Pubertät – echt ätzend
Gelassen durch die schwierigen Jahre
Überarbeitete Neuausgabe. Titel der Originalausgabe:
Pubertät – echt ätzend. Gelassen durch die schwierigen Jahre.
ISBN 978-3-451-05482-2, © Verlag Herder GmbH,
Freiburg, 2000
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
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ISBN (E-Book) 978-3-451-80646-9
ISBN (Buch) 978-3-451-61330-2
Inhalt
Zeitdruck, Stress und keinen Dank: Erziehung zwischen Verzweiflung und Herausforderung
Die Einzigartigkeit des Menschen ∙ Provokationen ∙ Widerreden ∙ Übertretungen ∙ Das Gespräch als Zaubermittel? ∙ Missverständnisse sind natürlich ∙ Die fragliche Überzeugungskraft der eigenen Erfahrungen ∙ Grenzen setzen ∙ Der beleidigte Rückzug ∙ Lob, Ermutigung und Tadel ∙ Vielfalt der Szenen ∙ Pubertät: das Ende der Erziehung? ∙ Die Teilhabe an den Tempeln der Zivilisation ∙ Das Recht auf ein eigenes Konto ∙ Permanente Infantilisierung
Vom Traum zur Wirklichkeit
Das Gefühl des Scheiterns bei den Eltern ∙ Verständnisvolle Autorität oder cooler Kollege: die Doppelrolle der Erwachsenen ∙ Unsere Beziehung zu Kindern ∙ Die Eltern als archetypische Leitfiguren ∙ Die Notwendigkeit der Gegenrede ∙ Gelassenheit lernen ∙ Die schleichende Entmachtung der Eltern
Die Jugend dramatisiert aktuelle Herausforderungen
Unsere Kinder konfrontieren uns mit uns selbst ∙ Vom Schwärmen bis zum Ärger über Kinder ∙ Die Botschaft der Symbole ∙ Das göttliche Kind ∙ Die Jugend ist immer ganz anders
Szenarien und Symbole für den Einstieg in die Gesellschaft
Generationenprofile als Abgrenzungsakte ∙ Provokationen als Weg zur Selbstständigkeit ∙ Einstiegsszenarien ∙ Die Bedeutung der Imagination ∙ Fehlende Transformationssymbole als Kulturdefizit
Neue Herausforderungen der Jugend
Jungen sind cool und weinen nicht ∙ Pärchendasein als Selbstständigkeitsbeweis? ∙ Überforderung, Selbstständigkeit, Flucht in die Beziehung ∙ Die neuen Bildungsverweigerer
Der innere Ruf: Fantasien weisen den Weg
Die Fiktion der normalen Pubertät ∙ Die Pubertät als Übergangsphase ∙ Mut zur Abgrenzung von der Jugend ∙ Die Entdeckung der Person ∙ Blödeln als Schutz ∙ Das Versagen der Entwicklungsnormen
Archetypische Jugendentwicklung
Die Zielgerichtetheit der Seele ∙ Der Held: Aufbruch zu neuen Ufern ∙ Die Hexe oder die Kunst der Doppelbödigkeit ∙ Die Primadonna: Der Tanz um sich selbst ∙ Der Prahlhans: Ich bin der Größte! ∙ Der Schelm: Tricks und fantastische Geschichten
Nachwort
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
»Ihr seid die größten Ötzis der westlichen Hemisphäre und außerdem absolut megabrutal zu mir!«, empört sich der vierzehnjährige Sohn. Seine Mutter ist entsetzt. Wie wagt er in einem derart despektierlichen Tonfall mit seiner Mutter zu reden, nur weil sie sich weigert, ihn zu einer Bushaltestelle zu fahren, die fünf Fußminuten von zu Hause entfernt ist! Die Mutter überlegt sich, ob nicht doch ein temporäres Ausgangsverbot ausgesprochen, das Taschengeld gekürzt werden sollte oder vielleicht doch wieder einmal ein ernstes Gespräch angesagt ist. Bevor sie jedoch ihre Gedanken ordnen kann, kracht die Haustür mit voller Wucht in den Türrahmen und löst eine mittlere lokale Erschütterung aus. Die Mutter schnappt nach Luft: Ist dies ihr Sohn? Wie kommt er überhaupt auf die Idee, er werde von ihr eingeschränkt? Haben sie und ihr Mann ihn nicht nach den neusten, liberalsten Erziehungsideen erzogen? Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Anstand und Ehrlichkeit waren ihnen wichtig. Sie erinnert sich an früher, wie er als hübsches Kleinkind durch die Wohnung stolperte, freudig zu Musik seinen Körper auf und ab wippend, und sie jeweils fest umklammerte, wenn sie ihm von der Vogelbande oder dem Wolf erzählte. Ist ihr Sohn der gleiche Mensch? Die Erinnerungsbilder wirken irreal, wenn sie an den jungen Mann denkt, der sie und ihren Mann mit Elektro-Musik terrorisiert, jeden Tag neue Forderungen stellt und vor allem seinem Haupthobby – Erwachsene ärgern – frönt. Obwohl er sich immer wieder unflätig verhält und den Eindruck vermittelt, mit den schlimmsten Eltern der Welt gestraft worden zu sein, verlangt er natürlich, dass täglich das Essen serviert, seine Handyrechnung bezahlt und sein Lieblingsshirt jeden Abend gewaschen wird, damit es am nächsten Morgen parat in seinem Schrank liegt. Die Eltern sollen parieren, sind dazu da, ausgenutzt zu werden, und wenn er großzügigerweise den Müllsack auf die Straße stellt, dann muss dies gefälligst als großartiger Gemeinschaftsbeitrag die nächsten paar Monate jeden Tag erwähnt und finanziell entlohnt werden. Mit halbwüchsigen Söhnen oder Töchtern unter einem Dach zu leben, ist nicht einfach. »Kleine Kinder, kleine Probleme. Große Kinder, große Probleme!« Anstatt die Früchte der erzieherischen Anstrengungen genießen, sich innerlich zurückziehen und sich zusammen mit den Jugendlichen auf literarische, philosophische oder Themen der Freizeit konzentrieren zu können, stehen neue, noch extremere Auseinandersetzungen an.
Obiges Beispiel ist extrem, doch bei allen Vätern und Müttern läutet die Pubertät ihrer Kinder eine neue Epoche ein. Auseinandersetzungen mit halbwüchsigen Jugendlichen ernüchtern. Verfüge ich überhaupt noch über Einfluss, wird zu einer bangen Frage. Schwierig ist auch, dass der eigene Sohn oder die eigene Tochter sich zunehmend verschließt. »Mit dir rede ich bestimmt nicht darüber!«, ertönt es barsch, wenn man sich nach ihren Schulsorgen oder privaten Problemen erkundigt, oder sie sagen kurz: »Geht mir gut!«, und damit hat’s sich. Viele Eltern werden zynisch, fühlen sich verunsichert oder konzentrieren sich auf bescheidene Ziele. »Wenigstens kifft er selten und trinkt nicht!«, tröstet der Vater eine aufgeregte Mutter, die feststellen muss, dass ihr siebzehnjähriger Sohn nicht daran denkt, seiner Mutter mitzuteilen, wann er nach Hause kommt. Konnten wir unsere erzieherischen Vorstellungen umsetzen? Ist unser Familienleben normal? Eine Kluft zwischen den ursprünglichen Zielvorstellungen und den Realitäten des Zusammenseins tut sich auf. Die meisten Eltern haben nicht das Gefühl, ihre Kinder hätten sich schlecht entwickelt, seien verwahrlost oder problematisch. Meistens ist man insgeheim immer noch stolz auf die eigene Tochter und den eigenen Sohn, doch ursprüngliche Träume und Fantasien zerplatzen. Suchte ich nicht in meiner Tochter eine verständnisvolle Kollegin? Wollte ich nicht später meine Wanderleidenschaft oder mein Biker-Interesse mit meinem Sohn teilen? Stattdessen interessiert sich die Tochter nur für die Schule und der Sohn schenkt seine ganze Libido dem Computerbildschirm. Wie können wir halbwüchsigen Kindern begegnen?
Das Bedürfnis, diese Fragen durchzudenken, meldet sich meistens bei Schwierigkeiten. Als Vater oder Mutter, jedoch auch als Lehrperson werden wir oft von den andrängenden Problemen und Herausforderungen überrascht, sind nicht darauf vorbereitet. Man hat das Gefühl, erzieherisch versagt zu haben. Wenn die Kinder pubertieren, zerstört eine andere Realität die wunderbaren Leitbilder, an die wir anfänglich glaubten.
Erziehung lebt von der Einzigartigkeit menschlicher Begegnungen und Konstellationen. Jede erzieherische Auseinandersetzung verfügt über eine spezifische Dynamik und ein eigenständiges Profil. Wir müssen uns davor hüten, Erziehung durch Schablonen zu erfassen oder einer einzigen Theorie zu glauben. Natürlich brauchen wir Klischees, wenn wir etwas über die Realität der Erziehung aussagen wollen. Schlagwörter wie »Konsequenz ist wichtig!«, »Das Gespräch muss gesucht werden« oder »Grenzen setzen« können uns helfen, im erzieherischen Alltag zu überleben. Wir müssen uns aber auch von solchen Vorstellungen lösen können. Die Gefahr besteht, dass wir die Sicht für die Vielschichtigkeit menschlicher Begegnungen und für das Chaos des erzieherischen Geschehens verlieren. Wer Erziehungsprozesse restlos erklären will, hat es schwer. Trotz dieser prinzipiellen Einschränkung gibt es erzieherische Herausforderungen, mit denen Eltern häufiger konfrontiert werden. Vorfälle oder Auseinandersetzungen, die wir als typisch erleben. Es mag sich um Klischees handeln. Sie erlauben uns jedoch, trotz Chaos und nebulöser Zustände weiterzuschreiten, sodass sich vielleicht auch ein Weg findet, diese schwierige Zeit gewinnbringend zu erleben. Dieses Buch ist darum ein Aufruf zur Auseinandersetzung mit den Jugendlichen. Es will die Probleme, Qualitäten und Hintergründe dieser Altersphase beschreiben, damit man als Vater, Mutter, Lehrperson oder Jugendlicher die entsprechenden Herausforderungen bewältigen kann. Dieses Buch soll Mut machen, mit neuen Ideen, neuem Elan und einer heiteren Gelassenheit die nächste Generation formen oder wenigstens kreativ begleiten zu können.
An der Kasse bemerkt die Mutter, dass ihr dreizehnjähriger Sohn ein Dreierpack Kaugummi in seinen Händen hält. Offensichtlich hat er sie einer Schachtel entnommen, die unmittelbar vor der Kasse platziert war. Sofort fordert sie ihn auf, die Packung zurückzulegen. »Ich will meinen Kaugummi haben, so wie du dir deine Zigaretten genommen hast!«, erwidert der Junge keck. »Das ist nicht dasselbe! Leg sie sofort zurück!«, erwidert die Mutter. Gegenargumente sind ihr entfallen. Der Sohn denkt nicht daran, der Mutter zu gehorchen, reißt ein Päckchen auf, schiebt einen Kaugummi in seinen Mund und blickt ihr kühl lächelnd ins Gesicht. Die Mutter kocht vor Wut, will nach dem Päckchen greifen und setzt zu einer heftigen Bewegung an. Behende weicht er ihr aus. Erst jetzt bemerkt die Mutter, wie etliche Kunden und die Kassiererin ihr bohrend-vorwurfsvolle Blicke zuwerfen.
Kinder und Jugendliche haben das Talent, Selbstständigkeit zu demonstrieren, wo wir es nicht wünschen. Ihre Bedürfnisse setzen sie oft unter geschickter Ausnutzung des sozialen Kontextes durch. Sie provozieren uns, sodass wir uns machtlos fühlen. Solche Autonomiegesten erleben wir als Ärgernis. Weder wohlüberlegte Argumente noch ein kleiner Wutausbruch überzeugen: Knallhart oder trickreich wird der Wille durchgesetzt. Die Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen wird zu einem Problem. Natürlich wollen wir ihre Ideen fördern und möchten, dass sie ihre Angelegenheiten selbstständig und verantwortungsvoll meistern, doch wir haben eigentlich nicht an das Wegnehmen einer Packung Kaugummi, das zu späte Nachhausekommen oder schnippische Antworten gedacht. Viele Jugendliche wollen jedoch ihre Autonomie nicht in dem von uns vordefinierten Rahmen erproben, sondern sehnen sich nach einem Erfahrungsfeld außerhalb der festgelegten Normen. Verbotenes Territorium und nicht erlaubte Handlungen sind attraktiver. Zusammenkünfte werden in einem Abbruchobjekt, in Kellern oder an einem Kebabstand organisiert und nicht im eigenen, schönen Zimmer, in der elterlichen Wohnung, im kirchlichen Jugendraum oder vielleicht einem Raum der Schule. Es darf nicht ein Ort sein, der von den Erwachsenen offiziell freigegeben wurde.
Als Mutter oder Vater gerät man in ein Dilemma. Natürlich begrüßen wir Autonomiebestrebungen der Jugend, doch unsere Auffassung wird durch die Realität arg getestet. Die Selbstständigkeit des Kindes bleibt ein wichtiges Ziel der emanzipatorischen Pädagogik, doch die Jugend sucht immer auf ihre eigene Weise Autonomie. Selbstständigkeit im Widerstand wird angestrebt und nicht durch die Absegnung durch die Eltern. Tolerierte Autonomieschritte haben für Jugendliche oft einen geringen Attraktivitätsgrad. Sie wollen die Erwachsenen provozieren, damit sie in der Abgrenzung Selbstständigkeit leben können. Die Provokation ist ein Mittel, neue Erfahrungsgebiete und Erlebnismöglichkeiten in der Umwelt herauszuspüren. Dort, wo sich die Erwachsenen ärgern, gibt es auch etwas zu holen.
»Voll Mongo! Vergiss es!«, schnauzt die Tochter die Mutter an, als diese mit ihr über eine gemeinsame Fahrradtour der Familie sprechen will. Die Lust an der wüsten Widerrede ist ein Merkmal unserer Jugendlichen; kritische Einwände und originelle Gedanken begrüßen wir als Erwachsene, den Gebrauch unpassender Wörter jedoch nicht. Wieso stellt sich die Jugend nicht einfach einem engagierten, kritischen Dialog, bei dem auch Traditionen und Althergebrachtes hinterfragt werden können? Sie tut uns nicht diesen Gefallen, sondern äußert ihre Kritik oft in einer verächtlichen Sprache, die wir als unschön empfinden und die befürchten lässt, dass das Niveau sinkt. Ihre Widerrede erleben wir nicht als kritische, konstruktive Einwände, sondern als inakzeptable Äußerungen. Unsere Toleranz schmilzt, wenn die dreizehnjährige Tochter im Laden laut verkündet, dass ein »Grufti« sowieso nichts von Kleidern verstehe, oder am Tisch fast nur »Scheiße« oder »abgefuckt« zu hören ist.
In einer sechsten Schulklasse gebrauchten die Schüler und Schülerinnen immer wieder grob-sexuelle Wörter aus dem Fäkalbereich, wenn sie miteinander stritten. Die Lehrerin reagierte gelassen. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin jemanden als »Arschloch« beschimpfte, fügte sie kühl hinzu, der andere habe zwar ein Arschloch, doch sei er keins. Durch nüchterne Bemerkungen hoffte sie die Klasse zur Räson zu bringen. Leider eskalierte die wüste Rede, bis sich die Schüler und Schülerinnen mit dem Hitlergruß begrüßten. Begreiflicherweise war dies der Lehrerin zu viel. Wütend forderte sie ihre Klasse auf, sich sofort hinter ihre Pulte zu setzen. Außer sich schrie sie die Mädchen und Jungen an, diesen Gruß sofort zu unterlassen. Der Gruß werde von ihr auf keinen Fall toleriert, ließ sie ihre Jungmannschaft entschlossen wissen. Die Klasse reagierte erleichtert. Rechtsextremismus war den Mädchen und Jungen fremd. Sie waren jedoch froh, dass sich die Lehrerin endlich einmal richtig über sie aufregte. Die wüste Rede und der Hitlergruß waren nicht nur ein Versuch, sich zu profilieren, sondern die Klasse wollte die Lehrerin emotionalisieren. Die Mädchen und Jungen wollten, dass die Lehrerin sie wieder einmal registrierte. Die Aufregung diente der Abgrenzung: Jetzt nimmt sie uns endlich als eigenständige Wesen wahr.
Eine weitere Möglichkeit, Eltern zu emotionalisieren, sind Übertretungen. Handlungen werden begangen, die verboten sind.
Der vierzehnjährige Sohn will, dass seine Mutter ihm erlaubt, eine lässige und zudem stark herabgesetzte Jacke zu kaufen. Nach langem Bitten hat er seine Mutter so weit. Sie ergreift ihren Geldbeutel und übergibt ihm einen Zweihunderterschein. Tatsächlich steht der Sohn nach absolvierter Einkaufstour mit einer Plastiktüte im Vorraum der Wohnung. Diese enthält jedoch keine Jacke, sondern ein Game! Zufällig habe er es entdeckt, und da es extrem günstig war, musste es einfach gekauft werden. Das Geld für die Jacke habe halt herhalten müssen, doch das mit der Jacke sei nicht mehr so wichtig, meint der Sohn beschwichtigend.
Verständlicherweise reagiert die Mutter mit Ärger. Er hat eine klare Übertretung begangen. Die Zweckentfremdung ihres Geldes bedeutet einen Vertrauensbruch, genauso wie das Zuspätkommen oder die heimliche Einrichtung einer Haschischplantage im Keller. Wir sprechen von jugendlichem Fehlverhalten oder sogar von Verwahrlosung. Eltern fühlen sich in solchen Situationen düpiert. Kann man nicht harmonisch und respektvoll zusammenleben? Wieso stoßen uns die Kinder immer wieder vor den Kopf? Wollen sie, dass wir uns aufregen, schimpfen und Grenzen ziehen? Als Vater oder Mutter denkt man, dass man es diesmal nicht bei einer verbalen Ermahnung oder einem ernsten Gespräch bewenden lassen kann. Zeichen müssen gesetzt werden oder wir müssen wenigstens deutlich unser Missfallen ausdrücken oder sogar durchgreifen. Genügt es jedoch, wenn wir unseren Ärger kundtun? Bei der mühsamen Widerrede und bei den Übertretungen tut sich eine deutliche Diskrepanz zwischen unserer Vorstellung, wie die Beziehung zur Jugend sein sollte, und der Realität auf. Wieso muss ausgerechnet ich den schlechterzogensten Sohn oder die frechste Tochter haben?
Um die Hintergründe solcher Konfrontationen zu verstehen, müssen wir uns der Frage widmen, welches die Dynamik zwischen den erziehenden Erwachsenen und der Jugend ist. Wie soll man die Beziehung zwischen Erwachsenen und pubertierenden Jugendlichen verstehen? Unter Erziehung verstehen wir das Einwirken einer älteren Person auf einen jüngeren Menschen, damit sich dieser gemäß den von ihr vertretenen Vorstellungen entwickelt. Der Erwachsene hat sich zum Ziel gesetzt, bei der jüngeren Person bestimmte als wertvoll empfundene Verhaltens- oder Persönlichkeitseigenschaften zu fördern, heranzubilden oder zu bewahren.1 Erziehung orientiert sich an einem zu erreichenden Zustand. Sie geht von einer Vorstellung aus, wie es sein könnte, und nicht, wie es ist. Wir möchten vielleicht, dass ein Kind oder Jugendlicher höflich, gebildet, unabhängig, bewusst, in sich ruhend, zufrieden und ehrlich ist. Weil er über mehr Erfahrungen und einen besseren Überblick über die Basiskompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften, die es zum Überleben in unserer Gesellschaft braucht, verfügt, kennt der Erwachsene die Ziele erzieherischer Arbeit. Er hat das Gefühl zu wissen, was es braucht, um in unserer Gesellschaft zu bestehen und mit sich selber leben zu können. Diese Vorstellungen vergleicht er mit dem effektiven Verhalten der Kinder und Jugendlichen. Erziehung legitimiert sich durch das Verhaltens- und Wissensdefizit: der unflätige Junge oder das ungebildete Mädchen. Aus der Sicht der Erziehung ist ein Junge rüpelhaft, unwissend, faul, ungenau, naiv, unordentlich – oder wissbegierig, lernwillig und neugierig. Erziehung will diese Schwächen beheben und Möglichkeiten fördern. Wir möchten beim Kind oder Jugendlichen eine personale Änderung einleiten, damit sie sich gemäß unseren Vorstellungen des Menschseins entwickeln. Erziehung ist immer idealistisch, da sie Ziele setzt, die das Hier und Jetzt transzendieren. Das ungelenke, rüpelhafte, schüchterne oder großmäulige Verhalten eines Jugendlichen wird nicht akzeptiert, sondern soll transformiert werden. Die Erzieher arbeiten also für einen besseren Zustand. Die idealistische Ausrichtung verleiht Kraft für Visionen, birgt jedoch auch Gefahren in sich. Wegen der Fokussierung auf den besseren Zustand droht man an den Realitäten vorbeizusehen. Erziehung wird zu einer Träumerei. Utopien werden skizziert, und es wird vergessen, die psychologischen Bedingungen und Schwächen des Kindes oder Jugendlichen anzuschauen und wahrzunehmen.
Bei den Provokationen, der Widerrede und den Übertretungen stellen wir ein Fehlverhalten fest. Das Verhalten ist gemäß unserem Erleben defizitär, auch wenn man in der heutigen Pädagogik eher von Verhaltensoriginalität, Autonomieübungen oder leichter rebellischer Phase spricht. Wir möchten den Misszustand beheben. Unsere Reaktionen sollen die Jugendlichen darum beeindrucken und sie in ihrem Verhalten ändern. In unseren erzieherischen Interventionen wirken wir jedoch oft hilflos und in den Augen vieler Jugendlicher lächerlich. Was nutzt es, wenn ich dem Sohn deutlich mitteile, er solle »aufhören« und sich »anständig benehmen«? Er zuckt die Schultern und meint, das tue er schon längst, für ihn sei jedoch Anstand etwas anderes. Der Effekt solcher Worte ist oft nicht sehr groß. Sie erinnern uns höchstens daran, welche Vorstellungen wir in uns herumtragen. Durch das Fehlverhalten unserer Jugend werden wir also nicht nur auf jugendliche Defizite hingewiesen, sondern wir werden mit unseren Leitvorstellungen konfrontiert. Schnauzt uns die Tochter oder der Sohn an, dann wird uns dadurch bewusst, welche Bedeutung ein zivilisierter Umgangston für uns hat. Wir werden mit unseren Werten konfrontiert. Provokationen, Übertretungen und Widerreden der Jugendlichen sensibilisieren uns für unsere eigenen Ideen. Erzieherische Herausforderungen fördern die Selbstreflexion. Es braucht die Unfolgsamkeit, das freche Wort, damit dieser Prozess beginnt.
In einer Fernsehreklame aus den Vereinigten Staaten sitzen Vater und Sohn schweigend an einem Tisch. Beide löffeln ein Gertreide-Milch-Zucker-Gemisch. Am Schluss erscheint der Mahnspruch auf dem Bildschirm: »Wieder eine Gelegenheit verpasst, mit dem Sohn zu sprechen! Ihr Amt für Drogenprävention.« Unsere Erziehungshandlungen beschränken sich nicht auf Reaktionen nach Fehlhandlungen, sondern wir wollen natürlich die nächste Generation vor allem positiv beeinflussen. Wir möchten auf das Denken, das Benehmen, die Lebensweise und die moralisch-ethischen Vorstellungen der Jugend einwirken. Ihre sozialen Kompetenzen sollen gefördert und der moralische Sinn gestärkt werden. Unter Erziehung verstehen wir darum nicht nur Reaktionen und Korrekturversuche, sondern auch intendierte Handlungen, durch die wir unsere Söhne und Töchter zu formen hoffen.
Das wichtigste Mittel dazu ist das Gespräch. Dank unserem Sprachvermögen können wir mit unseren Mitmenschen in Beziehung treten und hoffen, dass sich Herzen öffnen. Das passende Wort zum richtigen Zeitpunkt und ein sensibles Vorgehen haben schon manchen wütenden Rebellen in einen kritischen Geist, eine selbstzentrierte Primadonna in eine selbstbewusste Frau und einen Poser (Aufschneider) in einen Visionär verwandelt. Viele Jugendliche sind zugänglich, wenn wir versuchen, ihre Anliegen nachzuvollziehen, ihr Verhalten zu verstehen und uns auf Auseinandersetzungen mit ihnen einlassen. Im respektvollen Dialog können Ziele herausgeschält und Herausforderungen erkannt werden. Das gute Gespräch distanziert uns von der Unmittelbarkeit des Moments und der Tyrannei der alltäglichen Aufgaben und Pflichten. Vielleicht gelingt es uns, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen und unserem Leben eine neue Bedeutung zu geben. Im gemeinsamen Gespräch können wir Wertungen von Situationen und Handlungen verändern. »Später möchte ich vor allem mal weg, weit weg! Nach Australien oder so«, informiert die sechzehnjährige Tochter ihre Eltern, als diese mit ihr ihre schlechten schulischen Leistungen bereden. Die Eltern wollen, dass ihre Tochter zuerst dem Abitur Bedeutung gibt. Australien ist jedoch für das junge Mädchen attraktiver. Sie fantasiert sich in die Zukunft, um gegenwärtigen Widrigkeiten auszuweichen. Die Sprache hilft uns, solche Gedankenexperimente durchzuexerzieren. Finden wir die treffende Metapher, dann hilft uns dies, mit den eigenen Gefühlen und jenen unserer Mitmenschen in Kontakt zu treten. »Ich fühle mich wie eine ausgequetschte Zitrone« fängt eine Stimmung besser ein als »Heute geht es mir nicht so gut«.
Die Sprache ist zwar ein wichtiges Mittel, durch das wir mit Jugendlichen in Kontakt treten, doch ist sie keine magische Formel zur Bewältigung von Krisen und Missverständnissen. Während der Pubertät sind der verbalen Kommunikation mit Jugendlichen deutliche Grenzen gesetzt. Die Vorstellung, dass wir die Jugend vor allem über das Gespräch erreichen, ist naiv. Jugendliche sind Gesprächen gegenüber oft skeptisch eingestellt. Sie fühlen sich rasch verunsichert, weil sie der Beredsamkeit der Erwachsenen nichts entgegensetzen können. Sie haben das Gefühl, die Erwachsenen setzen ihre verbalen Fähigkeiten ein, um sie mundtot zu machen oder auszutricksen. Auch wenn ihnen kein Gegenargument einfällt, bedeutet das noch nicht, dass sie mit der Position der Erwachsenen einverstanden sind.
In einem Rundgespräch einer fünften Klasse wird kurz vor Weihnachten darüber gesprochen, was man sich für das nächste Jahr wünscht. Der Lehrer fordert die Schüler und Schülerinnen auf, sich zu überlegen, was die Beziehung zu den Mitmenschen fördert. Ein Junge meldet sich und meint provokativ, Streit bringe die Menschen näher zueinander, darum wünsche er sich mehr Kämpfe! Der Lehrer ist entsetzt. So etwas geht nicht. Es müsse etwas Schönes sein, wie kein Krieg, Friede oder Ähnliches. Der Lehrer zitiert die idealistischen Leerformeln, zu denen jeder gefahrlos Ja sagen kann. Der Junge überlegt eine Weile und meint anschließend, in diesem Fall wünsche er sich Friedenskämpfe!
Wenn wir mit Jugendlichen im Rahmen der Erziehung kommunizieren, dann wollen wir, dass sie sich auf unsere Vorstellungen einstimmen. Wir versuchen unsere Gefühle und Gedanken auszudrücken, damit der Jugendliche die Plausibilität unserer Argumente und Gedanken einsieht. Die besten Formulierungen und das einfühlsamste Gespräch können jedoch nicht verhindern, dass Jugendliche etwas anderes aus unseren Worten heraushören, als wir beabsichtigen. Unsere Worte werden oft gar nicht oder falsch verstanden.
Die Themen, die wir behandeln, werden von unserer Persönlichkeit und Kultur geprägt. Wir fassen einen andrängenden Gedanken in Worte oder suchen bei einer Emotion nach adäquaten Bildern. Aus den Tausenden von sprachlichen Ausdrücken, die sich bei jeder Situation theoretisch anbieten, wählen wir jene Formulierung, die unserer psychischen Verfassung und persönlichen Geschichte entspricht. Unser aktiver Wortschatz bietet viele Bilder und Metaphern an, die wir für eine bestimmte Aussage einsetzen können. In jeder Aussage spiegeln sich die eigene Psychologie und der persönliche sozio-kulturelle Hintergrund wider. Bei der direkten Kommunikation mit einem Mitmenschen stehen wir vor der Schwierigkeit, dass das Gegenüber nicht mit den gleichen Worten und Metaphern denkt. Bei der Aussage »Er ist nett« stellt sich unser Gegenüber vielleicht einen Langweiler vor, während wir eigentlich mitteilen wollen, dass wir einen sehr freundlichen, anständigen Menschen kennen gelernt haben. Unser Gegenüber spricht vielleicht von »gelegentlichem Gamen« und versteht darunter zwei bis drei Stunden pro Tag, während wir dabei an 15 Minuten zwei- bis dreimal die Woche denken. Oft sind Wörter ganz anders konnotiert. Wir reden von »Freundschaft« und verstehen darunter eine innige Verbundenheit, während unser Gegenüber auch einen Kollegen, den er vor einer Woche kennen lernte, bereits als Freund bezeichnet. Er denkt an einen Kollegen, mit dem er Interessen und Hobbys teilt, während für uns Freundschaft eine tiefe emotionale Verbundenheit zweier Menschen voraussetzt. Hinter Wörtern, die wir einsetzen, verbergen sich persönliche Gewichtungen, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind.
Richten wir an einen Jugendlichen ein Wort, dann konzentrieren wir unsere Anstrengungen auf verbale Interaktionen. Gespräche sind sprachlich inszenierte Begegnungen auf der bewussten Ebene. Worte sind ein Versuch, dem Gegenüber Vorstellungen und Absichten zu vermitteln, die uns wichtig sind. Sind wir in einem Gespräch, dann konzentrieren wir uns auf Denkinhalte. Was wir mit Worten identifizieren, ist jedoch nur ein kleiner Teil dessen, was sich in einer Begegnung ereignet. Der Gesprächsinhalt bleibt oft nur ein kläglicher Versuch, den Facettenreichtum, die Dynamik und Dämonie einer interpersonellen Begegnung zu erfassen. Es gibt noch unzählige Verbindungen, Anregungen und Beeinflussungen, die sich nicht in Worte fassen lassen. Unsere Emotionen, Komplexe, Wünsche, Einstellungen und Vergangenheiten drängen sich unweigerlich auch auf und mischen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, mit. Sie drücken sich in unserer Wortwahl, unseren Bewegungen, unserem Gesichtsausdruck, unseren Augen und unserer Ausstrahlung aus. Die ganze Persönlichkeit präsentiert sich. In jeder Begegnung oder Beziehung schwingen Komplexe, Wünsche und Erwartungen mit, die nicht vom Bewusstsein erfasst werden oder bei denen uns die richtigen Worte, Metaphern und Konzepte fehlen. Auch wenn wir uns umfassend ausdrücken – was wir bewusst signalisieren, ist nur ein Teil dessen, was wir an Botschaften aussenden und beim Gegenüber auslösen. Wir teilen Jugendlichen noch viel mehr und anderes mit, als wir denken. Wie wir alle merken auch sie intuitiv, dass auch Botschaften auf der unbewussten Ebene gesendet werden. Sie lassen sich durch sie irritieren, verärgern oder beglücken. Psychologisch talentierte Jugendliche trauen nicht den verbalen Aussagen, sondern setzen sie in Zusammenhang mit dem Gesamteindruck von der betreffenden Person. Eine Lehrerin kokettierte im Lehrerzimmer mit dem Lob, das ihre Klasse ihr gebe. Ihren Kollegen teilte sie mit, dass Feedback-Runden bei Schülern beweisen, dass alle von ihrem Unterricht begeistert sind. Was sie nicht realisierte, war, dass ihre nonverbalen Signale den Radius der möglichen Antworten einschränkten. Auch wenn sie ihre Schüler und Schülerinnen bat, ihre wahren Gefühle mitzuteilen, und betonte, dass sie natürlich offen sei für Kritik – ihre nonverbalen Signale und der Eindruck, den sie vermittelte, ergaben ein anderes Bild. Den meisten Jugendlichen war völlig klar, dass dieser Lehrerin Lob wichtig war und man ihren Unterricht auf keinen Fall kritisieren durfte. Intuitiv merkten sie, dass nur ein Idiot wirklich seine Meinung sagt und damit eine Missstimmung oder Gegenmaßnahmen riskiert. Solche Mechanismen sind auch in der Familie vorzufinden. Wenn wir mit Jugendlichen reden, dann ist die Gefahr groß, dass andere Botschaften hinüberkommen, als wir senden wollen. Das Gespräch ist immer nur eines unter vielen Mitteln, mit Jugendlichen in Verbindung zu bleiben.
Meistens spielt es beim verbalen Austausch keine Rolle, ob wir uns wirklich verstehen. Geht es gut, werden die eigenen Interessen und Bedürfnisse respektiert, dann können wir munter aneinander vorbeireden. Die Komplexe, unbewussten Themen und Fantasien, die während Gesprächen mitschwingen, werden ausgeblendet. Um miteinander zu leben, genügt es, wenn wir uns annähernd verstehen. Tausende von Missverständnissen und unbewussten Themen bleiben unaufgedeckt. Erst Konflikte oder existentielle Herausforderungen bringen Differenzen und verborgene Gefühle an den Tag. Wenn Probleme oder Missstimmungen auftreten, dann müssen wir uns plötzlich mit Unvereinbarkeiten, Unverständnis und gegenseitiger Entfremdung auseinandersetzen. Wir realisieren selten, dass die Differenzen schon vorher da waren. Dies ist genau das, was während der Pubertät geschieht. Nicht, dass wir unsere Söhne und Töchter plötzlich nicht mehr verstehen. Aber die Pubertät hat zur Folge, dass uns die Grenzen der Kommunikation bewusst werden. Das Gespräch mit Jugendlichen ist schwierig, weil sie sich nicht an den ungeschriebenen Code halten, Missverständnisse stehen zu lassen. Sie greifen Differenzen auf. Dadurch, dass sie nicht auf »sich verstehen« machen, kommt es zu Konflikten. Ihre Sinne sind auf Abgrenzung eingestellt. Um vor sich selber und der Umgebung ein eigenes Profil zu erlangen, entwickeln sie einen Jargon und zitieren den Erwachsenen nicht bekannte Erlebnisse als Heldentaten. Es ist von »Geil! Easy! Voll Mongo« die Rede, und gesprochen wird über das, was sie unter sich erleben. Jugendliche weigern sich oft, die Erwachsenensprache zu übernehmen. Der unterschiedliche Jargon soll eine Kommunikationsbarriere zwischen Erwachsenen und Jugendlichen errichten. Die Distanz wird auch nicht überwunden, wenn wir als Erwachsene den Jugendjargon übernehmen. Wenn ein Erwachsener herausstreicht, dass er die Schule auch als »Zwangssituation« erlebte und von Tags2, Street-Ball oder RnB3 begeistert ist, dann reagieren Jugendliche verlegen und irritiert und empfinden die Worte als Anbiederung. Im Bestreben, bei der nächsten Generation akzeptiert zu werden, oder einfach im Versuch, mit dem eigenen Sohn, der eigenen Tochter oder einem Schüler in Kontakt zu bleiben, werden die Ausdrücke der Jugendlichen übernommen. Man passt sich an, damit sich die Jugendlichen eher verstanden fühlen und bereit sind zu reden. Ob die Kommunikationsbarriere wirklich überwunden wird, bleibt jedoch fraglich. Meistens werden die Anstrengungen nicht honoriert. Die Übernahme der Grußform »High Five« oder ein locker-jugendlicher Auftritt wird vielfach sogar als peinlich empfunden: »Der Alte soll normal reden.« Während Jungen offen ihr Desinteresse ausdrücken oder Widerstand markieren, verhalten sich Mädchen diplomatischer. Sie partizipieren scheinbar am Gespräch, grenzen jedoch geschickt persönliche Themen und Aversionen aus. Während der Pubertät wollen Jugendliche nicht verstanden werden, gleichzeitig möchten sie jedoch mit den Erwachsenen sowohl affektiv wie auch geistig in Verbindung bleiben. Als Erwachsene müssen wir darum immer wieder das Gespräch suchen, jedoch ohne uns zu verlieren und uns ihnen anzupassen. Solche Gespräche räumen oft auch nicht Missverständnisse und Differenzen aus dem Weg. Wer mit Jugendlichen redet, muss bereit sein, Differenzen in die Augen zu sehen, und damit rechnen, dass der Jugendliche ihm am Schluss noch fremder als vorher vorkommt. Während der Pubertät suchen Jugendliche nicht nur den Weg zum Konsens, sondern sie wollen auch Differenzen inszenieren.
Wenn Jugendliche zu Hause missmutig sind, stundenlang ihr Handy am Ohr haben, freche Antworten geben und ihren Einsatz im Haushalt sukzessive minimalisieren, dann versuchen wir, sie durch Rückgriffe auf eigene Erfahrungen von ihrem Rebellionsgeist oder ihrem egozentrischen Verhalten abzubringen. »Als ich siebzehn Jahre alt war, habe ich Pop-Konzerte besucht und war high. Es wurde auch viel getrunken und gekifft. Eine irrwitzige Zeit! Doch letztlich hängt man nur lahm herum.« Viele Väter, Mütter oder Lehrer deuten an, dass sie es natürlich auch verstanden haben, über die Schnur zu hauen. Stolz werden die wilden Achtzigerjahre geschildert, wo jeder seine Uniform und sein Revier als Stadt-Indianer hatte. Durch solche Rückgriffe auf die Vergangenheit wollen wir uns als großgewordene Jugendliche präsentieren und ausdrücken, dass man natürlich selber alles kennt. Oft sagen wir gleichzeitig, dass es sich »nur um eine Phase« handelt, aus der man geläutert und vernünftig heraustritt. In der Hoffnung, dass die eigenen Söhne und Töchter ihr Abgrenzungsbedürfnis relativieren und ihre Faszination für die Szene schwächer wird, werden ihnen die Erfahrungen der Ex-Jugendlichen unter die Nase gerieben. Wir wollen unseren Argumenten eine größere Überzeugungskraft verleihen, indem wir Erinnerungen aus der Jugend zitieren. Die Jugendlichen sollen von unseren Erfahrungen profitieren und wir können mit ihnen in Kontakt bleiben. Wenn Kinder ins Jugendalter kommen, wilder werden, dann wird oft der ganze Erfahrungsschatz und Familienfundus an Metaphern eingesetzt, damit die pubertären Wirren nicht ausarten.
Das Problem ist jedoch, dass Jugendliche während der Pubertät nicht auf ihre Eltern hören wollen. Sie haben den eigenen Weg im Kopf, wollen eigene Erfahrungen machen und ihre Gleichaltrigengruppe wird zur zentralen Autorität. Die Geschichten aus alten Zeiten wirken auf sie anekdotisch und irrelevant. Skepsis schleicht sich ein. Handelt es sich bei den Erzählungen nicht um Geschichtsklitterungen? Was vom Vater oder der Mutter erzählt wird, spiegelt ihre aktuellen Befindlichkeiten wider und ist kein Report aus der Vergangenheit. »Zwei Jahre ist dein Vater in der Welt herumgereist!«, raunt die Mutter ihrer Tochter zu und drückt damit aus, dass sie immer noch Mühe mit dem Unabhängigkeitsdrang des Vaters hat, oder der Vater erwähnt, dass er früher »aktives Mitglied der Hausbesetzerszene« war, obwohl die Kinder inzwischen wissen, dass es in der Gemeinde Andelfingen keine Hausbesetzerszene gab. Er möchte sich jedoch als Held sehen.
Als Erwachsene neigen wir dazu, einzelne schlimme oder außerordentliche Ereignisse der Jugendzeit zu überhöhen. Da es sich bei der Jugendzeit um eine sehr sensitive Periode handelt, in der man gespannt auf die Welt dort draußen ist, werden kleine Erlebnisse intensiv wahrgenommen. Das Mitlaufen in einem Demonstrationsmarsch gegen den Doppelbeschluss der Nato, eine Zugfahrt mit einer Kollegin nach Holland oder ein Hausfest in der Schule werden als Großereignisse archiviert. Für die eigene Entwicklung sind diese Erlebnisse wichtig, könnte man jedoch zurückspulen und sich selber beobachten, dann würde man von der Banalität der Ereignisse überrascht sein. Jugendliche hören sich zwar solche Geschichten oft gern an, weigern sich jedoch, aus den Erfahrungen der Eltern zu lernen. Sie wollen sich ganz dem eigenen Erleben hingeben. Ihre Szenen und ihre Cliquen sind für sie einzigartig. Hinweise, dass man »dies auch schon erlebt hat«, müssen aus psychologischen Gründen überhört werden. Was die Eltern und Lehrpersonen erzählen, klingt interessant, hat jedoch nichts mit mir zu tun, denken sie sich. Die Jugendlichen wollen sich über eigene Erfahrungen ins Dasein einbringen. Wir können nicht erwarten, dass unsere Söhne und Töchter auf Ex-Hippies, Ex-Models oder Ex-Rocker hören und so von der Notwendigkeit befreit werden, selbst ins Leben einzutauchen und Fehler zu begehen.