Für Molly
Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Röder
ISBN 978-3-492-98209-2
Juni 2015
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
© 2008 Kate Summerscale
Titel der englischen Originalausgabe: »Zugzwang« bei Bloomsbury Publishing Plc, London 2007
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Finchen/shutterstock.com
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1.e4 c5 2.Sc3 Sc6 3.g3 g6 4.Lg2 Lg7 5.d3 d6 6.Sge2 e5 7.h4 h5 8.Sd5 Sce7 9.Sec3 Sxd5 10.Sxd5 Le6 11.c4 Lxd5 12.cxd5 Lh6 13.b4 Lxc1 14.Txc1 b6 15.Lh3 Sh6 16.Dd2 Kf8 17.0–0 Kg7 18.f4 exf4 19.Txf4 Te8 20.Db2+ Te5 21.bxc5 bxc5 22.Txc5 g5 23.hxg5 Dxg5 24.Tc2 Kh7 25.Tg2 Tg8 26.Df2 De7 27.Tf6 Kg7 28.Tf4 Kh7 29.Lf5+ Sxf5 30.Txf5 Txf5 31.Dxf5+ Kh6 32.Df4+ Tg5 33.g4 hxg4 34.Txg4 Kh5 35.Tg2 Txg2+ 36.Kxg2 Dc7 37.Df5+ Kh6 38.Df6+ Kh7 39.Kg3 Kg8 40.Kh4 Db6 41.Kh5 Kf8 42.Kh6 Ke8 43.Kh7 Dc5 44.Dg7 Ke7 45.Dg5+ Ke8 46.Kg8 Dc7 47.Dh6 De7 48.Dg7 a6 49.a3 a5 50.a4 Kd8 51.Df8+ De8 52.Kg7 1–0
Schachkenner werden merken, dass die Partie auffallende Ähnlichkeit mit King–Sokolow, Schweiz 2000, hat.
An einem rauen Märzmorgen wurde O. V. Gulko, der Herausgeber einer liberalen Zeitung, auf der Uferstraße der Moika nahe der Polizejski-Brücke von zwei Männern angesprochen. Zeugen berichteten der Polizei später, dass der Größere der beiden Gulko aufgeregt zu schelten schien und dass Gulko, der sich offenbar körperlich bedroht fühlte, unruhig wurde und der ungewollten Aufmerksamkeit zu entkommen suchte. Dieser junge Mann zog ein Messer und sein Kamerad einen Revolver. Ein Schuss wurde abgefeuert.
Gulko fiel nicht dramatisch zu Boden, sondern sank dem Bericht desselben Zeugen zufolge in eine sitzende Haltung, wie jemand, der eine Mattigkeit verspürt und sich auf den Boden setzt, damit sich seine Sinne wieder beleben können, nur dass in diesem Fall ein großes Loch in Gulkos Unterleib klaffte und der gefrorene Schnee, auf dem er saß, voller Blut war.
Der Angreifer mit dem Revolver rannte davon, vielleicht weil er seine Arbeit als erledigt betrachtete, wohl eher jedoch, weil er die Nerven verlor. Wenn dem so war, dann war sein Kamerad aus härterem Holz geschnitzt oder zumindest mitleidsloser. Er trug Arbeitsstiefel, einen langen Ledermantel und eine Astrachanmütze – eine beliebte Mode unter den Studenten der Stadt, die ihrem Äußeren einen revolutionären Anstrich geben wollten. Die Vorbeigehenden erholten sich nun langsam von dem anfänglichen Schrecken, der sie hatte erstarren lassen, doch bevor sie dem Verwundeten zu Hilfe kommen konnten, machte sein Angreifer einige hysterische Gebärden. Dann floh er und verdankte sein Entkommen seiner jugendlichen Kraft und Gewandtheit, dem Gedränge auf dem Newski-Prospekt und der Beklommenheit, die unter solchen Umständen in der menschlichen Natur liegt.
Das Affektierte in der Kleidung der Mörder führte zu Spekulationen, dass Gulko von einer der sogenannten Kampfgruppen der Partei der Sozialrevolutionäre gemeuchelt worden war. Doch wenn das stimmte, was war dann der Grund? Sicher, die Kampfgruppen waren tatkräftig und unberechenbar, doch um Gulko, der wahrlich kein Freund der Autokratie war, als Feind zu brandmarken, den es zu schlagen galt wie die Amalekiter, hätte es einer Logik bedurft, die selbst für diese fanatischen Köpfe einen Grad zu verschroben gewesen wäre. Der Verdacht fiel auch auf jene andere fanatische und unberechenbare Macht, die Schwarzen Hundert, aber obgleich Gulko Jude war, so war er doch kaum ein richtiger, ebenso wenig wie ich. Andere munkelten, ein deutscher Geheimagent oder ein eifersüchtiger Ehemann habe ihn ermordet. Doch in Wahrheit hatte niemand die leiseste Ahnung von der Identität oder den Motiven der Mörder, und da Ungewissheit für die Gerüchteküche dasselbe ist wie Essensduft für den hungrigen Magen, redete ganz St. Petersburg von kaum etwas anderem – jedenfalls so lange, bis sich das nächste Spektakel ereignete, auf das die Menschen ihre Aufmerksamkeit verschwenden konnten.
Dieses erreichte St. Petersburg pünktlich in Form des sensationellen Großmeisterturniers im Schach, ein glanzvolles Ereignis, das im Ballraum von P. A. Saburows prächtigem Haus am Liteini-Prospekt ausgetragen werden sollte. Zu den berühmten Stiftern des Wettbewerbs, deren Freigebigkeit die üppigen Antrittsgelder und die noch üppigeren Preise zu verdanken waren, gehörte der Zar höchstpersönlich, der tausend Rubel für den Preisfonds zeichnete. Tausende zahlten, um zugegen sein und ihren Helden zusehen zu können. Als leidenschaftlicher Amateurspieler wäre ich in jedem Fall hingegangen, um mir die Partien anzusehen, vorausgesetzt, meine Zeit hätte es erlaubt. Doch es gab noch einen weiteren Grund für mein Interesse. Awrom Chilowicz Rozental, dieser melancholische, scheue Mensch, befand sich seit kurzem in meiner Behandlung. Rozental, zu jener Zeit zweiunddreißig Jahre alt und auf der Höhe seines Könnens angelangt, war der klare Favorit. 1909 hatte er Lasker besiegt, 1911 Capablanca. Das Jahr 1912 gehörte ihm allein: Seine spektakuläre Siegesserie in San Sebastian, Bad Pistyan, Breslau und Warschau machte ihn zu einer der größten Berühmtheiten seiner Zeit. Seine Introvertiertheit ließ ihn nur noch geheimnisvoller scheinen. In ganz Europa luden Prinzen ihn in ihre Paläste ein, Gentlemen in ihre Clubs und elegante Damen zu ihren Dinnerpartys. Zu dieser Zeit hatte sein Spiel – ich weiß, für jene, die Schach nicht lieben, mag das lächerlich klingen, doch ich stehe zu meinem Vergleich – etwas von der entschlossenen, organischen Schlichtheit eines Klarinettenkonzerts von Mozart, der klassischen Linien von Quarenghi oder des eleganten Flugs des Zwergschwans, wenn er auf seiner Reise in den Süden den Lagodasee überquert.
Tragischerweise jedoch wurde Rozentals Genie von einer akuten psychischen Labilität getrübt. Bei unserem ersten Treffen, das ein gemeinsamer Freund, der namhafte polnische Geiger R. M. Kopelzon, arrangiert hatte, entschuldigte sich Rozental für seine bloße Anwesenheit in meinem Büro und erklärte, er sei für seine Mitmenschen absolut unerträglich. Zu Blickkontakten war er nicht imstande, stattdessen schaute er sich suchend um und kratzte sich mit schnellen, neurotischen Bewegungen den Kopf.
»Sehen Sie etwas?«, fragte ich.
Er schaute mich kurz an, als wüsste er nicht genau, wo er war, bevor sein Blick wieder von einer Ecke in die andere zuckte.
Kopelzon bat mich inständig, Rozental das seelische Gleichgewicht zu verschaffen, das er für die Teilnahme an dem Wettbewerb brauchte. Ich zögerte, denn mein neuer Patient stand augenscheinlich kurz vor einem vollständigen Nervenzusammenbruch, und ich bezweifelte, dass ich innerhalb so kurzer Zeit etwas ausrichten konnte. (Unser erstes Treffen fiel auf den 3. März; der Turnierbeginn war für den 21. April geplant.) Ich riet Rozental, nicht anzutreten, doch das kam für ihn nicht infrage. Dafür stand einfach zu viel auf dem Spiel. Schach war sein Leben. Wenn er gewann oder hinter dem amtierenden Weltmeister Dr. Lasker auch nur den zweiten Platz belegte, dann erwarb er damit das Recht, eine Partie um den Meistertitel zu spielen. An deren Ausgang bestand kaum ein Zweifel, vor allem in Anbetracht der jeweiligen Fähigkeiten beider Spieler zu dieser Zeit: Lasker war ein würdiger und großer Meister, doch seine Blütejahre lagen hinter ihm, während Rozental die seinen noch nicht ganz erreicht hatte. Er, der in der abgelegenen polnischen Siedlung Choroszcz als jüngstes von zwölf Kindern in eine verarmte Familie hineingeboren worden war und beinahe bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr nur Jiddisch und Hebräisch gesprochen hatte, war offenbar dazu bestimmt, der dritte Weltmeister im Schach zu werden, den man von Berlin bis New York, von Tokio bis Buenos Aires überall feiern würde. Das Großmeisterturnier zu St. Petersburg im Jahre 1914 war der wichtigste Wettkampf seines Lebens, und ich konnte es nicht ablehnen, mein Möglichstes für ihn zu tun.
Für den Psychoanalytiker ist nichts gewöhnlich oder alltäglich. Jeder Patient hat seine persönliche Geschichte – die genau das ist: persönlich, äußerst individuell – und seine besonderen, ganz spezifischen Bedürfnisse. Als Rozental zu mir kam, nahm ich gleichwohl an, ich bekäme es mit jener Art unterdrücktem Trauma zu tun, die das tägliche Brot meines Berufsstandes ist. Zu Beginn unserer Sitzungen ahnte ich nicht, dass die beiden Ereignisse, denen die St. Petersburger so viel ihrer fiebrigen Aufmerksamkeit zuteil werden ließen – der Mord an Gulko und die Serie raffinierter Königsmorde, die sich Tag für Tag im Ballsaal von Saburows Haus ereigneten –, in dem Menschen vor mir eine direkte Verbindung eingingen. Die Welt des Schachs kann hart und abstoßend kleinlich sein, doch selten ist sie Schauplatz von Intrigen, wenn man das unsportliche Verhalten unter Rivalen und das Gezänk über die Bedingungen, unter denen die Weltmeisterschaft ausgetragen werden soll, unberücksichtigt lässt. Doch als ich mit der Analyse Rozentals weiter vorankam, wurde mir klar, dass es um wesentlich mehr ging als um den Sieg in einem Turnier, wie renommiert es auch sein mochte.
Nicht dass sich die Teilnehmer, die nach St. Petersburg kamen, dessen bewusst gewesen wären. Als Berufsspieler, die lange Reisen mit der Eisenbahn oder dem Dampfschiff gewohnt waren und von Land zu Land und von Stadt zu Stadt fuhren, um ihre Profession auszuüben, hatten sie, wo auch immer sie sich aufhielten, wenig Gelegenheit, die Grenzen jenes Dreiecks zu übertreten, das für den fahrenden Schachspieler aus Hotel, Turnierhalle und Restaurant besteht. Da diese in St. Petersburg den luxuriösesten Ansprüchen genügten, konnte man es den Spielern kaum verübeln, wenn sie glaubten, der Gründer der Stadt habe nur unwesentlich übertrieben, als er sie als das gelobte Land bezeichnete. St. Petersburg ist prächtig und monumental. Doch die Stadt ist auch entsetzlich verkommen, und wo Pracht und Verkommenheit nebeneinander bestehen, gibt es stets Neid, Zorn, Grausamkeit, Paranoia und Gewalt. Ähnlich wie ein kurzer Blick auf ein Schachbrett, auf dem ein Spiel im Gange ist, wenig von dem heftigen Ringen enthüllt, das der Figurenstellung innewohnt, so ist auch der Tourist, der sich an den Schätzen der Eremitage, den Zierden des Sommergartens oder den exotischen Waren im Gostinyi Dwor erfreut, höchstwahrscheinlich blind für die bösartigen Strömungen, die durch dieselben Straßen jagen, die er voller unschuldiger Bewunderung entlangschlendert. Von den elf Spielern, die am Großmeisterturnier von 1914 teilnahmen, sollte nur Rozental wirklich begreifen, dass Grausamkeit und gewaltsamer Tod nicht nur in einem Maße zum Leben in St. Petersburg gehörten, wie das in jeder Großstadt nun einmal der Fall ist, sondern dass sie das Wesen einer Stadt ausmachten, in der die Revolution rumorte.
Rozental kam allein in der Absicht, Schach zu spielen, wurde jedoch ohne eigenes Verschulden in Verschwörung, Verrat und schließlich sogar Mord verwickelt. Genau genommen sollte ich Morde sagen, denn der an Gulko war nicht der letzte. Ich tat, was in meiner Macht stand, um es zu verhindern, doch es war nicht genug. Rozentals arglose Natur machte ihn anfällig für die Machenschaften seiner eher skrupellosen Freunde, und es stellte sich heraus, dass der Drahtzieher von Gulkos Tod so mächtig war wie ein tatarischer Kriegsherr und ebenso unbarmherzig. Vollkommen gleichgültig waren ihm die Unschuldigen, die sich auf seinen Weg verirrten, und er zermalmte sie mit derselben eiskalten Berechnung, mit der Schachmeister die Bauern tauschten, die ihr Spiel einengten.
Rozental kam nicht auf offener Straße um wie Gulko, und sein Ende war weder dramatisch noch gewaltsam, darum aber nicht weniger bitter. In St. Petersburg ging die Geschichte an dem großen Awrom Chilowicz vorüber, und das Leben richtete ihn anschließend zugrunde. Sein Dasein sollte enden, wie es begonnen hatte, in Armut und Not – und all das wegen eines halben Dutzends mittelmäßiger Anordnungen einer Handvoll geschnitzter Buchsbaum- und Elfenbeinfiguren auf einem karierten Brett mit vierundsechzig Feldern.
Gulko wurde am Morgen des 14. März umgebracht. Fünf Tage später kam meine Sekretärin in mein Büro. Sie wollte gerade nach Hause gehen, und wir hatten einander schon einen guten Abend gewünscht. Ich wartete auf eine meiner regelmäßigen Patientinnen, die für sieben Uhr bestellt war, und nutzte die verbleibende Zeit, um die Notizen einer Sitzung mit Rozental zu vervollständigen, die im Laufe des Tages stattgefunden hatte.
Minna murmelte eine Entschuldigung, und ich erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Da möchte jemand zu Ihnen, Doktor«, sagte sie, »ein Polizist.«
Minna sprach das Wort voller Verachtung aus; sie war zwar nicht wohlhabend, aber fürchterlich versnobt.
In dem kleinen Vorzimmer, wo Minna arbeitete, sah ich einen schmächtigen Mann, der etwa fünfunddreißig Jahre alt sein mochte. Er hielt seinen Hut vor dem Körper, und sein ungepflegtes dunkles Haar fiel ihm in Strähnen über die Augen.
»Dr. Spethmann?«, fragte er. Er hatte eine dünne Stimme und näselte leicht.
»Ja«, antwortete ich freundlich, wenngleich auch etwas argwöhnisch.
»Ich bin Polizeiinspektor Lytschew. Dürfte ich Sie wohl unter vier Augen sprechen?«
Ich war neugierig. Die Arbeit eines Psychoanalytikers hat mit der eines Kriminalbeamten einiges gemeinsam – beide bringen etwas ans Tageslicht, das zurückgehalten oder verborgen wird, mit dem augenfälligen Unterschied, dass sich Ersterer mit unbewussten Hemmungen beschäftigt, Letzterer hingegen mit sehr bewussten Ausflüchten und vorsätzlichen Täuschungsmanövern.
»Selbstverständlich«, erwiderte ich und wandte mich zu meiner Sekretärin. »Bis morgen früh dann, Minna.«
Minna zögerte einen Augenblick und schien mich nur ungern mit ihm allein zu lassen; schließlich ging sie um Lytschew herum und versuchte dabei, so viel Abstand von ihm zu halten, wie es der enge Raum eben zuließ. Sie zog die Außentür sehr sachte hinter sich zu; Lärm oder Aufruhr, egal wie geringfügig, war ihr verhasst.
»Bitte«, sagte ich und führte Lytschew in mein Büro.
Ich nahm an meinem Schreibtisch Platz. Lytschew setzte sich mir gegenüber in den alten Lehnstuhl am Kopf der Couch. Er erfasste seine Umgebung schnell und fachmännisch, ganz der geübte Beobachter. Ich sah, wie sein Blick kurz an den goldgerahmten Fotografien von Catherine und Elena hängen blieb und dann über die Bücher in meinen Regalen und die Artefakte der Inka und der Moche glitt, die dazwischen angeordnet waren. Alles wurde sorgfältig taxiert und auf Hinweise über seinen Besitzer untersucht.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Inspektor?«, fragte ich.
»Erzählen Sie mir zuerst, wie Sie die Bekanntschaft von Alexander Jastrebow gemacht haben.«
Sein schroffer Ton irritierte mich, deshalb antwortete ich nicht sofort. Er fand mein Zögern offenbar verdächtig.
»Bringt Sie diese Frage in Verlegenheit?«, fragte er.
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte ich. »Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich kenne keinen … Jastrebow, sagten Sie?«
»Den Papieren nach, die wir bei ihm gefunden haben, war er Student am Technischen Institut«, sagte er.
Diese Information nutzte mir herzlich wenig.
»Sie sind sich ganz sicher, dass Sie ihn nicht kennen?«
»Ganz sicher.«
»Wie erklären Sie dann das hier?«, fragte Lytschew, griff langsam in seinen Mantel, zog aus der Innentasche einen schlichten, unbeschriebenen Umschlag und öffnete ihn. Ich rechnete mit einem Foto von Jastrebow. Stattdessen nahm er eine Visitenkarte heraus. Die Tinte war verwischt, offenbar durch das Einwirken von Wasser, aber die Wörter waren noch lesbar.
»Erkennen Sie sie wieder?«
»Natürlich«, sagte ich. »Das ist meine Karte.«
»Können Sie mir erklären, wie Jastrebow in den Besitz Ihrer Karte gekommen ist?«
»Ich gebe sie Patienten«, sagte ich, »aber auch Kollegen und Bekannten, Leuten, die ich auf wissenschaftlichen Konferenzen oder auf Empfängen und Diners kennenlerne. Sie reichen sie manchmal weiter. Ich kenne mit Sicherheit nicht einmal die Hälfte derer, die meine Karte letztendlich in die Hände bekommen.«
»Kann es sein, dass Sie Jastrebow die Karte persönlich gegeben haben?«
»Wenn ja, dann ohne ihn zu kennen. Wer ist er überhaupt? Behauptet er, ich kenne ihn?«
Lytschew sah mich prüfend an und machte keinen Hehl daraus, dass er meine Glaubwürdigkeit einzuschätzen versuchte; er gab sich keine Mühe, mir etwas vorzutäuschen.
»Jastrebow ist tot«, sagte er und fügte dann hinzu, keinen Deut dramatischer oder gefühlvoller, als redete er über das Wetter von vergangenem Dienstag: »Er wurde ermordet.«
Ich erwartete, dass er mir weitere Details über Jastrebows Ableben enthüllen würde. Stattdessen stand er auf und sah sich im Zimmer um.
»Ihr Büro ist sehr angenehm«, bemerkte er.
Ich wusste kaum, was ich dazu sagen sollte. Was wollte er von mir? Er ging zum Schachtisch am Fenster neben meinem Schreibtisch und nahm den weißen König. Er wog ihn in der Hand und fand sein Gewicht offensichtlich akzeptabel.
»Ein hübsches Stück«, meinte er und schaute auf den Fuß, der mit einer winzigen blutroten Inschrift versehen war: Jaques London. »Aus England?«
»Ja«, sagte ich.
»Die Staunton-Figuren sind schön – schlichter und gediegener als unsere russischen Figuren.« Er ließ den König sinken und untersuchte als Nächstes die Springer mit der stolzgeschwellten Brust. »Sehr hübsch«, sagte er versonnen. »Sie spielen also?«
»Wenn ich Gelegenheit dazu habe, was nicht oft vorkommt«, gab ich zur Antwort. »Ich spiele auch nicht besonders gut.«
»Was glauben Sie, wer das Turnier gewinnt?«, fragte er.
Angesichts dessen, was ihn zu mir geführt hatte, fand ich die Wendung, die das Gespräch nun nahm, ein wenig absurd, aber trotzdem antwortete ich: »Capablanca hat gute Chancen.«
»Das erstaunt mich«, erwiderte er in einem Ton, als hätte ich gerade etwas höchst Dubioses gesagt. »Der klare Favorit ist doch Rozental. Während der letzten zwei oder drei Jahre war er praktisch unbesiegbar.«
Ich spürte, dass hinter dieser Frage mehr steckte. Wusste er, dass Rozental mein Patient war? In Russland wusste die Polizei vieles.
»Ja, Rozentals Chancen stehen auch sehr gut«, räumte ich ein.
Lytschew stellte den König zurück, genau in die Mitte des Feldes. »Was ist das für eine Stellung?«, fragte er.
Ich erklärte ihm, dass es sich um eine Partie Fernschach mit meinem Freund Kopelzon handelte. Als Reuwen Moisejewitschs Name fiel, verengten sich Lytschews Augen. Ein Polizist, der gute Musik zu schätzen wusste? Ein Polizist mit einem professionellen Interesse an einem meiner ältesten Freunde?
Er war ganz in der Stellung versunken. »Wer ist am Zug?«
»Ich. Ich habe Weiß.«
»Und was war der letzte Zug von Schwarz?«
»34 … Kh5«, sagte ich.
»Ein Tausch auf g5 bringt Sie nicht weiter«, stellte er fest und zog die Mundwinkel nach unten. »Was ist Ihr nächster Zug?«
In all den Jahren, die wir nun schon gegeneinander Schach spielten, hatte ich Kopelzon noch nie geschlagen, doch in diesem Spiel war ich mit einem leichten Vorteil aus der Eröffnung herausgekommen. Mein etwas erstaunter Gegner hatte sich daraufhin entschlossen, für einen Angriff einen Bauern zu opfern. Ich hatte gut pariert und nicht nur die Gefahr überstanden, sondern auch meinen Bauernvorteil behalten.
Zu der Zeit jedoch, als wir jene Stellung erreichten, gingen mir
Spethmann–Kopelzon
St. Petersburg, 1913–1914
Bisherige Züge:
1.e4 c5 2.Sc3 Sc6 3.g3 g6 4.Lg2 Lg7 5.d3 d6 6.Sge2 e5 7.h4 h5 8.Sd5 Sce7 9.Sec3 Sxd5 10.Sxd5 Le6 11.c4 Lxd5 12.cxd5 Lh6 13.b4 Lxc1 14.Txc1 b6 15.Lh3 Sh6 16.Dd2 Kf8 17.0–0 Kg7 18.f4 exf4 19.Txf4 Te8 20.Db2+ Te5 21.bxc5 bxc5 22.Txc5 g5 23.hxg5 Dxg5 24.Tc2 Kh7 25.Tg2 Tg8 26.Df2 De7 27.Tf6 Kg7 28.Tf4 Kh7 29.Lf5+ Sxf5 30.Txf5 Txf5 31.Dxf5+ Kh6 32.Df4+ Tg5 33.g4 hxg4 34.Txg4 Kh5
die Ideen aus, und meine Hoffnung auf einen ersten Sieg über Kopelzon verflüchtigte sich; ich war im Begriff, ihm ein Remis anzubieten.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Obwohl ich es beinahe als Verstoß gegen die guten Sitten empfand – völlig absurd unter diesen Umständen –, gewann meine Neugier die Oberhand. »Wie wurde Jastrebow ermordet?«, fragte ich.
Lytschew sah mich aus seinen blassen Augen an. »Er wurde erschlagen. Die Mörder legten die Leiche in einen Wagen und schoben ihn in der Nähe des Restaurants Leinner in den Kanal.«
»Davon habe ich gelesen«, sagte ich.
Ich ging zu dem Stapel alter Zeitungen im Vorzimmer und fand rasch das Gesuchte, in den Russkie Wedomosti, Gulkos Zeitung, wie der Zufall es wollte. Der Artikel war in derselben Ausgabe erschienen, in der auch über den Mord an Gulko berichtet wurde, obgleich er längst nicht so groß aufgemacht war. Dort stand zu lesen, dass man an der Uferstraße der Moika die Leiche eines jungen Mannes gefunden habe, der mit seinem Automobil verunglückt sei. Laut Zeitungsbericht hatte das bedauernswerte Opfer auf einem vereisten Straßenabschnitt in der Nähe des Leinner die Kontrolle über sein Automobil verloren und war in den Kanal gerutscht.
»Von Mord steht hier aber nichts«, sagte ich.
»Die Mörder haben versucht, ihre Tat als Unfall zu tarnen. Die Presse ist offensichtlich darauf hereingefallen.« Er deutete auf die Zeitung und fragte: »Kannten Sie Gulko?«
»Nein«, erwiderte ich.
»Sie haben ihn nie getroffen?«
»Nein«, sagte ich nochmals. »Warum? Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Morden?«
»Möglich wäre es zumindest«, sagte er in einem Ton, der einem Achselzucken gleichkam.
»Weshalb wurde Jastrebow umgebracht?«
»Das ist noch unklar, genau wie im Fall von Gulko«, antwortete Lytschew ebenso teilnahmslos. Erleichtert bemerkte ich, dass er sich zur Tür bewegte.
»Ich habe wirklich keine Ahnung, wie er zu meiner Karte gekommen ist«, sagte ich. »Ich bedaure, dass ich Ihnen keine größere Hilfe sein konnte.«
»Wir sehen uns dann morgen Nachmittag im Polizeipräsidium«, ließ er sachlich verlauten. »Kommen Sie um fünf Uhr.«
»Aber wozu?«, protestierte ich. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt – ich weiß nichts über diesen Jastrebow.«
»Vielleicht entdecken wir, dass Sie mehr wissen, als Sie glauben. Sie als Psychoanalytiker werden das sicher verstehen.«
»Das ist unmöglich. Ich habe morgen Termine.«
»Ziehen Sie es vor, jetzt gleich mit mir zu kommen?« Ich antwortete nicht. Lytschew sah mich direkt an. »Dann bis morgen Nachmittag um fünf Uhr.«
Ich war immer noch wie in Trance, als Lytschew auf die Fotografien an der Wand zeigte. »Wer ist diese Frau?«, fragte er und tippte mit dem Finger auf das größere der beiden Bilder.
»Meine Frau Elena«, sagte ich.
»Müssten Sie nicht meine verstorbene Frau sagen?«
»Ja, meine verstorbene Frau Elena«, sagte ich, als ich die Schärfe seiner Provokation geschluckt hatte.
»Und das hier ist dann wohl Ihre Tochter Catherine?«, sagte er und tippte auf die zweite Fotografie.
Bei dem Gedanken daran, dass dieser widerliche und hinterhältig drohende Mensch von Catherines Existenz wusste, wurde mir flau im Magen.
»Ja«, stimmte ich leise zu, als hoffte ich, er würde es nicht hören.
»Bringen Sie Ihre Tochter morgen mit.«
Wohl eine Minute oder länger brachte ich kein einziges Wort über die Lippen, sondern sah meinen unwillkommenen Gast nur verständnislos an, und er erwiderte meinen Blick. Selbst als der Schreck nachließ, fragte ich nicht, weshalb er mit Catherine reden wollte oder was sie seiner Meinung nach mit Gulko oder Jastrebow zu tun hatte, oder mit diesem Unfall, Mord oder worum auch immer es sich handeln mochte.
Lytschew warf einen Blick zurück auf das Schachbrett. »Sie werden nicht verlieren«, sagte er. »Jedenfalls nicht gleich.«
Ich wandte den Kopf und folgte seinem Blick. Als ich Lytschew wieder ansah, strich er sich gerade den strähnigen Pony aus den Augen. Sorgfältig drückte er sich das Haar an den Kopf und setzte seinen Hut auf.
»Ich erwarte Sie dann morgen, Dr. Spethmann«, sagte er, und damit war er aus meinem Büro verschwunden.
Für meine Patienten bin ich wie ein guter Vater – aufmerksam, freundlich, ruhig, offen, streng, nie vorwurfsvoll und immer für sie da. Sie wären entsetzt, müssten sie entdecken, dass der Mann, dem sie eine beinahe übernatürliche Weisheit und Gelassenheit zuschreiben, in Wirklichkeit ebenso wenig gegen Besorgnis, Aufregung und andere turbulente und gefährliche Gefühle gefeit ist wie sie selbst. Aber es ist die Wahrheit.
Mein faszinierendster Patient zu jener Zeit – und dabei schließe ich Rozental mit ein – war Anna Petrowna Siatdinow. Sie war mir im Frühjahr 1913 auf einem Empfang zu Ehren des deutschen Botschafters vorgestellt worden. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und eine der berühmtesten Schönheiten von St. Petersburg.
Ich hatte die Veranstaltung nur auf Kopelzons Drängen hin besucht.
»Du musst öfter unter Leute gehen, Otto«, sagte er auf seine forsche, unmissverständliche Art. »Ich weiß, du trauerst immer noch, aber mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Niemand wird schlecht über dich denken – außerdem gibt es eine Frau, die ich verführen will, und ich möchte deine Meinung über sie hören.«
»Ich sollte lieber zu Hause bei Catherine bleiben. Sie fühlt sich einsam ohne mich.«
»Catherine hat Bataillone von jungen Freunden. Ganze Armeen. Los, hol deinen Mantel!«
Das Botschaftsgebäude war kolossal und monolithisch, gleichsam aus einem einzigen Block finnischen Granits gemeißelt. Alles strahlte Status, Macht und Autorität aus: die massiven Tragbalken, die gewaltigen Mauern und die Bronzeriesen auf dem Dach, die die Zügel zweier mächtiger Pferde mit langen, wallenden Mähnen und weit geblähten Nüstern hielten. Krieg stand am Horizont, und die Stimmung war angespannt.
»Wie hältst du es an so einem Ort nur aus?«, flüsterte ich Kopelzon zu, als wir unsere Gläser entgegennahmen.
»Nur hier kann ich mit meiner wahren Liebe sprechen«, erwiderte er und blickte sich im Saal um. »Dort ist sie. Komm her. Wenn mich ihr Mann mit ihr allein sieht, ist das Spiel aus.« Er packte mich am Ellbogen und schob mich in ihre Richtung. »Sag selbst, ist sie nicht die schönste Frau, der du je ansichtig geworden bist?«
Anna Petrowna war von mittlerer Größe und hatte helle Haut, volle Lippen und große honigbraune Augen, die um die Iris herum strahlend weiß waren. Ihr schwarzes Haar glänzte, doch der tiefe Haaransatz verlieh ihrer Schönheit einen etwas sonderbaren Zug, eine Wirkung, die durch einen leicht schräg aus dem Zahnfleisch hervorkommenden Schneidezahn noch betont wurde – der einzige Makel in einem ansonsten vollkommen symmetrischen Arrangement. Diese Unvollkommenheit entzückte mich; sie ließ eine andere, leicht piratenhafte Seite an ihr erahnen, als verberge sich hinter ihrer Schicklichkeit etwas Geheimes und Durchtriebenes. Vielleicht verspürte ich auch einfach eine allgemeine Erleichterung darüber, an anderen Menschen Makel zu entdecken, wusste ich doch nur allzu gut um meine eigenen.
Sie schien recht erfreut, Kopelzon zu sehen, doch meines Erachtens fand sie seine Avancen eher irritierend als schmeichelhaft. Den Künsten der Verführung widmete er sich mit derselben Hingabe wie seinen Solokonzerten; allerdings war sein Spiel unendlich viel feinsinniger. Nach einer Weile entschuldigte sich Anna Petrowna.
»Wie findest du sie?«, fragte Kopelzon. »Sie ist das Risiko wert, nicht wahr?«
»Du meinst ihren Mann?«
»Du lieber Himmel, nein!«, rief Kopelzon aus und winkte ab. »Boris Siatdinow ist zwar ein übler Kerl, aber er ist bloß ein cholerischer kleiner Rechtsanwalt. Das Risiko ist der Vater.«
»Wer ist ihr Vater?«
»Der Berg«, sagte Kopelzon leise.
Sein Blick war ernst, und das aus gutem Grund. Peter Arsenjewitsch Sinnurow war einer der reichsten Industriellen von St. Petersburg, und manche glaubten, er finanziere unter der Hand die Schwarzen Hundert; zweifellos bereitete es ihm keine Probleme, ihre gewaltsamen Übergriffe auf Juden und deren Eigentum zu verteidigen. Er wäre ganz und gar nicht erfreut, würde er entdecken, dass seine einzige Tochter das Objekt des lüsternen Begehrens eines jüdischen Geigers war.
»Ach«, seufzte Kopelzon, »es sieht nicht so aus, als würde Anna Petrowna in mein Bett kommen, jedenfalls nicht heute Nacht, und da ich, ganz im Gegensatz zu dir, eine allein verbrachte Nacht als verlorene Nacht betrachte …«
Schon hatte er seinen Blick einer üppigen Dame um die vierzig zugewandt. Ich klopfte meinem schurkischen Freund auf den Rücken und wünschte ihm Glück.
Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als ich eine Stimme sagen hörte: »Wollen Sie etwa schon gehen, Dr. Spethmann?«
Es war Anna. Sie stellte mich ihren Begleiterinnen vor, die allesamt überaus nett und liebenswürdig waren, außerdem glühende Verehrerinnen von Blok.
»Sie sind so unruhig, Dr. Spethmann«, sagte Anna nach einer Weile. Sie hatte ihren Freundinnen allmählich den Rücken gekehrt, und wir hatten uns von ihnen und ihren kunstsinnigen Betrachtungen über lyrische Gedichte mehr oder weniger abgewandt.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich gehe wohl lieber nach Hause zu meiner Tochter.«
»Sie ist doch hoffentlich nicht krank?«
»Nein, ganz und gar nicht, aber sie ist noch jung und hat vor kurzem ihre Mutter verloren.«
»Das bedaure ich außerordentlich«, sagte Anna und legte mir die Hand auf den Arm. »Wie schrecklich für Sie beide. Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Im August wird sie achtzehn. Sie ist nicht gern allein, und ich habe ihr versprochen, gegen neun Uhr zurück zu sein.«
»Dann müssen Sie sofort nach Hause gehen«, sagte sie.
Bisher hatte ich ihre Redeweise geistreich und gebildet gefunden, doch ich spürte auch, dass ihr ein Hauch von Salonkonversation anhaftete, als habe sie die Sätze einstudiert, geprobt und für die nächste Vorstellung weiter ausgefeilt. Ihre momentane Besorgnis indes schien einer näheren Wirklichkeit zu entstammen.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Dr. Spethmann«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
»Von Kopelzon?«
Anna lächelte. »Ihr Freund ist in der Tat sehr beharrlich. Sagen Sie, hat er mit seiner Belagerungstaktik je Erfolg?«
»Soweit ich weiß, verfehlt sie ihre Wirkung nie.«
Ein belustigter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Ich hielt ihre Hand. Wenn wir etwas wissen wollen, finden wir in der Regel einen Weg, es zu erfahren, und genau das hatte ich wissen wollen: dass Anna sich nicht mit Kopelzon einlassen würde. Als ich vor ihr stand, war ich mir dessen nicht bewusst, oder zumindest nicht ganz, und erst später gestand ich mir ein, dass ich Kopelzon nur erwähnt hatte, damit sie ihre Affäre zur Sprache brachte, falls es überhaupt eine gab. In dem Jahr seit Elenas Tod hatte ich nichts gefühlt, es sei denn, man lässt Erschöpfung in diesem Zusammenhang als Gefühl gelten. Einzig Catherines widersprüchliches Bedürfnis nach mir erhielt mich am Leben: Sie wollte meine Nähe und behauptete gleichzeitig, daran zu ersticken. Einmal warf sie sich in meine Arme und sagte mir, sie liebe mich; ein andermal schrie sie, ich sei der grausamste Vater seit Abraham und der schlechteste Ehemann seit Adam. Ich möchte weder melodramatisch werden noch andeuten, dass ich jemals die geringste Absicht hatte, den Tod zu suchen, selbst in den endlosesten Weiten der Nacht nicht. Aber wäre der Tod zu mir gekommen, hätte ich an Gulkos Stelle auf der Polizejski-Brücke gestanden, weiß ich nicht, ob ich mich gewehrt oder zu fliehen versucht hätte.
Jetzt sah ich eine Frau an und merkte, dass ich sie besser kennenlernen wollte. Verwirrt und auch beschämt wünschte ich ihr eine gute Nacht.
Ich sah Anna fünf oder sechs Monate später wieder, als ich sie während der Pause einer Aufführung des Don Quichotte mit der Waganowa zufällig im Mariinski-Theater traf. Ich war in Begleitung von Catherine, die unbeschwert und gesprächig war. An diesem Abend war ich der beste Vater seit Abraham.
»Hallo, Dr. Spethmann«, sagte Anna und kam auf uns zu. Sie sah etwas müde aus und hatte merklich abgenommen. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
Insgeheim war ich hocherfreut, dass Anna Catherine gerade heute kennenlernen sollte, wo sie nicht nur atemberaubend hübsch aussah, sondern auch noch so bezaubernd gut aufgelegt war. Doch nachdem die anfänglichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, verfiel Catherine in düsteres Schweigen, und für den Rest unserer kurzen Plauderei klammerte sie sich an mich mit der Kraft eines Wärters, der einen Gefangenen festhält. Ich sah, wie Annas Blick über Catherines verkrampfte Finger glitt, die sich in meinen Arm gruben. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, wusste ich, dass sie die Situation durchschaute. Sie gab ihrer Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen Ausdruck und entschuldigte sich freundlich.
»Wer war denn diese schreckliche Frau?«, fragte Catherine, als sie gegangen war.
»Findest du sie schrecklich?«, fragte ich sanft.
»Allerdings. Wer ist sie?«
»Anna Siatdinow. Ihr Mann« – ich erwähnte bewusst ihren Mann – »ist der Rechtsanwalt Siatdinow.«
»Woher kennst du sie?«
»Ich kenne sie eigentlich gar nicht richtig.«
»Du kennst sie nicht? Für eine Fremde wirkte sie aber sehr vertraut.«
»Wohl kaum«, sagte ich gelassen.
»Genau so hast du dich auch bei Mutter immer herausgewunden, indem du einfach so getan hast, als wüsstest du gar nicht, wovon sie redet«, fauchte sie mich unvermittelt an.
»Sollen wir zu unseren Plätzen zurückgehen?«
Aber Catherine ließ sich nicht ablenken. »Es hat ihr das Herz gebrochen, wie du in ihrer Gegenwart mit anderen Frauen geschäkert hast.« Die Leute, die um uns herumstanden, verstummten und musterten plötzlich interessiert ihre Schuhe. »Du bist schamlos. Du widerst mich an.«
»Catherine, bitte –«
Sie machte auf dem Absatz kehrt. Ich lief ihr nach, die mit rotem Velours bespannte Treppe hinab, durch die Eingangshalle und hinaus auf den menschenleeren Platz, wo sie, den Rücken zum Theater, stocksteif dastand und ins Leere starrte. Obwohl es Anfang September war, legten sich nasse Schneeflocken wie Federn auf ihr weißblondes Haar. Sei aufmerksam, sagte ich mir. Sei ruhig und auf keinen Fall vorwurfsvoll. Nichts Geringeres verlangten die Seelenqualen einer Tochter von einem Vater.
Sie drehte sich zu mir um und sagte: »Versprich mir, dass du diese Frau nie mehr wiedersehen wirst.«
Ich zögerte keine Sekunde. »Ich verspreche es.«
»Schwöre es! Schwöre es bei deinem Leben.«
»Ich schwöre, dass ich sie niemals wiedersehen werde.«
Wir holten im Theater unsere Mäntel, gingen zu meinem Automobil und fuhren nach Hause.
Am nächsten Morgen brachte ein livrierter Bote eine Nachricht von Anna Petrowna; sie bat mich, sie als Patientin anzunehmen.
Zehn Minuten nachdem Inspektor Lytschew gegangen war, betrat Anna mein Büro. Sie legte sich auf die Couch. Ich setzte mich an die Kopfseite, wie es die übliche Praxis war.
Wenn man Anna ansah, hätte man nicht daran gezweifelt, einen zufriedenen und sowohl persönlich als auch sozial gefestigten Menschen vor sich zu haben. In unseren ersten Sitzungen hatte sie mir erzählt, dass sie im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren unter einer regelmäßig wiederkehrenden partiellen Taubheit der rechten Hand gelitten hatte. Die Empfindungslosigkeit hielt gewöhnlich für die Dauer von einer Stunde bis zu einer Woche an. Die ernsten und teuren Gesellschaftsärzte, die ihr Vater kommen ließ, konnten keine körperlichen Ursachen feststellen. Sie beobachteten jedoch, dass die Taubheit im Zusammenhang mit wiederkehrenden Albträumen stand, die Anna meist ein paar Tage später heimsuchten und derart entsetzlich waren, dass sie Angst vor dem Schlafen hatte. Die Ärzte schlossen daraus, dass Annas Krankheit hysterischer Natur war, konnten jedoch keine wirksame Behandlung verordnen, weil man von dieser Verfassung damals nur wenig verstand.
Anna konnte sich an kein bestimmtes Ereignis erinnern, das die Taubheit und die Albträume hervorgerufen haben könnte, ebenso wenig vermochte sie zu erklären, weshalb diese Symptome ganz plötzlich wieder aufhörten, als sie Anfang zwanzig war. Mehr als zehn Jahre lang war sie frei von ihnen gewesen und hatte sie nach ihrer vollständigen Genesung ganz vergessen. Doch vor kurzem waren sowohl die Albträume als auch die Taubheit der Hand zurückgekehrt. Anna war krank vor Angst und Erschöpfung.
Wir wissen, dass Träume den wichtigsten Schlüssel zu einer Krankheit liefern, auch wenn sich der Patient häufig dagegen sträubt, zu seiner Entdeckung hingeführt zu werden. Anna und ich redeten sehr ausführlich über ihre Albträume, die sowohl konkrete als auch symbolische Elemente zu enthalten schienen. Sie behauptete jedoch, sich an wenig mehr erinnern zu können als an die Tatsache, dass darin jedes Mal ein großes, weitläufiges Haus vorkam – schön, aber zur Ruine verfallen. Auch ein quälendes Durstgefühl war ihr in Erinnerung. Wir diskutierten die Möglichkeit, dass das Haus ihren eigenen Körper symbolisierte und dass seine Baufälligkeit für die natürliche Besorgnis stand, die wir in Bezug auf die Unversehrtheit, Gesundheit und Attraktivität unseres Körpers verspüren, wenn wir älter werden. Sie wies meine Deutung zwar nicht von der Hand, doch ich merkte, dass sie sie nicht überzeugend fand. Als ich weiter explorierte, erzählte sie, dass das ungeheure Durstgefühl sie dazu brachte, das Haus zu erkunden und Wasser zu suchen. Doch je länger sie von Zimmer zu Zimmer ging, desto mehr wuchs in ihr die Überzeugung, dass ihr jemand auflauerte. Sie näherte sich den Türen mit immer größerer Furcht, bis sie schließlich heftig zitterte und sich mit Grauen ausmalte, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. In ihren Träumen öffnete sie die Tür nicht immer, doch wenn, dann begegnete sie nicht etwa einem Ghul, sondern fand einen reichhaltig gedeckten Tisch vor – mit geräuchertem Fisch, Brot, Kaviar, Obst und Wodka. An dieser Stelle wachte sie dann schreiend auf.
Da Anna solche Angst vor dem hatte, womit sie sich konfrontieren musste – und auch weil sie sich beharrlich gegen Hypnose und freie Assoziation sträubte –, kamen wir langsamer voran, als ich gehofft hatte. Nach Rücksprache mit Kollegen hatte ich beschlossen, ihre Träume vorerst außer Acht zu lassen und mich ihrer Lebensgeschichte zuzuwenden. Die Psychoanalyse ähnelt dem Goldwaschen, und in einer früheren Sitzung glaubte ich, ein Nugget entdeckt zu haben. Es handelte sich um eine Reise, an die sich Anna nur dunkel erinnerte; als Kind war sie einmal nach Kasan gefahren, um ihre Großmutter zu besuchen. Sie hatte diese Reise nur nebenbei erwähnt, und als ich später nach weiteren Einzelheiten fragte, wurde sie unruhig. Mir kam der Verdacht, dass sich während dieser Reise etwas Bedeutsames ereignet haben könnte.
Ich war noch ganz aufgewühlt von Lytschews Besuch und wusste nicht, ob ich genügend Konzentration für unsere Sitzung würde aufbringen können. Doch Anna sah so erschöpft aus, dass ich es unverzeihlich gefunden hätte, die Sitzung zu verschieben.
Als ich die Reise zur Sprache brachte, zuckte sie zusammen. »Weshalb wollen Sie das wissen? Das war doch gar nichts, bloß ein Ausflug, den ich als Kind unternommen habe.«
»Es ist eine Grundregel der Psychoanalyse, nichts unberücksichtigt zu lassen, egal, wie unbedeutend es auch erscheinen mag.«
»Das war Jahre, bevor die Albträume angefangen haben.«
»Erzählen Sie mir, woran Sie sich noch erinnern.«
»Ganz ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich überhaupt noch an etwas erinnere.«
»Wie alt waren Sie?«
»Dreizehn Jahre und zwei Monate.«
»Sie erinnern sich sehr genau. Gab es irgendwelche denkwürdigen Ereignisse?«
Sie zögerte nur kurz. »Ich hatte zum ersten Mal meine Menstruation.«
»Wie haben Sie darauf reagiert?«
»Ich war neugierig.«
»Worauf waren Sie neugierig?«
»Wie es ist, eine Frau zu werden.«
»Sind Sie allein nach Kasan gereist?«
»Nein, mit meinem Vater.«
»Wo war Ihre Mutter?«
»Sie kam nicht mit. Ich weiß nicht, warum. Wir waren allein, mein Vater und ich.«
»Was war das für ein Gefühl, mit ihm allein zu sein?«
Sie hielt einen Moment inne und überlegte. »Zu Hause war er immer so beschäftigt«, begann sie langsam. »Manchmal habe ich ihn tagelang nicht zu Gesicht bekommen. Und jetzt hatte ich ihn ganz für mich allein; ich war aufgeregt. Ich weiß noch, dass uns die Leute bewundernde Blicke zuwarfen, als wir am Nikolai-Bahnhof in den Zug stiegen. Fast so, als wären wir …« Sie stockte und fügte dann schnell hinzu: »Er war ein Mann im besten Alter und sah sehr gut aus.«
»Fast so, als wären Sie …?«, hakte ich nach. »Führen Sie den Satz zu Ende.«
»Das war töricht«, wehrte sie ab. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.«
»Sie haben es doch noch gar nicht gesagt.«
»Als wären wir Mann und Frau statt Vater und Tochter.« Sie lachte verlegen auf, als wolle sie sich für diesen absurden Gedanken tadeln. »Natürlich haben sie das nicht wirklich gedacht. Ich war dreizehn und er vielleicht … vierundvierzig. Aber dass ihnen die Möglichkeit in den Sinn kam – zumindest bildete ich mir das ein –, das schmeichelte mir. Zusammen mit meinem Geheimnis – meiner ersten Menstruation – gab es mir das Gefühl, sehr erwachsen zu sein.«
»Was ist Ihnen sonst noch von der Reise in Erinnerung?«
»Nichts, außer dass sie sehr lange dauerte – erst nach Moskau und dann weiter nach Kasan.«
Ich wollte nicht glauben, dass das alles war, und als ich weiterbohrte, stellte sich heraus, dass sie sich tatsächlich noch einige Einzelheiten über andere Fahrgäste ins Gedächtnis zu rufen vermochte – eine reizende Dame in einem blauen Mantel hatte sie angelächelt, und ein ältlicher Kavallerieoffizier hatte sich ihrem Vater gegenüber herablassend verhalten –, doch nichts davon erwies sich für mich als besonders hilfreich.
Dennoch spürte ich von ihrer Seite ein Widerstreben, gewissermaßen am Ziel anzukommen.
»Erzählen Sie mir etwas über Kasan und über das Haus Ihrer Großmutter.«
Sie sah mich argwöhnisch an, als vermutete sie eine Falle. »Es ist nicht das Haus meiner Albträume, falls Sie das meinen.«
»Warum sagen Sie das?«
»Das Haus in meinen Albträumen ist sehr groß und weitläufig. Das Haus meiner Großmutter dagegen hatte überhaupt nichts Erschreckendes an sich. Es war bescheiden und gemütlich. Ich erinnere mich noch an die enge Küche, in der ein Petroleumherd und ein kleiner Tisch standen, und an das Gemüsegärtchen hinterm Haus.«
»Wo haben Sie geschlafen?«
»In einem Zimmer im oberen Stockwerk.«
»Allein?«
»Nein, ich sollte mir das Zimmer mit meinem Vater teilen.«
»Sie sagen, Sie sollten? Haben Sie es sich denn tatsächlich geteilt?«
Sie sah verwirrt aus. »Ich glaube schon. Woanders war ja gar kein Platz für ihn.«
Ich machte mir eine Notiz und fuhr fort. »Wie sind Sie vom Bahnhof zum Haus Ihrer Großmutter gekommen?«
»Wahrscheinlich mit einer Kutsche, aber das weiß ich wirklich nicht mehr.«
»Was taten Sie nach Ihrer Ankunft?«
Sie zog die Stirn in Falten und schwieg einige Augenblicke. »Wir waren eine ganze Woche lang dort, aber ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Versuchen Sie, sich zu erinnern. An irgendetwas. Was hat Ihre Großmutter für Sie gekocht?«
»Jetzt, wo ich darüber nachdenke, glaube ich, wir sind doch nicht so lange geblieben«, sagte sie langsam. »Es war so geplant. Ich weiß noch, wie mir meine Mutter am Bahnhof einen Kuss gab und sagte, sie wisse nicht, wie sie es eine ganze Woche ohne mich aushalten solle.« Sie durchforstete ihr Gedächtnis, und ihre Stimme verlor sich. »Ganz sicher … sollten wir … eine Woche lang bleiben, aber …«
»Erzählen Sie weiter.«
»Meine Erinnerung ist wirklich wie ausgelöscht«, sagte sie mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. Als ich weiterbohrte, unterbrach sie mich flehend: »Bitte. Das ist Zeitverschwendung, wirklich. Es ist nichts passiert.«
Ihre Vehemenz bestärkte mich nur in der Überzeugung, dass hier Gold verborgen lag, und doch zögerte ich, ihr den Übergang von der einfachen Anamnese in das unvorhersehbare Reich des Unbewussten zuzumuten. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, eine Krise hervorzurufen, doch ich war ihr Arzt und stand in der Verantwortung, zur Ursache ihrer Krankheit vorzudringen, und das konnte nur gelingen, indem ich sie aus ihrer starren Abwehrhaltung herausriss.
»War sonst noch jemand im Haus?«
»Bitte!«, sagte sie.
Sie hob die Hände vors Gesicht, legte die Daumen auf die Wangenknochen und breitete die Finger zur Stirn hin aus, so dass sie ihre Augen wie ein Vorhang bedeckten. Mehrere Minuten lang schwieg sie. »Ich möchte nicht mehr darüber reden.«
Auch meine besten Überredungskünste konnten sie nicht dazu bringen, ihre Meinung zu ändern.
Am Ende der Sitzung kochte ich ihr einen Tee. Sie erkundigte sich nach Catherine.
»Es geht ihr gut, danke. Zumindest, soweit ich das beurteilen kann. Seit sie ihr Studium an der Universität aufgenommen hat, bekomme ich sie kaum noch zu sehen.«
»Sie ist ein ungewöhnliches Mädchen. Ich wünschte nur, sie hätte nicht so eine Abneigung gegen mich.«
»Aber sie hat nicht die geringste Abneigung gegen Sie.«
Anna lächelte wissend. »Haben Sie je daran gedacht, wieder zu heiraten?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete ich rasch, unvorbereitet auf diese Frage.
»Wegen Catherine?«
»Nicht nur wegen Catherine.«
»Weshalb dann?«
»Ich gehe selten aus, und wenn, habe ich wenig Gelegenheit, jemanden kennenzulernen …« Ich lächelte hilflos und zuckte mit den Schultern.
»Das klingt wie eine Ausrede«, sagte sie.
»Vielleicht«, räumte ich ein.
»Haben Sie Angst?«
»Angst?«
»Jemanden kennenzulernen? Sich noch einmal zu verlieben?«
Ich weiß nicht weshalb, doch diese Frage brachte mich durcheinander. Ich stand auf und ging zum Fenster.
»Es tut mir schrecklich leid, Otto«, hörte ich sie sagen. »Es war dumm von mir, so etwas zu sagen.«
Ich blickte hinunter auf die Straße, die um diese Zeit dunkel und beinahe menschenleer war. Anna stand jetzt hinter mir und legte die Hand an meinen Ellbogen.
»Verzeihen Sie mir?«, fragte sie leise.
Ich drehte mich zu ihr um. Wir standen so dicht beieinander, dass wir uns fast berührten. Einige Augenblicke lang schauten wir uns an, ohne ein Wort zu sagen. Wäre ich Kopelzon gewesen, hätte ich sie geküsst. Stattdessen ging ich an ihr vorbei, suchte Zuflucht am Schachtisch, und der Kuss, der hätte sein können, blieb zwischen uns im Raum hängen.
»Irgendetwas scheint Sie zu beschäftigen«, sagte sie nach einer Weile.
»Es tut mir leid.«
»Warum sagen Sie mir nicht, was es ist?«
Ich hätte es ihr niemals erzählen dürfen: Es war unprofessionell und verstieß ziemlich sicher gegen das Berufsethos. Sie hörte mir zu, zunächst ungläubig, später dann voller Empörung.
»Mit welchem Recht verlangt dieser Lytschew, dass Sie auf dem Polizeipräsidium erscheinen? Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Ein Skandal ist das.«
»Ich habe keine Angst, zur Polizei zu gehen«, sagte ich. »Aber ich habe Angst um Catherine.«
»Sie brauchen jemanden, der sich für Sie einsetzt. Eine einflussreiche Persönlichkeit. Jemanden, der Lytschew in seine Schranken weist. Und so jemanden müssen Sie sich suchen, bevor Sie morgen zum Polizeipräsidium gehen. Wenn das Verfahren einmal begonnen hat, ist es unmöglich wieder anzuhalten.«
»Aber ich kenne niemanden, der einen solchen Einfluss hätte«, sagte ich.
Sie schwieg eine Weile, als wäge sie innerlich etwas ab. Dann fragte sie, ob sie das Telefon im Vorzimmer benutzen dürfe.
Ein oder zwei Minuten später kam sie zurück. »Ich habe gerade mit meinem Vater geredet«, sagte sie.
Der Berg. Mein Herz setzte kurz aus.
»Ich habe ihm die Situation erklärt«, fuhr sie fort. »Er möchte, dass Sie heute Abend zu ihm kommen, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen.«
»Ich hätte Ihnen niemals davon erzählen dürfen.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Otto. Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann. Treffen Sie sich mit meinem Vater. Wenn Ihnen jemand helfen kann, dann er.«
Aus den Gesprächen unserer ersten Sitzungen wusste ich, dass die engen Bande zwischen Sinnurow und seiner Tochter nicht von Dauer gewesen waren, doch die Gründe für diese Entfremdung hatte sie mir nicht verraten.
»Er erwartet Sie heute um Mitternacht im Kaiserlichen Yachtclub«, sagte sie.
Dankbar und verlegen half ich ihr in den Mantel. Ich ließ die Hände leicht auf ihren Schultern ruhen. Sie stand vollkommen regungslos. Ohne darüber nachzudenken, bewegte ich den Daumen ein kleines Stück, so dass ich eine Strähne des dicken schwarzen Haars berührte, das ihr in den blassen Nacken fiel. Sie wandte den Kopf ein klein wenig zu mir; ich wusste nicht zu sagen, ob diese Geste einladend oder abweisend gemeint war.
Ich nahm die Hände von ihren Schultern.