das kann ich dir nicht verwehren. Ich muss mich jetzt ausruhen.“

Harras und Stasia standen auf und schlichen hinaus wie geprügelte Hunde. Auf dem niedrigen Couchtisch blieb eine Visitenkarte zurück von Hans-Joachim Stelzer mit Adresse, E-Mail-Adresse, Festnetz- und Handy-Nummer. Auf der Rückseite stand in krakeliger Handschrift: Harras (Dein Freund).

„Das hatte ich mir anders vorgestellt mit meiner Heimkehr“, sagte Henning mit einem Seitenblick auf Helen.

Sie setzte sich wieder auf seine Lehne strich ihm durchs Haar und sagte: „Ja, du hast recht. Verzeih. Ich hätte ihm nicht erlauben sollen zu kommen. Aber er hat so gebettelt. Da konnte ich nicht Nein sagen. Du weißt ja, wie er ist. Aber kannst du ihm nicht noch eine Chance geben? Er hat viel falsch gemacht, aber doch nicht mit Absicht. Oder glaubst du das immer noch? Eigentlich ist er doch ein netter Kerl. Und eine arme Wurst.“

„Nein, das glaube ich jetzt nicht mehr. Er tut mir nicht gut. Das waren übrigens deine Worte, Helen. Das weißt du.“

„Ja, das habe ich mal gesagt. Aber jetzt sehe ich das anders. Er hat mir sehr geholfen in letzter Zeit, besonders mit Karl. Ja, ich habe ihn schätzen gelernt.“

„Hoffentlich nicht lieben“, grinste Henning.

„So gefällst du mir schon besser“, lachte sie und gab ihm einen Klaps. „Hast du Hunger? Ich mach was.“

„Prima, ich gehe mal zu Karl. Der will mir bestimmt ganz viel zeigen und erzählen.“

Henning spielte mit Karl, bis das Essen fertig war. Dann aßen sie gemeinsam. Karl erzählte von der Schule, von seinen Freunden und vom Fußballverein. Nach dem Essen brachte Henning Karl zu Bett und las ihm eine Seeräubergeschichte vor. Dann nahm er ihn in den Arm und küsste ihn auf die Wange: „Es ist so, so gut, dass es dich gibt, Karlchen.“

„Ich hab dich lieb, Papa“, strahlte er seinen Vater an.

Henning spürte, dass er noch nicht richtig angekommen war, zu Hause, in seiner Familie. Karl war ihm ein Trost. Aber wieso brauchte er ihn, diesen Trost? In sich spürte er eine ungewisse Trauer, als sei jemand, den er liebte, nicht mehr da. Zwischen ihm und Helen war eine Distanz, wie eine Panzerglasscheibe. Er konnte sie sehen, sehnte sich nach ihrer Nähe, erreichte sie aber nicht. Der Kuss vorhin hatte gut getan, er hatte ihn aber nicht geschmeckt.

Langsam stelzte Henning die Treppen hinunter – die Beine taten ihm weh – und setzte sich wieder in seinen Sessel. Helen nahm auf dem Sofa Platz. Beide hatten ein Glas Rotwein vor sich.

Sie berichtete ihm das Neueste aus dem Institut: Zwei kleinere Kunden seien abgesprungen. Sie ständen kurz vor der Pleite. Aber das Honorar von der letzten Fortbildung hätten sie noch bekommen. Ansonsten lief der Laden wie immer. Eine Menge Büroarbeit sei liegen geblieben. Das Dringendste habe sie mit Walter, seinem Organisationsleiter und Stellvertreter, weggearbeitet, aber an einige Verträge und Entscheidungen hätten sie sich nicht herangetraut, ohne ihn.

Helen trank einen Schluck von ihrem Wein und wechselte das Thema: „Henning, das mit Harras will ich dir erklären. Er war in letzter Zeit häufiger hier. Wir haben viel über diese schreckliche Geschichte geredet. Ihm tut …“

„Helen, warte mal!“, unterbrach sie Henning. „Das ist mir jetzt alles zu viel. Jedenfalls war diese“, er lachte freudlos, „Überraschung keine gute Idee. Und dann bringt er auch noch diese Stasia mit. Die hat mit allem doch gar nichts zu tun.“

„Wieso Stasia? Ich denke, sie heißt Anna?“, warf Helen ein.

„Sie heißt Anastasia. Ich kenne sie von einer Fete bei Harras. Da hat er sie noch Stasia genannt. Was das soll, weiß der Himmel. So, und jetzt muss ich ins Bett.“

„Ja, Schatz, ich helfe dir.“

„Lass mal, ich muss langsam wieder auf eigenen Beinen stehen, im wahrsten Sinne des Wortes.“

Sie lagen im Bett, seine Schulter in ihrem Arm, sein Kopf an ihrer Brust, sein Arm auf ihrem Bauch, sein Bein zwischen ihren beiden. Ein schönes Bild. Doch nichts war schön. Alles wird gut. Der dumme Satz von Helen am Nachmittag. Er weinte lautlos. Sie spürte es, sagte aber nichts. Es gab nichts zu sagen. Auch nicht zu tun. Sie schwiegen sich in den Schlaf.

Kapitel 2

Der erste Tag zu Hause

Helen stand wie immer um sieben Uhr auf, um Karl das Frühstück zu machen, die Schulbrote zu schmieren und ihn gut in den Tag zu bringen. Dann frühstückte sie selbst, schaute kurz in die Zeitung. Sie wollte um neun in der Buchhandlung ihres Vaters sein, in der sie zwei- bis dreimal in der Woche arbeitete. Später, wenn Karl älter war und ihr Vater nicht mehr so konnte, wollte sie den Buchladen übernehmen, aber noch war ihr alter Herr fit genug. Bevor sie aufbrach, schrieb sie für Henning eine kurze Nachricht und legte sie auf den Küchentisch.

Sie warf sich ihren Trenchcoat über, griff ihre Tasche und mit der anderen Hand wählte sie Harras’ Nummer auf ihrem Handy.

„Hey, Helen“, meldete er sich.

„Deine Aktion gestern war ja wohl gar keine gute Idee. Das hab ich dir doch im Voraus gesagt. Henning war ganz fertig.“

„Ja, klüger ist man hinterher immer. Aber was willst du? Er hat mich nicht für immer und ewig aus seinem Leben geschmissen, sondern will mit mir reden. Wollte ich mehr?“

„Du kannst so schäbig sein. Den ganzen Abend hast du versaut. Zählt das nicht?“

„Ja, das tut mir leid“, sagte er wenig überzeugend, „aber damit habe ich nicht gerechnet.“

„Und warum hast du deine neue Flamme, diese Anna, mitgebracht, die ja eigentlich Stasia heißt?“

„Also, das muss ich dir erklären. Erstens heißt sie Anastasia, da sind ja wohl beide Kürzel nachvollziehbar. Zweitens nennen sie alle zwar Stasia, ich aber Anna, weil ich nun mal ein besonderes Verhältnis zu ihr habe. Das verstehst du doch hoffentlich. Dass ich sie mitgenommen habe, liegt daran, dass eben diese, nennen wir sie Stasia, mit Henning in einem Jazz-Klub einen kleinen, aber sehr netten Spontan-Auftritt hatte. Er hat Klavier gespielt und sie dazu gesungen. Das hatte ihm viel Spaß gemacht und daran sollte er sich gestern erinnern. Das war also nur gut gemeint. Ach, Helen, das passiert mir mit Henning so oft. Ich meine was gut und es geht daneben.“

„Das war wirklich alles? Du verschweigst mir nicht noch irgendwas?“, fragte sie nach.

„Nein, glaub mir. Du traust mir doch, oder?“

„Ja, ja, ist schon gut. Und bevor Henning mit dir gesprochen hat, lässt du dich bei uns nicht blicken, versprochen?“

„Versprochen, großes Indianer…“

„Lass deine Karl-May-Kindereien und …“, das klang schon versöhnlicher, „schöne Grüße von Karl. Du bist für ihn ein Held.“

„Och, nicht für dich?“, flachste er.

„Nee, erst wenn du mit Henning wieder im Reinen bist. Ciao und hab Geduld.“

Während des Gesprächs hatte sie im Auto gesessen, ohne losgefahren zu sein. Sie hasste diese unkonzentrierten, telefonierenden Autofahrer, die vielleicht irgendwann ihren Karl übersehen würden, nur weil … Daran durfte sie gar nicht denken. Wer Kinder hat, hat immer Angst.

Dann gab sie Gas. Ihr Vater wartete schon.

Henning wachte erst gegen elf Uhr auf. Die Schmerzen in seinen Beinen hatten ihn geweckt. Er quälte sich aus dem Bett und machte die gymnastischen Übungen, die sein Physiotherapeut ihm gezeigt hatte. Die Muskeln wurden geschmeidiger, die Bewegungen fließender und die Schmerzen verschwanden. Er ging unter die Dusche und fühlte sich wach und agil.

Als er in die Küche kam, fand er Helens Zettel auf dem Tisch: Sie sei im Buchladen und gegen zwölf wieder zurück. Er warf die Espressomaschine an, machte sich einen Cappuccino, fütterte den Toaster mit zwei Scheiben, stellte Butter, Wurst und Marmelade auf den Tisch. Ihm ging es gut und er freute sich auf sein erstes ausgiebiges Frühstück zu Hause.

Dann verabredete er um 14 Uhr ein Treffen mit Walter. Er solle die wichtigsten Unterlagen mitbringen. Nein, er komme nicht ins Institut, er dürfe noch nicht Auto fahren.

Anschließend fuhr er den Laptop hoch und checkte seine E-Mails. Einige Kunden fragten nach Terminen für Verhandlungen über neue Verträge und wünschten ihm gute Besserung. Eine lange Liste von Mails fand er von alten und neuen Freunden und deren Familien, die fragten, wie es ihm ginge und wann man sich endlich wiedersehen würde. Henning war gerührt wegen dieser herzlichen Anteilnahme. Er beantwortete sie alle, zum Teil recht ausführlich und lud gleich seine Freunde aus der Nachbarschaft zu einer Wiedersehensparty in drei Wochen ein. Seinen alten Freundeskreis wollte er zu seinem Geburtstag bei sich versammeln. Der nächste Samstag war reserviert für seine Mitarbeiter. Einerseits musste er wieder auf den neuesten Stand gebracht werden, andererseits war es ihm wichtig seinen Leuten deutlich zu zeigen, wie sehr er sich darüber freute, wie engagiert sie den Laden geführt hatten, während seiner Abwesenheit. Es war an der Zeit ihnen dafür zu danken, mit einem netten Abend bei guten Essen und noch besserem Wein. Auch Helens Einsatz wollte er an diesem Tag herausstellen.

In diesem Moment hatte er das Gefühl, das Leben habe ihn wieder.

Henning Wennemann war mittelgroß, also knapp über eins achtzig, hellblond und stämmig gebaut, immer auf der Hut, ja nicht dick zu werden. In diesem Herbst würde er 43 Jahre alt werden und sein Sohn Karl acht. Seine Frau Helen, fast so groß wie er und fast so blond, lernte er vor zwölf Jahren auf einem Jazzfestival kennen, als er selbst noch an den Tasten saß, als Pianist seiner Combo „Bar-Jazz-O“. Helen war fünf Jahre jünger als Henning, trug ihr Haar mittellang und hatte eine schlanke, weibliche Figur mit breiten Hüften und vollem Busen. Helen und Henning, das war ein Paar wie der Sound ihrer beiden Namen. Das klang nach Swing und Harmonie. Obwohl Henning nie bewusst einen Wunsch nach Kindern verspürt hatte, war Karl nur die logische Folge aus ihrer so selbstverständlichen und klaren Liebe. Hätte man sie gefragt, hätten beide nicht gewusst, wann sie das letzte Mal im Streit aneinandergeraten waren. So war es zumindest, bevor Harras wieder in Hennings und dann auch in Helens Leben trat. Nachdem Henning sein Studium als Lehrer abgeschlossen hatte, schwappte über ihm die Lehrerschwemme zusammen und spie ihn aus in die Arbeitslosigkeit. Ein paar Jahre hatte er versucht von seiner Jazz-Musik zu leben, was ihm aber nur wenig Ruhm und ewig leere Taschen einbrachte. Nach einigen Fortbildungsmaßnahmen vom Arbeitsamt entschied er sich ein Unternehmensberatungsbüro zu gründen, das mittleren Betrieben und sozialen Trägern im Bereich der Personalführung und des Betriebsmanagements auf die Sprünge half. Ein kleines, aber frei stehendes Haus am Rande des Siepentals in Essen-Bergerhausen konnte er fast sein Eigen nennen, mit Garten und Baumhaus für den kleinen Karl. Das Zentrum seines Lebens war seine Familie, seine Firma und seine Freunde. Seine Musik war auf das Gerippe eines gelegentlichen Hobbys abgemagert. Gelegentlich, ein paar, Sweet Georgia Brown‘ oder ,Lady Be Good‘, wenn Freunde da waren und der Wein nostalgisch machte. Sonst war keine Zeit für Jazz.

Kapitel 3

Mails

Von: H. Wennemann: hennwenn@web.de

An: H. J. Stelzer: harras@gmx.com

wir treffen uns am 24.08. um 20.00 h im stilbruch in steele, vorher keine zeit.

wenn du vorher aufkreuzt oder am o.g. termin nicht erscheinst, war’s das.

henning

Von: H. Wennemann: hennwenn@web.de

An: S. Wirkunowa:stasia@t-online.de

hallo stasia,

ich will nur wissen, ob diese e-mail-adresse noch aktuell ist, dann mehr.

henning

Von: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

An: H. Wennemann: hennwenn@web.de

hallo henning,

ja, ist sie, wie du siehst. was willst du?

st.

Von: H. Wennemann: hennwenn@web.de

An: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

das fragst du mich? was sollte dieser auftritt gestern bei mir?

Von: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

An: H. Wennemann: hennwenn@web.de

frag harras, hat mich gezwungen mitzukommen.

Von: H. Wennemann: hennwenn@web.de

An: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

bist du jetzt wirklich mit ihm zusammen?

Von: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

An: H. Wennemann: hennwenn@web.de

na ja sieht so aus oder?

Von: H. Wennemann: hennwenn@web.de

An: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

wie meinst du das?

Von: S. Wirkunowa: stasia@t-online.de

An: H. Wennemann: hennwenn@web.de

frag harras

Kapitel 4

Wiedersehen mit seiner Crew

Die Tage gingen dahin und für Henning, Helen und Karl wurde das Familienleben langsam wieder normal. Henning machte täglich seine Übungen und hatte drei feste Termine in der Woche, an denen er sich zu seinem Physiotherapeuten fahren ließ, der ihn dann streckte, drehte und massierte. Danach fühlte er sich immer wie neu und gleichzeitig total müde.

Dann kam der Samstag, zu dem Henning seine Mitarbeiter eingeladen hatte. Um nicht am Abend noch in der Küche hantieren zu müssen, hatten sie sich für ein kaltes Büffet entschieden, das auf Hennings Wunsch sehr fischlastig ausgerichtet war:

Sie kredenzten Graved Lachs, ebenso geräucherte Forellen- und Makrelenfilets, dazu eine selbst gemachte Aioli, einen Matjessalat aus „nieuwe haring“ vom Holländer in Rüttenscheid, mit Zwiebeln, Apfelstücken und Cornichons in einer Joghurt-Sahnesoße und Gambas an Meerrettich-Sahne. Dazu gab es einen großen frischen Salat mit Pesto-Croûtons und Pinienkernen und reichlich Fladenbrot vom Türken auf der Steeler Straße. Für Banausen, die all diese fischigen Köstlichkeiten nicht zu schätzen vermochten, hatte Helen noch ein paar Mini-Frikadellen von Aldi besorgt.

Um acht waren alle da:

Walter begrüßte Henning mit einer kräftigen Umarmung, groß und robust, wie er war und wie immer komplett in schwarze Lederhose und Lederjacke gehüllt, darunter irgendein T-Shirt, meist mit einem Bandnamen bedruckt. Mit Helen ging er bei seiner Begrüßung weitaus vorsichtiger um. Ein Colani-Bart schmückte sein Gesicht und ein Pferdeschwanz bändigte sein langes, schwarzes Haar. Er wirkte wie Dennis Hopper in „Easy Rider“, hatte aber nur wenig mit Rockmusik am Hut, außer den Stones. Er war ein äußerst filigraner Jazzdrummer und hatte lange mit Henning zusammen Musik gemacht. Sie kannten sich aus dem Lehramtsstudium. Beide hatten sie das erste Staatsexamen an der Uni Essen abgeschlossen. Während Henning auch das Referendariat absolvierte, brach Walter es ab und ließ sich vom Arbeitsamt in einer Umschulung zum „Managementassistenten“ ausbilden, was auch immer das sein sollte. Als Henning keine Lehrerstelle bekam und beschloss, sein Institut zu gründen, war Walter gerade arbeitslos und stieg bei ihm ein. Nach Henning war er der zweite Mann im Geschäft, weil Henning über das Startkapital verfügte.

Gabi war Anfang fünfzig, dürr und verhuscht. So tüpfelte sie Henning einen schnellen und schüchternen Kuss auf die Wange und nahm gleich wieder Abstand. In einem Retro-Hippie-Kleidchen stand sie da und fummelte an ihrer Handtasche. Sie war die Personalabteilung und das Schreibbüro, kümmerte sich um Lohnabrechnungen, Krankmeldungen, Überweisungen und den ganzen Schreibkram.

Peter und Paul waren so dermaßen schwul, dass es kaum auszuhalten war. Dazu waren sie auch noch das Klischee-Schwulen-Paar an sich. In ihren schrillen Hawaiihemden und mit ihren strähnchenblonden Stehhaarfrisuren stürmten sie auf Henning zu, dass er Angst hatte, nach der Begrüßung wieder in die Klinik zu müssen. Doch im Job waren sie Profis. Peter war Psychologe und zuständig für die Personalführungs-, Motivations- und Supervisionsseminare. Paul als Betriebswirt deckte die Firmenorganisation und die Zertifizierung ab, also das, was man gemeinhin Qualitätssicherung nannte. Doch wenn die beiden gerade eine Beziehungskrise durchlebten, war ihr Zickenalarm nicht zu ertragen.

Der rief dann Eva auf den Plan. Sie konnte traumhaft deeskalieren. Jetzt herzte sie Henning zur Begrüßung heftig unter den skeptischen Blicken von Helen. Denn Eva war einfach süß, und so sah sie auch aus. Mit ihrem Herzgesicht, der Stupsnase und dem Grübchenlachen, mit dem schwarzen, knappen Stretchrock, darüber ein schulterfreies, rotes Etwas und mit ihrer Mädchenfigur wirkte sie wie zweiundzwanzig, war aber Anfang dreißig. Sie war ausgebildete Ergotherapeutin, zertifizierte Yogalehrerin und gab Seminare für Meditation, Gesundheit am Arbeitsplatz und Deeskalationsstrategien. Nebenbei schrieb sie an ihrer Doktorarbeit in Philosophie über Kant und Konfuzius oder so ähnlich. Sie war ein Bündel an Energie und Intelligenz im Körper einer ewigen Kindfrau und wurde gerne wegen ihrer entspannten Grundhaltung bei schwierigen Kunden eingesetzt.

So standen sie alle da mit ihren Sektflöten und freuten sich, dass ihr Chef wieder auf dem besten Weg war. Henning ergriff das Wort:

„Liebe Leute, ich bin so froh euch wiederzusehen. Und das scheint ja nach dieser Begrüßung nicht ganz einseitig zu sein. Zuerst will ich euch danken für euren Einsatz. Denn das Geschäft habt ihr ausgezeichnet am Laufen gehalten, ohne mich. Walter hat mich im Einzelnen über die aktuelle Situation informiert. Und abgesehen von kleinen Verlusten am Kundenstamm, die aber nichts mit eurer Arbeit zu tun haben, habt ihr eure Sache so vorzüglich gemacht, dass ich mir fast überflüssig vorkomme. Eigentlich könnte ich Walter den Laden übergeben und angeln gehen. Aber ich finde angeln langweilig und Walter würde mehr Gehalt wollen. Und wenn Walter mehr bekäme, wolltet ihr auch mehr. Und schon wäre der Laden pleite. Bevor ich weiteren Quatsch erzähle, lasst uns setzen und essen und trinken und plaudern. Schön, dass ihr da seid. Ihr seid super!“

Alle klatschten, johlten und herzten sich. Es hatte etwas von Kindergeburtstag.

So langten sie zu, die Mitarbeiter des IFuM (Institut für Fortbildung und Management) und ihr Chef, der ihnen wie ein Freund war. Sie lobten das Fischbüffet, redeten über Kunden und Job, über Gott und die Welt und hatten Fragen über Fragen an Henning zu seinem Unfall, die Verletzungen und die Zeit im Krankenhaus.

So berichtete Henning, dass er mit seinem guten alten Freund Harras auf einem Segeltörn in Holland auf dem Ijsselmeer war, als der Unfall passierte. Abends war Harras auf die Idee gekommen zu einem Nachttörn hinauszufahren. Während der Fahrt hat der Wind mächtig aufgefrischt und die See war immer kabbeliger geworden. Harras hat sich nicht davon abhalten lassen, seinen alten starken Rum zu trinken. Darüber waren sie in Streit geraten und Harras war an der Reling herumgeturnt, um Henning zu provozieren. Bei einer heftigen Welle war er dann über Bord gegangen. Henning hat es jedoch geschafft, ihn wieder herauszufischen. Bei der Aktion hat sich ein Seil am Ruder gelöst und der Wind hat daraufhin in das Großsegel gegriffen und ihm mit aller Macht den Baum gegen die Beine geschlagen, sodass er in die Reling geschleudert wurde. Das Ergebnis waren diverse zum Teil komplizierte Bein- und Rippenbrüche, die ihm fast drei Monate Klinikaufenthalt eingebracht hatten. Seitdem war seine Freundschaft zu Harras nicht mehr die intensive und vertrauensvolle, die es einmal war. Ob sie beide es hinkriegten, mit sich wieder ins Reine zu kommen, stehe in den Sternen. Den wahren Grund ihrer Auseinandersetzung behielt er für sich, genauso wie den Eindruck, Harras habe das Seil vom Ruderrad absichtlich gelöst. Dessen war er sich keineswegs sicher. Eigentlich glaubte er es auch nicht, wollte es nicht glauben.

Als Henning seine Schilderung beendet hatte, sagte Eva: „Den würde ich mit dem Hintern nicht mehr angucken. Dieses Arschloch, besäuft sich, turnt auf dem Boot rum und lässt sich dann von dir wieder rausfischen. Du hast ihm quasi das Leben gerettet und wirst mit so einem Unfall betraft. Hätte er nicht gesoffen und geturnt, wäre das alles nicht passiert.“

„Ja, so habe ich das zuerst auch gesehen und im Krankenhaus hatte ich ja genug Zeit über alles gründlich nachzudenken. Ich wollte ihn eigentlich auch nicht wiedersehen. Aber als ich nach Hause kam, saß er auf meinem Sofa und bat um Verzeihung. Ich habe ihn erst mal rausgeworfen, aber reden muss ich schon noch mit ihm. Das bin ich ihm schuldig“, erwiderte Henning.

„Schuldig ist er dir alles, du ihm nichts. Du bist zu gutmütig, Henning“, warf Walter ein.

„Na ja, schau’n wir mal. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehe“, beendete er das Thema.

Nach Mitternacht brachen sie auf, alle zusammen, wie das oft ist, wenn einer den Anfang macht.

„Das war ein richtig schöner Abend, Helen. Ich merke, ich komme gut wieder rein, in die Firma und in den Alltag und überhaupt. Die Welt hat mich wieder. Schön.“

Henning lächelte Helen an, sie nahm ihn in den Arm: „Ja, Schatz, es renkt sich alles wieder ein. Vielleicht auch das mit Harras und dir. Es wäre euch zu wünschen.“

Im Schlafzimmer zogen sie sich aus, ohne sich dabei aus den Augen zu lassen. Standen sich gegenüber, küssten sich hastig, tief, gierig, bissig. Stießen ihre Körper aneinander, umarmten, rangen eher, fielen aufs Bett und übereinander her. Schnell, hart, lüstern, konzentriert, freudlos, geil, kurz und schmerzhaft. Als es vorbei war, drehten sie sich voneinander weg und schwiegen.

Nach einer Unendlichkeit fragte Helen: „Was war das gerade?“

„Was meinst du mit ‚das‘?“

„Das weißt du genau!“

„Gier, lange Abstinenz, Unsicherheit? Weiß nicht.“

„Es war so entsetzlich lieblos!“

„Na ja …“

„Findest du das nicht schlimm?“

„Schlimm, wieso, ich meine, beim nächsten Mal …“

„Nein, dass wir überhaupt …“, ihre Stimme bröckelte.

„Ach Schatz, komm, wir kriegen uns schon wieder“, sagte Henning beruhigend und nahm sie in den Arm. Doch noch nie war er ihr so fern gewesen wie jetzt.

Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, fühlte seinen Brustkorb atmen und sein Herz schlagen, als sei es ein fremdes.