roman
Residenz Verlag
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ISBN eBook:
978-3-7017-4510-4
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1645-6
»Und um eines flehe ich dich an: Befasse dich nicht mit Politik! Alles, was du willst, nur keine Politik.«
Ich schwor leichten Herzens. Das Gebiet der Politik lag mir fern. Nino war meines Wissens kein politisches Problem.
Kurban Said: Ali und Nino
»Hmm … ganz ruhig …«, dachte der Professor, »er ist reingeflogen, als ich vom Fenster wegtrat. Es ist alles in Ordnung!«, befahl er sich. Dabei war eigentlich gar nichts in Ordnung. Insbesondere wegen dieses Vogels.
Michail Bulgakov: Meister und Margarita
Surrealismus ist die magische Überraschung, in dem Schrank, aus dem man ein Hemd holen wollte, einen Löwen zu finden.
Frida Kahlo
Der Geschmack der Freiheit ist in Wahrheit der Geschmack des Verbotenen, aber egal, dadurch bekommt sie die reizende Nuance eines Mystery-Films.
Che Guevara
sackgassen, blinde wege, tote enden. blind und tot? tatsächlich? wie viel leben steckt in diesen toten enden, den ärmlichen hinterhöfen, den wohnungen, deren fenster in diese höfe blicken, hängt auf den wäscheleinen, zwischen leintüchern, strumpfhosen, weißen hemden und bunten kindersocken! die enden sind blind und tot nur für den spaziergänger, dessen ziel das fortkommen ist, für die wandernde, die nicht zu bleiben gedenkt. diejenigen, die hier wohnen, sind am ziel angelangt, wenn kein weg mehr weiterführt als der durch die pforte und das treppenhaus zur tür, aus deren spalt es mittags nach suppe und abends nach bratkartoffeln riecht. die streunenden katzen und hunde begleiten die ansässigen auf der suche nach futter. hinter einer dieser türen lebt nino mit ihren eltern.
die mutter war keine zwanzig, als sie den vater heiratete und mit ihm gemeinsam ein zimmer in der wohnung der schwiegereltern bezog. und an ihrem hochzeitstag fielen auf den grauen asphalt vor der fleischerei rote blutstropfen, auf die steinernen stufen im hausflur rote rosenblüten – nino war damals noch nicht geboren und noch nicht gezeugt worden, aber die geschichte wurde ihr oftmals erzählt von ihrer mutter. (nino) ich gehe an fleischereien vorbei und durch den hausflur, kaufe rinderbeine und gratuliere dem vater des frisch vermählten paares von nebenan, der im hof eine zigarette raucht; pflücke tropfen und blüten mit meinen augäpfeln, der schwarzen iris, der netzhaut, und denke an das mädchen, das soeben geheiratet hat, deren mann sich wohl freuen wird, jetzt oder in ein paar stunden, wenn rosenblüten den eingangsbereich und blutstropfen das leintuch verzieren. und ich frage mich, wie viele frauen, männer und kinder bereits durch diese pforte geschritten sind, den stein mit ihren tritten langsam geglättet und gerundet haben, wie oft schon rosenblüten gestreut worden sind …
nino liebt ali (und ali liebt nino), aber heiraten will sie ihn nicht – noch nicht? nino will keine rosenblüten – und blutstropfen auf dem leintuch wird es auch keine mehr geben. »nur: wann, wenn nicht jetzt? ich bin auch nicht mehr blutjung«, denkt sie, »der kritische blick in den spiegel verrät mir, dass ich die zwanzig schon deutlich überschritten habe.« dass sie bei ihren eltern lebt wie ein kind, liegt daran, dass sie nicht geheiratet hat und allein zu wenig verdient, um sich auf die socken zu machen – und immer wieder die frage: (nino) warum bin ich bloß lehrerin geworden? wegen der kinder? wegen der idee, etwas weiterzugeben? wegen mir selbst? und keine antwort. manchmal heimkommen mit migräne und dem wunsch, niemanden zu sehen. sich manchmal ärgern über das geringe gehalt, das nicht reicht für eine eigene wohnung, das nur reicht für ein paar kleider, schmuck und schuhe, einen gelegentlichen kaffee am fontänenplatz und heimlich gerauchte zigaretten. habe ich passend zum beruf die abhängigkeit mitergriffen? fürchte ich mich vor der unabhängigkeit, vor dem alleinwohnen?
es gibt keinen grund dazu, aber: furcht macht handeln und denken haltlos – genauso wie sie nicht daran glaubt, dass zerbrochenes geschirr ein unglück verhindert, weiß nino auch, dass keine monster aus der klomuschel oder aus dem mülleimer kommen, dass zweisamkeit nicht vor naturkatastrophen oder einbrüchen schützt und dass es deren sehr wenige gibt. das wissen darum, dass die stadt nicht von spukgestalten bevölkert wird, hilft wenig gegen die furcht vor umgehenden gespenstern, wenn etwas den halt verliert und fällt, ein geräusch wie aus dem nichts kommt, die gardinen sich im wind blähen. der ärger über verlorene teller und tassen wird ja auch von einer spur erleichterung oder gar freude begleitet. (nino) menschen schützen sich vor computerviren und geschlechtskrankheiten, aber gespenstern sind sie schutzlos ausgeliefert – wie sich in sicherheit bringen vor etwas, das gar nicht da ist? im gegensatz zu milchzähnen und haaren fällt die furcht mit den jahren nicht aus, sie setzt sich nur noch mehr fest, und langsam kommt auch noch die angst vor dem alter hinzu. und der fleckige spiegel im flur schweigt mich an mitsamt meinem anflug von aberglauben.
(nino) ich sehne mich manchmal zurück an diesen tag, an dem mich ali vor der schule abpasste, mich fragte: »wollen wir beide einen spaziergang machen oder zwei?«, den tag, an dem ich ihm antwortete: »machen wir zwei: du gehst von hier aus nach links und ich nach rechts«, erinnere mich, wie wir lachten und uns nach zwei kleinen quadratischen rundgängen um vier oder fünf häuserblocks am ausgangspunkt trafen. es lacht in mir nach, wenn ich durch die von mauern umkreiste altstadt gehe, deren sackgassen und stille winkel uns unterschlupf boten. einzige zeuginnen unserer zweisamkeit waren die straßenkatzen.
(nino, ali) wir meiden gemeinplätze, sie sind uns zu voll und somit zu eng, zu verhübscht und zu wenig schön, zu abgetreten, obwohl jede fußspur verwischt wird. lieber überqueren wir bahngleise, klettern im traum an dachrinnen hoch und an baumstämmen; und wir bummeln zum 28. may, das ist ein platz, nicht nur ein tag … auf dem weg dorthin der leere grund aus schlamm und geröll. die einstigen häuser zu unserer rechten: aus dem stadtviertel gehoben wie baklava mit einem tortenheber aus der form. die verschonten häuser zu unserer linken: sie wirken verloren ohne ihr gegenüber. das einsam an der hellrosa wand stehende klavier macht ali besonders traurig, ist er doch wegen eines klaviers in seine wohnung gezogen. zwar ist er seinem mitbewohner und seiner mitbewohnerin wirklich zugetan, aber: zum einzug verleitet hat ihn der flügel – und ihm wird nach weinen zumute, wenn er das piano an der bröckelnden außenwand sieht, zwischen löwenzahn, tüten mit müll und solchen mit brotresten, zwischen zu boden geworfenen zigarettenstummeln und einwegspritzen. ali schlägt einen ton an und einen zweiten: die tasten klemmen und das instrument ist verstimmt.
frida kennt richard seit ein paar wochen. »er ist geheimnisvoll«, denkt sie – »sie ist hinreißend«, denkt er. die beiden sind sich noch etwas fremd, aber sie mögen sich, sind achtsam im umgang miteinander – keine geste des gegenübers entgeht ihnen. an sonntagen gehen sie miteinander spazieren. das verirrspiel auf den straßen beim versuch, drei unbekannte personen gleichzeitig (frida) im auge zu behalten. frida verliert eine frau – sie entzieht sich dem blick, ist nicht mehr da, wie verschwunden aus dem öffentlichen raum, aus dem laufen und tänzeln und bummeln in der nizami küçәsi. richard hat kein problem, fünfen zu folgen, ohne dass seinem gesichtssinn eine frau, ein mann, ein kind abhanden kommt. ich hingegen bin überfordert damit, lasse frauen, männer, kinder aus den augen und finde sie nicht wieder. und ich bin verdoppelt; auf der straße, in der spärlich beleuchteten wohnung: mein schatten und ich. in letzter zeit sollen in der innenstadt öfters menschen ohne schatten gesehen worden sein – aber das sind märchen oder gerüchte.
frida fühlt sich oft nicht allein, obwohl sie es ist – oder ganz allein, obwohl sie es nicht ist. sie war von anfang an viel allein. die laue spätsommernacht, in die sie hineingeboren worden war, neigte sich dem ende zu, und auch die vorkriegszeit sollte nicht mehr allzu lange währen. frida kam kurz vor mitternacht zur welt, um drei uhr morgens schreckte der anruf vater, mutter und kind aus dem gerade erst gefundenen schlaf. fridas großmutter war gestorben in jener nacht. das leben im haus wurde seitdem bestimmt von der hingabe an gemischte gefühle – frida hätte sich mehr aufmerksamkeit gewünscht, aber zum wünschen war sie noch zu klein. die trauer schlug ihr zelt auf; die ladas und selbst die maschrutkas mussten ihr ausweichen. wen sie einmal erfasst haben, den lassen alleinsein und trauer nicht mehr aus: fridas vater ist so unglücklich und schnelllebig, dass ihn mit sechzig ein herzinfarkt ereilen wird. noch lebt er allerdings mit seiner frau und seiner jüngeren tochter in der kleinen plattenbauwohnung am rande der stadt, in einer straße, die 20. janvar heißt und nahe der autobahn verläuft, die nach tbilisi führt. als kind hatte frida immer davon geträumt, die autobahn entlangzurennen, bis nach georgien. dort müsse es so schön sein wie im inneren illustrierter märchenbücher. wenn frida traurig ist, geht sie allein spazieren – da verflüchtigt sich die einsamkeit wie die schäfchenwolken über dem bulvar und die gerüche, die an ihr nur vorbeiziehen. wenn sie glücklich ist, spaziert sie in begleitung durch die stadt.
richard spricht kaum über sich. er ist gut zehn jahre älter als frida und in baku geboren, hat aber längere zeit im ausland gelebt. er sagt auf dem steg, der ins offene meer hinausführt, zu frida, dass er manchmal diese seltsamen launen habe, vermutlich eine spätfolge seines motorradunfalls. (frida kann ihn gut verstehen, sagt aber nichts dergleichen. ihre geschichte ist ihm sowieso bekannt.) richard geht oft wandern, ohne begleitung. das macht ihn bereits zur kuriosität. auch wenn ihm hirten zur umkehr raten, schlägt er ihre warnungen in den wind. (richard) wölfe fürchten sich mehr vor menschen als umgekehrt; jeder kleine fluss lässt sich überqueren, wenn steine da sind, um von einem zum anderen zu springen oder dämme zu bauen; so ein dorf in sicht ist, gibt es auch in der dunkelheit einen anhaltspunkt.
auch frida liebt die berge; im sommer, wenn die stadt zu heiß wird, macht sie sich mit nino und ihrer gefolgschaft auf in luftige höhen. abends geht sie oft mit che spazieren, den sie liebt, seit sie ihn eines nachts in einer bar aufgelesen und mit nach hause genommen hat. (frida) dieser nachhauseweg und all die gehstrecken: che und ich und die bewegung auf ein ziel zu – oder um ihrer selbst willen. die längste wanderung – war sie in den dolomiten gewesen oder in den karpaten, in den alpen oder im kaukasus? und der kürzeste spaziergang meines lebens, an dem tag, als wir zwei meter nach der haustür kehrtmachten. (wir würden draußen schließlich genauso unglücklich sein wie drinnen …)
alis großer bruder fuad ist unmittelbar nach seinem studienabschluss eingerückt und hat die armee erst vor ein paar monaten verlassen. noch lassen ihm die bilder keine ruhe. die kaserne in şәki: eine der größten im ganzen land. der abschied von mutter und vater, die beide so ernst dreingeblickt hatten; die busreise; die ankunft: das ablegen der zivilkleidung – der hose, des hemds, der unterwäsche, der socken und schuhe. әhmәd, sein zimmergenosse, tat ihm vom ersten augenblick an leid: er war so schmächtig, dass fuad sich wunderte, wie er den militärdienst überstehen könne. (er überstand ihn.) der erste tag als soldat: die uniform ausfassen, die tarnfarben anlegen, zuletzt in die schwarzen stiefel schlüpfen und sie schnell noch bürsten und binden. beim ersten appell löste sich eine masche, der schnürsenkel an seinem linken schuh öffnete sich. die strafe folgte auf dem fuß. seit diesem abend, an dem er alle latrinen des stockwerks gereinigt hatte, schnürte er seine schuhe so fest, dass es schmerzte. tagelange märsche durch schlamm und distelgestrüpp, antreten, salutieren, liegestütz – das abendliche putzen der waffen und stiefel war ihm ein vergnügen dagegen. mittags wasser und brot, buchweizenbrei oder bulgur. abends ähnliches. die meisten versuchten zu vergessen, wie dolma und kebab, kompott und blechkuchen, baklava und khachapuri aussehen, wie sie riechen und schmecken. im lauf der monate wurden sie alle dünner und dünner. die besuche bei eltern, tanten und onkeln, brüdern und schwestern, großvätern und großmüttern waren zu selten; und auch wenn sie von diesen herzlich empfangen und regelrecht gemästet wurden, brachte ihnen das nur kurzfristig ein paar gramm: die aufgenommene energie verdampfte beim nächsten abendappell oder wurde beim ersten gewaltmarsch herausgeschwitzt. eine gelegentliche aufheiterung boten spielkarten und zigaretten, die von hand zu hand, bierflaschen und witze, die von mund zu mund gereicht wurden.
fuad sitzt mit frida, ali und nino in seiner wohnung auf dem teppich und alis lucky strike haben in ihm einen erzählfluss ausgelöst. die wohnung ist warm und wohlig, es riecht nach tee und zitrone, nach den resten des abendessens, die auf dem herd geblieben sind, nach fridas hautcreme und alis zigaretten. hier und dort: zwei welten, die so unterschiedlich sind, dass es ihm scheint, es würde sich kaum etwas von der einen in der anderen wiederfinden. hier: von dort nur die tarnfarben als zarte, grüne lilienblätter und kastanienbraune trennlinien zwischen den ornamenten des teppichs. dort: einzig die seltenen momente des innehaltens, des zärtlichseins unter soldaten, die gedanken an wochenenden bei familie und freunden – sie waren lichtblicke, die an eine welt jenseits der armee denken ließen. an orte, wo er sich nicht tarnen musste.
dort konnten selten zwei einander ort sein, noch seltener: sich umarmen oder schnellen sex haben hinter den olivgrünen oder khakifarbenen türen. (fuad)