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Impressum

1. Auflage April 2015

©opyright 2008 by Kerry Cohen

Published by arrangement with Kerry Cohen Hoffmann

Übersetzt von Uschi Prawitz

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Originaltitel: «Loose Girl»

Titelbild: Agnieszka Szuba unter Verwendung eines Bildes

von kmiragaya/Fotolia.com

E-Book-Erstellung: nimatypografik

ISBN: 978-3-944154-21-3

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

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Everything always, now, for E. and G.
Alles für immer und jetzt, für E. und G.

Dieses Buch ist kein Roman. Die meisten Namen und Eigenschaften, die ein Erkennen möglich machen würden, habe ich geändert. Manchmal habe ich auch verschiedene Charaktere zusammen­gefasst. Ich habe versucht, die Umstände so gut wie möglich wiederzugeben, aber die Erinnerung kann trügerisch sein. Fakten sind wichtig, aber noch wichtiger ist meiner Meinung nach, dass die Fakten stimmen. Ich habe mich beim Schreiben von der Wahrheit leiten lassen. Jack Kerouac hat einmal gesagt: «Alles, was ich geschrieben habe, war wahr, denn ich glaubte das, was ich sah.» Das gilt auch für dieses Buch.

Danksagungen

Da dieses Buch einen Zeitraum von einem vollen Jahrzehnt umspannt, sind die Leute, denen ich für dessen Entstehung danken muss, schlichtweg zahllos. Aber ich werde mein Bestes geben, niemanden zu vergessen.

Der Keim für Loose Girl wurde 1996 gesetzt, lange bevor ich die letzte Seite des Romans erlebt hatte. Meine Lehrer zu der Zeit, insbesondere Garrett Hongo, Ehud Havazelet und Chang-rae Lee, ermutigten mich und standen mir mit Anleitung und intellektuellem Verständnis für mein Werk zur Seite, das ich lange über meine Schulzeit hinaus mit mir trug. Sally Tisdale bekam einen sehr frühen Entwurf des ersten Kapitels in einem Workshop zu Gesicht und sagte einfach nur: «Schreib weiter.» Als erste Leserinnen des Buches gaben Patricia Benesh und Rebecca Grabill ausdauernd und aufmerksam Hinweise und Kritik. Diese begabten Schriftsteller und Mentoren waren sich gewiss nicht bewusst, wie sehr ihre Worte mich fesselten, inspirierten und herausforderten.

Die Arbeit von Naomi Wolf, Susan Bordo, Judith Butler, Audre Lorde, Mary Pipher, Lyn Mikel Brown und Carol Gilligan, Joan Jacobs Brumberg und Ariel Levy half mir dabei, mich durch das Problem zu denken, das ich in meiner Geschichte hervorheben wollte. Ebenso haben Marya Hornbachers Wasted, Elizabeth Wurtzels Prozac Nation, Lucy Grealys Autobiography of a Face und Koren Zailckas Smashed für die Art von Geschichte, die ich erzählen wollte, Musterbeispiele geschaffen und inspirierten mich, daran weiter zu arbeiten.

Mein Agent, Ethan Ellenberg, hat mich netterweise vor den Auswirkungen gewarnt, die es mit sich bringt, wenn man eine solch persönliche Geschichte veröffentlicht. Nur eine Person, die über all das hinaus und dabei an mein Glück dachte, würde sich so um mich sorgen, und Ethan hat sich immer wieder als eine solche Person erwiesen. Ich schulde Ethan auch eine riesige Portion Dank dafür, dass er das Buch in Brenda Copelands Hände gespielt hat. Brenda hat meine Geschichte geliebt, bereichert und verstanden, als wäre ich ihr eigenes Kind. Nachdem sie eine besonders schwierige Szene unter Dach und Fach gebracht hatte, schrieb mir Brenda: «Das ist es, weshalb ich meinen Job so liebe. Wegen Momenten wie diesem.» Was mehr könnte sich eine Autorin von ihrer Herausgeberin wünschen? Brillanz? Vision? Nun, all das hat sie obendrein. Vielen Dank an all die wundervollen Menschen bei Hyperion – insbesondere Kathleen Carr, Rachelle Mandik, Robert S. Miller, Michelle Ishay, Navorn Johnson, Allison McGeehon und Ellen Archer – denen dieses Buch ausreichend wichtig genug war, dass sie sich darum und um mich sorgfältig kümmerten.

Danke auch an Charlotte Cole bei Ebury Press in Großbritannien für ihre Unterstützung und gute Arbeit, und dafür, dass sie meine unangenehmen Fragen so freundlich beantwortet hat.

Danke an Terri Brooks-Hernandez, Bevin Cahill und meine vielen anderen unterstützenden und liebenden Freunde über die Jahre. Tommy Mang, mein allererster bester, männlicher Freund, ich schulde dir viel und vermisse dich. Danke auch an Nadine Hamester, die sich um meine Jungs gekümmert hat, während ich schrieb. Und an N. L., für immer in meinem Herzen, und an C.

Danke an die vielen Mädchen, die mir über die Jahre ihre Geschichten erzählt haben. Ich hoffe, dass sie sich durch meine Worte dann und wann weniger allein gefühlt haben.

Ein ungeheurer Dank geht an meinen Vater und meine Mutter, und an S. B., wo ich immer das Gefühl hatte, geliebt zu werden, wenn ich es am nötigsten hatte. Ich hoffe, dass meine verstorbenen Großeltern wissen, wie sehr mich ihre Großzügigkeit und Freundlichkeit unterstützt und ermutigt haben. Danke Tyler Cohen, meine Mitüberlebende, dass du niemals deine Liebe für mich verloren hast.

Danke an Cat Power, Richard Buckner, Uncle Tupelo, Josh Ritter, Wilco und Gillian Welche, die für die Stimmung in meiner Geschichte gesorgt haben. Und da ich schon mal beim Danksagen bin, Danke für die Likes von Adrian Grenier, Leonardo DiCaprio, Emile Hirsch, Matt Dillon und Jemaine Clement von The Flight of the Conchords. Ich bin jetzt vielleicht verheiratet, aber nicht tot.

Meine Liebe und Dankbarkeit geht an Michael, der mir mehr Unterstützung und Freund war, als ich hier sagen kann. Am meisten danke ich Ezra und Griffin, die mich inspiriert haben, seit ihrer Geburt kontinuierlich zu ­schreiben, die mich gelehrt haben, voll und mit meinem ganzen Selbst zu lieben, und von denen ich hoffe, dass sie mir eines Tages vergeben, dass ich ein Buch geschrieben habe, in dem all ihre Freunde über das Sexualleben ihrer Mutter nachlesen können.

«Männer. Als nächstes kommen dann die Männer. Das ist der Fluch des Blutes.»

– MARGARET WHITE
In Stephen Kings Carrie

Einleitung

In der Dunkelheit berührt er mich, seine langen, starken Finger streichen über meine Haut, sein Atem ist heiß und nah an meinem Ohr. Er küsst mich zärtlich, mein Ohr, meinen Hals, meinen Mund. Er zieht mir mein Shirt über den Kopf, sein Atem geht dabei schwer. Dann liegen seine Finger auf den Knöpfen meiner Jeans, er zögert einen Moment. Wird sie mich so weit gehen lassen?, mag er sich fragen. Und meine wortlose Antwort ist eine Bewegung meiner Hüften. Ja, ja, immer wieder ja. Er zieht mir die Jeans herunter, die Unterwäsche, und dann, als er auf mir liegt, mit seinem festen Körper, spüre ich sein Gewicht, seine Bewegungen, und es fühlt sich so echt an, so richtig. Es ist ganz gleich, wer er ist. Es gibt so viele von ihnen. Er. Ich. Unsere gemeinsamen Bewegungen. Das ist der Beweis, denke ich immer wieder, der Beweis, etwas wert zu sein. Der Beweis dafür, geliebt zu werden.

Ich habe mit nahezu vierzig Jungs und Männern geschlafen, bevor ich feststellte, dass mir das nicht gut tat. Es gab noch viel mehr, mit denen ich andere sexuelle Akte ­vornahm, wie Oralsex und Petting. Für viele mag das sehr viel erschienen. Andere wiederum werden denken, dass das noch gar nichts ist. Es gibt Mädchen, deren Listen viel länger sind als meine. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht genau, wie lange meine Liste wirklich ist. Nach Nummer fünfundzwanzig habe ich irgendwie den Faden verloren. Manchmal versuchte ich mich in meinen späten Zwanzigern an alle Namen zu erinnern, begann mit meinem ersten, aber ich habe schnell bemerkt, dass ich eine ganze Reihe Namen vergessen hatte. Ein paar hatte ich wohl nie gekannt, und bei einem großen Prozentsatz wusste ich die Nachnamen nicht. Ich saß noch immer da, kaute auf dem Ende meines Stiftes herum, den Block Papier vor mir – Tom? Tim? Oh, Moment, da gab es doch noch diesen Typ mit dem Hund. Und den einen, der während dem Sex ständig auf mich einredete, als ob wir einfach nur so abhängen würden, wie hieß der noch gleich? Für einen Mann könnte das eine schöne Reise in die Welt der Erinnerungen bedeuten, wenn er seine Eroberungen zählte. Aber für ein Mädchen ist das eine ganz andere Geschichte. Ich hatte diese Männer in mich hinein gelassen, wollte das, damit ich ihnen etwas bedeutete. Wollte, dass es mir etwas bedeutete. Jetzt waren sie durchgestrichen oder mit Fragezeichen versehen. An einem gewissen Punkt gab ich auf, verabscheute mich selbst. Ich zerknüllte das Papier und warf es weg.

Das ist keine Liste, auf die ich stolz bin.

Aber, es ist meine Geschichte.

Es ist die Geschichte eines Mädchens, das sich selbst irgendwie verletzt fühlt, das Schmerz empfindet und sich dann entscheidet, etwas dagegen zu tun. Einige Mädchen erkranken an Bulimie. Andere verschreiben sich dem Alkohol, Drogen, ritzen sich, treiben Sport, sind begierig. Ich habe mich für die Promiskuität entschieden. Und ich bin bei weitem nicht die einzige. Eines von drei Mädchen hat Sex bevor sie sechzehn ist, und zwei von drei bis zum achtzehnten Lebensjahr. Statistiken aus dem Jahr 2003 zeigen, dass etwas mehr Mädchen als Jungs Sex hatten, bevor sie zwanzig wurden, und Gelegenheitssex auf der High School hat bei Jungs und Mädchen etwa den gleichen Anteil. Ein Drittel der Teenagerinnen werden schwanger, bevor sie zwanzig sind, und 79 Prozent dieser Schwangerschaften sind unbeabsichtigt und betreffen unverheiratete Teenager. Je jünger ein Mädchen ist, wenn sie ihren ersten Verkehr hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass es ungewollt oder nicht freiwillig geschah. Jedes Jahr erkrankt einer von vier sexuell aktiven Teens an einer Geschlechtskrankheit. «Freunde mit Beigabe» und «Affären» sind Begriffe der meisten heutigen Teens. Eine Studie der American Association of University Women Educational Foundation deckte­ auf, dass unter 55 Mädchen im Alter zwischen elf und siebzehn nur die Elfjährigen Druck, Sex haben zu müssen nicht als Problem angaben. Aber wenn man den Mädchen in der Mittelschule zuhört, Mädchen, die gerade einmal zehn oder elf sind, garantiere ich, dass man einiges über Blowjobs und Sex zu hören bekommt.

Was Statistiken nicht erfassen können sind die Gefühle der Unsicherheit und Verwirrung, die das Sexualverhalten junger Mädchen begleiten. Sie erfassen nicht, wie leicht es für ein Mädchen ist, mit Sex Aufmerksamkeit zu erwecken. Ein Junge sagte einmal zu mir: «Jungs müssen sich echt anstrengen, um flach gelegt zu werden, und alles was ihr Mädchen tun müsst ist, ohne BH im Wind zu stehen.» Und das stimmt. Was gibt es einfacheres für ein Mädchen, als wegen ihres Körpers bemerkt zu werden? Meinen Sex Appeal einzusetzen war Standardverhalten. Es nicht zu tun hätte mehr Anstrengung bedeutet. Dazu muss man noch rechnen, dass ich verzweifelt um Aufmerksamkeit rang – Aufmerksamkeit gleich welcher Art – und das Interesse von Männern an meinem Körper war der einfachste Weg, bemerkt zu werden. Natürlich verwechselte ich ihr Grundinteresse mit Liebe. Ich musste einfach glauben, dass es etwas bedeutete.

Versteht mich nicht falsch. Ich sehe mich nicht als gänzlich unschuldig. In meiner Geschichte geht es auch um Sucht. Sucht nach Macht, der Versuch, andere durch meinen Körper zu kontrollieren. Es geht darum, wie verzweifelt ich war, das Gefühl haben wollte, geliebt zu werden, weniger allein zu sein, und wie ich – fehlgeleitet durch all diese kulturell vermischten Botschaften – versucht habe, mein Bedürfnis durch männliche Aufmerksamkeit und Sex zu stillen. Wie ich es, wie bei jeder Sucht, schaffte, fast jeden von mir zu schieben, meine wichtigsten Absichten selbst zunichte zu machen. Und wie ich schließlich gelernt hatte aufzuhören.

Also hole ich dieses Stück Papier mit all den Streichungen und Fragezeichen aus dem Papierkorb, streiche es auf meinem Schreibtisch glatt und fange an zu schreiben.

Teil Eins
EIN HAUS
OHNE MÄNNER

1

Ich bin elf, als ich beginne zu verstehen was es heißt, ein Mädchen zu sein. Wie so oft bin ich unterwegs zum Nachbarort, um durch die dortige Tierhandlung und den Bastelladen zu schlendern, einfach nur um etwas mit diesen endlosen, heißen Sommertagen anzufangen, die sich immer mehr in die Länge zu ziehen scheinen. Da verlangsamt ein Sattelzug seine Fahrt an einer Kreuzung und hupt. Ich blicke auf und sehe einen Mann mittleren Alters darin sitzen, fünfunddreißig, vielleicht auch vierzig. Er lächelt mich an, seine Augen kleben an meinem Körper, sein Gesicht ist unrasiert. «Hallo du», ruft er und winkt. In dem Moment bin ich mir meiner grünen Turnshorts bewusst, die nur bis zur Oberkante meiner Oberschenkel reichen. Mein weißes T-Shirt schmiegt sich eng an meinen Trainings-BH. Ich bin zwar nur ein Mädchen, könnte aber durchaus als Frau durchgehen. Die Augen des Mannes ruhen auf mir, freundlich, suggestiv. Doch dann geht er von der Bremse, der Truck macht einen Seufzer und er ist weg. Ich stehe da und schaue ihm nach, etwas beunruhigt, verändert. Ich hab‘s begriffen, aber noch nicht ganz verstanden.

Wow, denke ich bei mir, das war aber leicht.

Mein Vater ist vor kurzem ausgezogen, hat sich damit dem Scheidungstrend der 80er Jahre angeschlossen und lässt uns in einem Haus ohne Männer zurück, nur meine Mutter, meine ältere Schwester Tyler und mich. Meine Mutter widmet sich voller Gram und verzweifelt ihren Bedürfnissen. Ihre Bedürfnisse brauchen Raum – so viel Raum, dass für mich nichts mehr übrig ist. Manchmal versucht sie, ihre Bedürfnisse durch körperliche Arbeit zu kontrollieren und verlegt zum Beispiel drei Tonnen Blaustein, um die Terrasse neu zu gestalten, oder sie fetzt den Teppich von der Treppe herunter. Noch häufiger aber zieht sich ihr Verlangen wie Spinnennetze durch unser Haus. Es nimmt das Haus ein, einen dreckigen Meter nach dem anderen, bis keine Luft mehr zum Atmen bleibt, die nicht von ihrem Verlangen durchtränkt wäre. An manchen Tagen komme ich nach Hause und finde sie in Embryonalstellung auf dem Küchenboden liegend vor, sie schreit laut und schrecklich, während ich mit hängenden Armen dastehe. Ihr Verlangen ist abstoßend und vertrackt, gepaart mit von Tränen verschmierter Wimperntusche und Gestöhne, überquellend und scheinbar endlos. Es drückt mich nach draußen, weg von ihr, lässt mich alleine mit meiner Einsamkeit und mit meinem eigenen Verlangen zurück, das gerade angefangen hat, sich in mir zu rühren.

Etwa um diese Zeit, als ich zwölf bin, machen Ashley und Liz, meine zwei engsten Freundinnen aus der Schule und ich Pläne, drei Jungs in New York City zu treffen. Liz kennt einen von ihnen, Milo, denn er ist der Sohn einer Freundin ihrer Mutter. Sie kennt Milos Mutter, sie ist alleinerziehend, arbeitet Samstagnacht und ihr Sohn ist folglich alleine in ihrem Appartement an der Upper West Side von Manhattan. Milo darf ein paar Freunde zum Übernachten einladen, solange sie versprechen, das Appartement nicht zu verlassen, und solange deren Eltern wissen, dass keine erwachsene Aufsichtsperson anwesend ist. Liz ist ein Jahr älter als Ashley und ich. Sie hat sich schon mal von einem Jungen befummeln lassen, sich da unten berühren lassen, und weil sie mit Jungs Erfahrung hat, überlassen wir ihr die Organisation. Liz hält es für das Beste, wenn wir unseren Eltern erzählen, dass wir im jeweiligen Haus der Freundin übernachten. Dann machen wir uns auf den Weg in die Stadt zu Milo, zu seinem Appartement, wo er mit zwei seiner Freunde, Geoff und Dylan, auf uns wartet.

Am Samstag treffen wir drei uns bei mir, um uns für den Abend schick zu machen.

«Deine Haare sehen so toll aus», sagt Ashley, nachdem ich meinen Kopfbewuchs mit dem Lockenstab malträtiert habe.

«Die Jungs werden gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.» Liz beugt sich zum Spiegel vor, ihren Mund leicht geöffnet, während sie Eyeliner aufträgt. Meine Mutter ist mit Freunden ausgegangen, also stehen wir vor ihrem Badezimmerschrank und bedienen uns an ihrer Wimperntusche, ihrem Lippenstift und ihrem Lidschatten.

«Wir sehen heiß aus», sage ich und lache Liz an. Ashley lacht auch.

«Rutsch mal, Christie Brinkley», sagt sie.

«Halt kurz still.» Liz beugt sich über mich hinweg, um an Ashleys Auge herum zu wischen. «Dein Lidschatten ist etwas verschmiert.»

Meine Mutter hat tonnenweise Make-up: Mascara und Eyeliner von Chanel, Lippenstift von Yves Saint Laurent und Estée Lauder, die verschiedenen Tuben stehen wie kleine Soldaten aufgereiht im Schrank. Hier gibt es kein Bonne Bell oder Maybelline. Liz und Ashley sind hin und weg, dass sie derart teure Marken ausprobieren dürfen. Es gibt auch noch andere Sachen – kleine Werkzeuge zum Zupfen, Bleichen oder Reinigen. So viel weiß ich auch noch nicht über all diesen Frauenkram. Schon oft habe ich am Morgen auf dem herunter geklappten Klodeckel gesessen und meine Mutter dabei beobachtet, wie sie vor diesem Spiegel stand und reinigte, entfernte und auftrug. Mir erschien es immer als ganz schön viel Aufwand, aber ich mochte die Geschäftigkeit, die damit verbunden war. Ich mochte die Vorstellung, dass ich diese Dinge benutzen könnte, um etwas Besseres aus mir zu machen als das, was ich war. Jetzt stehe ich vor dem Spiegel, trage Rouge auf, sauge meine Wangen ein, wie ich es so oft bei ihr beobachtet habe. Wir kichern, als wir unsere Haare aufdrehen und sie derart voll sprühen, dass die Locken federn. Alle drei tragen wir Miniröcke und Jeans­jacken. Ich einen Denim-Rock, der von Liz und Ashley ist aus schwarzem Jersey. Liz macht einen Knoten in ihr Shirt, so dass ihr Bauch ein Stück zu sehen ist. Sie zeigt mir, wie ich bei meinem das Gleiche machen kann. Und sie macht es auch bei Ashley, aber die löst den Knoten wieder auf, weil sie nicht so viel Haut zeigen will.

Wir nehmen den Bus um 19.45 Uhr, der über die Route 9 fährt. An der George Washington Bridge steigen wir um Richtung Port Authority an der 175. Straße. Von dort laufen wir den langen, mit Graffitis besprühten Gang zum C-Zug entlang, mit dem wir bis zur West 86th Street fahren. Bis wir bei Milo ankommen, ist es 22 Uhr. Es herrscht quirliges Treiben auf den nächtlichen Straßen von Manhattan. Mädchen wie wir, aber viel älter laufen mit qualmenden Zigaretten auf der Columbus Avenue entlang und huschen in Bars. Männer lachen laut. Ein Pärchen küsst sich leidenschaftlich an eine Wand gelehnt, die Hand des Mannes fest unter ihrem Rock verankert. Meine Freundinnen und ich sind aufgeregt. Wir sind Teil dieser Nacht, dieser Leidenschaft, dieses Potenzials an tiefen Gefühlen. Heute kann alles passieren, einfach alles. Kurz darauf fahren wir mit dem Lift in Milos Stockwerk, unsere Herzen pochen in unserer Brust.

Milo öffnet die Tür und ich seufze innerlich. Ich hatte ihn mir viel süßer vorgestellt, wie einen Jungen aus dem Film. Aber er ist klein und hat Sommersprossen, so wie ich. Im Wohnzimmer schauen die Jungs Eraserhead, diesen bizarren Film von David Lynch über einen Mann, der entdeckt, dass er ein Mutantenkind gezeugt hat. Wir sitzen unbeholfen auf der Couch und pressen unsere Täschchen auf unseren Schoß. Ich kann der Handlung überhaupt nicht folgen. Stattdessen erfüllen mich die seltsamen Bilder mit Abscheu: das groteske Baby, die Frau mit den angeschwollenen Wangen. Irgendwann finden wir uns zu Pärchen. Ashley geht mit Geoff, Liz mit Dylan und für mich bleibt Milo übrig. Ich bin daran gewöhnt, diejenige zu sein, die immer übrig bleibt. Nicht, dass ich auf gewisse Weise nicht hübsch wäre. Ich bin nur nicht sonderlich bemerkenswert. Ein Jahr zuvor teilten uns die Jungs in unserer Klasse in drei Kategorien ein: Lieben, Mögen und Hassen. Sie verbrachten ihre freie Lesezeit damit, um einen Tisch herumzulungern und zu entschieden, wer von uns in welche Kategorie passen würde. Wir Mädchen saßen an unseren Tischen und versuchten, uns aufs Lesen zu konzentrieren, aber in Wirklichkeit versuchten wir alle, unsere Namen aufzuschnappen. Liz, mit blondem Haar, blasser Haut und ohne Sommersprossen wanderte direkt in die Kategorie «Lieben». Als die Jungs sich darauf einigten, dass sie in diese Spalte gehörte, nickten wir alle still. Das war keine Überraschung. Ein armes, unbeholfenes Mädchen, ein Mädchen, das so groß war, dass der Rand ihrer Strumpfhose unter ihren viel zu kurzen Pullis hervorspitzte, wurde in die Kategorie «Hassen» abgesondert, was wiederum auch keine Überraschung war. Insgeheim hoffte ich, dass ich jeden schockieren könnte und sie mich wie Liz in die Kategorie «Lieben» einstufen würden. Aber das taten sie nicht. Ich wurde zusammen mit allen anderen in «Mögen» gesteckt. Durchschnittlich und unscheinbar. Nicht dafür vorgesehen, geliebt zu werden.

Milo nimmt meine Hand und wir gehen die Treppe zu seinem kleinen, unordentlichen Zimmer hinauf. Er drückt auf Play an seinem Kassettenrekorder und die Rolling Stones durchdringen den Raum mit ihrem «Beast of Burden». Wir sitzen auf seinem Bett, und obwohl ich ihn überhaupt nicht anziehend finde, erlaube ich ihm, mich zu küssen. Seine Zunge bewegt sich ungeschickt und unangenehm in meinem Mund. Es ist mein erster Kuss, und so hatte ich mir das überhaupt nicht vorgestellt. Aber ich bleibe dran, bin gespannt auf die Erfahrung. Er schiebt mein Shirt nach oben und berührt mit zwei Fingern meinen winzigen, sensiblen Nippel. Und eben, als er mich zurück auf das Bett drückt, als ich den starken Druck seiner Erektion durch seine Jeans an meinem Bein fühle, klopft es an der Tür. Ich bin etwas erleichtert. Milo jedoch ist äußerst frustriert über die Unterbrechung und öffnet verärgert die Tür.

Liz und Ashley stehen draußen, ihre Jeansjacken angezogen.

«Was soll das denn?», sagt Milo.

«Wir gehen.» Liz schaut an ihm vorbei und sucht meinen Blick. Dann sagt sie an ihn gewandt: «Dein Freund ist ein Arschloch.»

«Was ist los?», frage ich.

«Ashley hat Geoff gesagt, er soll aufhören, aber er hat sie immer weiter bedrängt.»

Ich schaue auf Ashley, die neben Liz steht, ihre Lippen aufeinander gepresst. Sie ist wirklich aufgebracht.

«Er wollte mehr als küssen», sagt sie.

Ich runzle meine Stirn und hoffe, dass Milo die Klappe darüber halten würde, dass ich ihm gerade erlaubt hatte, meine Brüste zu streicheln. Stattdessen sagt er: «Warum bleibst du nicht und die beiden können gehen?»

Ich lächle ihm empfänglich zu, aber als ich meine Freundinnen wieder ansehe, blickt Liz missmutig drein. «Ich kann nicht», sage ich also, «aber Danke.»

«In Ordnung», sagt Milo. Ich schnappe mir meine Jacke und wir gehen zur Tür. Ich warte darauf, dass er etwas sagt, etwas in der Art, dass er mich wiedersehen will, oder ob ich ihm meine Telefonnummer gebe. Aber er schlägt nur hinter uns die Tür zu.

«Du mich auch», sagt Liz, als wir durch den Flur laufen. «Der war schon immer ein Arschloch. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.» Ashley und ich schauen uns an und lachen, erleichtert, dass wir drei wieder unter uns sind.

Als wir zurück auf dem Gehsteig stehen, ist es ein Uhr dreißig früh. Die Straßen sind noch immer belebt, aber die U-Bahn erscheint wie leer gefegt. Zurück am Port Authority sind wir auffallend fehl am Platz um diese Uhrzeit. Die Busse, die über die Brücke zurück nach New Jersey fahren, gehen nur alle zwei Stunden, also hängen wir an dem schmutzigen, in Neonlicht getauchten Terminal herum und warten von drogenhungrigen Bettlern und Obdachlosen umringt, die hier ihr Nachtlager aufgeschlagen haben.

Endlich kommt der Bus und wir fahren über die Brücke und in Richtung meines Hauses, versuchen wach zu bleiben. Oben an der Closter Dock Road jedoch, wo außer uns niemand mehr im Bus ist, hält er plötzlich an und die Türen öffnen sich. «Alle aussteigen», sagt der Fahrer. Wir rappeln uns verwirrt hoch. Wir wollen nach Harrington Park. Aber als wir fragen informiert uns der Fahrer, dass er nach Mitternacht nicht weiter als bis hierhin fährt. Wir versuchen ihn zu überreden, uns dennoch weiterzufahren, nur dieses eine Mal, aber er weigert sich. Wahrscheinlich ist er der Ansicht, dass drei junge Mädchen wie wir um diese Zeit ganz alleine hier sowieso nichts verloren haben.

Also steigen wir aus dem Bus und die Türen schließen mit einem Seufzen. Wir stehen am Straßenrand. Die Luft ist kühl, die Nacht still. Kein Lachen, keine aufgedonnerten Frauen, keine Pärchen und keine leidenschaftlichen Küsse. Nur das sanfte Rascheln der Blätter im Wind. Bis zu meinem Haus sind es noch zehn Meilen. Ashley fängt an zu weinen. Liz und ich schauen uns an und versuchen eine Lösung zu finden. Liz entdeckt sie zuerst: ein Stück weiter unten ist eine Tankstelle mit einem Schild «24 Stunden geöffnet». Wir kreischen und laufen hin, unsere Täschchen schlagen dabei an unsere Hüften. Wir gehen in das Büro, in dem zwei junge Männer rauchen und Karten spielen. Ihre Augen leuchten auf, als wir eintreten – eins, zwei, drei Mädchen und alle in Miniröcken. Der Tisch, an dem sie sitzen ist aus Metall mit einer Oberfläche aus Holzimitat. Ein kleiner, grießiger Schwarz-Weiß-Fernseher flimmert auf dem Tisch. Mit so etwas hatten sie heute Nacht eindeutig nicht gerechnet.

«Aber Hallo», sagt der größere von beiden. Er ist blond, sein Gesicht ist jung. «Wen haben wir denn da?» Er wirft dem anderen, einem dunkelhaarigen, hageren Kerl mit Brille einen kurzen Blick zu. Der zieht seine Augenbrauen nach oben. Liz erzählt ihnen unsere Geschichte, wie wir in die Stadt gefahren sind, um ein paar Jungs zu treffen, wie schlecht sie uns behandelt haben, und wie wir jetzt hier festsitzen, zehn Meilen von zu Hause entfernt. Wir brauchen jemanden, der uns nach Hause fahren kann. Die Uhr an der Wand zeigt 4.00 Uhr morgens. Die beiden Männer lächeln sich zu.

«Wir können die Tankstelle nicht einfach allein lassen», sagt der Blonde. «Richtig?»

«Richtig.» Der andere nickt, seine Augen wandern dabei von Mädchen zu Mädchen.

«Ihr müsst bis fünf warten», sagt der Blonde weiter. «Dann kanns losgehen.»

Sein Gesicht zuckt und er beginnt zu lachen. Ich kann die gelben Verfärbungen auf seinen Zähnen sehen. «Geschnallt?», sagt er zu seinem Freund. «Dann kanns losgehen.» Der andere lacht und nickt.

Wir drei drängen uns aneinander.

«Ich weiß nicht», sagt Ashley. Ihr ist nicht ganz wohl bei der Sache.

«Was können wir sonst machen?», raunt Liz.

«Wir kennen die Typen doch gar nicht.» Ashley hat man ebenso wie uns immer eingeschärft: Steig nicht zu Fremden ins Auto.

«Komm mal her», sagt der Blonde zu mir, als ich meinen Blick wieder zurück zu den beiden Männern wende. Liz und Ashley sehen mich mit großen Augen an. Liz kichert.

«Was denn?», sage ich. Für gewöhnlich ist Liz diejenige, die im Mittelpunkt steht.

«Komm doch mal her», sagt er erneut, dieses Mal bestimmter.

Ich beiße mir auf die Lippe und schleiche hin zu dem Tisch, unsicher, was ich davon halten soll.

«Wie alt bist du?», fragt er, und sucht fest meinen Blick.

«Warum?», erwidere ich.

«Sag‘s mir einfach», fordert er. «Wie alt bist du?»

So nah vor ihm kann ich das Alter in seinem Gesicht erkennen, eine verwitterte Düsternis, die ihn älter erscheinen lässt als er wahrscheinlich ist.

«Sechzehn», lüge ich. Ich höre Liz erneut hinter mir kichern.

«Soso», sagt er. Er presst seine Lippen aufeinander. Es ist eindeutig, dass er mir nicht glaubt.

«Wir sind alle sechzehn», sagt Liz, aber er wendet seinen Blick nicht von mir.

«Bei euch hat der Staatsanwalt doch noch seine Finger drauf», sagt der andere. «Stimmt doch, Tim?»

«Das denke ich auch.» Tim zwinkert mir zu.

Ich blicke nach unten auf den Tisch. Jemand hat mit einer Rasierklinge D liebt G hineingeritzt.

«Das ist ja widerlich», sagt Ashley. Sie packt meinen Arm und wirft Tim einen vernichtenden Blick zu. «Wir bleiben hier drüben sitzen, bis ihr uns heimfahren könnt.» Ashley zerrt Liz und mich zur anderen Seite des Zimmers und wir drei setzen uns an die Wand gelehnt auf den Boden. Irgendwann fährt ein Auto in die Tankstelle ein. Laute Musik dröhnt durch die Fenster, und die Jungs und Mädchen im Wagen schreien sich an. Tim geht nach draußen, um ihnen Sprit zu geben. Der andere namens Gary ignoriert uns und schaut nur auf den grießigen Fernseher.

«Wir sind nicht wirklich sechzehn», sagt Ashley plötzlich, und Liz haut ihr auf den Arm.

«Ach ne», sagt Gary und schnaubt.

Wir schauen uns an. «Woher wusstest du das?», frage ich.

Gary zuckt mit den Schultern. «Sechzehnjährige Mädchen würden nicht mitten in der Nacht an einer Tankstelle festsitzen. Sie würden jemanden kennen, der sie nach Hause fährt.»

Ich fühle mich angegriffen. «Nicht jedes Mädchen.»

Gary schnaubt erneut. «Doch, das tun sie. Ihr Mädchen kriegt immer das, was ihr wollt.»

Ich schaue auf meine Beine runter, die ich unter mir verknotet habe. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich alles haben kann, was ich will. Aber der Gedanke gefällt mir, und so bunkere ich ihn in meinem Gedächtnis, um mich später damit zu befassen. Es könnte ein Gedanke sein, der mir noch einmal nützlich werden könnte.

Etwas später gehen Liz und Ashley zum Klo auf der Rückseite der Tankstelle. Ich bin mit Tim allein. Er beobachtet mich. Ich schaue aus dem Fenster und tue so, als würde ich seinen Blick gar nicht bemerken. Ich überkreuze meine Beine, sortiere mein Haar und verschränke die Arme vor meinem Brustkorb.

«Du bist wirklich ein hübsches Mädchen», sagt er.

Ich zucke mit den Schultern. Niemand hat mich bisher hübsch genannt.

«Als Frau wirst du mal noch hübscher sein.»

Ich verlagere mein Gewicht auf meinen linken Fuß und starre zum Fenster. Draußen ist es totenstill, immer noch dunkel. Ich betrachte die schattenhafte Figur von Gary, der einen Tank verschließt.

«Warum stehst du so weit dort drüben?», fragt Tim.

«Weil ich das so will», sage ich. Ich schaue ihm direkt in die Augen. Mein Herz pocht in meiner Brust.

«Komm mal her.»

Ich bewege mich auf ihn zu, meine Arme habe ich dabei um meine Taille geklammert.

«Komm, setzt dich doch auf meinen Schoß», sagt er sanft.

«Ganz sicher nicht», nuschle ich, und meine Kehle schnürt sich zu.

Er hebt seine Augenbrauen, dreht sich um, schaut, ob vielleicht eine meiner Freundinnen kommt.

«Das hättest du wohl gerne, oder?», platze ich heraus.

Er lacht, es ist ein tiefes, erwachsenes Lachen. «Oh ja, in der Tat hätte ich das gerne.»

Da kommen Liz und Ashley zurück in den Raum. Erst jetzt werde ich mir bewusst, dass ich die Luft angehalten habe und atme tief aus. Ich schaue runter auf meine Wildlederboots. Unter meiner Haut sprühen noch immer kleine Funken, als ob ich elektrisiert wäre. Ich spüre erneut diese Kraft, die mich durchjagt. Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen. Eigentlich finde ich ihn sogar ziemlich abstoßend. Aber es gefällt mir, wie er diese kleine Unterhaltung nur mit mir geführt hat. Nicht mit Liz, meiner hübschen Freundin, nicht mit Ashley, die ihn bereits jetzt hasst. Nur mit mir, der Unscheinbaren.

Irgendwann wird es fünf Uhr. Sie lassen sich Zeit, sperren Schubladen zu, wischen den Boden. Um 5 Uhr 15 kommt die Schichtablösung und Tim sperrt die Türen seines bräun­lichen Chevys auf. Wir drei Mädchen fallen auf die Rückbank. Tim schaut mich vom Fahrersitz aus an.

«Komm, setz dich hier vorn neben mich.»

Ich schüttle den Kopf. Ashley verzieht den Mund und schaut aus dem Fenster. Sie hat diese Spielchen und Flirtereien langsam satt. Das geht uns allen so. Es war eine lange Nacht. Und dazu mischt sich noch ein anderes Gefühl: eine wachsende Nervosität, zu wissen, dass wir Tim ausgeliefert sind. Er kann uns überall hinbringen, wo er will.

«Gary, setzt dich nach hinten», sagt Tim und ignoriert mich. «Kerry sitzt hier.»

Gary öffnet genervt meine Tür. «Also?»

Ich schaue Liz an.

«Mach schon, sonst kommen wir hier nie weg», sagt sie.

Tim lächelt, als ich neben ihm Platz nehme und ich lächle zurück aus Angst, ihn zu verärgern. Dann legt er eine Hand auf mein Bein. Ich schaue nach unten. Seine Hand ist schmutzig von diversen Ölwechseln, und seine Haut sieht rissig und rau aus. Meine Muskeln verspannen sich. In Gedanken spreche ich ein Stoßgebet: Lass uns einfach nur schnell nach Hause kommen.

«Sag mir, wo ich abbiegen muss», aber als ich es ihm sage, fährt er an der Straße einfach vorbei. Er lacht und schaut nach hinten zu Gary, und dann nimmt er seine Hand von meinem Bein, um gegen das Lenkrad zu schlagen. Ich halte die Luft an, als er plötzlich anhält, drei Mal vor und zurück wendet und zurück zur Abzweigung fährt. «Reingelegt!», ruft er.

Ich schließe meine Augen und denke an Liz und Ashley auf dem Rücksitz. Sie wissen nicht, dass ich geflirtet habe, ihn sozusagen angestachelt habe. Wenn etwas passiert, ist es allein meine Schuld. Drei Mädchen im Auto eines Fremden. Drei tote Mädchen.

«Es wird alles gut», höre ich Liz flüstern, wie immer in ihrer Rolle der älteren Schwester.

An der nächsten Abzweigung macht er das gleiche wieder. Wir sind jetzt nur noch ein paar wenige Meilen von meinem Haus entfernt, aber es erscheint mir wie Hunderte von Meilen.

Endlich hält er am Ende meiner Straße das Auto an. «Hmm», sagt er zu Gary. «Vielleicht bringe ich sie am Ende doch nicht nach Hause.» Gary lacht nervös.

«Komm schon», sage ich, «das ist nicht lustig.»

In diesem Moment nimmt Tim wieder Notiz von mir und legt seine Hand zurück auf meinen Oberschenkel. Ich kann hören, wie Ashley hinter mir leise weint. Seine Hand schiebt sich stückchenweise unter meinen Rock, in Richtung meines Schritts.

«OK, OK», sagt er. «Ich sorge schon dafür, dass ihr nicht auf der Strecke bleibt.» Er grinst. «Kapiert, Gary? Ich sorge schon dafür, dass sie nicht auf der Strecke bleiben.»

Ich winde mich unter seinem Griff, aber das nützt nichts. Seine groben Finger schlängeln sich vor bis zu meiner Unterwäsche, kratzen und packen mich, als ich versuche, mich zu entziehen. Es ist meine beste Unterwäsche, fliederfarben, und er fährt mit seinen Fingerspitzen an den Kanten entlang. Ich habe sie an diesem Abend mit dem Hinter­gedanken angezogen, dass mit einem der Jungs in der Stadt mehr laufen könnte. Es scheint Ewigkeiten her, dass wir bei mir zu Hause vor dem Spiegel standen, voller Erwartungen, uns für die Nacht aufbrezelten. Jetzt hält er seine Finger gegen meinen Schritt – er steckt sie nicht rein, hält sie nur dagegen – damit ich weiß, dass er da ist. Mein Körper verkrampft sich, meine Augen schauen aus dem Fenster. Ich will schreien, seine Hand wegschieben, aber ich habe zu viel Angst. Zu viel Angst, dass wenn ich nicht nachgebe, er mich überhaupt nicht gehen lässt. Aber da ist auch noch etwas anderes, etwas, das in mir wächst, etwas, das ich nicht wirklich zugeben will: Da gibt es noch einen anderen Teil, der überhaupt keine Angst hat. Es gefällt mir sogar fast. Ich weiß, dass das, was geschieht nicht richtig ist. Aber seine Berührung ist ein unvermeidbares Ergebnis des Abends. Es ist meine größte Hoffnung – begehrt zu werden. Und hier gibt mir dieser abstoßende ältere Mann genau dieses Gefühl. Er hält seine Hand, als ob er mich besitzen würde, aber in Wirklichkeit, ganz im Stillen, bin ich diejenige, die von ihm Besitz ergriffen hat.

Tim fährt langsam meine Straße entlang, seine Hand noch immer unter meinem Rock. Auch wenn ich ihm zuvor den Weg beschrieben habe, bin ich mir jetzt nicht mehr ganz sicher, ob ich bis zur Haustüre gebracht werden will. Ich will nicht, dass er weiß, wo genau ich wohne. Etliche Meter vor dem Ziel sage ich daher mit heiserer Stimme: «Hier kannst du uns rauslassen.»

«Wirklich?» Er schaut mich an, ein intimer, beinahe freundschaftlicher Blick auf seinem Gesicht, ein Blick, der besagt, dass wir etwas Besonderes miteinander erlebt haben. Ich selbst versuche, möglichst neutral zu schauen.

«Halt an», sage ich. Tim lächelt, ein martialisches Lächeln, aber er hält. Ich reiße die Tür auf und rutsche von ihm weg. Ich höre Liz und Ashley die hintere Tür öffnen. Seine Hand gleitet weg und ich fühle, wie meine Muskeln sich langsam entspannen, spüre die Erleichterung, wie Luft, die quietschend aus einem Ballon entweicht, der kurz vor dem Platzen war. Der Himmel erhellt sich. Vögel singen im wilden Chor in den Bäumen. Ashley, Liz und ich laufen meine Einfahrt hinauf, drehen uns mehrmals um, um sicherzugehen, dass das Auto wegfährt, was es auch tut. Meine Mutter schläft, merkt nichts, also schleichen wir hin­ein und nutzen dies als willkommene Gelegenheit, nicht darüber sprechen zu müssen, was geschehen ist. Ich ziehe Feldbetten und Schlafsäcke heraus, und wir drei liegen da mit geschlossenen Augen, erschöpften Körpern, aber unfähig einzuschlafen. Ich umschließe meinen Schritt mit meiner Hand, spüre noch immer im Geist den Druck, den seine Hand auf mich ausgeübt hat. Da fällt mir ein, dass ich eine Geschichte parat haben muss, wenn meine Mutter aufwacht: Ashleys Mutter hat uns frühzeitig hierher gefahren, weil sie ihr Haus putzen will, und jetzt sind wir müde, weil wir alle die ganze Nacht wach waren und uns Geistergeschichten erzählt haben. Eine Geschichte, die vorgibt, dass wir noch immer jung sind, unberührt, immer noch beschützt vor unserem eigenen Verlangen und vor der Welt der Männer.

ALS DER SOMMER DEM HERBST WEICHT, trifft meine Mutter eine Entscheidung. Sie will Medizin studieren. Sie hat als Künstlerin gearbeitet und Schmuck, Skulpturen und Gemälde angefertigt. Aber ihr Vater war Arzt, und die Hände eines Künstlers können sich ganz leicht in die eines Chirurgen verwandeln. Darüber hinaus muss sie jetzt einen Weg finden, Geld zu verdienen. Sie ist an ein besonderes Leben gewöhnt – zuerst als Arzttochter, dann als Frau eines Ingenieurs. Die Kunst ist nicht sehr einträglich.

Das alles wirkt seltsam, geradezu unglaubwürdig, als ob meine Mutter ganz plötzlich ein anderer Mensch wäre. Sie war immer eine Künstlerin gewesen, immer exzentrisch und so Avantgarde, nie eine ernsthafte Ärztin mit weißem Kittel. Die Freunde meiner Mutter waren ebenfalls unkonventionell. Sie lebten in Lofts in SoHo und malten riesige, verrückte Bilder in ihren Wohnzimmern. Sie veranstalteten Performances, bei denen Tyler und ich rote, lila und blaue, hauchdünne Schals tragen durften und über die Bühne tänzelten. Sie waren oft homosexuell und albern – oder einfach nur albern – und ich liebte sie. Als meine Eltern noch zusammen waren, veranstalteten sie oft Sommerpartys und unser Haus war voll mit all den albernen, lachenden Erwachsenen. Die Rolling Stones und Fleetwood Mac dröhnten aus den Lautsprechern meines Vaters, die er nach draußen stellte und Tyler und ich wirbelten durch die warme Dunkelheit, tanzend und lachend, und wir durften lange aufbleiben.

Genau deswegen, und weil ihr Leben als Ärztin so ganz anders sein würde, frage ich sie, ob sie sich alles genau überlegt hat.

«Ich wollte immer eine Ärztin sein», erzählt sie Tyler und mir, als ob es etwas Offensichtliches wäre, das wir nur nicht bemerkt hätten.

«Du wirst eine großartige Ärztin sein.» Tyler umarmt sie, wie immer ihre Mutter unterstützend, aber ich weiß, dass sie es auch spürt. Ich kann ihre Angst sehen, versteckt wie ein kleines hässliches Hündchen, das sie nicht nach Hause hätte bringen sollen.

Mom startet also ein einjähriges, vormedizinisches Programm am örtlichen College und bereitet sich auf ihre Bewerbung für die medizinische Hochschule vor. Sie stapelt dicke Textbücher auf ihrem Tisch im Schlafzimmer. Sie füllt seitenweise Notizblöcke mit ihren niedlichen Zeichnungen von Zellen und Neuronen. Sie schließt die Tür und bittet uns ruhig zu sein, damit sie lernen kann. Und sie lädt einen australischen Austauschstudenten ein, im Gästezimmer zu wohnen und seinen Teil zur Abzahlung der Hypothek beizutragen.

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«Sie sind äußerst empfindsam», fährt Mom fort. «Wusstest du das? Es kann sich schön anfühlen, wenn jemand sie berührt.»

Jetzt habe ich die Tür erreicht. Meine Schwester sitzt am Tresen, ihre Augen auf den Fernseher gerichtet. Meine Mutter tritt von hinten an sie heran und legt ihre Hände auf die Brüste meiner Schwester. In mir steigt kurz der Gedanke auf, dass ich etwas tun sollte. Ich könnte hereinstürmen und meine Mutter zur Rede stellen. Ich könnte Tylers Namen rufen. Aber dann lässt meine Mutter ihre Hände wieder seitlich fallen und spült weiter das Geschirr. Es ist nur ein Moment, so rasch, als habe er gar nicht stattgefunden. Meine Schwester starrt auf den Fernseher, ihr Körper ist immer noch ruhig. Meine Mutter steht am Spülbecken. Und ich gehe wieder, weg von ihnen, ohne etwas unternommen zu haben.

Meine Mutter absolviert den Zulassungstest fürs Medizinstudium, schickt ihre Bewerbung an die Hochschulen und wird von einer nach der anderen abgelehnt. Sie ruft ihren Vater an, der mit einem seiner früheren Studenten spricht, der jetzt das internationale vormedizinische Programm auf den Philippinen leitet, und es ist alles unter Dach und Fach. Sie wird in ein paar Monaten abreisen. Eines Abends sitze ich am Küchentresen und mache Hausaufgaben. Ich kann meine Mutter und meine Schwester irgendwo im Haus reden hören, ein Privatgespräch, wie sie es so oft führen. Ihre Stimmen werden laut und wieder leiser. Und plötzlich stehen sie bei mir in der Küche, vollkommen aufgewühlt und Energie geladen. Tyler hält etwas fest und weint. Mom versucht, es ihr aus der Hand zu reißen. Tyler schnappt sich ein Glas und füllt es mit Wasser aus dem Wasserhahn.

«Ich will nicht mehr leben», schreit Tyler und schluchzt dazu. Dann sehe ich die Flasche in ihrer Hand. Paracetamol. Sie öffnet den Deckel, schiebt Moms Hand beiseite und schüttet sich den Inhalt der Flasche in den Mund.

«Nein!», schreit Mom. Sie steckt ihre Finger in Tylers Mund, holt die Pillen heraus und schleudert sie durchs Zimmer. Tyler presst ihren Mund zusammen, aber letztendlich gibt sie meiner Mutter nach, beide schluchzen und halten sich gegenseitig fest.

Ich sitze still am Tresen, meine Hände fest in meinem Schoß verknotet. Meine Mutter und meine Schwester bleiben so stehen, haben mich vielleicht nicht einmal bemerkt, oder es ist ihnen einfach egal. Der Augenblick ist derart intim, dass ich irgendwann wegsehen muss.

Meine Großeltern kommen mit dem Flugzeug angereist, um den Monat bei uns zu bleiben, in dem Mom vorhat, uns zu verlassen. Sie helfen Mom beim Packen und meine Großmutter macht das Abendessen, damit Mom das nicht auch noch erledigen muss. Sie gehen mit Tyler und mir zum Minigolfspielen, verschaffen Mom etwas Freiraum, und Opa unternimmt mit mir lange Spaziergänge, wie zu der Zeit, als ich sie in Florida besucht habe, wie wir es taten, als das Leben noch einfach und überschaubar war – wie ein Glühwürmchen, das in einem Glas gefangen ist.

Oma erinnert uns oft daran, wie mutig unsere Mutter ist, einfach in die Welt hinaus zu gehen, um ihren Traum, eine Ärztin zu werden, wahr zu machen. Sie braucht unsere Unterstützung. Wenn sie das sagt, hat sie diesen Ton in ihrer Stimme. Einen Ton, der uns davor warnt, in Mom ein schlechtes Gewissen hervorzurufen. An dem Tag, an dem meine Mutter nach Manila abreisen soll, fahren meine Großeltern uns alle zum Flughafen. Meine Mutter heult laut am Gate, klammert sich an Tyler fest, die ihr, die Warnung der Großmutter beherzigend, immer wieder versichert, dass alles okay sein würde. Tylers Gesicht ist matt, ausdruckslos. Sie erscheint mir klein und leer, wie eine Puppe, aus der die Luft raus ist. Als mich meine Mutter mit ihren feuchten Augen ansieht, zucke ich nur die Achseln. Ich weigere mich ihr das zu geben, was sie will. Sie hat sich entschieden. Dann soll sie es auch ausbaden. Warum sollte ich mir jetzt über ihre Traurigkeit Gedanken machen? Abgesehen davon, dass ihre Abreise mir wie eine Erlösung erscheint. Endlich hat ihre konstante Suche nach Aufmerksamkeit ein Ende. Endlich hat es ein Ende damit, vor ihren alles verzehrenden Emotionen in Deckung gehen zu müssen. Ich umarme sie kurz und versuche, ihren vertrauten Geruch nicht einzuatmen. Tief im Innern jedoch hat mich ihr Weggang fest im Griff. Wie ein Angelhaken, der sich in meine Knochen bohrt. Jahre später, als ich im College bin und zurück in mein Appartement fahre, werde ich einer Psychologin im Radio zuhören, die über Scheidung spricht. Darüber, wie Scheidungskinder am meisten Angst davor haben, dass wenn einer der Elternteile geht, der andere vielleicht auch noch gehen wird. Ich werde rechts ranfahren, und der Schmerz wird in mir hoch kochen, frisch und unverarbeitet wie damals am Flughafen.

Meine Großeltern helfen meiner Mutter, ihr Gepäck über die Rollbahn zu schaffen. Tyler und ich stehen schweigend da und sehen zu, wie sie geht. Einen Monat später ziehen wir bei unserem Dad ein.