Chris Inken Soppa
KALYPSOS LIEBE ZUM KALTEN SEERHEIN
Roman
Literaturverlag Josefine Rosalski, Berlin 2015
Cover
Titel
SEERHEIN
PARADIES
WOLLMATINGEN
PARADIES
SEERHEIN
BAHNHOFSTRASSE
INDUSTRIEGEBIET
HAUPTFRIEDHOF
BODANPLATZ
MARKTSTÄTTE
MUSIKERVIERTEL
PARADIES
SEERHEIN
PARADIES
MUSIKERVIERTEL
MÜNSTERPLATZ
PARADIES
PETERSHAUSEN-WEST
PARADIES
NIEDERBURG
PETERSHAUSEN-OST
SEERHEIN
PARADIES
Impressum
Fluss-Seeschwalben stürzen sich auf die Wellen. Ein Vater in Wanderschuhen, grauer Hose und kariertem Hemd hält seinen kleinen Sohn Richtung Himmel und ruft, schau mal, Harry, so viele Vögel! Das Kind reagiert mit piepsendem Lachen und greift ins Leere. Schmale, weiße Flügel kämpfen um Auftrieb, zierliche Körper stechen im freien Fall nach unten.
Niks tut es den Vögeln nach und wirft sich Kopf voran ins Wasser. Die Kälte hüllt sie von allen Seiten ein, blau-grünes Sonnenlicht und Luftblasen machen ihr klar, wie abrupt die Tiere hier unten gebremst werden. Sie entdeckt keinen einzigen Fisch, obwohl sie die Augen weit offen hält. Nur schwimmende Ahornblätter, deren Schatten flüchtige Punkte auf dem klaren Kiesgrund ergeben. Niks schwimmt langsam und geduldig. Die Fluss-Seeschwalben sind viel schneller, doch auch sie beweisen Geduld. Ein erfolgloser Sturz nach dem anderen, erneutes Gen-Himmel-Steigen, Flügelanlegen, Fallenlassen.
Die Oktoberkälte zwingt Niks, sich trockenzureiben, bis ihre Haut heiß und rot wird. Beide Arme wirbeln im Kreis, Blut und Wärme müssen zurück in die Fingerspitzen. Niks legt sich das Handtuch über die Schultern, drückt Wasser aus ihren Haaren. Ein gelbes Ahornblatt ist mitgekommen und klebt an ihrem Oberschenkel. Sie nimmt den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger, löst das Blatt, lässt es zu Boden trudeln. Über dem Wasser fallen immer noch Vögel vom Himmel, machen letzte Beute vor ihrem langen Flug nach Süden.
Die Kälte ist ein sicheres Mittel gegen die alltägliche Trübsal des Alterns. Wenn ein Körper verfällt, wird er traurig. Dumpf drückende Gliedmaßen, die morgens nicht aus dem Bett kommen wollen. Ein Mund, der nicht sprechen möchte, weil er trocken ist und klebt. Unklare Schmerzen, die auftauchen und wieder spurlos verschwinden, um sich an anderer Stelle festzusetzen.
Noch vor knapp acht Monaten saß Niks im regionalen Nachrichtenstudio und las stündlich Meldungen in den Äther. In kurzen und längeren Berichten kam die Welt zu ihr auf den Bildschirm. Niks wählte die Texte aus, schrieb sie um und schickte sie mündlich weiter, ohne ernsthaft zu glauben, dass ihre Worte nach draußen gelangten. Durch die Glasscheibe ihrer schallgepolsterten Zelle sah sie nur die Techniker. Es waren die Techniker, denen sie vorlas. Nette Jungs, höflich, aufmerksam, immer ein wenig altmodisch wirkend, mit ihren langen, zum Zopf zurückgebundenen Haaren, ihren Streberbrillen und karierten Hemden. Fast alle spielten in einer Band, wenn sie freihatten. Oder sie produzierten elektronische Musik auf ihren Rechnern, Stücke mit hoher Frequenz und gelegentlichem Flimmern.
Zum Schluss hatte Niks selbst mit der Weitsichtbrille Mühe, die kleinen Zeichen auf dem Monitor zu verstehen. Manchmal sehnte sie sich zurück in die Zeit, als Meldungen noch per Telex und Tonband bei ihr eintrafen, Worte und Stimmen noch gegenständlich waren. Man konnte Satzteile abschneiden, neu zusammenkleben und in den Müll werfen, wo sie als braune Magnetbänder so lange offen liegen blieben, bis die Putzfrau sie holte. Manchmal ließ Niks ein Stück Band in den Mülleimer rutschen und stellte später fest, dass sie es doch noch brauchte. Ein achtlos weggeworfener Tonschnipsel verbarg sich perfekt zwischen hundert stummen, teilnahmslosen, nahezu identischen anderen. Man musste den Mülleimer auf dem Studioboden ausleeren, alle Schnipsel aus dem Haufen ziehen, mit der Hand entwirren und sie dann durchs Tonbandgerät laufen lassen. Man stieß auf Versprecher, Knacklaute, Atmen, Schmatzen oder Flüche. War der entscheidende Schnipsel schließlich gefunden, hatte man ihn sicher. Kein Zentralcomputer konnte ihn mehr löschen.
Niks wickelt sich in ihr Handtuch, steigt in Socken und Schuhe und überlegt, in welcher Jackentasche sie ihren Hausschlüssel vergessen hat. Sie braucht nur fünf Minuten bis nach Hause, kommt in ihre Wohnung, hängt die nassen Klamotten über den Badezimmerständer, bringt den Wohnzimmerofen zum Brennen und lässt sich seufzend mit einer Tasse Tee an ihrem Küchentisch nieder. Die Wohlfühlkälte in ihrem Körper wirkt wie eine aufputschende Droge, von der sie nur sparsam kosten darf.
In ihrer Wohnung ist es still, ganz anders als in der Kindheit bei ihren Großtanten. Das Ticktack der Standuhren musste damals in den Abendstunden gestoppt werden, damit ein kleines Mädchen namens Nikola Berger ruhig schlafen konnte. Bei Niks sind heute alle Uhren stumm, Radio und Fernseher ausgeschaltet, Fenster und Türen fest geschlossen. Als es klingelt, zuckt sie zusammen. Öffnet nur zögernd.
Wie eine bunte Woge platzt ihre alte Freundin Ulla Laurenz ins Zimmer: plumpe Glieder, viel Stoff, eine wuchtige Erscheinung, die schwer an sich selbst trägt. Sie runzelt die Stirn. Warst du etwa wieder im Seerhein baden?
Niks nickt. Komm doch rein.
Ulla zieht sich umständlich die Schuhe aus. Dein Herz wird dir das noch mal heimzahlen.
Kannst sie ruhig anlassen bei mir.
Ulla ächzt ein wenig, während sie sich schwankend auf den linken Fuß stellt, um den rechten Schuh von sich zu wuchten. Überall heißt es doch, wir sollten wieder barfuß gehen.
Niks schließt die Tür. Aber nur mit ärztlichem Attest. Möchtest du Tee?
Zimperlich lässt sich Ulla auf einem Küchenstuhl nieder. Sie bewegt ihre Zehen, als fürchtete sie, etwas Gefährliches könne sich von dort auf ihrem ganzen Körper ausbreiten. Es ist nicht einfach, in Niks’Vorratsschrank eine Teesorte zu finden, die Ullas Gemütslage entspricht. Doch endlich hält sie eine Tasse dampfenden Honig-Rooibos in den Händen und ist bereit, einen Schokokeks zu sich zu nehmen. Wenigstens Niks weiß, was Ulla sich wünscht. Ihre drei unmöglichen Kinder hingegen haben keine Ahnung. Sie wollen mir eine Donau-Kreuzfahrt zum Geburtstag schenken, stell dir das mal vor! Eine Donau-Kreuzfahrt! Dabei wollte ich immer nach Alaska fahren und kalbende Gletscher sehen. Mein ganzes Leben lang wollte ich das. Mein ganzes Leben lang bin ich von meinen eigenen Kindern verkannt worden.
Niks ist sich nicht sicher, was man von Kindern zu erwarten hat. Zwischen ihr und ihrer eigenen Mutter gab es nur selten innige Momente. Mit ihrer Ankunft am 30. April 1945 hat Niks das Leben ihrer Mutter zerstört. Welch böses Geschick – und nicht einmal ein Vater dazu, hieß es hinterher in der Verwandtschaft. Angeblich weinte ihre Mutter tagelang, als sie vom Tod des Führers erfuhr. Wir haben uns furchtbar um sie geängstigt, erzählten die Großtanten. Als sie mit dir in den Wehen lag, schrie sie unaufhörlich seinen Namen. Sie war so schwach, hatte so viel Blut verloren, und dann so ein Schlag, davon erholte sie sich nur langsam. Du warst ein greinendes, kümmerliches Ding. Wir hielten es für unsere Pflicht vor dem Herrgott, dich hochzupäppeln, dabei hatten wir ja selbst nichts mehr. Mit unseren letzten Groschen kauften wir Milch, die du sofort wieder ausgespuckt hast. Du warst immer schon starrsinnig, genau wie deine Mutter.
Ulla schiebt sich den Keks in den Mund, kaut rasch und gründlich. Ihre Enttäuschung untermalt sie mit großer Geste. Einst war Ulla die Frau mit der größten, erotischen Wahlfreiheit an der frisch gegründeten Universität. Kommilitonen beiderlei Geschlechts pflegten ihr heimlich Zettel zuzustecken. Trugen ihr die Bücher. Luden sie zum Essen ein. Ständig wurde sie von neuen Verehrern angesprochen. Und sie erwartete so viel von sich! Während Niks träumerisch abwesend einen Schritt rückwärts trat, war Ulla mittendrin, lebendig, redend, gestikulierend. Voller Andacht las sie die Werke von Marx und Descartes, Freud und Wittgenstein und war gleichzeitig überzeugt, jünger, kühner und weiser zu sein als sie alle. Es schien damals kaum etwas zu geben, das sie sich nicht zugetraut hätte. Doch nach ihrer Affäre mit einem Jahrzehnte älteren Geschichtsprofessor versank Ulla im Traditionellen. Heiratete einen Doktoranden. Statt eines Verlages gründete sie eine Familie. Legte ihre Dissertation unfertig beiseite. Sie hielt sich für zu intelligent, zu sensibel und von neuen Reizen zu schwer ergriffen, um sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Ein Nervenzusammenbruch folgte, diverse Klinikaufenthalte, schließlich die Diagnose ADS. Sie legte sich ein perfektes Leben zurecht, das sie bis heute nachzuspielen versucht.
Meine Kinder denken nur an sich selbst, sagt Ulla bitter, und Niks schiebt sich die Ärmel ihres Bademantels über die Ellenbogen. Die Erfrischung, die der Seerhein ihr mitgegeben hat, ist schon längst dahin.
Die jungen Techniker vor der Glaszelle hatten oft neue Klänge für Niks dabei. Fühlten sie sich geschmeichelt, weil sich eine Frau für ihre Musik interessierte, die so deutlich älter war als sie selbst? Das Meiste blieb für Niks unverständlich. Reihen tonloser Lieder, die häufig so klangen, als ließe sie jemand rückwärts durch einen Kassettenrecorder laufen. Doch manchmal war ein Stück dabei, das ihr die Welt farbiger machte. Dann zog sie sich eine Kopie, um die neu entdeckte Musik stundenlang mit sich herumtragen zu können, und signalisierte den Jungs ihre Dankbarkeit. Darüber schienen sie sich zu freuen.
Nur wenige Männer fanden einst Gefallen an Niks. Ihr Körper war zu geradlinig, um als »fraulich« bezeichnet zu werden, und sie nickte und lächelte nicht gerne. Männer bevorzugten weiche, runde Frauen wie Kissen, in die sie hineinfallen und in denen sie herumwühlen konnten. Frauen, die sich so zart und kindlich kichernd gaben, als hätte die Realität sie bereits überwältigt.
Deine Augen sind so klar, sagte Ferdinand an Niks’ einundzwanzigstem Geburtstag. Er war der erste »Bekannte« ihres Lebens. Er brachte ihr mitten im Winter einen Fächer mit. Einen dunkelbraunen, verziert mit stilisierten Abbildungen von Vögeln und Schmetterlingen. Sobald sie ihren Griff ein wenig lockerte, fiel der Fächer in ihrer Hand auseinander. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, und vergaß ihn im Café.
Du bist so unaufmerksam, klagte Ferdinand, als müsste ihr Blick ständig auf ihm ruhen, ihm folgen, ihm applaudieren. Manchmal packte er sie am Kinn und zwang ihr Gesicht zu sich. Sie schloss die Augen. Er trug den strengen Seitenscheitel der frühen sechziger Jahre, dazu graue, enge Anzüge und eine dicke Hornbrille. Er redete von Autos, seinem alten VW Karmann, den er durch einen Mercedes ersetzen wollte. Von einer Eigentumswohnung und seinem wichtigen Job bei Siemens. Seine knöcherne Unförmigkeit ging Niks bald auf die Nerven. Sie verstand ihn nicht. Wieso erzählte er ihr das alles, wo er doch nie von Liebe sprach? Oh ja, von Heirat redete er ständig. Vom Verlobungsring, den er ihr kaufen wollte.
Ihre Frage brachte ihn aus der Fassung.
Liebe, sagte er mit langen Zähnen, als hätte er etwas Ekliges gegessen. Darüber spricht man nicht. Das macht man bloß.
Niks ließ es zu, hinten auf dem Rücksitz seines Karmanns. Ferdinand war noch trockener als sie selbst. Zu allem Unglück wurden die beiden von einem berittenen Polizisten entdeckt, der an das Fahrerfenster klopfte und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses mit einer Verwarnung drohte. Das Zittern in Ferdinands Stimme verriet Niks, was in seinem aufgescheuchten Hirn vor sich ging. Eine Anzeige, Entlassung, kein Daimler, keine Eigentumswohnung. Und keine Heirat. Jedenfalls nicht mit ihr. Wenn ich das gewusst hätte, sagte er. Dass du dich so schnell mit jemandem einlässt. Es überraschte Niks, wie erleichtert sie sich fühlte. Einem Mann offen ins Gesicht zu sehen und dabei Nein zu sagen, war eine schwierige Übung für ein gerade erst volljährig gewordenes Fräulein.
Andere Bekanntschaften folgten, doch immer schien etwas zu stören. Vielleicht lag es an ihrer Stimme, zu durchdringend, zu sonor für eine junge Frau. Erst Jahre später durfte sie ans Radiomikrofon. Du bist ein echter Charakter, sagte ihre Freundin Ulla, und Niks wusste nicht einmal, ob das freundlich gemeint war.
Morgens fühlt sie sich, als wäre das Alter tatsächlich bei ihr angekommen, einem fremden Organismus gleich, der sich ungefragt und mitleidlos in ihr breitmacht. Tagsüber versucht sie, über ihre sechsundsechzig Jahre zu lachen, sie als bloße Zahl zu verstehen, doch das Aufwachen zeigt ihr brutal, was noch vor ihr liegt. Ihre Knochen scheinen spröde, ihr Gaumen ist schuppig und heiß und schmeckt nach vergammeltem Fleisch. Ihre Gelenke wirken eingerostet. Niks liegt minutenlang flach auf dem Rücken, starrt in die beginnende Helligkeit hinter den Lamellen der Fensterläden, denkt über Inkontinenzwindeln, Treppenlifte und Rollatoren nach. Irgendwann gelingt es ihr, sich vorsichtig zu drehen, zu wenden, einen Schluck Wasser zu trinken, ihre Beine dem neuen Tag entgegenzurecken, bis ihr Körper wieder ganz ihr selbst gehört. Es verblüfft sie, wie schnell sie das Alter doch noch abstreifen kann, als wäre es ein schwerer, unansehnlicher Fetzen, den sie ungestraft mit Füßen treten darf.
In den siebziger Jahren interviewte sie eine Frau, deren Ehemann als Chauffeur bei einer Terrorattacke ums Leben gekommen war. Die Frau reagierte überraschend sanft.
Ich trauere nicht um ihn.
Sie wirkte schmal, vom Leben aufs Nötigste abgeschliffen. Ihre Hände lagen demütig und flach auf dem Tisch. Zwei glückliche Familien beim Sonntagsspaziergang, hatte Niks als Kind beim Betrachten ihrer eigenen Hände gedacht. Der Mittelfinger war Papa, der Ringfinger Mama, der spitz zulaufende Zeigefinger die ältere Tochter, der kleine Finger der Sohn und der Daumen der Familiendackel. Auch die Hände der Chauffeursfrau stellten Familien dar. Die linke Tochter war der linken Mama allerdings schon über den Kopf gewachsen. Dafür war die rechte Tochter blau, blutunterlaufen und gestaucht und der rechte …
Ein lebloser Daumen, der in unerhörtem Winkel nach unten stand, als hätte ihn jemand mehrfach aus- und wieder eingerenkt. Die Haut spannte sich gelb, lila und weiß glänzend darüber. Dazwischen die roten Sprenkel gerissener Äderchen.
Sein Leben war hart. Die Chauffeursfrau klang gleichgültig. Tag und Nacht wurde er hinausgeklingelt, musste stundenlang im Auto warten. Zuerst hat er gelesen, um sich die Zeit zu vertreiben. Dann fing er an zu trinken …
Niks hielt ihr Mikrophon fest, starrte auf die verletzte Familie, bis die Frau erneut zu sprechen begann.
Eine schreckliche Arbeit. Diese anspruchsvollen, hohen Herren, die immer alles sofort haben wollten. Er war nicht geschaffen dafür. Er kam mit Albträumen wieder, weil er Sachen erfuhr, die er gar nicht hätte wissen dürfen. Ich sollte zu Hause bei den Kindern bleiben. In Sicherheit. Das hat er mir schließlich missgönnt.
Die Stimme der Frau wurde kieselhart. Es geht niemanden etwas an. Oh ja, das hat er mir selbst gesagt. Die Familie, die Familie. Ich solle die Familie nicht zerstören. Das habe ich auch nicht, und jetzt bin ich frei.
Zwischen ihren Lippen brach ein strahlendes Lächeln hervor.
Als das Telefon klingelt, hat sich Niks gerade ein Hörnchen in Alufolie auf der Herdplatte erwärmt und ist dabei, es in eine große Tasse Milchkaffee zu tunken.
Niks? Nikola Berger? Eine Frauenstimme.
Am Apparat. Als spräche Niks in ein Bakelit-Wandtelefon! Wer ist denn da?
Karen. Karen Eno. Weißt du noch? Ich bin die Freundin von Nadine.
Nadine. Die Praktikantin, die vor über zwanzig Jahren beim Nachrichtensender arbeitete und in Konstanz kein Zimmerfand. Niks nahm sie für vier Wochen auf und betreute ihre Arbeit. Im darauffolgenden Jahr kam Nadine als Volontärin wieder und brachte ihre Freundin Karen mit, die ihr erstes Radiopraktikum absolvieren wollte. Niks besorgte den beiden ein WG-Zimmer. Viele Stunden ihrer knapp bemessenen Freizeit verbrachten die jungen Frauen damals mit Niks. Erst als Nadine und Karen heirateten und Familien gründeten, verloren sie einander aus den Augen. Aus den Weihnachts- und Osterpostkarten, die gelegentlich bei ihr eintreffen, hat Niks erfahren, dass Nadine in Genf wohnt, zwei Töchter hat und mit einem Doktor der Teilchenphysik liiert ist. Über Karen weiß sie weniger. Karen ist geschieden, hat ihren Mädchennamen wieder angenommen und lebt mit ihrem Sohn irgendwo im Thurgau.
Karen? So eine Überraschung!
Also erinnerst du dich noch an mich?
Aber natürlich. Karen Eno. Die dänische Primaballerina.
Karens deutsche Mutter starb früh; ihr dänischer Vater investierte viel Zeit und Geld in das Ballettprogramm seiner Tochter. Mit siebzehn war sie so magersüchtig, dass ihre Knochen brachen wie Glas. Die lange Therapie bohrte eine Pause in ihr ehrgeiziges Trainingsprogramm, von der sich ihre tänzerischen Leistungen nie wieder erholten. Da stand sie nun, mit einem auf Normalmaß hochgemästeten Körper, ohne die geringste Ahnung, wie ihr Leben weitergehen sollte. Zum Radio kam sie durch Nadine. Ihre Härte, die einst eine vielversprechende Tänzerin aus ihr gemacht hatte, zahlte sich nun aus. Schon als Praktikantin kannte sie keine Gnade. Altgediente Redakteure gaben zu, sich vor ihr zu fürchten. Niks jedoch empfand Mitleid mit ihr, dieser schlanken, zierlichen, jungen Frau mit dem hochgesteckten, dunklen Haar und dem kühlen Blick, deren schnappende Atemzüge von der Angst zeugten, erneut zu versagen.
Du hast mich nie tanzen sehen. Selbst heute klingt Karen noch einschüchternd.
Niks erkundigt sich nach dem Sohn.
Gut. Es geht ihm gut, sagt Karen. In zwei Tagen wird er einundzwanzig. Stell dir das vor. Ab übermorgen darf er eine Lok fahren, ein Kind adoptieren und sich zum Landrat wählen lassen. Es macht mich alt, Niks.
Niks seufzt in ihre Sprechmuschel und fragt sich, wer ihr eigentlich verbietet, einfach aufzulegen. Der Milchkaffee ist sicher nur noch lauwarm, das Hörnchen hoffentlich nicht in die Tasse gerutscht.
Ich mach mir Sorgen um ihn, sagt Karen. Wir haben ihn ohne Fernseher aufwachsen lassen, ohne Computer und den anderen technischen Kram. Mit sechzehn hat er einem anderen Jungen das Notebook geklaut. Na ja, ich musste ihn dann für ein Jahr aufs Land schicken. Auf eine Montessori-Erdkinder-Erfahrungsschule. Ein Jahr körperliche Arbeit auf dem Feld und im Stall. Es tat ihm so gut, weißt du. Er hat hinterher sein Abi gemacht, und nun will er Journalist werden. Ich bin richtig stolz auf ihn. Aber vielleicht kommt er unter die falschen Leute. Deshalb wollte ich dich bitten …
Er braucht einen Praktikumsplatz?
Er fängt nächsten Monat beim Sender an, als Volontär. Könnte er nicht anfangs bei dir wohnen, bis er sich eingelebt hat? Die Zimmer sind ja teurer denn je. Am liebsten würde ich mitkommen, aber ich habe gerade bei unserer evangelischen Gemeinde eine neue Stelle als Internet-Redakteurin angenommen. Außerdem finde ich, dass Hek endlich auf eigenen Füßen stehen sollte.
Niks schließt die Augen. Hätte Hektor nicht lieber ein Zimmer in einer WG mit Gleichaltrigen, fragt sie. Ich weiß ein paar Leute, die bestimmt etwas für ihn auftreiben würden.
Für den Anfang sollte er erst mal bei dir sein. Karen klingt ungerührt. Dann können wir ja sehen. Du wohnst doch immer noch in deiner großen Wohnung, oder? Hek könnte für dich einkaufen gehen oder deine Fensterscharniere reparieren oder so was. Er kann jetzt gut mit den Händen arbeiten.
Er müsste aber trotzdem Miete zahlen.
Aber bitte einen Freundschaftspreis. Mein Lohn bei der Gemeinde ist nämlich nicht so doll, sagt Karen gespielt ergeben. In ihrer Härte und Beharrlichkeit ist ihre Stimme kaum gealtert. Niks erinnert sich an eine gemeinsame Wanderung im Mainauwald mit Karen und Nadine. Karen trug den Rucksack mit den Flaschen, mit Würsten, Brot, Kuchen und hartgekochten Eiern auf dem Rücken. Sie stolperte über eine Baumwurzel und landete bäuchlings im Farn. Nadine und Niks zogen sie hoch, wollten ihr den Rucksack von den Schultern nehmen, doch Karen wehrte sich. Es ist nichts, ist okay, gehen wir weiter. Sie stopfte sich das herausgerissene Hemd zurück in die Hose und ging vor den beiden anderen her, als wäre nichts passiert. Den Rest des Tages blieb sie stiller als sonst. Selbst der mitgebrachte Heidelbeerlikör, der Nadine und Niks schon nach wenigen Gläsern an den Rand der Geistlosigkeit gebracht hatte, schien bei ihr nicht anzuschlagen. Irgendwann fing Nadine an, Karen zu foppen. Niks war zu betrunken, um sich einzumischen. Sie saß auf ihrem Baumstumpf und hörte zu. Du Musterschülerin, sagte Nadine, gehst du zum Lachen eigentlich in den Keller? Hast du schon mal was Sinnloses getan, bloß weil es dir möglich ist? Du bist ja zerfressen von Ehrgeiz. Ich wette, du kannst das Wort Freude nicht mal buchstabieren. Soll ich es für dich tun? F-R-E-U-D …
Irgendwann stand Karen dann auf, packte Essensreste, Schnapsflasche, Gläser und Geschirr wortlos in ihren Rucksack und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Am nächsten Tag kam sie mit einem Leistenriss ins Krankenhaus. Eine Woche später gab Nadine ihr Volontariat vorzeitig auf, Niks hat nie erfahren, warum. Und Karen übernahm die freigewordene Stelle.
Am Mittwochnachmittag also will sie ihren Sohn zu Niks bringen.
Am Abend veranstaltet der Naturschutzbund sein Herbstgrillfest. Die Fluss-Seeschwalben haben die installierten Brutflöße dieses Jahr gut angenommen, das feiert man mit einem Freudenfeuer, Stockbrot und Biowürstchen. Im Tipi gibt es Zwiebelkuchen und Apfelmost. Die Sonne verkriecht sich hinter roten Wolken, die ersten Fackeln brennen bereits, und Niks hüllt sich fester in ihren alten Wollponcho, der den Rauchgeruch früherer Feste in sich trägt. Alle um sie herum sind jünger als sie. Anfangs fühlte Niks sich fremd zwischen den engagierten Ehepaaren. Deren lebhafte Erzählungen von Sitzblockaden in Gorleben, am Frankfurter Flughafen oder im Wendland erinnerten Niks vor allem an die Glaszelle, in der sie Tag für Tag saß, um das Geschehene in trockene, verständliche Sätze zu packen.
Neben ihr sitzt Julia, eine schmale Ornithologin mit fünf Kindern und einem Mann, der sein halbes Leben auf der Rainbow Warrior verbracht hat. Heute kauert er vor dem Feuer und hält fünf Stockbrote in die Flammen. Julias Blick ist liebevoll-nachsichtig. Sie zieht eine Tupperdose aus ihrem Rucksack und bietet ihren zwei jüngsten Kindern Apfelstückchen daraus an. Nächstes Jahr könnten wir noch mehr Brutflöße bauen, sagt sie zu Niks. Herrmann wird das beantragen.
Als hätte Herrmann sie gehört, nimmt er die fünf Stöcke in die rechte Hand, dreht den Kopf und winkt mit der Linken. Dann wendet er sich wieder dem Feuer zu.
Ich hoffe, dass er dieses Jahr daheim bleibt, nickt Julia. Max ist in der vierten Klasse und wird sie nicht so leicht schaffen wie die zwei anderen. Es ist eine schwierige Zeit für ihn und für uns, und Herrmann muss mithelfen. Er hat eine Vollzeitstelle bei Greenpeace angeboten bekommen. Das Meiste wäre einfacher Redaktionskram, den er von daheim aus erledigen kann. Höchstens ein Mal in der Woche würde er nach Stuttgart fahren. Er wollte unbedingt fünf Kinder, also soll er sich auch Zeit für sie nehmen. Julias hageres Gesicht ist alltäglich, ein Gesicht, das sich in sprechende Quer- und Längsfalten legen lässt.
Klingt prima. Niks nimmt Herrmann zwei Stockbrote ab und reicht sie weiter. Julias jüngste Kinder Noah und Lena tauchen unter der Bierbank hervor und krähen lautstark nach Futter. Ungestüm schiebt sich Lena ein Brot in den Mund, verbrennt sich die Lippen. Das Brot fällt zu Boden.
Ruhig, Lena, ruhig. Julia hält ihre heulende Tochter mit der linken Hand auf der Sitzbank und kramt mit der Rechten in ihrer Handtasche aus Lastwagenplanen, um ein winziges, braunes Fläschchen hervorzuholen. Sie schraubt es auf, ohne die Linke zu Hilfe zu nehmen, und träufelt Lena ein paar Tropfen auf die verbrannte Stelle. Das Kind brüllt. Der Bruder steht dicht daneben und nagt gedankenvoll an seinem Brot. Schmeckt’s, fragt Niks, doch Noah hat kein Interesse an ihr. Die Aufmerksamkeit, die seine Schwester erregt, scheint ihn zu ärgern. Lena tut der ganze Mund weh, und ihre Mutter redet beschwichtigend auf sie ein. Greenpeace-Herrmann kauert mit den verbliebenen Stockbroten vor dem Feuer, umringt von seinen drei Ältesten. Niks muss an ein Wolfsrudel denken, hochkonzentriert und gleichzeitig halb wahnsinnig vor Hunger. Doch als Herrmann vorsichtig über die Brote bläst und sie seinen Kindern überreicht, nehmen sie die Stöcke behutsam entgegen. Nacheinander fragen sie ihn, ob er auch mal beißen will, und jedes Mal nickt er und knabbert mit geschürzten Lippen ein kleines Stückchen ab. Dann essen die Kinder. Herrmann sieht ihnen zu. Im warmen Feuerschein wirken ihre Gesichter kupfern und schattig.
Wie wär’s mal mit Glühmost?
Niks nimmt den angebotenen Becher dankbar entgegen; die Herbstkälte zieht ihr in die Finger und lässt sie taub werden, doch Julia schüttelt den Kopf. Nicht für mich.
Alex, der Zivi, hält sein Glühmosttablett hoch und erklärt Julia, dass es auch alkoholfreien Kinderpunsch gebe. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf das fackelbeleuchtete Tipi. Dort drin haben sie einen Riesentopf voll.
Niks trinkt ein paar Schlucke Most und schlägt Noah und der tränenverschmierten Lena vor, für Mama Punsch zu holen. Sie steht auf, nimmt die klebrigen Pfoten der beiden Kinder links und rechts in ihre Hände, steuert auf das Tipi zu. An Fasching bin ich auch Indianer. Lena tapst vorsichtig durch den Rindenmulch vor dem Zelteingang.
Du bist gar kein richtiger Indianer. Noah stößt sie in die Seite. Indianer heulen nie.
Gar nicht. Die Kinder weinen auch manchmal. Die Indianer haben doch auch Kinder, oder? Lena sieht bittend zu Niks hoch. Klar, sagt Niks. Jedes Kind weint mal. Und Erwachsene auch.
Aber Mama weint nie. Lena geht durch den Zelteingang und bleibt stehen, überrascht von der Wärme und dem strahlenden Licht der Glühlampen, die von der Decke baumeln. Die schimpft bloß immer. Noah trampelt Lena unsanft in die Hacken. Geistesabwesend tritt Lena zurück und trifft Niks am Schienbein.
Seid doch vorsichtig. Niks legt Lena die Hand in den Nacken und schiebt sie weiter.
Hinter der Theke steht eine junge Frau in Haremshose und Wolljacke, die in einem großen, dampfenden Kessel rührt. Sie lächelt freundlich auffordernd. Hallo Niks, sagt sie. Hast du deine Enkel dabei? Das ist ja nett! Niks schüttelt den Kopf, während Lena und Noah lautstark protestieren. Die sind von Julia. Wir wollen drei Mal Kinderpunsch, nicht wahr?
Die junge Frau schöpft Punsch in drei Tonbecher und stellt sie auf ein Tablett. Niks bezahlt. Noah versucht, das Tablett mit beiden Händen anzuheben, dann verlässt ihn der Mut, und er setzt es wieder ab.
Ich trage es schon, sagt Niks beruhigend. Aber ihr müsst mir die Zeltklappe aufhalten. Danke schön.