Slavoj Žižek
Die drei Leben
der Antigone
Ein Theaterstück
Deutsch von Frank Born
FISCHER digiBook
Slavoj Žižek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Was ist ein Ereignis?« (2014) und »Das Jahr der gefährlichen Träume« (2013).
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Auf Grundlage des Theaterstücks von Sophokles legt der bekannte Kulturkritiker und Philosoph Slavoj Žižek hier seine Version der Antigone vor: als eine ethisch-politische Übung im Stil der Lehrstücke von Brecht, als ein Theaterexperiment mit drei möglichen Schlüssen. Seine Absicht ist, uns mit einer echten Antigone unserer Zeit zu konfrontieren, indem sie zum Teil des Problems gemacht wird. Die Lösung, die Žižek vorschlägt, wird uns in unserer humanitären Selbstzufriedenheit erschüttern.
Erschienen bei FISCHER digiBook
Titel der Originalausgabe: »The Triple Life of Antigone«
© Slavoj Žižek, 2015
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403650-2
Sören Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil 1 und 2, München 2007, S. 165-196.
Zitiert nach Johann Wilhelm Loebell (Hg.), Karl Friedrich Becker’s Weltgeschichte. Siebente, verbesserte und vermehrte Ausgabe, Siebenter Theil: Karl Friedrich Becker’s Geschichte der neueren Zeit, Berlin 1841, S. 188f.
Richard Holmes, »The Biographical Arts«, Rezension des Buchs Truth to Life von A.O.J. Cockshut, in: The Times, 30. Mai 1974, S. 11.
Genaugenommen ist die christliche Tragödie keine echte Tragödie mehr; ihr Schrecken reicht über das Tragische hinaus. »Für viele Theoretiker der Tragödie gilt Agamemnon als tragisch, Auschwitz dagegen nicht«, schreibt Terry Eagleton (Trouble with Strangers. A Study of Ethics, Malden, Mass., u.a. 2009, S. 286). Der Satz ist als sarkastischer Seitenhieb auf jene postmodernen Elitaristen zu verstehen, die sich in Lobpreisungen der ethischen Größe der suizidalen Leidenschaft des einsamen Helden ergehen und dabei das weit weniger heroische millionenfache Leid und Elend einfacher Menschen vergessen. Aber der Satz ist natürlich auch schlicht wahr: Auschwitz ist nicht tragisch, es tragisch zu nennen, wäre Blasphemie, denn seine Opfer wurden noch des Minimums an menschlicher Würde beraubt, welches das Subjekt braucht, um als tragischer Held auftreten zu können.
François Balmès, Dieu, le sexe et la verité, Ramonville-Saint-Agne 2007, S. 196.
Zitiert nach Jean-Pierre Kempf und Jacques Petit, Études sur la »Trilogie« de Claudel. 1. L’otage, Paris 1966, S. 65.
Ebd., S. 53.
Ich beziehe mich hier auf Sophocles, Electra, Oxford 2001 in der Übersetzung von Anne Carson, die im Stile der »No-Fear-Shakespeare«-Übersetzungen versucht, das Stück in ein modernes Englisch zu überführen.
Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 52006, S. 255.
Zitiert nach https://otto-schoenberger.de/antigone.
Amélie Oksenberg Rorty, »The Psychology of Aristotelian Tragedy«, in: dies. (Hg.), Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton 1992, S. 1-22, hier S. 1.
Zitiert nach https://otto-schoenberger.de/antigone.
Judith Butler, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt/M. 2001, S. 69f.
Ebd., S. 130.
Vgl. Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M. 2006.
Der einzigartige Film Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer (The Fast Runner, 2001) erzählt die Geschichte einer alten Inuit- (Eskimo-)Legende nach und wurde auch tatsächlich von kanadischen Inuit gedreht; Regisseur Zacharias Kunuk entschied sich allerdings dafür, den Schluss zu verändern, und ersetzte das Gemetzel des Originals, in dem alle Beteiligten umkommen, durch ein versöhnlicheres Ende. Als ihm daraufhin von einem kultursensiblen Journalisten vorgeworfen wurde, er verrate die authentische Tradition, um sich dem heutigen Publikumsgeschmack anzubiedern, bezichtigte Kunuk den Kritiker im Gegenzug der kulturellen Ignoranz: Die Bereitschaft, die Geschichte den heutigen Bedürfnissen anzupassen, beweise gerade, dass die Autoren noch immer Teil der alten Inuit-Tradition seien, denn eine solch »opportunistische« Überarbeitung sei ein Merkmal vormoderner Kulturen, während allein schon die Idee der »Originaltreue« anzeige, dass man sich bereits im Raum der Moderne befinde und den unmittelbaren Kontakt mit der Tradition verloren habe.
In diesem Sinne sollten wir auch die zahlreichen Neuinszenierungen klassischer Opern verstehen, die nicht nur die Handlung in eine andere (meist zeitgenössische) Epoche verlegen, sondern auch wesentliche Elemente der Erzählung selbst verändern. Es gibt dabei kein abstraktes Kriterium, das uns im Vorhinein das Scheitern oder Gelingen eines solchen Ansatzes beurteilen ließe: Jeder Eingriff dieser Art ist ein riskantes Unterfangen und muss nach seinen eigenen, immanenten Maßstäben bewertet werden. Oft gehen solche Experimente nach hinten los und wirken lächerlich, aber nicht immer, und es gibt keine Möglichkeit, im Voraus darüber zu entscheiden – man muss das Risiko eingehen. Im Grunde ist ein solches Wagnis sogar die einzige Möglichkeit, einem klassischen Werk treu zu bleiben – es zu scheuen und am traditionellen Buchstaben zu haften, ist dagegen der sicherste Weg, um den Geist des Klassikers zu verraten. Mit anderen Worten, die einzige Möglichkeit, ein klassisches Werk am Leben zu halten, besteht darin, es als »offen« zu behandeln, als in die Zukunft weisend oder, um eine Metapher Walter Benjamins zu gebrauchen, als sei das klassische Werk ein Film, für den die nötige Entwicklerflüssigkeit erst später erfunden wurde, so dass wir das Bild erst heute vollständig sehen können.
Zwei Wagner-Inszenierungen stechen als Beispiele solcher geglückten Veränderungen hervor: Jean-Pierre Ponnelles Bayreuther Version des Tristan, in der der Titelheld im dritten Aufzug alleine stirbt (Isolde ist bei ihrem Mann, König Marke, geblieben, und ihr Erscheinen am Ende der Oper ist lediglich eine Halluzination des sterbenden Tristan), und Hans-Jürgen Syberbergs Verfilmung des Parsifal (in der Amfortas’ Wunde als ein Partialobjekt behandelt wird, eine Art unaufhörlich blutende Vagina, die auf einem Kissen außerhalb seines Körpers getragen wird, und der Knabe, der den Parsifal gespielt hat, im Moment seiner Einsicht in Amfortas’ Leiden und seiner Zurückweisung Kundrys durch ein kühles, junges Mädchen ersetzt wird). In beiden Fällen hat die Veränderung eine große Offenbarungskraft: Man kann sich des starken Eindrucks nicht erwehren, dass »es wirklich genau so sein sollte«.
Können wir uns eine ähnliche Veränderung auch in der Inszenierung der Antigone vorstellen, einem der Gründungsnarrative der abendländischen Tradition? Den Weg dazu hat kein Geringerer als Sören Kierkegaard gewiesen, der in dem Kapitel »Der Reflex des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen« im ersten Band seines Werkes Entweder – Oder seine Vorstellung einer modernen Antigone schildert.[1]agalma